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ADB:Sievers, Jakob Johann Graf

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Artikel „Sievers, Jakob Johann Graf“ von Johannes Engelmann in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 34 (1892), S. 232–240, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Sievers,_Jakob_Johann_Graf&oldid=- (Version vom 23. November 2024, 09:39 Uhr UTC)
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Sievers: Jakob Johann Graf S., der bedeutendste unter den Staatsmännern Katharina’s II., entstammt einer Familie, deren Mitglieder zu den Lehnsleuten der Bischöfe von Hildesheim (Sievershausen) gehörten. Ein Vorfahre, der sich der Reformation anschloß, soll infolge dessen seines Lehens verlustig erklärt worden sein, trat in das Heer Gustav Adolf’s und kam später nach Estland. Seine Nachkommen dienten in der schwedischen Armee als Officiere. Sein Urenkel, dessen Gut im nordischen Kriege verwüstet wurde, floh mit Weib und Kind nach Finland und kämpfte dort unter den Fahnen seines Königs. Nach dem Nystädter Frieden kehrte er völlig mittellos nach Estland zurück. Seine Söhne Joachim und Karl mußten sich durch eigne Arbeit forthelfen und ihre Eltern unterstützen. Dem älteren, Joachim, gelang es, sich in Livland ein eigenes Heim zu gründen und später eine größere Anzahl Güter zu erwerben, die noch heute im Besitze der Familie sind.

Joachim von S. war eine kräftige, kernige Natur, religiös und ein strenger Arbeiter. Er heirathete seine Base, Anna von S., an der Herzensgüte, feines Gefühl, offener Sinn für die Natur und große Wirthschaftlichkeit gerühmt werden.

Am 19. August 1731 wurde Jakob Johann S. zu Wesenberg geboren. Den ersten Unterricht erhielt er von seinem Vater, später wurde für ihn und seine zwölf Geschwister ein Hauslehrer gehalten. 12 Jahre alt kam er zu seinem Oheim Karl von S., der am Hofe der Kaiserin Elisabeth von Rußland eine einflußreiche Stellung bekleidete. 13 Jahre alt trat er als „Collegien-Junker“ in das Collegium des Auswärtigen, wo er mit Chiffriren und Dechiffriren von Depeschen beschäftigt wurde und sich an Ordnung und Ausdauer in der Arbeit gewöhnte. Mit 17 Jahren kam er zur russischen Gesandtschaft in Kopenhagen. Hier lernte er die Werke des dänischen Dichters Holberg und die deutsche Litteratur kennen. Klopstock’s Messias machte einen großen Eindruck auf ihn. Des dänischen [233] Ministers Bernstorff finanzielle Reformen regten ihn zu eingehenden Studien auf diesem Gebiete an. Nach einem Jahre wurde er zur Botschaft nach London versetzt. Die 7 Jahre, die er daselbst verbrachte, sind für seine Entwickelung die wichtigsten gewesen. Das rege öffentliche Leben, das unumwundene Aussprechen eigener Meinungen in Parlament, Versammlungen und Zeitungen, der offene Kampf politischer Parteien, die öffentlichen Demonstrationen gegen die Regierung machten einen gewaltigen Eindruck auf ihn, der in einer Residenz erzogen war, wo öffentliche Angelegenheiten überhaupt nicht besprochen, geschweige denn kritisirt werden durften, der einem Staate diente, wo dem Gesandtschaftspersonal nur eine Correspondenz mit ihren nächsten Verwandten und nur unter Controlle des Collegiums des Auswärtigen gestattet wurde. In dieser Zeit eignete er sich die umfassende Bildung an, über die er gebot: all sein Geld gab er für Bücher und Karten aus. Er war bald bewandert in der französischen und englischen Litteratur. Shakespeare und Friedrich’s d. Gr. Brandenburgische Denkwürdigkeiten rissen ihn hin. Durch sein ernstes Streben und sein männliches Verhalten hatte er sich die Achtung und das Vertrauen seiner Vorgesetzten erworben. Im Jahre 1755 kehrte er auf Veranlassung seines Oheims nach Livland zu seinem Vater zurück, um sodann den Krieg gegen Preußen mitzumachen. Im Jahre 1756 trat er mit dem Range eines Majors in die Armee und wurde zum Quartiermeister einer Division ernannt. Er kämpfte in den Schlachten von Großjägerndorf, Zorndorf und bei der ersten, vergeblichen Belagerung von Kolberg. Auf die Aufforderung des Günstlings der Kaiserin, des Senators Grafen J. J. Schuwalow, mußte er verschiedene Denkschriften über den Verlauf des Krieges und über den Gang der Ereignisse abfassen, die sich durch große Klarheit und sachliche Darstellung auszeichneten. Im Jahre 1758 wurde er nach Petersburg berufen, um über den Feldzug und das Verhalten der Generale untereinander zu berichten. Er hatte die Pflicht eines tapferen Kriegers erfüllt, als umsichtiger Officier beim Generalstabe sich Ansehen erworben und durch geschickte Unterhandlungen in der Cartellcommission zur Auswechselung der Gefangenen die Aufmerksamkeit höchststehender Männer auf sich gezogen. Die Anstrengungen im Feldzuge hatten seine Gesundheit angegriffen, er erhielt noch vor Beendigung des Krieges Urlaub: ein längerer Aufenthalt in Italien kräftigte ihn, zugleich lernte er die große Welt und Menschen kennen. Nach seiner Rückkehr im Jahre 1763 wurde er mit dem Range eines Generalmajors und einer Pension von 300 Rbl. aus dem Militärdienst entlassen. Er nahm einen längeren Aufenthalt bei seinem Vater auf dessen Gute Bauenhof und lernte in Livland die Landwirthschaft und die Selbstverwaltung kennen, wie sie damals geübt wurden.

Die Kaiserin Katharina II. suchte beim Beginn ihrer Regierung die Provinzialverwaltung in Rußland zu regeln. Sie schuf eine einheitliche Verwaltung für jede Provinz, indem sie den Gouverneur als das Haupt und den Herrn derselben hinstellte, und ihn direct dem Senat und nicht den Collegien, den damaligen administrativen Centralbehörden, unterstellte. So waren die Gouverneure Statthalter, welche die Provinzen unter Aufsicht des Senats, aber zugleich unter unmittelbarer Leitung der Kaiserin verwalteten. Bei solcher Stellung kam alles auf die sorgfältige Auswahl der Gouverneure an, von deren Charakter und persönlichen Eigenschaften das Wohl und Wehe der Provinzen abhing. Die Kaiserin ließ sich eine sorgfältige Auswahl derselben angelegen sein. Nowgorod, eines der wichtigsten Gouvernements, das sich von der polnischen Grenze bis zur schwedischen und bis zum Eismeere und von Ingermannland bis Twer erstreckte, 1700 Werst lang und 600 Werst breit, vertraute sie S. an. Bevor er seine Provinz antrat, hatte er einen Monat hindurch fast täglich stundenlange Conferenzen mit der Kaiserin, in denen seine Instructionen eingehend durchgesprochen [234] und ergänzt wurden. Die eingehenden, sorgfältig ausgearbeiteten Berichte, und Denkschriften, die er während seiner Verwaltung einreichte, enthalten nicht nur eine ergreifende Schilderung der damaligen Zustände, sondern zeugen auch von seiner staatsmännischen Einsicht, seinem klaren Blick und seiner unermüdlichen Arbeitskraft. Er verschwieg nichts und konnte mit Recht sagen, daß die gesetzliche Freiheit des Menschen und deren persönliches Wohl nie einen eifrigern Vertreter am Throne Katharina’s gehabt habe als ihn. Die Kaiserin gestand, daß sie durch ihn erst das Innere ihres ungeheuren Reiches kennen gelernt habe, sie bezeugt, daß der Senat nicht oft solche Berichte wie die seinen erhalte, daß sie sie mit Interesse lese und stets aus ihnen lerne. Das damals auf dem europäischen Continente herrschende System war der aufgeklärte Absolutismus: die Kaiserin Katharina und S. standen gleichfalls auf diesem Standpunkte. S. aber brachte dazu unbedingte Achtung vor dem Rechte des Einzelnen, sorgfältiges Eingehen auf die Verhältnisse des praktischen Lebens: niemals arbeitete er nach der Schablone. Ging er auch ans Werk mit großer, ja übertriebener Vorstellung von der Wirksamkeit bureaukratischer Maßregeln, Vorschriften, Berichte, Controlle, so war er doch frei von dem starren Eigensinn, der sonst absolutistische Reorganisatoren beherrscht. Stets war er bereit, auf Vorstellungen zu hören, unermüdlich die wirklichen Verhältnisse kennen zu lernen und die Maßregeln ihnen anzupassen. Da er zu der Begeisterung, mit der er an die ihm gestellte riesige Aufgabe ging, Ausdauer, scharfen Blick, raschen Entschluß, umfassende Bildung, Ehrenhaftigkeit, unerschütterliches Wohlwollen und milde Formen allen Untergebenen gegenüber mitbrachte, so ist es ihm gelungen, Großes zu leisten. Wiederholt ist er bestrebt gewesen, die Selbstverwaltung, die er als Livländer praktisch kannte und deren hohe Bedeutung für das Staatsleben er in England schätzen gelernt hatte, anzuregen.

Ganz besonders tritt sein staatsmännischer Blick in seinen Reformvorschlägen hervor, denn stets hatte er Maßregeln von reichhaltigster, weitgreifendster Bedeutung im Auge, welche die wichtigsten Lebensinteressen des russischen Volkes und Staates betrafen, nirgends ein Haschen nach Tageserfolg. Wenn auch nicht die russischen Geschichtsschreiber, so hat die russische Geschichte ihm Recht gegeben, denn nicht nur sind die Reformen, die von ihm durchgeführt wurden, von größter Bedeutung für die Volkswohlfahrt gewesen, sondern auch die Vorschläge, deren Ausführung zu seiner Zeit durch Neid, Mißgunst und Intriguen hintertrieben wurden, haben sich als unbedingt nothwendig erwiesen, und mußten früher oder später in der von ihm angegebenen Weise ausgeführt werden, und wo man nicht in seinem Geiste sie ausführte, ist es nicht zum Heile Rußlands geschehen. Beispiele werden das erläutern. S. ist der erste gewesen, der in Rußland der rechtlosen Leibeigenen sich annahm, für ihr Recht eintrat und nicht müde ward, unmittelbar praktische Vorschläge zu machen, um ihnen Rechtsschutz zu verschaffen. Er forderte Normirung ihrer Leistungen, Schutz ihres Eigenthums, Beschränkung der Willkür des Gutsherrn, besonders des Bestrafungs- und Verschickungsrechts. Obwohl er sich nur an das Erreichbare hielt, scheiterten seine Vorschläge an dem Egoismus der Umgebung der Kaiserin. – Er wies nach, daß die Kronbauern den ärgsten Bedrückungen ausgesetzt seien, daß die ganze Verwaltung der Reform bedürfe – es blieb Alles beim Alten; erst unter Nikolaus, nachdem Speranski jenen Beweis zum zweiten Mal geführt hatte und der Kaiser selbst die Sache in die Hand nahm, kam es zu einer Reform. Bei der Verbesserung der Lage der Bauern hatte S. stets auch die Hebung des Landwirthschaft im Auge, was im praktischen Leben immer verbunden sein wird. Daß dieser vor hundert Jahren von S. betonte Gesichtspunkt bei der Aufhebung der Leibeigenschaft außer Acht gelassen worden ist, rächt sich jetzt. S. stieß bei seinem [235] Eintreten für das unterdrückte Volk sogar dann auf Hindernisse, wenn er den unmittelbaren Nutzen für die Armee nachweisen konnte. Wiederholt drang er darauf, daß die Willkür bei der Rekrutirung beseitigt wurde und nur zum Theil gelang es ihm, seine Vorschläge durchzusetzen.

Vergeblich verlangte er, daß die Kinder der Dorfgeistlichen und der Kirchendiener von der Leibeigenschaft befreit würden (erst unter Alexander I. durchgeführt), daß die „Bürger“, welche von den Beamten wie Leibeigene des Staates behandelt wurden, von der Kopfsteuer, als dem Sklavenzeichen befreit wurden (erst 100 Jahre später unter Alexander II. geschehen); daß die Körperstrafe gemildert und die Anwendung beschränkt würde (gleichfalls erst 100 Jahre später unter Alexander II. geschehen); daß das schädliche Salzmonopol aufgehoben würde (geschah erst unter Alexander II. und III.). Da er mit seinen Vorschlägen zu Gunsten des bedrückten Volkes nicht durchdrang, so mußte er sich darauf beschränken, diesen Classen in seinem Gouvernement Schutz angedeihen zu lassen. Seine Frau und seine Verwandten haben es, sogar noch nach seinem Tode, erfahren, mit wie rührender Dankbarkeit das niedere Volk ihn dafür segnete. Vergeblich beantragte er eine Reorganisation der Forstverwaltung, um der zunehmenden Verwüstung der Wälder zu wehren, und die von ihm aufgedeckten Mißbräuche zu beseitigen.

Vom Jahre 1765 an hat er den Anbau der Kartoffeln in seinem Gouvernement eingeführt. Er war es, der es durchsetzte, daß man den Klostergeistlichen, denen man die Klostergüter genommen hatte, den versprochenen Unterhalt festsetzte und anwies. Nach seinem Plane wurde die „Freie ökonomische Gesellschaft“ in Petersburg gegründet. Freilich hat sie die großen Hoffnungen, die S. auf die Thätigkeit dieser nach englischem Muster gestifteten Gesellschaft gesetzt hatte, nicht gerechtfertigt, weil er eben die Verschiedenartigkeit der Zustände in England und Rußland nicht genügend in Anschlag gebracht hatte. S. hat die Kuppel der altehrwürdigen Sophienkirche in Nowgorod vor dem Einsturze bewahrt und durchgesetzt, daß die zur Restauration nöthigen Geldmittel angewiesen und zweckmäßig verwandt wurden. Eine Reihe von Städten dankt ihm ihren Wiederaufbau nach dem üblichen Brande, so Twer, Staraja Russa, Kargopol u. a., und dabei setzte er es durch, daß dieser Wiederaufbau in monumentaler, zweckmäßiger Weise und aus Stein erfolgte. Ueberhaupt beförderte er auf jede Weise Steinbauten in den Städten. Er ist es gewesen, der zur Beseitigung der mit Mord und Todtschlag verbundenen Grenzstreitigkeiten eine Generalvermessung sämmtlicher Ländereien beantragte und zwar mit Zugrundlegung rationeller Grundsätze und mit Aufgabe der bis dahin üblich gewesenen Reduction des nicht documentarisch nachgewiesenen Eigenthums zu Gunsten der Krone. Um der zunehmenden Verwüstung der Wälder zu wehren, suchte er die Torfindustrie und das Aufsuchen von Steinkohlenlagern zu fördern. Er setzte es durch, daß Rybinsk, der bedeutendste Binnenhafen des Reiches, zur Stadt erhoben wurde.

S. ist es gewesen, der unablässig darauf drang, die Folter müsse abgeschafft werden. Da die damaligen Räthe der Kaiserin behaupteten, daß dann Niemand seines Lebens im eigenen Hause sicher sein werde, so führte er aus den Criminalacten den Beweis, daß der Vater des Fürsten Orlow als Gouverneur die Anwendung der Folter in seinem Gouvernement nicht geduldet und doch Ordnung und Ruhe aufrecht erhalten habe. Am 11. November 1767 gelang es ihm, die Kaiserin zur Aufhebung der Folter zu bewegen. Freilich erlebte er es noch, daß die Folter 1801 vom Kaiser Alexander I. zum zweiten Mal für immer aufgehoben werden mußte. S. ist es gewesen, der den Plan zur Gründung der 1768 errichteten Assignationenbank ausgearbeitet hat, die Assignationen sollten an Stelle deponirten Metalles (hauptsächlich Kupfer) zur Erleichterung der Geldcirculation [236] ausgegeben werden. Die Organisation erreichte ihren Zweck. Nach seinem Ausscheiden aus dem Dienst benutzte man die Notenpresse, um Papiergeld ohne Vermehrung des Metallfonds auszugeben. Er verwahrte sich energisch gegen diese Mißbräuche. Die allgemeine Einrichtung der Posten ist von ihm ausgegangen: er bewies durch die That, daß die Vermehrung nicht nur dem Publicum nützlich, sondern auch für die Regierung vortheilhaft sei. Die Salinen in Staraja Russa, seit dem XVII. Jahrhundert im Betrieb, waren infolge der Bedrückungen der Beamten, die die Einwohner ruiniert hatten, eingegangen. S. stellte sie wieder her und organisirte die Verwaltung, sodaß die Salinen eine Quelle des Wohlstandes für die Einwohner wurden.

Aus den angeführten Beispielen ist ersichtlich, wie umfassend seine Thätigkeit war, dabei war seine Arbeitskraft unermüdlich. In zwei Jahren hatte er sein Gouvernement bereist (9000 Werst im Norden, 7000 Werst im Süden). Auf seinen Reisen verfolgte er mit warmer Begeisterung die Spuren der Thätigkeit Peter’s d. Gr. und nahm dessen Arbeiten im Wege- und Canalbau wieder auf, die unter Peter’s Nachfolgern seit Münnich’s Verbannung vernachlässigt und verfallen waren. S. erst hat Peter’s d. Gr. Pläne ausgeführt, ja erweitert. Bei der Ausführung all’ dieser Pläne und Reformvorschläge hatte S. mit der anfangs ablehnenden, später in Chikanen auslaufenden Opposition des Senats und besonders des intriguanten General-Procureurs Fürsten Wäsemski zu kämpfen. Neid und Mißgunst gingen soweit, selbst nützliche Maßregeln, die man nicht hintertreiben konnte, böswillig zu hindern (vgl. Blum, I, 276 u. 77 und an vielen anderen Stellen). In der ersten Zeit hatte S. die Kaiserin auf seiner Seite. Allein als der Türkenkrieg in Aussicht trat, häuften sich die Hindernisse. Mit größter Offenheit sprach S. gegen den Krieg, er hob hervor, wie verderblich die Folgen desselben sein müßten, daß die Wohlfahrt des Reiches ganz andere Maßregeln verlange: Gesetze, Hebung von Handel und Gewerbe, Gründung von Städten, Bau von Canälen und Wegen u. s. w. Es half nichts; als der Krieg ausgebrochen war, nahmen die auswärtigen Angelegenheiten die Aufmerksamkeit der Kaiserin so völlig in Anspruch, daß sie für die Nöthe des täglichen Lebens und für Arbeiten zur Hebung der Wohlfahrt des Volkes keine Zeit und keine Mittel übrig hatte. Es gerieth Vieles ins Stocken, sogar die Gründung neuer Städte, obwohl es sich bei Sievers’ Städtegründungen nur um die Umbenennung bedeutender Handels- und Fabrikdörfer in Städte, die factisch schon bestanden, handelte, und um keinerlei bedeutende Ausgaben. Der Senat verzögerte die Sache 7 Jahre hindurch. Der leichtfertig heraufbeschworene Krieg hatte in seinem Gefolge die Pest nach Rußland gebracht. In jener Zeit war S. überall, gab durch seine directe Thätigkeit das Beispiel strenger Pflichterfüllung, sodaß seine Frau ihm vorwarf, er werde den Pestkranken wohl gar selbst die Medicin reichen und durch Ansteckung sie zur Wittwe und seine Kinder zu Waisen machen. Durch seine umsichtigen Maßregeln hemmte er die Verbreitung der Pest.

Mit dem Frieden von 1772 kehrten auch für S. bessere Zeiten zurück. Mit einem Federstriche machte die Kaiserin in Sachen der Städte der Verschleppung ein Ende, was für S. die schönste Belohnung war. Freilich blieb er für’s erste unbelohnt, obwohl sein Gehalt für seine Reisen nicht ausreichte und er sich in Schulden gestürzt hatte. Als er beim Friedensfest von 1775 Belohnungen erhielt, waren sie verschwindend gegenüber den ungeheuren Summen, die Andere erhielten. Ihm wurde die Generaldirection der Canäle übertragen, auf diesem Felde hat er unter unsäglichen Mühen, Sorgen und Anfeindungen Hindernisse aller Art überwunden und Großes geleistet. Das Canalsystem, welches Baltisches, Kaspisches, Schwarzes und Weißes Meer mit einander verbindet, ist im wesentlichen sein Werk. Kaum hatte er die Verwaltung übernommen, so spürte man es: nie [237] waren die Barken so rasch befördert, nie das Getreide so bald nach Petersburg geschafft worden. S. hatte es versucht, eine riesige Provinz der Willkür zu entreißen und nach Recht und Gerechtigkeit zu verwalten. Durch ihn angeregt entschloß sich die Kaiserin, das was sie hier gelernt hatte, zu einer großartigen inneren Reform der Verwaltung zu verwerthen. Bei ihrer Arbeit war S. das treibende und berathende Element, obwohl außer ihm noch der estländische Landrath Ulrich von der Kaiserin hinzugezogen wurde und monatelang mit ihr und für sie arbeitete. (Ueber das bemerkenswerthe und höchst lehrreiche Detail siehe F. Bienemann, Die Statthalterschaftszeit in Liv- und Estland. Ein Capitel aus der Regentenpraxis Katharina’s II. S. 29–47. Leipzig 1886. (Nach Sievers’ Plan sollte die Reform sich auf die Provinzial- und Centralverwaltung erstrecken und die Kaiserin ein das Ganze umfassendes Gesetzbuch schreiben. Die Vollendung der Reform durchzusetzen gelang S. nicht. Am 7. November 1775 wurde die Statthalterschaftsverfassung, die Organisation der Provinzialbehörden umfassend, als ein Bruchstück publicirt. 1780 kamen noch 3 Capitel hinzu. Als S. 1781 aus dem Dienste schied, schwand jede Aussicht auf Vollendung des Werkes.

Am Tage der Publication der Statthalterschaftsverfassung wurde S. zum Generalgouverneur (Statthalter) von Twer ernannt. Ihm ward die Ehre, der Erste zu sein, der die neue Verfassung der Gouvernements in’s Leben rief. Er löste diese Aufgabe mit vielem Tact und in glänzender Weise. Es gehörte nicht geringes Geschick dazu, die Wahlen bei der Neuheit und Ungewohntheit der Sache zu glücklichem Ende zu führen und sodann überall bei der Hand zu sein, damit die neuen Behörden nach dem Gesetz und nicht nach der langgewohnten Willkür fungirten. Sein Verfahren diente als Vorbild für die übrigen Generalgouverneure. Die Kaiserin war zufrieden und S. auf der Höhe seines Ansehens. So lange er in Twer durch seine Thätigkeit das Gesetz populär machte, ihm Anerkennung verschaffte, seine Lebensfähigkeit erwies, und den Ruhm, den Glanz und die Macht der Kaiserin erhöhte, ließ sie ihm freie Hand, ja sie ließ ihn gewähren, wenn er weiter ging als sie, wenn er ergänzte, was sie vergessen zu haben schien. S. ist es gewesen, der dem Adel des Gouvernements sein Haupt, den Gouvernements-Adelsmarschall, gegeben, und ihn zur Corporation zusammengeschlossen hat. Aber so wie er weiter ging, so wie er der Adelscorporation das Selbstbesteuerungsrecht vindicirte, stieß er auf Widerstand. Diese erste Lebensbedingung einer wirklichen Selbstverwaltung schnitt die Kaiserin einfach ab – obwohl es sich um Schulen handelte, die der Staat nicht beschafft hatte und damals und auf lange hinaus auch nicht im Stande war zu beschaffen. Es ist charakteristisch für die Stellung Sievers’ zur Kaiserin, daß sein Vertrauen zu ihr unerschütterlich blieb: trotz der bitteren Wahrheiten, die er ihr sagte, wollte er nie daran glauben, daß sie selbst absichtlich die Begründung fester, organisirter Corporationen und wirklicher Selbstverwaltung hinderte. Auch in späteren Jahren hat er nur die Umgebung der Kaiserin für das Scheitern ihres Gesetzes in seinen wesentlichsten und heilsamsten Theilen verantwortlich gemacht und doch ist gerade in dem bei den erwähnten Gelegenheiten hervorgetretenen Gegensatze der Grund zu suchen, der die Entfremdung zwischen der Kaiserin und ihrem Staatsmann veranlaßte, der wie kein Anderer die Aufgaben der inneren Verwaltung erfaßte und beherrschte und der organisatorisches Talent, richtigen Blick und nachhaltige Arbeitskraft besaß, um ihre Pläne und Entwürfe in großem Styl auszuführen.

Nach Sievers’ Auffassung handelte es sich bei der Statthalterschaftsverfassung um Begründung von Gesetz und Recht für alle Gebiete provinziellen und staatlichen Lebens. Der Erfolg beruhte auf sorgfältiger Durchführung. Wenn die [238] Statthalter, die Bevollmächtigten der Kaiserin, das Gesetz hoch und unverletzlich hielten, so mußten die übrigen Beamten Achtung vor dem Gesetz lernen, wenn sie ihre Pflichten peinlich erfüllten, so mußten die Beamten gewissenhafte Pflichterfüllung lernen. S. ist jedoch der einzige Statthalter gewesen, der ein solches Beispiel gegeben hat. Von den anderen hat keiner selbst in den Behörden gearbeitet. Als die Procureure darüber berichteten, resolvirte der Senat, das hänge von den Statthaltern ab. Bald hörten einige Statthalter auf, in ihren Gouvernements zu residiren, und lebten in Petersburg. Andere hielten sich für befugt, Ukase zu erlassen, das wurde ihnen freilich gelegt, aber sie erbaten und erhielten Vollmacht, nicht nur Beamte, sondern auch Richter beliebig abzusetzen und sonst nach Ermessen zu handeln. So hielt die Willkür wieder ihren Einzug in die Provinzialverwaltung und dem Beispiel der Vorgesetzten eiferten die Untergebenen nach. S. hat das der Kaiserin direct gesagt und den Fürsten Wäsemski als den bezeichnet, der die neue Verfassung untergrabe. Allein gegen ihn arbeiteten Potemkin und Wäsemski, sein alter Feind, und ihnen schloß sich Betzki an, der in dem Zwiste zwischen S. und seiner Frau, der zur Scheidung führte, für letztere Partei genommen hatte. Die Kaiserin, in der Potemkin den Durst nach Ruhm und die Leidenschaft wachzurufen verstand, hatte nur noch Sinn für Macht, für Glanz und Ruhm, für Eroberung und für Vertheilung von Kronen. Da war ein Mann, der immer an das Wohl des Volkes und an die Pflicht erinnerte, sehr unbequem. S. arbeitete unbeirrt fort, jede scheinbare Wiederkehr des Vertrauens benutzte er, um für Schulen zu sprechen und das Besteuerungsrecht des Adels für solche. Er erinnert, daß das Statthalterschaftsgesetz, dazu noch unvollendet, nur eine Form äußerer Ordnung biete, daß der eigentliche Inhalt, die Gesetze, noch verfaßt werden müsse: Gerichtsordnung und peinliches Gesetzbuch, bürgerliches Gesetzbuch und Wechselrecht, Finanzgesetze und Organisation der Hauptstädte, Städterecht und Adelsrecht und endlich das landwirthschaftliche (Bauer-)Gesetz, „das der Menschlichkeit“. Je länger die Abfassung verschoben werde, je mehr verliere die Statthalterschaftsverfassung an Werth – denn nach Willkür füllten Minister und Statthalter jene Lücken aus. (Von diesen Bedürfnissen sind nur die zweiten vier durch die Kaiserin Katharina und zwar nach Sievers’ Ausscheiden aus dem Dienst befriedigt worden, die ersten vier erst 50 Jahre später unter Kaiser Nikolaus und das Bauergesetz, die Aufhebung der Leibeigenschaft, erst 100 Jahre später durch Alexander II.) Aeußerlich antwortete die Kaiserin im alten Tone des Vertrauens, sie habe gearbeitet, allein innerlich wurde die Entfremdung immer größer. Seine Richtung auf wirkliche Begründung der Selbstverwaltung und Organisation des Adels als fester Corporation widerstrebte der Kaiserin, sie hatte bei ihren Organisationen nur noch das fiskalische Interesse im Auge und wollte eine Organisation des Adels nur so weit, um eine genügende Anzahl Beamter zu gewinnen. Als die Hindernisse und Chikanen sich mehrten, sagte S. der Kaiserin den Verfall der Wasserverbindungen voraus und buchstäblich ist das eingetroffen. Er warf der Kaiserin vor, daß sie auf seine wichtigsten Anträge keine Antwort gebe. Dann ging er in seinem Schreiben zu directem Angriff gegen die Hauptgünstlinge, Potemkin, Lanskoi und den Fürsten Wäsemski, vor und wies nach, wie alle drei die Gesetze direct untergrüben. Er schloß: „Ich vermag mich nicht zu trösten: das Schicksal der Schulen überwältigt mich!“ Da die Kaiserin schwieg, so reichte er sein Abschiedsgesuch ein, dessen Annahme 14. Juni 1781 (definitiv 24. November 1782) allgemeines Aufsehen hervorrief.

S. durfte mit Stolz auf seine 17jährige Thätigkeit zurückblicken. Trotz seiner Entlassung unterließ er es nicht, sachlichen Rath zu ertheilen, ja behielt auf Wunsch der Kaiserin bis zum Eintreffen seines Nachfolgers die Leitung der Wasserverbindungen bei. Dafür entzog ihm dieser gegen kaiserlichen Befehl seine [239] Tafelgelder und Wäsemski wußte die Pension um die Hälfte zu vermindern. Als es eine schwierige Aufgabe galt, wo ein Mann von fleckenlosem Rufe am Platze war, wußte die Kaiserin S. gleich zu finden. Im J. 1792 wurde er zum Botschafter in Polen ernannt und ihm ward die Durchführung der zweiten Theilung Polens übertragen. Eine Schilderung seiner Thätigkeit würde eine eingehende Darstellung dieser tragischen Katastrophe verlangen, wozu es hier an Raum mangelt. Obwohl alle Wünsche der Kaiserin erfüllt wurden, wurde er oft ohne Geldmittel gelassen. Obwohl er Alles durchsetzte und trotzdem durch seinen ehrenhaften Charakter und sein unerschütterliches Wohlwollen unter den Polen die allgemeine Achtung und Liebe erworben hatte, wurde er in Ungnaden abberufen, angeblich weil er im Allianzvertrage zwischen Rußland und Polen einige Clauseln zugelassen hatte, – in Wahrheit, weil er gar zu sehr Subow’s Erpressungen und die Machinationen von dessen Helfershelfern kreuzte. Subow ließ er in einem Schreiben fühlen, daß er ihn durchschaue und der Kaiserin sagte er es offen, sowie daß „ihre jungen Minister und Glücksritter von Generalen den Krieg herbeiführen wollten“, den er vermieden hätte. Er habe in ihrem Namen Polen Frieden und Glück versprochen und hätte sein Wort gehalten. Nur möge sie nicht glauben, daß er Verlangen trage, dorthin zurückzukehren, sein verlorenes Ansehen sei nicht mehr wiederherzustellen. Seine Voraussagungen trafen ein. Nach der entsetzlichen Katastrophe trat er für die Angehörigen der unglücklichen Polen ein, die ein Opfer ihrer Anhänglichkeit an Rußland geworden waren, und bat um seine Verabschiedung mit der Pension, die ihm gebühre. Seine Gesuche wurden sämmtlich bewilligt. Er erhielt umfangreiche Güter in Litauen zum Geschenk. Die Beobachtungen, welche er auf seiner Reise auf diese Güter und weiter in den Süden machte, benutzte er, um der Kaiserin ein Bild der bestehenden Zustände zu entwerfen und ihr zu zeigen, was mit ihrer Zustimmung ihre Günstlinge aus ihrer Statthalterschaftsverfassung gemacht hatten. Es war sein letzter Brief an die Kaiserin, einige Monate später hatte sie ihre Laufbahn vollendet.

Sievers’ Beziehungen zum Thronfolger und dessen Gemahlin waren die besten gewesen. Bei der Nachricht von der Thronbesteigung eilte S. sofort nach Petersburg. Er wurde zum Senator und zum Chef der Wohlthätigkeitsanstalten ernannt, welche unter die Leitung der Kaiserin gestellt wurden. Gleich darauf wurde ihm dazu noch die Leitung der Wasserverbindungen im Reiche übertragen. In beiden Aemtern leistete er Hervorragendes, sein Verhältniß zur Kaiserin gestaltete sich zu wirklicher Freundschaft. Die Zustände während der kurzen Regierung Kaiser Paul’s wurden jedoch bald derart, daß sie eine ruhige geordnete Thätigkeit unmöglich machten. Auch S. hat das in vollem Maaße erfahren. Mit den höchsten Ehren überschüttet, in den Grafenstand erhoben, traf ihn infolge einer falschen Denunciation die unverdiente Ungnade des Kaisers. Er bat um seine Entlassung und erhielt sie. Mit der Kaiserin blieb er in beständiger Correspondenz bis zu seinem Tode. Von Kaiser Alexander I. erhielt er die Aufforderung, auf’s neue in den Staatsdienst zu treten, lehnte aber ab. Mit zweien der neuen Minister führte er eine längere Correspondenz, die jedoch abgebrochen wurde, als S. ihnen zu scharfe Wahrheiten sagte. Ueber die große Politik sprach er sich dem Kaiser gegenüber aus, indem er vor Frankreich warnte. 1805 schrieb er dem Kaiser: „die Russen werden am Ende die Rolle der braven Parther spielen“ und schilderte eingehend, was 1812 wirklich geschah. Als er sein Ende nahe fühlte, verbrannte er 3–400 eigenhändige Briefe der Kaiserin Katharina. „Ich war’s dem Andenken meiner Kaiserin schuldig“, sagte er. So sehr man das bedauern muß, so bezeugt diese Handlung doch seine Treue, eine Treue noch über das Grab hinaus. Ihm konnte der Inhalt jener Briefe nur [240] Ehre bringen. Seine letzte Zeit war wohlthätigen Anordnungen gewidmet. Am 11. Juli 1808 schied er aus diesem Leben.

K. L. Blum, Ein russischer Staatsmann. Des Grafen Jakob Johann Sievers’ Denkwürdigkeiten zur Geschichte Rußlands. 4 Bde. Leipzig und Heidelberg 1857 u. 58. Ein Auszug in einem Bande erschien 1864 von Blum selbst unter dem Titel: Graf Jakob Johann von Sievers und Rußland zu dessen Zeit. – J. Engelmann, Jakob Johann Graf Sievers, Baltische Monatsschrift Bd. XXXI, Heft 4, S. 257–304. Reval 1884. – F. Bienemann, Die Statthalterschaftszeit in Liv- und Estland 1783–1796. Ein Capitel aus der Regentenpraxis Katharina’s II. Leipz. 1886. S. 27–47, 126–129, 191–193, 200–201, 279–280, 284–286, 345–346. – Graf Jakob Johann Sievers und die zweite Theilung Polens. St. Petersburg 1888, von Graf Eugen Sievers. 161 S. lithographirt in 40 Exemplaren. – Von russischen Schriftstellern hat nur Ilowaiski über S. geschrieben, siehe Russki-Westnik, Januar bis März 1865, doch ist die Arbeit unvollendet geblieben und 1884 in seinen „Schriften“ noch einmal als Bruchstück unverändert abgedruckt worden.