ADB:Schumacher, Hermann
Droysen’s Leitung, und noch nach dem glänzend bestandenen juristischen Staatsexamen eine Zeit lang in Berlin historischen Studien ob, denen früh seine Neigung gehört hatte und denen er immer treu geblieben ist. Im Herbste 1863 ließ er sich als Rechtsanwalt in der Vaterstadt nieder. Hier war soeben durch die Publication einer neuen Strafproceßordnung ein wichtiger Fortschritt auf dem Gebiete des öffentlichen Rechtslebens vollzogen und durch die zwei Jahre früher begründete historische Gesellschaft den geschichtlichen Studien ein frischer Antrieb gegeben worden. Mit der ganzen Lebhaftigkeit seines Geistes und Temperaments gab sich S. diesen neuen Bestrebungen hin. Aus der Beschäftigung mit der Strafproceßordnung gewann er die Anregung zu seiner historischen Erstlingsarbeit „Der erste Schwurgerichtshof in Bremen“, Bremen 1863, worin die unterscheidenden Merkmale des Proceßverfahrens zur Zeit der kurzen französischen Herrschaft und des alten gemeinrechtlichen Verfahrens in geistvoller Weise charakterisirt und der Widerspruch, der zwischen Theorie und Praxis der französischen Gerichtshöfe obwaltete, aus den erhaltenen Proceßacten erläutert wird. Gleichzeitig bearbeitete – er gemeinsam mit Ehmck[WS 1] im ersten Bande der von der historischen Gesellschaft herausgegebenen „Denkmale der Geschichte und Kunst der freien Hansestadt Bremen“ die Geschichte des Rathhauses. Und noch ehe diese gemeinsame Arbeit im zweiten Bande des von derselben Gesellschaft herausgegebenen Jahrbuchs durch die Publication der Rechnungen über den Rathhausbau des fünfzehnten Jahrhunderts ihren historisch-kritischen Abschluß gefunden hatte, war durch die ersten Lieferungen des bremischen Urkundenbuchs seine Aufmerksamkeit auf ältere Perioden der vaterstädtischen Geschichte gelenkt worden. Zeugniß davon gaben die 1864 im ersten Bande des genannten Jahrbuchs erschienenen Aufsätze über die älteste Geschichte des bremischen Domcapitels und über die bremischen Immunitätsprivilegien. Im Herbste desselben Jahres unterzog er, durch ein Preisausschreiben der historischen Gesellschaft aufgefordert, die Geschichte der Stedinger, jenes Bremen benachbarten Bauernvolkes, das im dreizehnten Jahrhundert durch seine Verketzerung die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich gelenkt hatte, einer neuen Bearbeitung. Die preisgekrönte Arbeit erschien 1865 als selbständiges Werk, das zum ersten Male dem tapfern Volke volle historische Gerechtigkeit widerfahren ließ und sowohl durch die kritische Behandlung, wie durch die Darstellung sich allgemeinen Beifalls zu erfreuen hatte.
Schumacher: Hermann Albert S., geboren zu Bremen am 15. December 1839, † daselbst am 22. Juni 1890, gehörte einer Familie an, deren Mitglieder seit drei Jahrhunderten als Rathsherren, Elterleute des Kaufmanns, Prediger und Lehrer in der Stadt Bremen gewirkt haben. Er selbst wurde durch das Beispiel des Großvaters, den er als Bürgermeister, und des Vaters, den er als Richter und dann als Senator im öffentlichen Leben der Vaterstadt thätig sah, ebensosehr wie durch seinen lebhaften Thätigkeitstrieb frühzeitig auf die Bahn gewiesen, die am sichersten den Zutritt zu den öffentlichen Geschäften eröffnet, und ergriff demgemäß das Studium der Rechte. Doch lag er daneben in Jena wie in Göttingen, dort namentlich unterDie außerordentliche litterarische Fruchtbarkeit dieser Jahre, im Vorstehenden noch keineswegs erschöpfend gekennzeichnet, wurde in der Folgezeit durch Schumacher’s vielfache Theilnahme an den praktischen Aufgaben des Gemeinwesens wohl vermindert, blieb aber immer noch eine sehr bedeutende. Schon 1865 wurde S. in die bremische „Bürgerschaft“ gewählt, die neben der Mitwirkung an der Gesetzgebung auch zu umfangreicher Betheiligung an der Staatsverwaltung berufen ist. Ein Jahr später wurde ihm das Amt eines Syndikus der Handelskammer übertragen, das ihm eine umfassende Thätigkeit für die wichtigsten Interessen des bremischen Gemeinwesens, Schifffahrt und Handel, Verkehrs- [35] und Auswandererwesen, auferlegte. Bald darauf übernahm er auch das Amt des Generalsecretärs der deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger, die 1865 begründet, soeben im Begriffe war, für ihre humanen Bestrebungen die Herzen zu gewinnen und ihre Organisation über Deutschland zu verbreiten.
Trotz der mannigfachen Aufgaben, die ihm aus diesen Aemtern erwuchsen und vielseitiger Anforderungen, welche sociale Veranstaltungen an seine stets bereite Arbeitskraft stellten, behielt S. auch in den folgenden Jahren noch Lust und Muße zur Theilnahme an historischen Arbeiten, von denen mehrere in den späteren Bänden des bremischen Jahrbuchs gedruckt, andere handschriftlich hinterlassen sind.
S. hatte als Syndikus der bremischen Handelskammer bedeutenden Antheil genommen an den Arbeiten, welche die Umwandlung der verschiedenen deutschen Handelsmarinen in eine einheitliche erforderten und an der Vorbereitung der Vertrags- und Gesetzentwürfe, mit denen der Norddeutsche Bund und demnächst das Deutsche Reich die Beziehungen unseres Handels und unserer Schifffahrt zum Auslande, unser Auswandererwesen und unser Consulatswesen auf neue Grundlagen stellte. So konnte es am Ende nicht überraschen, als zu Beginn des Jahres 1872 der Antrag an ihn herantrat, als Vertreter des Reichs über den Ocean zu gehen. Die auf Anregung einiger Bremischer Häuser neu creirte Stellung eines Ministerresidenten und Generalconsuls in Columbien wurde ihm angeboten. Es war für den zweiunddreißigjährigen Mann, der mit jugendlichem Enthusiasmus an der Aufrichtung des deutschen Reichs und ihrer Rückwirkung auf die Stellung der Deutschen im Auslande theilgenommen hatte, eine verlockende Aufgabe, nun von hervorragender amtlicher Stellung aus an den erhöhten Aufgaben mit zu arbeiten, welche dem Deutschen Reiche im internationalen Wettbewerb gestellt wurden. Dennoch regten sich ernste Bedenken, ob er dem Anerbieten folgen dürfe. Die ernsteste Frage freilich, ob er denn seiner ganzen Persönlichkeit nach für eine diplomatische Stellung geeignet sei – und um eine solche handelte es sich in erster Linie – wurde nur flüchtig gestreift. Das Vertrauen, welches seine Bremischen Gönner ihm schenkten und das Vertrauen in die eigenen jugendlichen, in mannigfachen Aufgaben wohl bewährten Kräfte drängte solche Zweifel rasch zurück. Aber mit Frau und Kindern, er hatte sehr früh die Ehe geschlossen, über den Ocean in eine wenig bekannte Hochgebirgswelt zu gehen, eine sichere Gegenwart mit einer unsichern Zukunft zu vertauschen, die keine Antwort auf die Frage gab, wann sie einmal in die Heimath zurückführen werde, das war es, was ihn mit Zweifeln bewegte. Indeß der Optimismus siegte. Zu Anfang März 1872 schiffte er sich nach Columbien ein. Die amtliche Thätigkeit, die er während reichlich dreier Jahre in dem weltentlegenen Bogotá, dann acht Jahre lang als Generalconsul in dem rastlosen und aufreibenden Getriebe von Newyork und abermals drei Jahre lang auf dem an physischen und politischen Revolutionen reichen Boden Perus als Ministerresident in Lima ausgeübt hat, entzieht sich zur Zeit noch der Beurtheilung. Aber S. war nicht der Mann, der allein in seinen amtlichen Pflichten Genüge gefunden hätte. Die neue Umgebung, in der er lebte, regte insbesondere sein historisches und sein geographisches Interesse mächtig an.
Die Geschichte der Entdeckung Amerikas, ein Gegenstand, dessen Betrachtung dem geborenen Bremer von frühe auf nahe gelegen hatte, gewann in der neuen Welt, zumal im Lande der Conquistadoren, gewaltig an Reiz. Man darf sagen, daß S. von dem Augenblicke an, da er den Fuß auf amerikanischen Boden setzte, die Entdeckungsgeschichte als ein hohes Ziel für seine wissenschaftliche Thatkraft ins Auge faßte. Unermüdlich ist er auf den Höhen der Anden, wie in den Thälern des Magdalenenstroms, in den Bibliotheken Newyorks und in den [36] Archiven Spaniens und Deutschlands, in der Natur und in der Litteratur den Spuren der kühnen Eroberer und der schätzesuchenden Kaufleute, die zuerst in die amerikanische Wildniß eindrangen, nachgegangen. Leider hat sein frühzeitiger Tod die Ausführung des großen Gedankens verhindert, zu welcher die reichen Kenntnisse, die er in anderthalb Jahrzehnten erworben hatte, und die außerordentliche Begabung, die er für die kritische und formale Bewältigung eines so gewaltigen Stoffes besaß, ihn wie wenig Andere befähigt haben würden. So ist außer einigen kleineren Untersuchungen nur eine größere Vorarbeit für die Entdeckungsgeschichte von S. vollendet worden: „Petrus Martyr, der Geschichtschreiber des Weltmeers“[WS 2], Newyork, Steiger 1879, eine Untersuchung, welche für das Verständniß einer der vornehmsten Quellen zur Geschichte der Entdeckungsfahrten zuerst die kritische Grundlage geschaffen hat.
Aber Schumacher’s historisches Interesse für die amerikanischen Länder wurde auch durch die Kämpfe gefesselt, unter denen sie sich vom Mutterlande losrissen und als selbständige Staaten constituirten. Aus diesen Studien ist die umfang- und inhaltreichste seiner Publicationen hervorgegangen: „Südamerikanische Studien. Drei Lebens und Culturbilder. Mútis, Cáldas, Codazzi. 1760 bis 1860“, Berlin 1883. Die drei Männer haben in der politischen Geschichte Columbiens eine wenig bedeutende, eine große Rolle aber in der geistigen Cultur des Landes gespielt, alle drei mit Alexander v. Humboldt in persönlichem oder brieflichem Verkehre gestanden. Doch ist das Werk zugleich für die Geschichte des Unabhängigkeitskrieges und für die folgenden inneren Parteikämpfe von bedeutendem Werthe. Zu Anfang 1883 mußte S. nach kaum überstandener schwerer Krankheit von Newyork nach Lima übersiedeln. Der dreijährige Aufenthalt dort, der ihm neben manchen Aufregungen im amtlichen und persönlichen Leben schwere und oft gefahrvolle Dienstpflichten in dem von Krieg und Revolution heimgesuchten Lande auferlegte, war nicht dazu angethan, seine erschütterte Gesundheit zu kräftigen. So wurde er zu Anfang des Jahres 1886 zu Disposition gestellt und kehrte nach langer Fahrt um die Südspitze Amerikas, um die Mitte des Jahres in die Heimath zurück.
Es wurde ihm schwer, sich wieder zu dauerndem Aufenthalte in Bremen zu entschließen, wo dem halb gebrochenen Manne sich keine Aussicht bot, noch einmal, wie ehedem, an den praktischen Aufgaben des Gemeinwesens mitthätig sein zu können. Aber Familien- und Freundschaftsbeziehungen drängten doch den Gedanken eines Ortswechsels immer wieder zurück und bald fühlte er, wie die alten Wurzeln neue Kräfte aus dem heimischen Boden sogen und frische Triebe ansetzten. Die in Amerika empfangenen Anregungen und begonnenen Arbeiten wurden unablässig weiter verfolgt. Drei weitere Biographien südamerikanischer Gelehrten, von denen zwei nahezu vollendet sind, dazu Studien über die Welser, für die in Augsburg und München neues Material gesammelt wurde, Studien über Columbus und andere Gegenstände der amerikanischen Geschichte lenkten seine Blicke immer wieder über den Ocean zurück und zeigten, wie er die Darstellung der Entdeckungsgeschichte beständig im Auge behielt. Aber eben diese Studien wurden zugleich unvermerkt zu neuen Bindemitteln mit der Heimath. Die Brücke bildeten vor allem die Reisewerke und geographischen Arbeiten seines ehemaligen alten Freundes, des bremischen Stadtbibliothekars J. G. Kohl. Von ihm wurde seine Aufmerksamkeit auf Bessel hinübergelenkt, dessen Andenken eine seiner letzten Arbeiten galt: „Fr. W. Bessel als Handlungslehrling in Bremen“, im Bremischen histor. Jahrbuche Bd. 15 und in etwas veränderter Gestalt separat gedruckt; dann auf den Amtmann und Astronomen Schröter in Lilienthal bei Bremen, dem er in den Abhandlungen des bremischen naturwissenschaftlichen Vereins eine eingehende Darstellung widmete. Auch Bessel’s anderer [37] großer Lehrer, der Arzt und Astronom Wilhelm Olbers, fesselte sein Interesse. Die jetzt in der Vorbereitung begriffene Gesammtausgabe der Werke von Olbers ist Schumacher’s Anregung zu danken. Aus solchen und anderen Studien entstand der Plan einer Sammlung bremischer Charakterköpfe des 18. u. 19. Jahrhunderts, von dem Einiges zur Ausführung gelangt ist und einer Veröffentlichung im erwähnten historischen Jahrbuche noch entgegen sieht.
Mitten aus diesen Arbeiten und Entwürfen wurde er kaum 50jährig durch eine tückische Krankheit abgerufen. Er hatte ohne Zweifel selbst auf eine ungleich längere Zukunft gerechnet und deshalb sorglos von den Anregungen, die der Augenblick gewährt, seine Arbeitskraft bald hierher, bald dorthin lenken lassen. Die glückliche Fähigkeit der Concentration der Kräfte auf eine Aufgabe war seinem allzu lebhaften Naturell versagt. Es war ein von seinen Freunden oft beklagter und doch zum Theil auch durch sie verschuldeter Fehler, daß er, anstatt die Kräfte seiner letzten Lebensjahre ganz seinen amerikanischen Arbeiten zu widmen, nur zu willig den aus heimischen Quellen entspringenden Aufgaben sich wieder hingab, denen er die ersten Erfolge auf wissenschaftlichem Gebiete zu verdanken gehabt hatte.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Diedrich Rudolf Ehmck (1836-1908), Philologe, Historiker und Senator in Bremen.
- ↑ Petrus Martyr von Anghiera (Anglerius) (1457-1526), italienisch-spanischer Geschichtsschreiber.