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ADB:Tinius, Johann Georg

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Artikel „Tinius, Johann Georg“ von Paul Mitzschke in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 38 (1894), S. 357–359, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Tinius,_Johann_Georg&oldid=- (Version vom 22. November 2024, 14:34 Uhr UTC)
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Tinius: Johann Georg T., Theolog, Verbrecher aus Büchergier, geboren 1764 in der Niederlausitz, † am 24. September 1846 in Gräbendorf bei Königswusterhausen. Der Vater war Schäfer auf einer preußischen Domäne der Niederlausitz; indem ihm T. als Knabe bei seinen Geschäften an die Hand ging, lernte er durch eigne Beobachtung die nützlichen und schädlichen, die heilenden, betäubenden und giftigen Eigenschaften der Pflanzen, Kräuter und Gräser kennen. Der Prediger des Ortes entdeckte die Begabung des Knaben und verschaffte ihm die Möglichkeit einer höheren Bildung. T. besuchte das Gymnasium zu Wittenberg und studirte dann auf der Universität daselbst Theologie. Schon damals zeichnete er sich durch außerordentliches Gedächtniß und großen Wissensdrang aus. Nach Beendigung seiner Studien war der junge Magister zuerst einige Zeit Hauslehrer, dann Gymnasiallehrer in Schleusingen, 1798 Pfarrer in Heinrichs bei Suhl, und erhielt 1809 die einträgliche Pfarre zu Poserna bei Weißenfels. Ueberall erwarb er sich durch Pflichttreue, Eifer, Geschick und Wandel das beste Lob. Ein unersättlicher Wissensdurst trieb ihn zur Anlegung und unausgesetzten Vergrößerung einer theologischen und linguistischen Bibliothek, die seine Leidenschaft und sein Verderben wurde. Bald reichten seine Berufseinnahmen, das Vermögen seiner verstorbenen ersten Frau und die Zinsen des Vermögens der zweiten nicht mehr aus zur Befriedigung seiner Sammelgier, er gerieth auf den Weg des Verbrechens. Zuerst unterschlug T. Kirchengelder, die ihm anvertraut waren, und sank bald zum Räuber und Mörder hinab. Von 1810 an ereigneten sich in der Umgebung von Weißenfels und Lützen auf der nach Leipzig führenden Heerstraße und ihren Abzweigungen wiederholt Raubanfälle in der Fahrpost. Zu Reisenden, die allein im Postwagen saßen und viel Geld bei sich führten, gesellte sich auf einer Station in der Nähe von Weißenfels ein Unbekannter, der im Laufe der Unterhaltung Schnupftabak aus seiner Dose anbot. Wer eine Prise nahm, ward bald müde und schlief ein; beim Erwachen war der Unbekannte verschwunden und mit ihm das Geld des Reisenden. Jedesmal war der Unbekannte in anderer Tracht und Kleidung, aber die Gleichförmigkeit, mit der alle Beraubungen ausgeführt wurden, ließ keinen Zweifel daran, daß die Verbrechen nur von einem Thäter verübt wurden. T. war es, der sich auf diese Weise die Mittel zu neuen Büchererwerbungen verschaffte; seine Kenntniß betäubender Kräuter verwandte er zu so schändlichen Zwecken. Verdachtsspuren wiesen auf T., aber niemand wagte es, dem beliebten und geachteten Geistlichen solche Schandthaten zur Last zu legen. Der Erfolg machte den Verbrecher kühner. Am 28. Januar 1812 verübte T. bei hellem Tage an dem Kaufmann Schmidt in Leipzig durch Zertrümmerung der Hirnschale mit einem Spitzhammer einen Raubmord, bei dem er 3000 Thaler erbeutete. Die Bemühungen der Gerichte, den Thäter ausfindig zu machen, blieben erfolglos. Ein Jahr später, am 8. Februar 1813, ereignete sich ein gleicher Raubanfall mit tödlichem Ausgange auf die Wittwe Kunhardt in Leipzig, wobei jedoch dem Thäter kein Geld in die Hände fiel. Hier vereinigten sich aber so viele Indicien gegen T., daß seine Verhaftung am 4. März 1813 erfolgte. Das Gericht fand in den Zimmern seines Pfarrhauses und an den Wänden der Scheune aufgestellt eine Bibliothek von etwa 60 000 Bänden; es fand lange Verzeichnisse allein lebender reicher Personen, ferner eine Menge Perrücken, falsche Bärte und allerhand Verkleidungen; es fand auch einen Hammer, der in die Schädelverletzungen der Wittwe Kunhardt paßte. Die Voruntersuchung vor dem Leipziger Schöffenstuhle währte ein volles Jahr. T. leugnete alles und wußte für jedes ihn belastende Moment mit raffinirtem Geschick eine ganz natürliche Erklärung zu geben. Trotzdem wurde im März 1814 das Criminalverfahren gegen ihn eröffnet. Am 31. März 1814 ward T. nach Gesetzesvorschrift in der [358] Leipziger Nicolaikirche durch den Superintendenten Rosenmüller öffentlich und feierlich seines geistlichen Amtes entkleidet, wobei er keine Spur von Erschütterung oder Unruhe verrieth. Infolge der damaligen kriegerischen und politischen Ereignisse zog sich der Proceß ungemein in die Länge, besonders durch den Wechsel aller Behörden und Einrichtungen, da Poserna zu dem Theile Sachsens gehörte, der durch den Wiener Congreß an Preußen fiel. Erst 1823 wurde das Urtheil gefällt. Der Raubmord an Schmidt ließ sich nicht beweisen, dagegen wurde der Kunhardt’sche Fall als bewiesen erachtet, und der Spruch gegen T. lautete auf 18jährige Zuchthausstrafe. In Berücksichtigung der langen Untersuchungshaft setzte die zweite Instanz das Strafmaaß auf 10 Jahre herab, fügte aber zwei Jahre für Unterschlagung von Kirchengeldern hinzu, sodaß sich die Gesammtstrafe auf 12 Jahre Zuchthaus belief. Der beinahe 60jährige T. trat diese Strafe noch 1823 an und zeigte sich, wie im Untersuchungsgefängnisse, so auch im Zuchthause ruhig, zufrieden und scheinbar ohne Gewissensbisse. Er ward zunächst mit schriftlichen Arbeiten beschäftigt und verfaßte in den Mußestunden, die ihm gewährt wurden, ohne litterarische Hülfsmittel ein großes Werk über die Apokalypse. Als 71jähriger Greis verließ er 1835 das Zuchthaus mit ungebeugtem Sinn, mit frischem Geist, aber mit weißem Haar und verlassen und geächtet von aller Welt; seine Frau hatte sich längst von ihm scheiden lassen, seine Kinder sich von ihm losgesagt. Ein Schreckensruf ging durch das Land, als es hieß: „Tinius kommt wieder“. Unstät und flüchtig irrte der unheimliche Mann umher, und schlug bald da, bald dort in Sachsen und Thüringen für kurze Zeit seinen Wohnsitz auf; niemand mochte ihn länger beherbergen. Die Gemeinde Poserna mußte ihm zum Lebensunterhalt jährlich 25 Thaler auszahlen, daneben verdiente er sich ein weniges durch Correcturlesen. Im J. 1840 faßte er noch einmal festen Fuß in Gräbendorf bei Königswusterhausen, wo weitläufige Verwandte von ihm wohnten. Die Honoratioren des Ortes kamen dem ehemaligen Zuchthäusler menschenfreundlich entgegen, gewährten ihm Verkehr und Unterstützung. T. kehrte dort zu den Beschäftigungen seiner Jugend zurück, indem er Kräuter und Pflanzen sammelte und mit Vorliebe Gifttränke daraus bereitete. Sein Gedächtniß war immer noch phänomenal, er hatte fast den ganzen Inhalt seiner ehemaligen riesigen Bibliothek noch im Kopfe und setzte dadurch die Geistlichen der Umgegend oft in das größte Erstaunen. Ueber seine Vergangenheit sprach er unbefangen, behauptete nach wie vor seine Unschuld und trug sich sogar mit dem Plane, eine Revision seines Processes zu beantragen. Daneben sind ihm jedoch wiederholt indirecte Zugeständnisse seiner Schuld entschlüpft. Bemerkbare Gewissensbisse und Zeichen der Unruhe stellten sich bei T. erst in den letzten Lebenszeiten ein, als der Gedanke des nahen Todes ihn mehr und mehr erfüllte. Er war von Angst und Qualen gefoltert, starb aber, ohne sein Gewissen erleichtert zu haben, am 24. September 1846 – wie die Einwohner Gräbendorfs behaupteten, an Selbstvergiftung, doch wurde keine Untersuchung angestellt und dem Leichnam ein ehrliches Begräbniß nicht versagt. Die wissenschaftlichen Arbeiten von T. beziehen sich zumeist auf Eschatologie (nach J. A. Bengel erwartete man 1836 den Beginn des 1000jährigen Reiches) und sind theilweise während der Untersuchungshaft oder im Zuchthause entstanden. Das schon oben erwähnte Werk über die Apokalypse trägt den Titel: „Die Offenbarung Johannis“ und erschien zu Leipzig 1839 im Druck. Von Tinius’ übrigen Schriften seien noch genannt: „Biblische Prüfung von Brennecke’s Beweis, daß Jesus nach seiner Auferstehung gegen 27 Jahre auf Erden gelebt“ (1820); „Der jüngste Tag; ob, wie und wann er kommen wird“ (1836; 2. Ausg. 1845); „Sechs bedenkliche Vorboten einer großen Weltveränderung, an Sonne und Erde sichtbar“ (1837).

[359] Hackländer u. Höfer, Hausblätter 1844, Bd. III u. 1863, Bd. III. – Hitzig u. Häring, Der neue Pitaval Bd. IV. – J. Schwabe, Harmlose Geschichten eines alten Weimaraners (1890) S. 124 ff. – E. Schulte, Ein Verbrecher aus Bücherwuth, in der Gartenlaube 1893, Nr. 5 u. 6. – E. Fließ, Das Ende des Magisters Tinius, in der Gartenlaube 1893, Nr. 21.