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ADB:Schlettwein, Johann August

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Artikel „Schlettwein, Johann August“ von Robert Zuckerkandl in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 31 (1890), S. 467–471, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Schlettwein,_Johann_August&oldid=- (Version vom 29. November 2024, 07:07 Uhr UTC)
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Schlettwein: Johann August S., einer der eifrigsten Vertreter der physiokratischen Lehre in Deutschland, wurde im J. 1731 zu Weimar geboren, besuchte das Gymnasium seiner Vaterstadt, studirte dann zu Jena Rechts- und Cameralwissenschaften und erwarb da den Titel eines Magisters. Seine Studien waren jedoch nicht auf ein Fach beschränkt, wie aus seinen ersten Schriften klar genug hervorgeht. Wir besitzen von ihm aus seiner Jenaer Zeit u. a. eine Abhandlung: „Ob die Lehre von drei Personen in der Gottheit aus der ihr selbst gelassenen Vernunft vollständig bewiesen werden könne“, Jena 1753, ferner „Bemühungen in der Naturkunde und anderen nützlichen Wissenschaften“, Jena 1756, einen Leitfaden der Logik unter dem Titel „Der Weg zur Wahrheit“, Jena 1759, eine „Metaphysik zum Gebrauche in den höheren Wissenschaften“, Jena 1759, eine „Dissertatio de augendo civium in republica numero“, endlich „Schriften zum Vortheil nützlicher Wissenschaften“, Jena 1759–60. Diese Arbeiten beweisen eine ungewöhnliche Vielseitigkeit des wissenschaftlichen Interesses und große Leichtigkeit der Production, Eigenschaften, die S. auch in seiner weiteren Laufbahn immer wieder bekundete.

Entscheidend für die Bevorzugung nationalökonomischer Studien seitens Schlettwein’s, die aus seinen folgenden Schriften hervortritt, scheint dessen Berufung in den badischen Dienst gewesen zu sein, die am 6. Juni 1763 erfolgte. Er erhielt den Titel eines Kammer- und Polizeirathes (im J. 1765 den Titel und Rang eines Hofrathes), sollte die einem Rathe der fürstlichen Rentkammer [468] zukommenden Obliegenheiten erfüllen, und zugleich in den Cameral- und Polizeiwissenschaften denen, die solche erlernen wollten, wöchentlich etliche Stunden öffentliche Vorlesungen halten. Der damalige Markgraf von Baden, Karl Friedrich, ist bekannt als überzeugter Anhänger der physiokratischen Lehre; wie weit er S. oder umgekehrt dieser seinen Herrn beeinflußt habe, ist nicht festzustellen. Jedenfalls brachte Schlettwein’s Stellung für ihn die Nothwendigkeit mit sich, der Staatswirthschaftslehre erhöhte Aufmerksamkeit zuzuwenden.

Im badischen Dienste entfaltete er eine umfassende Thätigkeit und behauptete als Vertrauensmann des Souveräns eine vielbeneidete und vielbekämpfte Stellung. Bereits im J. 1765 gründete der Markgraf eine ökonomische Gesellschaft in Karlsruhe[WS 1], deren Mitglied S. war, und zu Ende der sechziger Jahre faßte er den Plan, die Einführung des physiokratischen Systems in Baden zu versuchen. Der Antheil, den S. dabei nahm, war sehr bedeutend. Die „natürliche Ordnung“ wurde zunächst in drei Ortschaften: Diettlingen, Thendingen[WS 2] und Bahlingen verwirklicht, indem an die Stelle der bestehenden Auflagen eine einzige, den reinen Ertrag der Grundstücke treffende Steuer treten, und dem Handel und Wandel eine angemessene Freiheit gewährt werden sollte. Die Verwirklichung der natürlichen Ordnung zunächst in diesem engen Rahmen war Aufgabe Schlettwein’s. Beiläufig so viel, als jede der Ortschaften an Auflagen bis dahin überhaupt gezahlt hatte, wurde nunmehr als Steuer von den Grundstücken eingehoben, deren Reinertrag so bemessen worden war, daß etwa 20 Procente desselben der bisherigen Steuerleistung entsprachen. Aus Anlaß dieser Action mußte sich S. naturgemäß das Bedürfniß nahelegen, das physiokratische System, dessen Verwirklichung ernstlich versucht wurde, der Bevölkerung gleichsam von Amtswegen genau darzulegen und seine Vortrefflichkeit zu erweisen. Zum mindesten war er als hervorragender Rathgeber des Fürsten in dieser Sache dazu berufen. Er that dies in seiner Schrift „Les moyens d’arrêter la misère publique“ etc., Karlsruhe 1772 (in deutscher Uebersetzung Basel 1773), noch ausführlicher in der Schrift „Die wichtigste Angelegenheit für das ganze Publicum“ u. s. w., Karlsruhe 1772, welche als eines seiner nationalökonomischen Hauptwerke gelten kann, endlich in der Abhandlung „Erläuterung und Vertheidigung der natürlichen Ordnung in der Politik“ u. s. w., Karlsruhe 1772. Man könnte diese Arbeiten mit einem modernen Ausdrucke als officiöse bezeichnen.

Das neue System, bei dem es späterhin, wie bekannt, nicht verbleiben konnte, war kaum eingeführt, da fiel S. in Ungnade und schied aus seiner hervorragenden Stellung. Die Ursachen seines Sturzes sind nicht genau bekannt; es scheint, daß er sich durch sein jähes Emporsteigen in der Gunst des Landesfürsten, durch rücksichtsloses Vorgehen und selbstbewußtes Auftreten viele Beamte und Hofleute zu Feinden gemacht habe und deren vereinten Bemühungen erlegen sei. Ende 1773 verließ er Karlsruhe und begab sich zunächst nach Wien, wo er mehr als Geschäftsführer ohne Auftrag für den Markgrafen zu wirken suchte, wohl immer in der Hoffnung, daß eine Wiederanstellung nicht ausgeschlossen sein werde. Er berichtete über seine Thätigkeit an den Markgrafen, verfaßte für denselben Denkschriften, zumeist über in Wien und in Baden anhängige wichtige Angelegenheiten, deren einige später in sein „Archiv“ Aufnahme gefunden haben dürften, allein es gelang ihm nicht, wieder in den badischen Dienst einzutreten. Aus seiner Wiener Zeit datirt die Schrift: „Die Freiheit der Rheinschiffahrt, aus der wesentlichen Gerechtigkeit, den deutschen Reichsgrundgesetzen und dem wahren Interesse der Länder vertheidigt“, Wien 1774. Zu Ende dieses Jahres ist er wieder in Karlsruhe, sich um seine Anstellung erfolglos bemühend. Im J. 1775 verheirathet er sich mit einem Fräulein v. Geusau. [469] Aus diesem Jahre stammen seine „Schriften für alle Staaten zur Aufklärung der Ordnung der Natur im Staats-, Regierungs- und Finanzwesen“. Vorübergehend nimmt er in Freiburg i. Br. Aufenthalt, bis er endlich im J. 1776 in Basel Unterkommen findet. Da lebte Iselin, der Herausgeber der „Ephemeriden der Menschheit“, ein schwärmerischer, überschwänglicher Freund der natürlichen Ordnung. Seinem Einflusse ist es wohl zuzuschreiben, daß dem Gesinnungsgenossen S. gestattet wurde, an der Universität Vorlesungen zu halten. Die Ankündigung der Vorlesungen liegt vor unter dem Titel „Vorstellung von den Wirkungen einer blühenden Universität auf den Nahrungsstand des Volkes u. s. w.“; die Vorträge sollten sich demnach erstrecken auf das Recht der Natur, die gesammten Staats-, Regierungs- und Cameralwissenschaften, die Handlungs- und Münzwissenschaft, die Landwirthschaft, die Statistik und das deutsche Staatsrecht nach Pütter. Die Landwirthschaftslehre sollte unter anderen auch physikalische und chemische „Observationen“ bringen, den gesammten Feldbau, die Viehzucht und das Forstwesen umschließen. Für die Zukunft waren Vorträge über europäisches Völkerrecht, allgemeine physische und ökonomische Chemie, endlich die Errichtung eines Staatsseminariums in Aussicht genommen, in welchem diejenigen, „die sich dereinst in Staatsgeschäften brauchen lassen wollen“, in allen Arten von politischen Arbeiten geübt werden sollten. Die Antrittsvorlesung fand am 20. November 1776 statt und handelte „von dem unauflöslichen Bande zwischen der echten Naturweisheit und der Glückseligkeit der Staaten“. Zunächst war es jedoch S. erspart geblieben, als Lehrer in solcher Vielseitigkeit zu glänzen, da bloß ein Theil der angekündigten Collegien zu Stande kam. Die „Ephemeriden“ berichten über seinen Erfolg wie folgt: „Er liest in zween verschiedenen Hörsälen zwo verschiedenen Gesellschaften die Grundsätze der Staatswissenschaft und insbesondere der Staatswirthschaft vor. Wenn man in seine Hörsäle kommt, sollte man meynen, man befinde sich in dem alten Griechenlande oder in dem alten Rom. Man findet da Männer von siebenzig Jahren und Jünglinge von zwanzig, welche mit großer Aufmerksamkeit den Vortrag eines Philosophen anhören. Herr S. ertheilet über dieses in einer besonderen Stunde Jünglingen, die sich der Handelschaft widmen, Unterricht in der historischen Geographie, vermischt mit Unterrichte über die Moral, die Politik und die Handlungswissenschaft …“ Aeußerungen Iselin’s in Privatbriefen bestätigen diese Darstellung.

In Basel verblieb S. nur kurze Zeit. Im J. 1777 stiftete Ludwig, Landgraf von Hessen, eine fünfte, ökonomische Facultät an der Universität Gießen und berief S., der gleichzeitig zum Regierungsrathe ernannt wurde, als Lehrer der Politik wie der Cameral- und Finanzwissenschaft an dieselbe. Das Programm, mit welchem er den Antritt seines Lehramtes ankündigt, führt den bezeichnenden Titel: „Evidente und unverletzliche, aber zum Unglücke der Welt verkannte oder nicht geachtete Grundwahrheiten der gesellschaftlichen Ordnung“ u. s. w.; es werden darin einige physiokratische Lehrsätze, „sonnenklare Grundwahrheiten“, wie der Autor sagt, entwickelt. Das Lehramt trat er mit einer Rede „Ueber Europens bevorstehenden gänzlichen Verfall, wenn die Geistesthätigkeit, die Sitte und die Politik ihren bisherigen Gang fortsetzen“ u. s. w. am 25. October 1777 an. Im folgenden Jahre veröffentlichte er den Grundriß seiner Vorlesungen unter dem Titel „Grundveste der Staaten oder die politische Oekonomie“, Gießen 1778; dieses ist sein zweites nationalökonomisches Hauptwerk. Im J. 1780 begann er mit der Herausgabe der periodischen Schrift „Archiv für den Menschen und Bürger in allen Verhältnissen“, von dem bis 1784 acht Bände erschienen; an dasselbe schloß sich ein „Neues Archiv“, das von 1785 bis 1788 in fünf Bänden erschien. S. hatte schon früher viel für Zeitschriften [470] geschrieben; nunmehr versorgte er diese beiden Archive allein mit Material. Sie enthalten nationalökonomische, politische, juristische, landwirthschaftliche und statistische Artikel, Mittheilungen über wichtige neue Gesetze u. dgl. m., manche ältere Arbeit Schlettwein’s wurde darin zum Abdrucke gebracht. Seine Stelle als Professor der Gießener Universität legte er im J. 1785 nieder und lebte fürderhin theils auf dem Gute seiner Frau, Beseritz in Mecklenburg-Strelitz, theils in Greifswalde. Seine schriftstellerische Thätigkeit setzte er unvermindert fort, doch wandte sich sein Interesse mehr dem öffentlichen Rechte und der Politik zu, wie seine zahlreichen Schriften aus jener Zeit zeigen, unter denen sich auch ein „Naturrecht“ befindet. Er starb am 24. April 1802 zu Dahlen in Mecklenburg. Seine Tochter war die Mutter des berühmten Nationalökonomen Rodbertus.

S. ist, trotzdem er auf mehreren Wissensgebieten als Schriftsteller thätig war, doch nur als Nationalökonom von Bedeutung. Er war der eifrigste unter den deutschen Physiokraten, hat für die Verbreitung der Physiokratie viel gethan, und wird von Zeitgenossen nicht mit Unrecht als der deutsche „Haupt-Physiokrat“ bezeichnet. Seine beiden volkswirthschaftlichen Hauptwerke sind noch heute nicht ohne Interesse als gute Darstellungen der physiokratischen Lehre. An dieser hielt er unausgesetzt fest, wenn er auch in einzelnen Fragen seine eigenen Wege ging. So ist besonders hervorzuheben, daß er in seinen späteren Schriften zum Unterschiede von seinen früheren Werken die Volksvermehrung als Hauptzweck und wichtigstes Princip der Staatswirthschaft in den Vordergrund stellt. Bereits in seiner Gießener Antrittsvorlesung wird der herrschenden Politik vorgeworfen, daß sie die Masse der unentbehrlichen Lebensmittel vermindere und die verminderte Menge vertheure. Es wird daran die Frage geknüpft: „Was wird aus Dir werden Europa, wenn Du so fortgehst?“ In der „Grundveste der Staaten“ heißt es ausdrücklich, es sei Ziel der Staatswirthschaft, die Erde immer mehr mit Menschen zu bevölkern, zu diesem Behufe sei die Masse der Nahrungsmittel, der Kleidungs- und Wohnungsmaterialien allenthalben zu vergrößern, und könne man nebenbei daran denken, „ohne Abbruch derselben“ Quellen der Freude für die menschlichen Sinne zu eröffnen. Er eifert demnach gegen die Pferdezucht, gegen den Tabak-, ja sogar gegen den Bergbau, weil durch dieselben die Menge der nothwendigen Nahrungsmittel vermindert werden. Umsoweniger ist es verständlich, daß er es für gleichgiltig erklärt, ob die Manufacturen sich im Inlande oder im Auslande befinden. In Fragen, wo physiokratische Glaubenssätze ihn nicht binden, entwickelt er die seltsamsten Ansichten, so in einzelnen Details der Lehre vom Geld. Im Sinne seiner Zeit leitet er die Lehren wie mathematische Sätze aus einzelnen Axiomen ab; sie sollen für alle Zeiten und Völker gelten; auch er war von der optimistischen Ueberschätzung der menschlichen Einsicht in wirthschaftlichen Dingen erfüllt. Die physiokratischen Grundlehren hielt er für „Evidenzen“, für „Simplicitäten“, an deren Richtigkeit nicht gezweifelt werden konnte. Seine Schreibweise läßt ihn als Kind seiner Zeit erkennen; jeder Autor mußte damals Zeugniß für die eigene schöne Seele ablegen, es galt, sich an überschwänglicher Empfindsamkeit, Nächstenliebe und brüderlicher Gesinnung von Niemandem übertreffen zu lassen; eine lyrische Stimmung war über alle Welt gekommen. Die Darlegung der „natürlichen Ordnung“ bot vielfach Anlaß zu geziertem Ausdruck edler Gefühle; immerhin ist S. darin noch verhältnißmäßig sparsam, so daß Iselin seinen Stil trocken nennt. Auch liegt kein Grund vor, anzunehmen, daß es ihm mit seinen beglückenden Ideen nicht Ernst war. Er sagt von sich selbst: „Mein Herz ist von Gott mit großer Empfindsamkeit und mit einem unwiderstehlichen Hange zur Wohlthätigkeit begabt worden … Ich fühle, voll von unaussprechlicher Begeisterung, [471] Trieb und Muth in Planen zu arbeiten, welche die Menschheit an allen Orten und unter allen Verhältnissen interessiren“. Seine umfassende schriftstellerische Thätigkeit hat S. übrigens nicht davor bewahrt, fast ganz in Vergessenheit zu gerathen. Dies ist begreiflich, da A. Smith die Physiokratie alsbald verdrängte, und wenn schon auf dieselbe zurückgegangen werden muß, naturgemäß das Studium der französischen Quellen näher liegt, als das der deutschen Bearbeitungen. Die wissenschaftliche Befähigung ist indessen nicht nach der Dauer des Namens und der Werke zu schätzen: Es erforderte damals keine geringe geistige Kraft, sich mit den Ideen der „natürlichen Ordnung“ zu befreunden, die den Umsturz der herrschenden Staatswirthschaftspolitik bedingten, und für alle, die es in jener Zeit vermochten, ist dies allein ein Beweis nicht gewöhnlicher geistiger Begabung. – Ein vollständiges Verzeichniß aller Schriften Schlettwein’s habe ich nicht finden können. „Das gelehrte Deutschland“ von Hamberger-Meusel, Lemgo 1798, 7. Bd., bringt die beste Aufzählung der selbstständig erschienenen Arbeiten; sie ist im Vorstehenden, so viel als möglich, ergänzt.

Biographische Litteratur: A. Emminghaus, Ein deutscher Physiokrat. Im neuen Reich 1873, S. 801. – Derselbe, Carl Friedrichs von Baden physiokratische Verbindungen etc. Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, 19. Bd. – Hamberger-Meusel, Das gelehrte Deutschland, 7. Bd., S. 153; 10. Bd. S. 582.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Die Gründung erfolgte bereits am 20. April 1762; Schlettwein belebte diese Gesellschaft am 10. November 1764 wieder
  2. es handelt sich hier um die Gemeinde Theningen (zeitgenössische Schreibweise) am Kaiserstuhl, heute Teningen