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ADB:Spieß, Hermine

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Artikel „Spieß, Hermine“ von Caroline Valentin in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 54 (1908), S. 413–415, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Spie%C3%9F,_Hermine&oldid=- (Version vom 29. Dezember 2024, 18:06 Uhr UTC)
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Spieß: Hermine S., geboren am 25. Februar 1861 auf der Löhnbergerhütte bei Weilburg a. d. Lahn, † am 26. Februar 1893 zu Wiesbaden, nimmt unter den von Julius Stockhausen ausgebildeten Concertsängerinnen den ersten Platz ein. Es war ein günstiges Geschick für Hermine, daß sie ihre Kindheit auf dem Lande, in verschiedenen Gegenden des Lahnthals verlebte, wobei sich ihre tiefe Liebe zur Natur und ein poetischer Schwung der Seele entwickelte, der nachmals ihrer Kunst so sehr zu statten kam. Die letzten Schuljahre wurden in Wiesbaden abgeschlossen: hierbei, wie bei den gleichzeitig am Freudenberg’schen Conservatorium betriebenen musikalischen Studien zeichnete sich Hermine durch klugen Verstand und rasche Auffassung aus. Joachim Raff, der damals ihr Talent einer Prüfung unterzog, erklärte es für ebenso ausreichend zur Ausbildung im Clavierspiel wie für den Gesang. Die Entscheidung fiel für den letzteren; hier wurde der Rath der sie ebenfalls prüfenden bedeutenden Altistin Amalie Reling maßgebend, die zur Ausbildung der herrlichen Altstimme Herminens Professor Sieber in Berlin vorschlug. Zum ersten Male wurde jetzt das innige Zusammenleben mit dem früh verwittweten Vater, mit der nur einige Jahre älteren Schwester Minna, der treuen Beschützerin und Gefährtin ihrer späteren Künstlerlaufbahn, durch weitere Entfernung unterbrochen. Trotzdem nun H. S. die Studien bei Sieber aufgenommen hatte und ihr im Hause der hochgebildeten Wittwe S. W. Dehns ein wohlthuendes Heim geboten war, sagte der Aufenthalt in Berlin auf die Dauer ihrem Wesen nicht zu. Mit Freude begrüßte sie es daher, als der Vater sich im J. 1879 entschloß, von der Leitung der Hüttenwerke zurückzutreten und nach Wiesbaden überzusiedeln. Als gleichzeitig Julius Stockhausen an das Dr. Hoch’sche Conservatorium zu Frankfurt berufen wurde, trat sie dort als seine Schülerin ein. Unter dem besonders viel von ihrem Talent verlangenden Meister machte sie bald große Fortschritte. Schon 1880 konnte sie in Mannheim in dem kleinen Altsolo der Walpurgisnacht auftreten. Ihre glänzenden Gaben: die mächtige und doch modulationsfähige Stimme, die ausgeglichene Tongebung, der deutliche Textvortrag, erwärmt durch eine vom tiefsten Gefühl gehobene Charakteristik, wurden schon in diesen ersten Zeiten hervorgehoben, in denen H. S. Altpartien in Oratorien zu Frankfurt, Wiesbaden, Bremen und Delft sang und auch bei einem Hofconcert zu Oldenburg mitwirkte. Als ein Prüfstein für die junge Künstlerin wurde ihre Betheiligung bei dem Musikfest in Köln, im Frühling 1883, angesehen. Am Tage der Hauptprobe machte sie in einem sehr denkwürdigen Augenblick die Bekanntschaft von Johannes Brahms. Es war ihr die schwere Aufgabe zugefallen, die Arie der Dejanira aus Herakles von Händel ohne vorherige Soloprobe und ohne Durchsicht der neuausgeschriebenen Orchesterstimmen zu singen. Man war auf die letzte Nummer des Vormittags und ihr Auftreten besonders gespannt. Da trat, durch ein Versehen des überanstrengten Dirigenten Hiller, [414] zu Beginn der Arie eine Stockung ein, ja ein tadelndes Wort traf sie. Die Sängerin verließ den Saal und wollte sich durch die Hervorrufe des überraschten Publicums nicht bewegen lassen, ihren Part durchzuführen. Als jedoch Brahms zu ihr ins Vorzimmer trat, gelang es, sie umzustimmen. Jubelrufe begrüßten ihr Wiedererscheinen an der Hand von Brahms und den Abschluß, den sie nun mit der herrlichen Orpheus-Arie dem Morgen gab. Auch die folgenden Festtage brachten ihr reiche Anerkennung. Der Vater Herminens starb bald darauf; ihm war noch die Freude zu Theil geworden, sie auch an den beiden wichtigsten Musikstätten, in Leipzig und Berlin, anerkannt zu sehen. Nach der Aufführung des Odysseus in Berlin (December 1882) wurde sie die erste Concertsängerin Deutschlands genannt, nach den Leipziger Concerten machte man ihr Anträge für die dortige und für die Dresdner Oper. Obgleich nun die Stimme durch Kraft und Fülle dem für die Oper nothwendigen genre al fresco gewachsen war, blieb H. S. dem einmal erwählten Felde feiner Stimmungsmalerei im Liede treu. Sie verkörperte nicht nur die ihrem Stimmcharakter gemäßesten ernsten, getragenen Lieder, auch für den Ausdruck der Heiterkeit und Freude, der schelmischen Neckerei standen ihr, fein und unergrübelt, die Farben zu Gebote. Durchgeistigt schmiegte sich ihr ganzes Sein dem jedesmaligen Vortrage an. Nach ihrer glänzenden Leistung im „Elias“ zu Berlin Ende 1883 machte man ihr den Vorschlag, Liederabende zu veranstalten, die, wie der bald darauf mit Frau Anna Schultzen v. Asten gegebene, von nun an Brennpunkte ihres Auftretens wurden. Wo wie hier die ergänzende Stimme einer tüchtigen Sopranistin zur Verfügung stand, wurden in ihre feingestimmten Programme auch weiterhin Duette eingeflochten.

Hermine hatte während der Concertsaison beständig und anstrengend zu reisen, wobei sie von der treu besorgten Schwester in allem Geschäftlichen unterstützt wurde. In ihr besaß sie jedoch auch die immer bereite, musikalisch tüchtige Begleiterin und die feinfühlige Rathgeberin bei Zusammenstellung ihrer Programme. Auf den alljährlich, zuerst in die Alpen gehenden Erholungsreisen hoben die Schwestern den reichen Schatz alter und neuer Litteratur, der dann die Concerte so gewählt, so anziehend gestaltete. Ein Besuch bei Brahms in Thun führte H. S. im Sommer 1886 die gerade entstandenen Lieder „Immer leiser wird mein Schlummer“ und „Wie Melodien zieht es“ zuerst zu, wie sie im Jahre vorher auch als eine der Ersten das ergreifende Lied „Der Tod das ist die kühle Nacht“ gesungen hatte. In die Tiefen Brahms’scher Lyrik zu dringen, ihn damit bei den öfteren Begegnungen zu befriedigen, war ihr eine besonders liebe Aufgabe. Nach seinen, standen ihr wohl die Tonschöpfungen Schubert’s und Schumann’s am nächsten. Nicht nur mit den bedeutenden Componisten und Dirigenten Deutschlands, wie Bernhard Scholz, Max Bruch, Reinthaler und Hans Richter trat sie durch ihre Kunst in Beziehungen; an den Hauptstätten ihrer Wirksamkeit in Hamburg, Leipzig, Breslau, Stuttgart und Basel, besonders aber in Berlin öffneten sich den Schwestern beim jedesmaligen Kommen gastliche Häuser, von denen eine Fülle von Liebe und Freundschaft ausging. Der echten Rheinländerin, „dem heiteren Mädchen mit der ernsten Stimme“, flogen die Herzen zu. In Berlin war besonders der Aufenthalt im Meyerheim’schen Hause an Eindrücken reich. Hier traf sie mit Adolf Menzel, Sudermann, Dr. Paul Güßfeldt und dem Königsberger Professor Dr. Hirschfeld zusammen, hier nahm sie an manch ernst-belehrendem Gespräch aus der Interessensphäre dieses Kreises Theil. Ganz besonders wurde ihr Verständniß für die bildenden Künste hier vertieft. Auf dem Musikfeste in Hamburg 1884 hatten die Schwestern auch Klaus Groth kennen gelernt, der H. S. nach dem Vortrag der Goethe-Brahms’schen Rhapsodie durch ein [415] tiefempfundenes Gedicht ehrte. Im darauffolgenden Jahre sahen sie ihn auf dem Kieler Musikfest wieder und blieben von da ab mit ihm in brieflichem Verkehr, dem sich noch manch stimmungsvolle poetische Gabe einfügte. Auf Brahms’ Veranlassung kam Hermine im November 1886 auch nach Wien und gab, enthusiastisch aufgenommen, zwei, im darauffolgenden März einen dritten Liederabend. Auch dort trat sie in einen auserlesenen Kreis bedeutender Menschen, auch von dort spannen sich freundschaftliche Beziehungen weiter. Nach dem, was man ihr in Berlin und Wien geboten hatte, konnte ihr Künstlerthum kaum eine reichere Genugthuung empfangen, sie konnte es nur noch in den bis dahin nicht berührten deutschen Städten und im Auslande erproben. So geschah es auf ihrer Fahrt nach Kopenhagen 1887, in den auf Hans Richter’s Veranlassung gegebenen Concerten in der Londoner season von 1889, auf der 1894 unternommenen, an Ehren reichen Fahrt durch die baltischen Provinzen, die einen glänzenden Abschluß durch zwei Liederabende in St. Petersburg fand.

Eine Summe von Welt- und Lebenskenntniß strömte durch diese Reisen auf sie ein, immer neue und reichere Nahrung gewann ihr Kunstgeschmack, und dies verfeinerte Empfinden prägte sie auch der Ausstattung ihres Heims zu Wiesbaden auf, dem sie durch die selbsterworbenen Mittel behagliche Vornehmheit verleihen konnte. Dort zu weilen war ihr unter all den Anstrengungen der Künstlerfahrten, unter dem Drängen früh übernommener Verpflichtungen oft nur allzu kurz vergönnt. Ihr Auftreten jedoch einer größeren Sonderung und Einschränkung zu unterwerfen, wie es auch für das Gleichgewicht ihrer Seele wohlthätig gewesen wäre, möchte der gefeierten und vielbegehrten Künstlerin schwer geworden sein. Da wurde durch ihre im Sommer 1891 erfolgte Verlobung mit dem Amtsrichter Dr. Hardmuth ihrem Leben ein anderes Ziel gesetzt. Am Abschluß ihrer künstlerischen Laufbahn stand die Mitwirkung in der Bach’schen H-moll-Messe zur hundertjährigen Jubelfeier der Singakademie in Berlin im Mai und eine kurze, im Herbst unternommene Concerttournee, ein Loslösen von dem reichen Künstlerberuf, das zugleich der Abschied vom Leben werden sollte. Denn Krankheit und Siechthum umfingen Hermine bald nach ihrer Verheirathung unüberwindlich und rafften die bis dahin allzeit Gesunde und Frische in einem kurzen Jahre dahin, ihren Nächsten, und besonders der so innig mit ihrem künstlerischen Werden verbundenen Schwester, eine unersetzliche Lücke zurücklassend. Minna S. hat dann die schöne Aufgabe erfüllt, in einem anziehenden Buche das Leben ihrer Schwester zu schildern. Danach erscheint sie uns als eine Lichtgestalt unter den Künstlerinnen ihrer Zeit, der die Göttergabe zu Theil geworden ist, nur in dem Glanz und in der Kraft der Jugend zu wirken.

Hermine Spieß, ein Gedenkbuch für ihre Freunde von ihrer Schwester, mit einem Vorwort von H. Bulthaupt. Erste und zweite Auflage 1894, dritte vermehrte und verbesserte Auflage 1905. Leipzig.