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ADB:Rosenkrantz, Wilhelm Martin Joachim

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Artikel „Rosenkrantz, Wilhelm Martin Joachim“ von Heinrich Hayd in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 29 (1889), S. 209–213, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Rosenkrantz,_Wilhelm_Martin_Joachim&oldid=- (Version vom 14. November 2024, 09:10 Uhr UTC)
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Rosenkrantz: Wilhelm Martin Joachim R., Dr. phil., der sich durch seine „Wissenschaft des Wissens“ als einen der bedeutendsten und gediegensten Philosophen seit Schelling erwiesen und trotz der Ungunst der Zeit in der philosophischen Welt bereits vielseitige Anerkennung errungen hat und künftig wol noch mehr erringen wird, ist geboren zu München am 2. März 1821 als Sohn eines königl. Kriegsministerialsecretärs. Nachdem er das königl. alte (Wilhelms-) Gymnasium zu München unter dem damaligen Rector Fröhlich absolvirt hatte, trat er 1839 an die Universität über und verlegte sich mit leidenschaftlichem Eifer auf das Studium der Philosophie. Seine Lehrer waren Görres, Schubert, Erhart und namentlich Schelling, der ihn so sehr für die Philosophie begeisterte, daß er von da an ihre Weiterbildung als die Hauptaufgabe seines Lebens betrachtete. Schubert erklärte, als R. noch sein Zuhörer war, daß dieser Schüler allein fähig sei, dereinst auf seinem Katheder zu sitzen. Mit welchem Eifer er seinen Studien oblag, beweist eine in seinem Nachlaß noch vorgefundene, höchst sauber und rein von ihm selbst geschriebene, 700 Seiten in Quartform umfassende Arbeit aus dem Jahre 1842, mit dem Titel: „Natur und Geschichte nach den [210] Grundsätzen des absoluten Idealismus“. Während seiner akademischen Jahre (1839–44) hielt er sich gänzlich fern von allem zerstreuenden studentischen Treiben und lebte nur seinen Studien, indem er nicht bloß die Schriften der namhaftesten Philosophen, sondern auch viele andere wissenschaftlich bedeutungsvolle Werke las und so studirte, daß er sich von Allem, was ihm wichtig schien, auch Excerpte machte, was er auch in seinem späteren Leben bei seinen philosophischen Studien zu thun pflegte, so daß ihm (wie er selbst einmal sagte) durch seine Excerpte die Originalien oft ganz entbehrlich wurden. Insbesondere beim Studium der Philosophie fühlte er sich nach seinem eigenen Bekenntniße schon von Anfang an durch ein geheimnißvolles Etwas so glücklich angetrieben und fortgeleitet, daß er immer gleich zu den besten Quellen gelangte.

Zum Berufsfach wählte er die Jurisprudenz. die er nach Ausweis seiner bezüglichen Zeugnisse mit Auszeichnung absolvirte und prakticirte. Nebenbei betrieb er auch naturwissenschaftliche Studien und legte sich kleine Sammlungen an. Auch die Musik pflegte er, wie denn schon am Gymnasium bei Mai- und anderen Festen musikalische Compositionen von ihm zur Aufführung kamen. In Stunden der Erholung versuchte er sich auch im Zeichnen, Malen und in Schnitzarbeiten. Am 23. März 1844 feierte er seine Promotion zum Doctor der Philosophie, für welche er die Dissertation: „Die Aufgabe der deutschen Philosophie nach dem gegenwärtigen Stande der Wissenschaft“ (gedruckt bei Fleischmann, München 1845) und die Quaestio: „Ueber den Ursprung der Sprache“ schrieb und 26 Thesen aufstellte, von welchen einige die tiefsten Probleme der Philosophie betreffen. Nach seiner Doctorpromotion prakticirte R. bis 28. November 1845 beim königl. Landgericht München, und dann bis 1846 beim königl. Kreis- und Stadtgericht daselbst. Am 28. Februar 1853 wurde er Ministerialsecretär im Staatsministerium der Justiz, nachdem er dort bereits vorher als Hülfsarbeiter verwendet war. Am 19. September 1853 verheirathete er sich mit der Landarztenstochter Elise Fellerer, die ihm schon nach kaum drei Jahren (29. Juni 1856) entrissen wurde, mit der er aber so glücklich lebte, daß er, wie er noch kurze Zeit vor seinem Tode sich äußerte, „mit ihr den geraden Pfad zum Himmel zu wandeln glaubte“. Nach ihrem Tode ließ ihn sein idealer Sinn und seine Liebe zur Wissenschaft, die ihn ganz absorbirte, an keine zweite Ehe mehr denken; seine einzige Tochter, die er zärtlich liebte, zog er mit mütterlichet Sorgfalt selber groß. Im J. 1861 schrieb er eine kleine, anziehende Abhandlung: „Philosophie der Liebe oder was ist das Höchste?“ die er nicht für die Veröffentlichung bestimmte, die aber nach seinem Tode Dr. Ant. Entleutner nebst einem Resumé der Rosenkrantz’schen Philosophie drucken ließ (München, bei Ackermann 1877). R. verfolgt darin das Walten und Wirken der ewigen Liebe durch alle Stufen des Naturlebens hindurch bis herauf zum Menschen, in welchem, vermöge seiner Freiheit, die Liebe erst eine wahre und ewige zu werden vermag, so daß also die Liebe sich erweist als „das Erste und Aelteste“, als das „Größte und Weiteste“, endlich als das „Letzte und Ewige“, kurz als das Höchste. Am 21. April 1862 wurde R. zum Ministerialassessor ernannt: Durch seine amtlichen Arbeiten zog er schon frühzeitig die Aufmerksamkeit seiner Fachgenossen und Vorgesetzten auf sich. Aus mehreren Briefen seines Rücklasses geht hervor, daß der damalige Redacteur der juristischen „Zeitschrift für Gesetzgebung und Rechtspflege im Königreich Baiern,“ Dr. Dollmann, ihn mehrmals um Beiträge bat und seine Arbeiten für „wahre Zierden“ des betreffenden Blattes erklärte. Unter diesen Arbeiten befindet sich die auch im Separatdruck erschienene „Lehre von der Anrechnung unverschuldet erlittener Haft als Strafe“ (Erlangen, Palm und Enke 1866). Außerdem schrieb er schon früher sein „Handbuch des Pflegschaftswesens diesseits des Rheines“ (Erlangen 1860). Zur Belohnung für solche als [211] ausgezeichnet anerkannte Leistungen wurde R. am 10. Januar 1867 zum Oberappellationsgerichtsrath ernannt und als solcher am 21. December 1868 vom Könige mit dem Verdienstorden des heil. Michael 1. Klasse decorirt. Beim obersten Gerichtshofe galt R. als ausgezeichnetste Kraft, namentlich rühmten seine Collegen seine Gründlichkeit wie die Präcision und Klarheit seines Gedankenausdrucks, nicht weniger aber auch die Festigkeit, womit er seine juristische Ueberzeugung hie und da auch abweichenden Ansichten gegenüber vertrat. Ungeachtet seiner vielen und zeitraubenden Berufsarbeiten, die er überdieß mit dem größten Fleiße und strengster Gewissenhaftigkeit erledigte, fand er infolge unausgesetzter Thätigkeit doch noch Zeit, sein philosophisches Hauptwerk, welches, wie jeder Kenner wird zugeben müssen, die umfassendsten und tiefsten Studien (selbst in den empirischen Naturwissenschaften und der positiven Theologie) voraussetzt und das er schon seit vielen Jahren vorbereitet hatte, zu vollenden und dem Drucke zu übergeben. Es führt den Titel: „Die Wissenschaft des Wissens und Begründung der besonderen Wissenschaften durch die allgemeine Wissenschaft, eine Fortbildung der deutschen Philosophie mit besonderer Rücksicht auf Plato, Aristoteles und die Scholastik des Mittelalters“, und ist ein Werk, das allerdings nicht für das große Publicum geschrieben ist und nicht bloß flüchtig gelesen, sondern studirt sein will, in welchem jedoch die nicht gewöhnliche, mustergültige Präcision, Klarheit und Reinheit der Sprache mit der Tiefe des philosophischen Gedankens wetteifert. Das ganze Werk sollte nach dem Plane des Verfassers zwei Haupttheile umfassen, den analytischen und synthetischen. Die Analytik des Wissens sollte sich mit keinem besonderen Gegenstande, sondern nur mit dem allgemeinsten, nämlich dem Wissen selber, befassen, um die Möglichkeit des Wissens überhaupt aus seinen letzten, nothwendigen Voraussetzungen zu begreifen, und sollte also die Elemente des Wissens, die Entstehung des Wissens aus seinen Elementen, und den letzten Grund des Wissenes erforschen und das Princip des Wissens feststellen, von dem zuletzt alle Gewißheit abhängt. Die Synthetik dann sollte aus dem Princip eine philosophische Gottes-, Natur- und Geisteslehre entwickeln.

Nur die Analytik indeß konnte der Verfasser noch vollenden. Der erste Band derselben erschien 1866 bei J. G. Weiß in München, der zweite bei F. Kirchheim in Mainz 1868. Da R. bei zunehmendem Leiden wol fühlte, daß er nicht mehr im Stande sein werde, auch die Synthetik noch zu vollenden, so entschloß er sich, doch wenigstens noch die beiden ersten Theile der Synthetik, wenn auch nicht in der anfangs beabsichtigten Ausführlichkeit zu bearbeiten, und gab sie unter dem Titel: „Principienlehre“ heraus, wovon der erste Theil die „Principien der Theologie“, der zweite die der Naturwissenschaft entwickelt. Beide erschienen 1875 (München, bei Ackermann). Den Schluß des naturwissenschaftlichen Theiles überarbeitete er noch während eines, seines schon längere Zeit an ihm zehrenden Herzleidens wegen erhaltenen Urlaubes in seinem Landaufenthalte zu Rottach und Prien unter unsäglichen, aber die Klarheit seines Geistes nicht trübenden Leiden und im täglichen Anblicke des Todes. Er suchte noch einige Erleichterung in dem milden Klima Südtirol’s, und dort ereilte ihn der Tod. Er starb zu Gries bei Botzen am 27. September 1874 im 54. Jahre seines Lebens als treuer Sohn der katholischen Kirche, zu der er sich zeitlebens offen bekannte, indem er die Anerkennung ihrer Autorität in Glaubenssachen nie für unvereinbar hielt mit der vollsten Freiheit der wissenschaftlichen Forschung. Seine Leiche wurde nach München gebracht. Schon einige Zeit vor seinem Tode hatte er auch ein erst nach demselben zu eröffnendes „geistliches Testament“ mit den ergreifendsten, vom Hauche der Ewigkeit durchwehten Ermahnungen an seine Tochter abgefaßt, welches durch Vermittlung der letzteren selbst in der „Monika“ [212] (einer Beilage zur katholischen Schulzeitung; Neuburg a. D. 1875 Nr. 8–11) abgedruckt wurde und welches auch ein künftiger Bearbeiter der Geschichte der neueren deutschen Philosophie nicht unberücksichtigt wird lassen dürfen, weil es nicht bloß des Philosophen tiefreligiöse Gesinnung bekundet, sondern auch einen kleinen Beitrag liefert zur richtigen Beurtheilung und Würdigung seines ganzen, übrigens bloß auf reine Vernunft gegründeten philosophischen Systems.

In seiner äußeren Erscheinung bemerkte man an R. nichts Außergewöhnliches. Von Figur war er klein und sehr schmächtig, aber lebhaft und agil. Seine Lebensweise war sehr einfach und regelmäßig, aber ohne Pedanterie. In Kleidung, Wohnung und Haushalt hielt er immer auf Reinlichkeit und Ordnung, aber ohne allen Prunk; auch in seinen Arbeiten liebte er Ordnung und Maaß und concentrirte seine Thätigkeit. In seinem ganzen Auftreten und Benehmen war er höchst bescheiden und anspruchslos, voll bereitwilliger Anerkennung fremder Verdienste, ehrerbietig gegen seine Vorgesetzten, aber ohne Kriecherei, denn er war kein Streber und wollte in jeder Stellung, zu der man ihn geeignet hielt, nur seine Pflicht thun. Im Umgange mit Anderen war er ebenso vorsichtig, um Niemand ohne Noth zu verletzen, als nachsichtig mit fremden Schwächen, mild im Urtheil und geduldig bei wissenschaftlichem Widerspruch. Ueber juristische Dinge besprach er sich nur mit seinen Amtsgenossen, aber über philosophische mit Jedem, der dazu geneigt und befähigt war. Gesellschaften liebte er nicht, Theater und Concerte besuchte er selten, gegen Freunde erwies er sich jederzeit theilnehmend und treu. An politischen Parteien, Vereinen und Versammlungen betheiligte er sich nie, auch in politisch erregter Zeit nicht. Größere Reisen ins Ausland machte er nicht, in den Ferien aber liebte er es, im Gebirge herum zu wandern, und in den letzten Jahren zog er sich regelmäßig in eine ländliche Einsamkeit zurück, meist nach Rottach bei Tegernsee, wo er am ruhigsten seinen Studien leben konnte. Denn der Nerv seines Lebens war die Philosophie, von der er so voll war, daß er noch als Oberappellationsgerichtsrath mit dem Gedanken umging, öffentliche Vorträge über Philosophie an der Universität zu halten, den er jedoch schon seiner Kränklichkeit wegen nicht ausführen konnte. Sein Ideal aber war keine dem Leben abgewendete Philosophie, sondern eine solche, die nicht bloß auch die übrigen Wissenschaften tiefer begründen und organisch unter sich verbinden und beseelen könnte, sondern eben dadurch auch im Stande wäre, in Verbindung mit dem Glauben und der Liebe auch das Leben selbst regeneriren zu helfen.

Schriften über Rosenkrantz[WS 1]: a) anerkennende: 1) eine Recens. der Analytik (des I. Bds.) von mir im Bonner theol. Litteraturbl. 1866 S. 744 und 775. – 2) Die im Ganzen richtige, nur in der Fassung des Princips nicht ganz genaue Darstellung von Erdmann in s. Gesch. der Phil. 2. Auflage 1870, 2. Bd. S. 745. – 3) Ein Artikel von mir über das Verhältniß der „Principienlehre“ zur posit. kirchl. Theologie, in der Tübinger theol. Quartalschrift 1875, S. 628–45. – 4) Eine kurze Erwähnung in der Gesch. der Philos. v. Ueberweg (Heinze), 5. Auflage, Berlin 1876, S. 378. – 5) Eine noch etwas unreife Anpreisung v. L. Müllner in der Zeitschrift für Phil. und philos. Kritik, Bd. 69, S. 270–89 und Bd. 70, S. 56. – 6) Die schon oben erwähnte Broschüre v. Dr. Entleutner. – 7) Ein kurzer Artikel v. L. Noack in s. Handwörterbuch zur Gesch. der Phil., Leipzig 1879, S. 744. b) gegnerische, am Standpunkt der Scholastik festhaltende: 1) ein Artikel von Haffner im „Katholik“ 1875. S. 577–89 und in dessen „Grundlinien der Gesch. der Phil.“ 1881. – 2) Eine Kritik in der Innsbrucker theol. Zeitschrift v. Wieser (S. J.) 1879, S. 299–355. 3) Das Urtheil Stöckl’s in s. Gesch. d. neueren Phil. 2. Bd. 1883, auf welche drei Kritiker sich jedoch derjenige nicht verlassen darf, der sich [213] ein eigenes Urtheil über das System von R. bilden und nicht eine ganz falsche Vorstellung davon bekommen will. – Eine ganz objectiv gehaltene Darstellung des Gedankengangs der Analytik findet sich von mir in der Zeitschrift f. Phil. und philos. Kritik v. J. 1889.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Rosenkranz