ADB:Scheurl von Defersdorf, Adolf Freiherr
Scheurl: Christoph Gottlieb Adolf Freiherr von Sch. Sch. wurde geboren am 7. Januar 1811 zu Nürnberg als einziges Kind des kgl. Oberpostamtsofficial Chr. Wilhelm Friedrich v. Scheurl und der Wilhelmine v. Scheurl geb. Freiin v. Löffelholz. Er entstammte dem alten Geschlechte derer v. Scheurl, welches aus Breslau im 15. Jahrhundert eingewandert ist. Seine Jugend verbrachte er in Nürnberg und absolvirte das dortige Gymnasium 1827. Er studirte sodann in Erlangen 1827–28 und in München 1828–31 die Rechtswissenschaft, promovirte 1834 und habilitirte sich 1836 an der Universität Erlangen; dortselbst wurde er 1840 außerordentlicher, und 1845 ordentlicher Professor des römischen Rechts und des Kirchenrechts. Im J. 1884 wurde er in den erblichen Freiherrenstand erhoben. Im J. 1837 verehelichte er sich mit Marie Kleinknecht, aus welcher Ehe ihm zwei Töchter und zwei Söhne geboren wurden; nach dem Tode seiner Gattin vermählte er sich im J. 1869 mit der Wittwe seines Freundes Johannes Thäter.
Mit dem römischen Rechte begannen seine Studien; seine Dissertation (1835) bildet eine Commentatio ad II., 2, 3, 4, 72, 85. D. de Verborum obligationibus; seine Habilitationsschrift (1836) bespricht die Frage: Num Juris Gentium acquisitionibus dominium civile Romanorum effectum sit; 1839 erschien seine Schrift über das nexum, 1846 eine Dissertatio de usus et fructus discrimine, 1855 eine Anleitung zum Studium des römischen Civilrechts. Wesentliche Bereicherung verdankt ihm die Disciplin des römischen Rechts vor allem durch sein Lehrbuch der Institutionen, welches in acht Auflagen erschien, und seine Beiträge zur Bearbeitung des römischen Rechts, von zahlreichen Aufsätzen in Zeitschriften zu geschweigen. Die Entwicklung zog ihn jedoch mehr und mehr in das Kirchenrecht hinein; diesem hat er später seine Hauptkräfte gewidmet, wenn er auch bis zu seinen letzten Lebenstagen römisch-rechtlichen Studien obgelegen und auf diesem Gebiete selbst producirt hat. In den Jahren 1845–49 war er Mitglied der Kammer der Abgeordneten. Hier fand er reiche Gelegenheit, seine umfassenden Kenntnisse und sein juristisches Urtheil zu verwerthen. Als Mitglied mehrerer Ausschüsse referirte er über die verschiedensten Rechtsfragen, z. B. 1847 über die Freiheit der Presse, über die Behandlung neuer Gesetzbücher, 1848 über den Entwurf des Edicts, betr. die Freiheit der Presse und des Buchhandels, den Entwurf betr. die Wahl der Abgeordneten zum deutschen Parlament; er betheiligte sich an den Debatten über die Anträge über die Universitäten, über die ständische Initiative, die [4] Aufhebung des Lehensverbandes; er hielt einen Vortrag über den Beschluß der Kammer der Reichsräthe, betr. die Verantwortlichkeit der Minister; als Mitglied des Gesetzgebungsausschusses referirte er über den Entwurf wegen Einführung der Schwurgerichte, über den Entwurf, betr. das Verfahren bei Verurtheilung von Verbrechen und Vergehen durch Kreis- und Stadtgerichte. Kurzum, in reichstem Maase betheiligte er sich an dem politischen und juristischen Leben dieser bewegten Jahre. Insonderheit hervorzuheben ist sein Antheil an der Reform des Strafproceßrechts (1848 publicirte er auch „Erläuternde Anmerkungen zu der neuen Proceßordnung für das diesrh. Baiern auf Grundlage der ständischen Ausschußverhandlungen“). Politisch trat er namentlich in dem Landtage 1849 hervor bei der Berathung über die Beantwortung der Thronrede (erste und folgende Sitzungen), und bei Besprechung der Frage, Deutschland mit oder ohne Oesterreich (achte und folgende Sitzungen). Aber auch schon in derjenigen Richtung wurde er damals thätig, die den eigentlichen Kern seines späteren Lebens ausmachen sollte, nämlich in den Fragen der Verfassung der evangelischen Landeskirche. Schon 1846 finden wir von ihm ein Votum über die Beschwerden wegen Verletzung verfassungsmäßiger Rechte der protestantischen Kirche in Baiern; 1848 referirte er bei den Berathungen über den so wichtigen Gesetzentwurf, „die protestantischen Generalsynoden und den Consistorialbezirk Speier betreffend“. Seine Ausführungen (vgl. Verhandlungen der Kammer der Abgeordneten 1848. Protokolle 7, 35 ff.) waren so gediegen und treffend, daß noch im J. 1881 das Oberconsistorium bei seiner Erläuterung über die königliche Entschließung vom 1. August 1881 wörtlich einige Sätze daraus entnahm. Damals mochte Sch. seinen eigentlichen Beruf erkannt haben, denn von nun an wandte seine wissenschaftliche Thätigkeit sich vorwiegend dem Kirchenrechte zu. Hierzu kam, daß er 1865 in die Generalsynode gewählt wurde, der er bis 1884 angehörte. Zumeist war er Mitglied des Ausschusses für Petitionen; nur 1877 wurde er in den besonderen Ausschuß für die Verordnung über Taufe, Confirmation, kirchliche Trauung und Führung der Kirchenbücher gewählt. An den Berathungen über die Gestaltung der kirchlichen Verfassung, insbesondere über die größere Selbständigkeit der Kirche gegenüber dem Staate nahm Sch. den regsten Antheil.
Mit seiner officiellen Thätigkeit ging seine schriftstellerische Hand in Hand. Vornehmlich beschäftigte er sich mit den schwebenden Fragen der Kirchenverfassung. Ueber die verfassungsmäßige Stellung der lutherischen Kirche in Baiern veröffentlichte er schon 1853 und 1854 zwei Schriften. 1872 verbreitete er sich in einer selbständigen Untersuchung über die Stellung der Kirche zur Staatsgewalt in Baiern. Der Beschluß der Generalsynode von 1873 rief eine weitere Publication hervor.
Die specifisch bairischen Verhältnisse veranlaßten aber naturgemäß Untersuchungen allgemeiner principieller Natur; so behandelte er (1862) die Lehre vom Kirchenregiment, das Problem der Gewissensfreiheit, die Begriffe Bekenntnißkirche und Landeskirche (1867, 1868); 1885 sprach er über die Aufgaben des christlichen Staates. Eine Anzahl wichtiger allgemeiner Fragen (z. B. Kirchenzucht, Liturgie) hatte er im J. 1857 in mehreren Flugschriften beantwortet, die er betitelte: „Fliegende Blätter für die kirchlichen Fragen der Gegenwart“. Zahlreiche Artikel in der Zeitschrift für Protestantismus und Kirche, deren Mitherausgeber er seit 1858 war, und in der Zeitschrift für Kirchenrecht beschäftigen sich mit den Fragen der evangelischen Verfassung. Auch um Rechtsgutachten wurde er von verschiedenen Seiten angegangen. Ueberall trat er hier ein für die Rechte der evangelischen Kirche; insbesondere darf man ihm mit Recht den Ehrentitel eines Syndikus der lutherischen Kirche [5] zuerkennen. Denn als solcher vertrat er 1852 „die Sache der Lutheraner in Baden“, in demselben Jahre „das gute Recht der Lutheraner in Baden“, publicirte er „Einige Worte über das Recht des evangelisch-lutherischen Bekenntnisses im Großherzogthum Hessen“ (1873), zog er auch die lutherische Kirche in Preußen oder in den neu-preußischen Staatsgebieten in den Kreis seiner wissenschaftlichen Arbeit (1854, 1867).
Die moderne Entwicklung des Eherechts drängte ihn ebenfalls zu wissenschaftlicher Behandlung. So entstand seine Schrift über die „Entwicklung des kirchlichen Eheschließungsrechts“ (1877). Diese ist auch deshalb interessant, weil sie der einzige größere Versuch Scheurl’s auf dem Gebiete des kanonischen Rechts ist; denn zumeist gehen seine Quellenforschungen nicht über die Reformationszeit hinaus. Schon früher hatte er sich mit Luther’s Eherecht beschäftigt; die Artikel „Luther’s Eherechtsweisheit“, zuerst in der Zeitschrift für Protestantismus und Kirche erschienen, hat Sch. seiner „Sammlung kirchenrechtlicher Abhandlungen“ (Erlangen 1873) einverleibt. Auch mancher Aufsatz in der Zeitschrift für Kirchenrecht beschäftigt sich mit eherechtlichen Dingen. Eine erschöpfende Zusammenfassung bietet aber sein gediegenes Buch: „Das gemeine deutsche Eherecht und seine Umbildung durch das R.-G. vom 6. Februar 1875“, 1882. Mit dem katholischen Kirchenrechte hat er sich wenig abgegeben; das Jahr 1847 bringt eine Schrift über Concordat und Constitutionseid; dagegen besitzen wir kleinere Untersuchungen in Zeitschriften, namentlich derjenigen für Kirchenrecht, von ihm über allgemeine Fragen des Kirchenrechts, wie „Kirchliches Gewohnheitsrecht“, „Rechtsgeltung der Symbole“, „Kirchliche Lehrgesetzgebung“, „Begriffsbestimmung[WS 1] des Kirchenrechts“, „Selbständigkeit des Kirchenrechts“. Nicht unerwähnt wollen wir endlich lassen, mit welcher Wärme er für die Verbreitung kirchenrechtlicher Kenntnisse unter den evangelischen Theologen (1861) eingetreten ist.
Seine letzte kirchenrechtliche Arbeit „Staatsgesetzgebung und religiöse Kindererziehung“ eröffnete die Zeitschrift für Kirchenrecht in ihrer neuen Gestalt als „Deutsche Zeitschrift für Kirchenrecht“ 1891, und auch die Fortsetzung der Zeitschrift für Protestantismus und Kirche, die Neue kirchliche Zeitschrift konnte sich noch seiner Mitwirkung erfreuen. Siehe Neue kirchliche Zeitschrift I, 1890, S. 84: „Die Ehen zwischen Protestanten und Katholiken“.
Man sollte es kaum glauben, daß Sch. neben so ausgedehnter Thätigkeit noch Muße fand zu local-historischen Arbeiten über Nürnberg und seine Familie. Zahlreiche Vorträge im Verein für die Geschichte Nürnbergs und viele Aufsätze in dessen Mittheilungen – noch kurz vor seinem Tode brachten diese eine Notiz über Veit Stoß aus seiner Feder – geben hiervon Kunde.
Im J. 1881 in den Ruhestand getreten, lebte er im Stammhaus seines Geschlechts nur noch ganz seiner Wissenschaft. Mit einer staunenswerthen geistigen Frische und Regsamkeit begabt bis in seine allerletzten Tage, verfolgte er die Litteratur, faßte neue Pläne und war bis zum letzten Augenblicke selbstschaffend thätig. So wollte er noch gegen Sohm’s Kirchenrecht, dessen Grundidee er als gefährlich und irrig bezeichnete, Stellung nehmen, als der unerbittliche Tod am 23. Januar 1893 seinem Leben ein Ziel setzte.
Ein reicher Formensinn und ein feiner an den römisch-rechtlichen Vorbildern geschulter, zu scharfsinnigen, bisweilen allerdings auch spitzen Unterscheidungen neigender Geist war ihm eigen; er offenbart sich in allen seinen Schöpfungen. Aber noch eins zeichnet sie aus: sie athmen alle den echt-kirchlichen Sinn und den tief-sittlichen Ernst ihres Verfassers. Sie sind mit juristischer Schärfe geschrieben, aber aus inniger Liebe für die Kirche empfunden. Sch. lebte beständig in und mit seinen Problemen; zu immer vollerer Klarheit [6] durchzudringen war ihm stetes Bedürfniß. So änderte er nicht selten seine Ansichten und beleuchtete wiederholt dieselben Fragen. Dabei war er aber keineswegs eine Natur, welche eine einmal gefaßte Meinung leichthin Preis gab. Im Gegentheil: er konnte lebhafte Polemik führen; aber er war ein viel zu irenischer Geist, als daß die Polemik jemals die Grenzen des Sachlichen überschritten hätte, und er war eine viel zu wahre und selbstlose Natur, als daß er jemals auf seiner Meinung bestanden hätte, nachdem er das Richtige beim Gegner erkannt hatte. So vereinten sich in seinem Wesen die schönsten Zierden des Charakters: Wahrheit, Gewissenhaftigkeit, selbstlose Bescheidenheit; alles übertraf aber noch seine aufrichtige, tiefe Frömmigkeit. Wissenschaft und Christenthum waren die Brennpunkte seines Lebens.
- v. Stählin, in Allgem. evang.-lutherischer Kirchenztg. XXVI (1893), S. 404 ff. – Sehling in Neue kirchl. Zeitschr. 1893, S. 252 ff. – Ders. in Deutsche Zeitschr. f. Kirchenr. 1893, S. 1 ff. – Ders. in Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche. 3. Aufl. 17 (1906), S. 564 ff.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: Begriffsbestimmuwg