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ADB:Waldvogel, Prokop

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Artikel „Waldvogel, Prokop“ von Antonius van der Linde in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 40 (1896), S. 725–728, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Waldvogel,_Prokop&oldid=- (Version vom 26. Dezember 2024, 17:26 Uhr UTC)
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Waldvogel: Prokop W., 1444–46. Im J. 1444 wohnte in Avignon, in der kleinen Hauptstadt des ehemaligen Kirchenstaats in Frankreich, ein aus Prag gebürtiger Silberschmied dieses Namens: Magister Procopius Valdfoghel, de civitate Praguensi, heißt er 1446 in der gleichzeitigen Ueberschrift eines Protokolls des Notars Jakob de Brieude. Er wohnte zusammen mit einem Schlosser aus der Diöcese Trier, Girard Ferrose, das Gold aber fehlte den beiden Freunden. Denn der Schlosser mußte eine Wanduhr an einen Juden (Davin?) verpfänden, der Silberschmied am 4. Juli 1444 dafür den Schlosser als Eigenthümer sämmtlicher Möbel des Hauses anerkennen. Sollte die Wanduhr nicht wieder eingelöst werden, dann dürfte Ferrose die Möbel aber vor dem nächsten Weihnachten nicht fortschaffen. W. fand aber die Mittel, sich von seinem Gesellschafter zu befreien. Den 26. August schon zahlte er ihm dreißig Gulden, man trennte sich, Ferrose aber mußte sich verpflichten, eine mechanische Schreibkunst (ars scribendi artificialiter), welche die beiden Gesellschafter kannten, innerhalb eines Kreises von zwölf Meilen nicht zu lehren. Mit dieser neuen Kunst war nämlich Geld zu verdienen. Schon am Tage nach dem Vertrag mit Ferrose, am 27. August 1444, macht W. sich verbindlich, Georg de la Jardina seine Kunst (ars scribendi) zu lehren: er hat daraufhin schon 10 und dann noch [726] 27 Gulden von dem neuen Schüler erhalten. Dieser verspricht dem Meister einen Gewinn von 12 Gulden, 8 Gulden monatlich für den Unterricht, mit Einhaltung von je 3 Gulden bis zur Tilgung der Schuld. Ohne Erlaubniß dürfen weder Meister noch Schüler die Kunst bekannt machen (fuit tamen de pacto quod nullus non debeat instruere aliquem in dicta arte scribendi, nisi de licentia alterius). Noch ein Dritter lernte zu Avignon die mechanische Schreibkunst: der Jude Davin aus Caderousse, und zwar 1444 lateinisch, 1446 hebräisch. W. will dagegen von ihm die Kunst lernen, Zeuge aus Seide, Leinen, Zwirn, Kattun zu färben; auch will der Jude ihm ein Recept verschaffen, die Stoffe ohne Gebrauch des Feuers lila (blaßviolett) oder grün zu färben. Was die mechanische Schreibkunst betrifft, so muß Davin auf das allerbestimmteste sich verpflichten, das Geheimniß der Kunst zu wahren (nemini mundi dicere, notificare nec quovis modo revelare, per se nec per alium ullo modo, presentem scientiam in teorica nec practica, et nulli mundi eam docere neque revelare eam fuisse ostensam per quemvis). W. wurde durch Geldverlegenheit genöthigt, Möbel, Kleider, sogar Utensilien seiner neuen Kunst, an den Juden zu verpfänden. Aber auch noch ein Vierter und Fünfter wurden eingeweiht: der Magister Menaldus Vitalis und Arnaldus de Coselhac, die in Avignon studirten. Auch Vitalis muß seinem Lehrer auf dessen Geräthschaft einen Vorschuß geleistet haben, denn schon in einer Urkunde vom 4. Juli 1444 bekennt er (Procopius de Bragansis, argentarius, habitator Avonionis), daß er solches Geräthe (dicta instrumenta ad usum scribendi pertinencia) von dem genannten Vitalis (Baccalaureus in Decretis) in Gebrauch hat, und verpflichtet er sich, dasselbe zu jeder Zeit auf Verlangen des Eigenthümers sofort zurückzugeben. Den 18. Januar 1446 nahm W. wieder einen neuen Lehrling auf, Antonius de Teonte aus Toulouse, diesmal aber um ihn in seinem ursprünglichen Gewerbe zu unterweisen (instruere in arte argentarii; aurifaber wird W. in den Acten nirgends genannt). Im April des genannten Jahres wohnte er, und zwar bei der St. Desideriuskirche, im ersten Stock des Hauses eines Bartholomäus Rancuzel, mit seinem ehemaligen Gesellschafter Ferrose, von dem er sich im Sommer des Jahres 1444 in Unfrieden getrennt hatte, wieder zusammen. Geborgt wurde fortwährend. So war W. dem Karmeliterorganisten Martin Landescran fünf Goldducaten schuldig, welchen Betrag er am 30. April dem Notar Dionysius Hale entlieh, um mit der neuen Schuld die alte zu tilgen. Vitalis aber, der von Avignon wegzog, hatte den 5. desselben Monats den anderen Mitinhabern seinen Anspruch auf Mitbesitz des künstlichen Schreibmaterials um 12 Gulden verkauft; die eine Hälfte des Kaufschillings bekam er sofort, die zweite erhielt sein bevollmächtigter Freund Coselhac am 4. August 1446.

Was lehren uns aber die im J. 1890 zu Avignon aufgefundenen und von Requin herausgegebenen Notariatsacten mit Bezug auf Waldvogel’s artificielle Schreibkunst? Wir wollen noch einmal die Acten reden lassen. Im Juli 1444 besitzt Vitalis und gebraucht W. von ihm: zwei ABC aus Stahl, zwei eiserne Formen, eine stählerne Schraube, Formen aus Zinn, und verschiedene andere zur Schreibkunst gehörigen Formen (duo abecedaria calibis et duas formas ferreas, unum instrumentum calibis vocatum vitis, quadraginta octo formas stangni [sic!] necnon diversas alias formas ad artem scribendi pertinentes). Die thörichte Frage des holländischen Professors R. Fruin (Een nieuwe mededinger van Gutenberg, im Gids, Amst. 1890, No. 8), ob nicht der litterarisch gebildete Vitalis besagte Instrumente erfunden, und dieselben dem Techniker W. zur Verbesserung anvertraut habe, verdient keine Erwägung. Oder hat etwa Dr. Humery in Mainz die 1468 ihm gehörende, von Gutenberg, 1467 zu Eltvil gebrauchte Druckgeräthschaft erfunden? Nicht der Jurist Vitalis, [727] sondern der Silberschmied W. tritt überall als der Meister der geheimnißvollen Schreibkunst, als Anfertiger des dafür nöthigen Geräthes auf. Vitalis sowol wie Coselhac erhalten von ihm sämmtliche Werkzeuge aus Eisen, Stahl, Kupfer, Messing, Blei, Zinn und Holz (omnia instrumenta sive artificia scribendi tam de ferro, de callibe, de cupro, de lethono, de plumbo, de stagno et de fuste). Bei seinem Fortgang aus Avignon hat Vitalis auf das Evangelium geschworen, daß diese Wissenschaft des künstlichen Schreibens (dictam artem scribendi, per dictum Procopium artificialiter doctam) in der That eine wahrhafte Kunst sei, allen denen, die sie betreiben wollen und liebten, leicht, möglich und nützlich. Dies merkwürdige Zeugniß wurde auf Waldvogel’s Wunsch diesem ausgestellt, und war wohl auf einen neuen „Fust“ berechnet. Auch Davin erhielt nur von W. den ganzen künstlichen auf Lateinschrift berechneten Apparat (omnia artificia, ingenia et instrumenta ad scribendum artificialiter in litera latina), von Holz, Zinn und Eisen (una cum ingeniis de fuste, de stagno et de ferro). Genau wie Vitalis hat auch Davin dem W. Geld vorgeschossen auf eine gleiche Anzahl Buchstaben; bei Vitalis, im J. 1444, sind 48 Formen aus Zinn, in dem Vertrag vom 26. April 1446 sind es 48 in Eisen geschnittene Lettern (litteris gravatis in ferro). Davin wünschte die neue Schreibkunst auch auf die hebräische Sprache anzuwenden, und infolgedessen hat W. sich schon am 10. März verpflichtet, 27 in Eisen geschnittene hebräische Buchstaben (Procopius promisit et convenit – judeo facere et factas reddere et restituere viginti septem litteras ebraeycas formatas, scisas in ferro) für ihn herzustellen. Für den Laien haben wir es hier nicht bloß mit einer mechanischen Schreibkunst mittels Metalllettern, sondern ohne den geringsten Zweifel schon mit der eigentlichen Buchdruckerkunst mit gegossenen Typen, d. h. mit der Typographie zu thun. Sollte das wirklich der Fall sein, dann gebührt W. gegenüber Gutenberg die Priorität der Erfindung. Denn mit dem Todtschweigen meiner Bearbeitung des Straßburger Processes 1439, mit den Hirngespinnsten einer Reise Waldvogel’s von Prag über Straßburg nach Avignon ist die Sache nicht abgethan. Nach der von Ulrich Zell um 1463 aus der Urofficin zu Mainz nach Köln verbreiteten Nachricht begann dieselbe 1450 mit dem Druck einer mit Missaltypen gedruckten (d. h. der 36zeiligen) Bibel, und das erste typographisch gedruckte Datum befindet sich auf den Ablaßbriefen vom Jahre 1454. Sollten dagegen der Silberschmied Prokop W., der Schlosser Gerhard Ferrose, die Gelehrten Menaldus Vitalis und Arnaldus de Coselhac, Georg de la Jardina und der Jude Davin, wovon keiner aus Avignon gebürtig, dort schon im J. 1444 als Stempelschneider, Schriftgießer, Schriftsetzer und Buchdrucker beschäftigt gewesen sein, dann könnte ich nur mit dem Seufzer Sic transit gloria scientiae humanae die Feder niederlegen. Allein so klar liegt die Sache denn doch nicht! Von Kalligraphie und Xylographie freilich ist bei der mechanischen Schreibkunst zu Avignon 1444–1446 nicht die Rede. Daß weder von Papier oder Pergament noch Druckerschwärze, wie 1455 zu Mainz, gesprochen wird, verschlägt auch nichts, die ars scribendi artificialiter umfaßt diese Dinge von selbst. Aber folgende Bedenken stehen dem neuen böhmisch-französischen Anspruch im Wege: 1. die urkundlichen Geldbeträge waren für die Herstellung einer oder mehrerer wirklichen Buchdruckereien viel zu gering; 2. das doppelte Alphabet aus Stahl, die 48 Typen, einmal von Zinn, ein anderes Mal von Eisen, die 27 bestellten hebräischen Buchstaben waren keine Druckschriften, denn dazu wäre ihre Zahl viel zu gering und es waren auch keine Schriftstempel im typographischen Sinn, denn damit konnten weder die Studenten noch die Zeugfärber ohne die Hauptsache, die Gießform, etwas anfangen; 3. die Art der verlangten Verschwiegenheit, einmal für einen Umkreis von 12, ein anderes Mal für einen solchen von 30 Meilen, deutet nicht auf [728] eine so complicirte Technik wie die Typographie; 4. Unterricht und Honorar lassen nicht auf eine wirkliche Buchdruckerei schließen, dies auszuführen würde uns hier aber viel zu weit führen; 5. es ist nicht wahrscheinlich, daß die Existenz von wenigstens sechs eigentlichen Typographen zu Avignon während der Jahre 1444, 1445 und 1446 so spurlos hätte verschwinden können. Unzulängliche Versuche, Schrift herzustellen ohne Rohr und Feder, sondern mittels dauernder Typen von Metall, obgleich wir das Wie nicht mehr ergründen können, liegen in den Nachrichten der Notariatsregister von Jacques de Brieude und Pierre Agulhac, Avignon 1444–46, allerdings vor; aber die Typographie hat Prokop W. von Prag weder erfunden noch ausgeübt.

Seit dem von mir durch die Costerlegende 1870 gegebenen Anstoß hat die kritische Forschung Gutenberg’s Anspruch so unzweifelhaft festgestellt, daß die Wiederaufwärmung der Costerlegende, die auf thörichte Weise seitdem sogar von Deutschen versucht ist, keinen Anspruch auf wissenschaftliche Beachtung hat. So urtheilen nicht allein die wenigen wirklich sachkundigen Holländer wie mir unter der Hand kund geworden ist, namentlich die Herren Campbell, Tiele und Fruin sondern auch das unparteiische Ausland. So sagt der dänische Oberbibliothekar Bruun am Schluß seiner Zurückweisung des neuen Costerschwindels: Antonius v. d. L. hat Recht, daß er diese Geschichte eine Legende genannt hat. Und Castellani, Oberbibliothekar von San Marco in Venedig, kommt zu dem Ergebniß, che il vero inventore della tipografia è Giovanni Gutenberg.

L’Abbé Requin, L’Imprimerie à Avignon en 1444 (Paris 1890). Vgl. von dems. Origines de l’Imprimerie en France (Journal Général de l’Imprimerie vom 28. Februar 1891). – A. J. Biegelaar, De Boekdrukkunst te Avignon (Dietsche Warande, Löwen 1892, p. 154). – Chr. Bruun, De nyeste Undersögelser om Bogtrykkerkunstens Opfindelse (Kop. 1889). – C. Castellani, Da chi è dove la stampa fu inventata? (Florenz 1888). Ders. L’origine tedesca e l’origine olandese dell’ invenzione della stampa (Venezia 1889).