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ADB:Wettstein, Johann Jakob

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Artikel „Wettstein, Johann Jakob“ von Arnold von Salis in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 42 (1897), S. 251–254, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Wettstein,_Johann_Jakob&oldid=- (Version vom 25. November 2024, 15:09 Uhr UTC)
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Wettstein: Johann Jakob W., Professor der Theologie, von Basel, Urenkel des berühmten Bürgermeisters Joh. Rudolf W., ist in Basel geboren am 5. März 1693, als zweites unter den 13 Kindern des gelehrten Pfarrers zu St. Leonhard Joh. Rudolf W. (- nicht zu verwechseln mit den beiden gleichnamigen Professoren –), und der Frau Sara Sarasin. Schon 1706 kam er zur Hochschule, erwarb 1708 die erste Laurea mit einer Rede über „Bonis omnia in bonum cedere“, wurde 1709 Magister mit einer Dissertation über den Philosophen Chilo, studirte Theologie bei Joh. R. Wettstein II, Sam. Werenfels, Jac. Christoph Iselin und Joh. Ludwig Frey, und wurde im März 1713 Candidat. Seine Dissertation „De variis Novi Testamenti lectionibus“ zeigte bereits seine Neigung und bisherige Hauptbeschäftigung an, worin er insbesondere von Prof. Frey war ermuntert und gefördert worden. Er hatte überhaupt das Bedürfniß gründlicher Quellenforschung, übersetzte selbständig für sich die griechischen Profan- und Kirchenschriftsteller, und durchforschte die handschriftlichen Codices der Universitätsbibliothek mit Lust. Unter Anleitung von Joh. Buxtorf betrieb er das Studium des Hebräischen, Talmudischen, Chaldäischen und Syrischen.

Im April 1714 trat er eine Studienreise an, nach Zürich, Bern, Genf, Lyon und Paris; im August 1715 ging er nach England hinüber. Er verkehrte insbesondere mit Montfaucon, Ruaeus, Conrayer und Rich. Bentley zu Cambridge. Ueberall verglich er die Codices und die Drucke und bereitete „Prolegomena N. Testamenti“. 1716 wurde er Feldprediger der helvetischen Legion unter Chambrier, dieser, selbst Extheologe, gewährte ihm einen dreimonatlichen Urlaub, als die Legion nach Holland dislocirt wurde, damit er im Auftrag von Rich. Bentley nochmals nach Paris reisen und dort für seinen Auftraggeber den Codex des Ephr. Syrus vergleichen konnte. Im November 1716 fand er sich bei seiner Truppe ein und nahm seine Functionen auf. Nach wenigen Monaten jedoch wurde er in die Vaterstadt zurückgerufen als Diaconus communis (allgemeiner städtischer Hülfsprediger). Im Juli 1717 langte er in Basel an. Neben dem Amte, das ihn nicht ausfüllte, ertheilte er in seiner Wohnung Studirenden freiwillig Unterricht, war quasi Privatdocent. Und als sein Vater zum Pfarrer (Hauptpastor) von St. Leonhard vorrückte, wurde W. durch das, von ihm verpönte, in Basel bei Stellenbesetzung seit einiger Zeit übliche Loos, Diakonus an derselben Kirche, und somit Nachfolger und Amtsgenosse seines Vaters. (Bertheau, in Herzog’s Realencyklopädie, macht diesen fälschlich zum „Antistes“.) Er bekleidete diese Stelle bis 1730; die Seelsorge mehr aus Pflicht, als aus Lust. Die textkritischen Forschungen und handschriftlichen Studien waren seine Freude. Ganz unerwarteter Weise zog sich ein Gewitter über ihm zusammen, das für ihn verhängnißvoll werden sollte.

Wahrscheinlich war es ein allmählich bei Prof. Frey erwachter Neid gegen den ihn selbst überflügelnden einstigen Schüler, bei Prof. Iselin zugleich Gereiztheit darüber, daß ihm W. gewisse Irrthümer nachgewiesen, was die beiden Männer gegen ihn verstimmte. Man verbot ihm zunächst die weitere Benützung der Manuscripte auf der Bibliothek. Am 26. Juli 1729 brachten die Baselschen Tagsatzungsgesandten plötzlich von Baden die Nachricht heim: dort hätten die evangelischen Stände von Zürich und Bern vorgebracht, es verlaute, Diakonus J. J. Wettstein in Basel wolle ein neues griechisches Testament herausgeben, „welches nach dem Socinianismus rieche“, und man fordere darum Basel auf, darob zu wachen, daß kein Schaden entstehe. Der Rath der XIII beauftragte den Conventus ecclesiasticus (Professoren der Theologie, Pastoren und [252] 4 Deputaten der Regierung), den W. zur Verantwortung zu ziehen, und hernach zu berichten. Zugleich ersuchte man Bern und Zürich, welche zum Aufsehen gemahnt hatten, um nähere Mittheilungen über das, was sie wüßten. Bern meldete sofort (2. Sept. 1729), ihm sei nichts Genaueres bekannt, und es stelle alles Weitere Basel anheim. Eine Antwort von Zürich (Antistes Nüscheler) ließ durchblicken, Basels Orthodoxie scheine nicht mehr ganz zuverlässig zu sein.

Am 9. September wurde W. im Convent verhört, besonders von seinem Gegner und nun zugleich Hauptrichter, Prof. Frey. (Genaueres hierüber sehe man nach bei Hagenbach!) Man bezichtigte ihn des Latitudinarismus gegenüber Rom, der Untergrabung der Schriftautorität (wegen Abänderungen der lutherischen Uebersetzung u. dgl.), des Arianismus und Socinianismus, indem seiner Behauptung, in 1. Tim. 3, 16 sei nicht zu lesen ϑεὸς (ΘΣ), sondern ὃς (ΟΣ) ἐϕανερώϑη ἐν σαρϰί, die Tendenz untergeschoben wurde, Christi Gottheit zu beseitigen, u. dgl. m. – Richtig war, daß W. gelegentlich etwa unvorsichtige Aeußerungen gethan, aus denen man durch böswillige Consequenzmacherei allerlei Heterodoxien ableiten konnte. Er hatte allerdings gegen eine Verwechslung der drei Personen der Trinität, gegen patripassianische Ausdrücke, wie sie da und dort auf Kanzeln vorkamen, sich ausgesprochen; selbst in ziemlich geschmackloser Weise die Personen der Trinität vergleichend mit dem Hauptpfarrer (Pastor) und seinen zwei Helfern (Diakonen), oder in einem von ihm edirten „Auszug geistlicher Lieder zum Lobe Gottes und des Herrn Jesu“ (1728) den Vers „Liebster Jesu, wir sind hier“, abändernd in „Gott und Vater, wir sind hier“, u. s. w. Er hatte die Auferstehung des Fleisches (σαρϰός) nicht wollen gelten lassen, sondern die des Leibes (σώματος), oder die Auferstehung von den Todten; er hatte die Versuchungen Jesu gedeutet auf innere Vorgänge, einzelne Wunder natürlich erklärt. Was man ihm Schuld gab, war nicht sowol Abweichung vom reformirten Lehrbegriff, als vielmehr vom Bibelglauben, war Neologie. Auch sittliche Irrthümer wurden ihm vorgehalten, wie Billigung der Nothlüge (ad Act. 23). Deshalb wollte man auch jetzt auf seine Versicherungen nicht bauen, sondern traute ihm zu, er gestatte sich auch wol eine „reservatio mentalis“.

Das Anklagematerial gegen ihn hatte man in unwürdiger Weise gesammelt aus allerlei Stadtklatsch und fehlerhaften Collegienheften früherer Schüler. Die Theologen berichteten in diesem Sinne (IX, 13) an die XIII und verlangten, W. solle das Manuscript seines druckfertigen N. T.s ausliefern. Er suchte dem auszuweichen, aus Furcht, es zu verlieren, mußte es dann doch aus Holland kommen lassen und legte die ersten Druckbogen vor (XI, 1). Ein folgendes Memoriale des Conventes an die Regierung stellte seine Arbeit als unbedeutend dar, als „elendes Kunzenspiel“ (X, 14). Eine Petition von 42 Hausvätern aus der Leonhardgemeinde zu seinen Gunsten wies man mit Mißfallen zurück. Am 12. April 1730 fand ein eidliches Zeugenverhör statt, z. Th. mit unwürdigen Suggestivfragen. Und doch ließ sich kein richtiges Crimen herausbringen.

Inzwischen hatte W. wiederholt Memoriale eingereicht, sich feierlich zur Basler Confession bekannt, sein alter Vater am 13. Mai eine Bittschrift vorgelegt. Am selben 13. Mai 1730 beschloß der Kleine Rath mit 22 gegen 18 Stimmen: „Ist Herr Diaconus Wettstein seines Helferdienstes zu St. Leonhard entlassen, und soll an seiner Stelle ein anderer Helfer nach der Ordnung erwählt werden“. Die Minorität hatte ihn nur im Amte stillestellen wollen, bis er seine Rechtgläubigkeit genügend bewiesen.

Seiner Stelle enthoben, kam er nach Amsterdam zu seinem dortigen Verwandten und künftigen Verleger, Buchhändler Wettstein. Das Remonstrantencollegium [253] daselbst ernannte ihn, seine Gelehrsamkeit würdigend, zum Nachfolger des gealterten Clericus (1731). Doch sollte er vorerst sich reinigen von dem Verdacht der Heterodoxie, welcher ihn bereits bis nach Holland verfolgte, da man die Acten seines Basler Processes verstümmelt publicirt hatte, mit grundloser moralischer Verdächtigung seiner Person, als habe er s. Z. Gelder von Bentley unterschlagen. So mußte denn W. nach Basel zurückkehren, um seine Beschwerde gegen die ohne Censur erfolgte Actenpublication einzureichen und ein neues Verhör zu erlangen (22. Sept. 1731).

Auf Wunsch der XIII gab er eine schriftliche Erklärung ab seines Bekenntnisses zur Basler Confession (15. Dec.). Und nun erklärte, trotz Opposition der Theologen, der Rath (22. März 1732), W. sei „eo ipso wieder zum Predigtamt admittirt“. Das war freilich ein ungesetzlicher Eingriff des Staates in die Rechte und Befugnisse der Kirche, und diese reichte abermals ein Memoriale ein „a Caesare male informato ad Caesarem melius informandum“ (19. Dec.), wobei aber z. B. Samuel Werenfels (s. o. S. 5), des gehässigen Streites längst müde, nicht mehr mitmachte.

Am 20. Mai 1733 klagte W. wieder vor dem Rath, die Theologen wollten ihn nicht nur nicht als Amtsbruder anerkennen, sondern nicht einmal als Glied der reformirten Kirche, obgleich er doch inzwischen wol 60 Male gepredigt hätte und sogar im Spital das h. Abendmahl administrirt für Pfarrer Sam. Wettstein der freilich ihm verwandt war und nun suspendirt wurde). Seine Klagschrift enthielt „beißende Personalitäten“ und wurde deshalb vom Rath gerügt; ja sie sollte vor versammeltem Rath zerrissen und ihm vor die Füße geworfen, er selber in seinen Functionen neuerdings stillegestellt werden (23. Mai). Am 27. Mai erschien W. nicht vor dem Rath, diese Censur entgegenzunehmen, sondern war Tags zuvor nach Holland entwichen. Hier wurden ihm nun aber auch allerlei Schwierigkeiten bereitet von den Behörden, und wenn er nicht mit seiner eigenen Stellung zugleich diejenige des Remonstrantencollegiums selbst gefährden wollte, so mußte er einige schmerzliche Bedingungen eingehen, auf eigentlich theologische Vorlesungen vorläufig verzichten, den Socinianismus überhaupt nicht besprechen, sein N. T. einstweilen nicht herausgeben. Böttger (siehe unten) rechnet ihm die weise Mäßigung hoch an, womit er sich diesen Restrictionen fügte.

W. meldete sich von nun an immerhin mehrmals, wenn in Basel eine Lehrstelle frei wurde: 1733 die der Rhetorik, 1734 der Ethik, 1744 der griech. Sprache. Letztere fiel ihm durchs Loos zu; aber als nun das Remonstrantencollegium Alles that, um ihn festzuhalten, sein Gehalt erhöhte, ihm auch die Professur der Kirchengeschichte übertrug und wol auch Aussicht eröffnete, sein N. T. ediren zu dürfen, da lehnte er den Ruf nach Basel ab (9. Jan. 1745). Böttger betont dabei wol zu sehr, er habe nicht wollen „in carcerem redire“. Noch besuchte er a. 1745 seine gealterte Mutter und seine Freunde in Basel; dann widmete er sich ganz seinem holländischen Wirkungskreis, bearbeitete ein Compendium der Kirchengeschichte, setzte seine textkritischen Studien und Publicationen fort, auch in England – er hat selbst über 100 Handschriften verglichen – und konnte endlich 1751 und 1752 sein Lebenswerk, die kritische Ausgabe des griechischen N. T.s mit reichem Commentar in 2 Bänden, abgeschlossen und publicirt sehen. Ebenso veröffentlichte er noch zwei Briefe von Clem. Rom., die er im Manuscript des Cod. Syr. N. T. vorgefunden, er fügte dem syrischen Text eine lateinische Uebersetzung bei.

In Anerkennung seiner Gelehrsamkeit und textkritischen Verdienste wurde er 1752 (15. Juni) zum Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften ernannt, 1753 (5. April) zu demjenigen der Londoner königlichen Soc. [254] scientiarum, und 1754 (15. Febr.) der englischen Gesellschaft für Verbreitung des evangelischen Glaubens im Auslande. Er starb, 61 Jahre alt, unverehelicht an einem Schenkelgangrän am 23. März 1754, „ein Märtyrer der beginnenden Aufklärung“ (vgl. Hagenbach). Seine letzten Worte: „Alles ist mir gut“ und „Wir haben einen Fürsprecher beim Vater, Jesum Christum“, erinnern an seine Rede beim Empfang der „ersten Laurea“. Ueber seinem Grabe, an welchem der holländische Professor Jac. Krighout die Leichenrede hielt, entspann sich eine Fortsetzung des alten häßlichen Streites zwischen Krighout und Prof. Frey in Basel, die man bei Hagenbach, van Rhyn und Böttger, auch bei Bertheau nachlesen möge.

Wettstein’s Schriften erschienen: 1713 (Basil.) „De variis lectionibus N. T.“ (abgedruckt auch im Mus. Helv., P. 26); 1719 (Basel) „Von der Betrachtung des Todes über Psalm 90, 12; 1728 (Bas.) „Auszug Geistlicher Lieder, zum Lob Gottes und des Herrn Jesu Christi; 1730 (Amsterd.) „Prolegomena ad N. T.i graeci editionem“ (Halae 1764 [J. G. Semler] eadem, mit Noten und Appendix „de vetustioribus latinis recensionibus“); 1732 (Bas.) „Predig wider die Zauberey und abergläubige Künste, über Jesaj. 8, 19–22; 1733 (Amsterd.) „Orthodoxia a falsis criminationibus J. L. Frey vindicata; 1736 (Amsterd.) „Oratio funebris in obitum Joh. Clerici“; 1746 (Amsterd.) „Sermo in funere Joh. Driebergii habitus; 1751 (Amst.) T. I, 1752 T. II: „N. T. graecum cum Lectionibus variantibus et commentario pleniore“; 1752 (Lugd. Bat.) „Duae Epistolae S. Clementis Rom. ex codice Msc. N. T. Syr. et lat.“; 1754 „Epistola ad Herm. Venemam de genuitate epistolarum Clementinarum“. Mehrere Aufsätze in der „Bibliothèque raisonnée“: Observationes ad versionem epistolae ad Hebraeos a comite Zinzendorff editam; etc. etc.

Ueber Wettstein (Leben und Werke) vgl. besonders: G. E. v. Haller, Biblioth. d. Schweiz. Gesch. II, Nr. 1619–1628, S. 394–97. – Leu, Allg. Helvet. Lex. Zürich 1764, Th. XIX, S. 375 f. – Athenae Rauricae. Bas. 1778, S. 379 ff. – P. Ochs, Gesch. d. Stadt u. Landschaft Basel VII, 516–521. – Chauffepié[WS 1], Nouveau dictionn. histor. et critique IV, 683 ff. (1756). – In Illgen’s Zeitschr. f. hist. Theol.: 1839 I, 73 ff. Aufsatz von C. R. Hagenbach. 1843 I, 115 Aufsatz von L. J. van Rhyn. 1870 IV, 475 ff. Aufsatz von Heinrich Böttger. – K. R. Hagenbach, Die theol. Schule Basels. 1860, S. 45. – Derselbe, Gesch. d. Basler Confession. 1857, S. 184. – Herzog’s R.-E. 2. Aufl. XVII, 18–24. Artikel von Carl Bertheau. – Meusel, Lexikon d. von 1750–1800 verstorb. Teutschen Schriftst. XV, 67–70. – Hirsching-Ernesti, Hist.-litt. Handbuch berühmter Personen, welche im 18. Jahrh. gelebt haben. XVI, 1, S. 294–311. – Doering, Die gelehrten Theologen Deutschlands IV, 705–708 u. 908. – Van der Aa, Biogr. Woordenb. d. Nederl. XX, 160 etc. – Des Amorie-van der Hoeven, Het tweede leuwfeest van het Seminarium der Remonstr. te Amsterdam 1840, S. 140–169. – Catalogus der Boeken en Handschriften van de Biblioth. d. Remonstr. Gemeende te Amsterdam. 1877, S. 117 ff. – Biblioth. Hagana historico-philologico-theologica. Class. III, fascic. I, 1770, p. 1–78. Vener. Basil. ordinis theologici Declaratio, de Novo Testam. Wetsteniano, a. 1757 composita et hactenus inedita; ibid. Class. III, fascic. III, 1771, p. 649–664. – Observationes, v. J. C. Valk. – Ueber Wettstein’s N. T. vgl. Gregory, Prolegomena ad Nov. Testam. Tischendorfii, p. 243 ff. – Reuß, Biblioth. Novi T. graeci, p. 181 sqq.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Chauffepied