ADB:Steiner, Jacob

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Artikel „Steiner, Jakob“ von Moritz Cantor in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 35 (1893), S. 700–703, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Steiner,_Jacob&oldid=- (Version vom 19. März 2024, 11:00 Uhr UTC)
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Steiner: Jakob St., Mathematiker, geboren am 18. März 1796 in Utzenstorf (Kanton Bern zwischen Solothurn und Burgdorf), † am 1. April 1863 in Bern. St. war der Sohn eines Landwirthes und wuchs in einer Umgebung auf, welche geistige Ausbildung über das niedrigste Maaß des Wissens hinaus als überflüssigen, wenn nicht als schädlichen Luxus betrachtete. Erst mit 14 Jahren erlernte St. das Schreiben, und wer weiß, ob nicht die Nothwendigkeit, dem Gedächtnisse mehr als es sonst der Fall zu sein pflegt, zu vertrauen, jene bewundernswerthe [701] Raumphantasie ausbilden half, deren St. sich erfreute. Nach heftigen Auftritten mit dem widerstrebenden Vater setzte St. es durch, nach Yverdon zu Pestalozzi gehen zu dürfen, dessen Anstalt zwar damals schon ihren Höhepunkt überschritten hatte und jähem Verfall mit trostloser Sicherheit sich näherte, für St. aber immer noch reiche Förderungsmittel enthielt, die er als Schüler, später als Hülfslehrer sich aneignete. Nachdem der Zusammenbruch der Pestalozzischen Anstalt 1817 erfolgt war, wandte St. sich nach Heidelberg, um Mathematik zu studiren, zu welcher Wissenschaft er eine wachsende Zuneigung empfand, seitdem er bei Pestalozzi gelernt hatte, Zahlenbegriffe mit Raumanschauungen zu verbinden. Durch Unterricht seinen Lebensunterhalt beschaffend, hatte St. in Heidelberg 1818–1821 Schweins (s. A. D. B. XXXIII, 364) zum Lehrer, dessen Vorlesungen ihn jedoch so wenig befriedigten, daß er später die dort vorgetragene Geometrie mit wenig schmeichelhaftem, dem Namen des Lehrenden entnommenen Beiworte bezeichnete. Immerhin gaben die Vorlesungen ihm Anlaß über geometrische Dinge nachzudenken, und in Heidelberg erwarb er sich den Doctortitel. Dann zog er weiter nach Berlin. Eine Lehrstelle am Plamann’schen Privatinstitute ermöglichte ihm den Aufenthalt wenigstens einigermaßen, und was bei seiner mäßigen Lebensweise ihm an Geldmitteln noch fehlte, erwarb er sich wieder durch Ertheilung von Privatunterricht. Einer seiner Schüler war der älteste Sohn Wilhelm’s v. Humboldt, und der Zutritt zu diesem Hause bezeichnet einen Wendepunkt in Steiner’s Leben. Hier lernte er auch Alexander v. Humboldt kennen, von hier aus knüpften sich Beziehungen zu den damals in Berlin lebenden hervorragenden Mathematikern an, insbesondere nachdem St. infolge der Befürwortung Wilhelm’s v. Humboldt 1825 eine Stelle als Lehrer der Mathematik an der städtischen Gewerbeschule erhalten hatte, in welcher er zehn Jahre lang verblieb. Dann wurde für ihn an der Berliner Universität eine außerordentliche Professur der Geometrie gegründet, während er zugleich seit 1834 Mitglied der Akademie war. Die schriftstellerische Thätigkeit Steiner’s begann fast gleichzeitig mit seiner Anstellung an der Gewerbeschule. Oberbaurath Crelle (s. A. D. B. IV, 589) hatte 1826 das Journal für reine und angewandte Mathematik gegründet, und seine beiden fruchtbarsten Mitarbeiter waren zwei junge Gelehrte, die vom Auslande nach Berlin gekommen waren, und die als Vertreter der beiden Hauptrichtungen in der Mathematik auftraten: der Analytiker Abel, der Geometer Steiner. Oft sah man den väterlichen Freund mit seinen Schützlingen spazieren, Adam mit seinen Söhnen Kain und Abel, wie der Berliner Witz sie nannte, indem der Name Abel’s die Veranlassung bot, während Crelle nicht Adam, sondern August hieß. In Crelle’s Journal also erschienen seit 1826 in rascher Aufeinanderfolge Aufsätze Steiner’s, welche ein in Deutschland damals ziemlich neues Gebiet, das der synthetischen Geometrie, bearbeiteten. Schon im 17. Jahrhundert hatten französische Geometer, vor allen Desargues und Pascal, an die Methoden der Alten anknüpfend und eine Vermengung der geometrischen Betrachtungen mit Rechnung von sich weisend, neue und wichtige Entdeckungen theils veröffentlicht, theils vorbereitet. Die Geometria situs von Leibnitz sollte ähnliches leisten. Jetzt im 19. Jahrhundert gaben wieder zwei Franzosen den erneuten Anstoß zur Fortsetzung der lange unterbrochenen Untersuchungen: Gergonne und Poncelet. Ersterer der Herausgeber der Annales de mathématiques (1810–1831), in welchen er selbst in zahlreichen Abhandlungen das von ihm erfundene und benannte Princip der Dualität in Anwendung brachte; letzterer der Erfinder der Théorie des polaires réciproques, welche 1817–1818 in Gergonne’s Annales veröffentlicht wurden, dann der Verfasser des Traité des propriétés projectives von 1822. Als ein dritter französischer Geometer trat Chasles 1829 auf. Zwischen die Arbeiten von Gergonne und [702] Poncelet einerseits, von Chasles andrerseits, fallen die ersten Veröffentlichungen Steiner’s, zwischen diese und Chasles der barycentrische Calcül von Möbius (1827). Man hat, um die Verdienste der einzelnen hier genannten Geometer richtig zu würdigen, neben den Daten auch den Umstand zu beachten, daß St. der französischen Sprache mächtig war und alles las, was ihn inhaltlich fesseln konnte, mochte es in der französischen oder in der deutschen Zeitschrift veröffentlicht worden sein, daß Chasles dagegen bei aller sonstigen Gelehrsamkeit kein Wort deutsch verstand, deutsche Arbeiten mithin nur dann kennen lernte, wenn sie ins Französische übersetzt wurden, was Gergonne für einige Abhandlungen Steiner’s besorgte. Hatte Steiner’s Name schon infolge seiner Mitwirkung am Crelle’schen Journale einen guten Klang erlangt, so wuchs die Anerkennung bei den freilich ziemlich dünn gesäten engeren Fachgenossen, als 1832 die „Systematische Entwicklung der Abhängigkeit geometrischer Gestalten von einander, mit Berücksichtigung der Arbeiten alter und neuer Geometer über Porismen, Projectionsmethoden, Geometrie der Lage, Transversalen, Dualität und Reciprocität etc. Erster Theil“ die Presse verließ, der Anfang eines auf fünf Theile geplanten Werkes, dessen Fortsetzung aber niemals erschienen ist. Statt deren kam 1833 „Die geometrischen Constructionen, ausgeführt mittelst der geraden Linie und eines festen Kreises“, kamen zahlreiche Aufsätze, von welchen wir nur vier nennen wollen: „Sur le maximum et le minimum des figures dans le plan, sur la sphère et dans l’espace en général“ (Crelle XXIV. 1842), „Allgemeine Eigenschaften der algebraischen Curven“ (Crelle XLVII. 1854), „Eigenschaften der Curven vierten Grades rücksichtlich ihrer Doppeltangenten“ (Crelle XLIX. 1854), „Ueber die Flächen des dritten Grades“ (Crelle LIII. 1857). Noch später begnügte St. sich damit, unbewiesene Lehrsätze dem Drucke zu übergeben, deren Nacherfindung noch heute nicht durchwegs gelungen ist (Crelle LV, 1858 und LXVI aus Steiner’s Nachlasse). Steiner’s geometrisches Glaubensbekenntniß war es, daß nur durch synthetische Betrachtungen es möglich sei „den Organismus aufzudecken, durch welchen die verschiedenartigsten Erscheinungen in der Raumwelt mit einander verbunden sind“. In der berühmten Vorrede zur „Systematischen Entwicklung“ ist zwar noch geleugnet, als ob es wesentlich sei, welcher Methode, der synthetischen oder analytischen, man sich bediene. Der Kern der Sache bestehe darin, „daß die Abhängigkeit der Gestalten von einander und die Art und Weise aufgedeckt wird, wie ihre Eigenschaften von den einfacheren Figuren zu den zusammengesetztern sich fortpflanzen“. Aber immerhin entwickelt S. die Ergebnisse synthetisch. Er findet es keineswegs überraschend, daß jene Ergebnisse sich nachträglich analytisch rechtfertigen lassen. „Der Analyst, der dieses ausführt, hat nicht mehr als seine Pflicht gethan, wenn er jeden Fortschritt der Wissenschaft benutzt, und sich denselben so zur Lehre dienen läßt, daß seine Methode darnach vervollständigt wird.“ In einer Vorlesung sprach er vollends den Satz aus: „Die Analysis zieht einem die Schlafkappe über den Kopf. Bei uns heißt es: Augen aufsperren, dann sieht man die Sachen auch.“ Eine Mißachtung der Analysis als solcher muß man indessen in diesen Aeußerungen nicht erkennen wollen; der Freund Abel’s, Jacobi’s wußte deren Leistungen zu schätzen, wenn auch nicht nachzuahmen; er war sich klar bewußt, daß seine Befähigung ihm ein anderes Arbeitsgebiet zuweise. Steiner’s Gesundheit und Arbeitsfähigkeit nahmen vom Ende der fünfziger Jahre an rasch ab, und in gleichem Maaße nahmen Unverträglichkeit und wenig sorgsame Wahl der gebrauchten Ausdrücke bei ihm zu. Fast mit allen früheren Freunden kam er auseinander, und seine Stellung im Leben, wenn auch nicht in der Wissenschaft, litt darunter. Er schleppte sich allsommerlich von Bad zu Bad, und auf einer solchen Reise erlosch sein Leben in der Heimath. Die [703] Berliner Akademie der Wissenschaften veranstaltete eine Ausgabe sämmtlicher von St. im Drucke veröffentlichten Schriften in zwei Bänden. Mittelbar müssen dazu als Ergänzung die Vorlesungshefte gerechnet werden, welche hervorragende Schüler Steiner’s herausgegeben haben, C. F. Geiser und der jetzt auch schon zu den Todten gehörende Heinrich Schröter. Geiser gab die „populären Kegelschnitte“, wie die Ueberschrift von Steiner’s Notizen lautete, als Jakob Steiner’s Vorlesungen über synthetische Geometrie, I. Theil (1867) heraus; Schröter bearbeitete in dem II. Theil (1867) die Vorlesung „über die neuern Methoden der synthetischen Geometrie“. Beide Bände dürften wohl mehr gewirkt haben, als Steiner’s eigene Vorträge, welche ein sehr fleißiges Mitarbeiten der Zuhörer erheischten und deshalb nicht von vielen andauernd besucht wurden, abgesehen davon, daß Steiner’s Gewohnheit, mitten im Winter die Fenster des Hörsaales aufzureißen, ihm manchen Schüler abspenstig machte.

Vgl. C. F. Geiser[WS 1], Zur Erinnerung an Jakob Steiner. Schaffhausen 1874.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Burckhardt, Johann Jakob: Karl Friedrich Geiser. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 6, Duncker & Humblot, Berlin 1964, ISBN 3-428-00187-7, S. 154 f. MDZ München (1843–1934), Mathematiker, ein Großneffe Steiners