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ADB:Rüdinger, Nicolaus

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Artikel „Rüdinger, Nicolaus“ von Wilhelm Krause in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 53 (1907), S. 580–582, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:R%C3%BCdinger,_Nicolaus&oldid=- (Version vom 22. November 2024, 12:54 Uhr UTC)
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Rüdinger: Nicolaus R., Dr. med., ordentlicher Professor der descriptiven und topographischen Anatomie an der Universität München. Er war am 25. März 1832 zu Erbes-Büdesheim im Kreise Alzey im Großherzogthum Hessen geboren, als zwölftes Kind einer wenig bemittelten Bauernfamilie. Im 4. Lebensjahre des Knaben starb sein Vater; anstatt es mit dem Dorfschulunterricht genug sein zu lassen, nahm sich ein katholischer Geistlicher seiner an, R. aber trat dann auf seinen eigenen Wunsch im 15. Lebensjahre bei einem Barbier in Alzey in die Lehre. In seinem 19. Jahre wurde er Gehülfe bei einem Barbier in Heidelberg und hörte zufolge der um die Mitte des Jahrhunderts in mehreren deutschen Staaten noch bestehenden Einrichtung, anatomische, chirurgische und andere Vorlesungen, um dann die Laufbahn der niederen Chirurgie zu ergreifen. Indessen setzte eine kleine Erbschaft vermöge [581] des bald darauf erfolgten Todes seiner Mutter R. in den Stand, ein regelrechtes vierjähriges Studium der Medicin in Heidelberg durchzuführen. Im Herbst 1852 bestand er an der Universität seiner Heimath in Gießen die Staatsprüfung als Wundarzt und bei dieser Gelegenheit entdeckte Th. Bischoff, der damals Professor der Anatomie in Gießen war, die außergewöhnliche Geschicklichkeit Rüdinger’s im Präpariren. Am 12. April 1855 wurde er in Gießen ohne eine gedruckte Dissertation zum Dr. med. promovirt und am 15. Mai 1855 Prosector an der anatomischen Anstalt in München, wohin Th. Bischoff als ord. Professor der Anatomie damals übergesiedelt war. Ein am 10. December 1857 an die medicinische Facultät der Universität München gerichtetes Gesuch um Zulassung zur Habilitation als Privatdocent wurde auf Grund des mangelnden Abiturientenexamens, sowie anscheinend weil er nicht aus Baiern gebürtig war, abgelehnt. Auf Grund von Privatstudien bestand R. nachträglich im October 1858 die Maturitätsprüfung in Darmstadt, sah sich aber veranlaßt, ein zweites am 10. November 1858 eingereichtes Gesuch um Zulassung zur Habilitation wieder zurückzuziehen. Im Jahre 1860 verheirathete er sich mit der liebenswürdigen Auguste Ruhmandl, Tochter eines Rechtsanwalts in München; aus dieser Ehe sind eine Tochter und zwei Söhne hervorgegangen. Am 3. Januar 1863 erhielt R. ein Gehalt von ca. 1500 Mark und reichte zugleich sein drittes und am 28. Juni 1864 sein viertes Gesuch um Zulassung zur Habilitation ein, die sämmtlich abschlägig beschieden wurden. Statt dessen wurde er am 2. Juni 1868 auf v. Liebig’s Anregung zum Honorarprofessor in der medicinischen Facultät, Anfang 1870 zum außerordentlichen Professor und im Sommer 1880 zum ordentlichen Universitätsprofessor der Anatomie in München ernannt. In dieser Stellung, bleibend in vortrefflicher Uebereinstimmung mit seinem geistig hervorragenden Collegen v. Kupffer und als Mitdirector der anatomischen Anstalt, starb R. an einer Blinddarmentzündung am 25. August 1896 in Tutzing am Starnberger See, das er mit Vorliebe als Aufenthaltsort während der Sommerferien zu wählen pflegte.

R. hat etwa 90 Abhandlungen und selbständige Schriften veröffentlicht. Das erscheint heutzutage sehr wenig, er folgte aber nicht der den Buchhändlern so schädlichen Sitte, dieselbe Kleinigkeit an drei oder mehreren Stellen, auch noch in fremden Sprachen zu veröffentlichen. Unter jener Zahl stehen der Atlas des Nervensystems des menschlichen Körpers (1861), die Anatomie der menschlichen Gehirnnerven (1868), die topographisch-chirurgische Anatomie des Menschen (1873–1875) und der Cursus der topographischen Anatomie (1891; 3. Aufl. 1893) im Vordergrunde. Erwähnung verdienen seine erste Abhandlung über die Anatomie der Gelenknerven (1857) und die Entdeckung (1866), daß die häutigen Bogengänge des Gehörorgans den knöchernen inwendig seitlich, also excentrisch angeheftet sind und sie keineswegs ausfüllen. Daß das Verhältniß der Dicken = 6 : 9–15 sei, war allerdings schon seit C. Krause (1836) bekannt, aber weiter nicht beachtet worden. Seit R. in jener Zeit (1865) die Tuba auditiva zu untersuchen begann, haben sich seine Studien wiederholt dem Gehörorgan mit Rücksicht auf die Bedürfnisse der Ohrenheilkunde zugewendet; zahlreich sind auch seine anthropologischen Arbeiten und namentlich die über Rassengehirne beachtenswerth. Nicht geringer ist sein Verdienst um die Münchner anatomische Sammlung, die seiner Geschicklichkeit eine große Anzahl von ausgezeichneten Präparaten, insbesondere von Durchschnitten an gefrorenen Leichen verdankt. Seinem Studiengang zufolge war R. dem Gebrauche des Mikroscopes nicht näher getreten; er ist einer der wenigen wesentlich topographischen Anatomen (Braune, Hartmann, Joessel), die bis zum Ende des Jahrhunderts die topographische Anatomie auf eigene Füße zu stellen versuchten. Charakteristisch [582] aber ist es für den immer weiterstrebenden Sinn Rüdinger’s, daß er noch im 50. Lebensjahre anfing, sich mit rein histologischen Dingen zu beschäftigen, so daß seine allerletzte Abhandlung (1895) die Leukocytenwanderung in den Schleimhäuten des Darmcanals betrifft. In jenem Lebensalter pflegen sonst umgekehrt die Mikroscopiker sich der dankbareren Aufgabe des Präparirsaales zuzuwenden.

R. war ein allgemein geachteter, liebenswürdiger Charakter, gastfrei und ein treuer zuverlässiger Freund, dem der Schreiber dieser Zeilen bei einer wichtigen Gelegenheit den entscheidenden Rath zu verdanken hat. Auf seinen Bildungsgang war er nicht mit Unrecht ein wenig stolz und pflegte an die Antwort jenes altfranzösischen Leibarztes zu erinnern, dem sein College am Hofe vorgeworfen hatte, er sei früher Barbier gewesen (: wenn Sie es gewesen wären, Sie wären es noch!). Nicht ganz selten waren sogar in der Mitte des Jahrhunderts hervorragende praktische Aerzte, die aus dem wenig geachteten, niederen Chirurgenstande hervorgegangen und auch zu Reichthümern gelangt sind; von einer Laufbahn wie die von R. ist aber kein zweites Beispiel bekannt.

C. v. Kupffer, Anatomischer Anzeiger, 1897, Bd. XIII, Nr. 7, S. 219. – W. His, daselbst S. 333.