Abhärtung der Kinder
Von Dr. Dornblüth.
Zwei junge Mütter unterhielten sich kürzlich über die Abhärtung ihrer Kinder. Die Eine badete ihr Kind und wollte es bei jedem Wind und Wetter hinausschicken, die Andere hielt Ersteres für Verweichlichung, Letzteres im Winter für zu gefährlich, duldete auch weder Mützchen noch Strümpfchen, welche Gegenstände oder Ursachen der Verweichlichung die Erstere gestattete. Die Kinder sind beide ungefähr drei Monate alt. Welche hat Recht, welche Unrecht?
Alle Kinderärzte sind heutzutage einig darüber, daß warme Bäder nicht nur als Reinigungsmittel, sondern auch als mächtige Förderungsmittel der Gesundheit außerordentlich nützlich sind. Die Reinigung ist auf andere Weise bei so kleinen Wesen niemals so vollständig zu erzielen, als durch ein warmes Bad, und durch die längere Einwirkung des warmen Wassers auf die Haut wird diese weich und geschmeidig und geschickt, die ihr zukommenden Ausscheidungen gehörig zu vollziehen. Kinder, die regelmäßig gebadet werden, sind Erkältungen keineswegs leichter zugänglich, als andere, wenn sie nicht unmittelbar nach dem Bade der Einwirkung der Kälte ausgesetzt werden. Das ist ein durch hinlängliche Erfahrung als unumstößlich festgestellter Grundsatz. Das Badewasser soll bekanntlich im ersten Monat achtundzwanzig Grad des Réaumur’schen Thermometers warm sein und dann allmählich, etwa von Monat zu Monat, um einen halben Grad kühler genommen werden, bis sechsundzwanzig oder höchstens fünfundzwanzig Grad erreicht sind. Nach Ablauf des ersten Lebensjahres, wo man die Kinder schon kräftiger reiben kann und wo sie der Kälte besser widerstehen, soll man dann kühle und selbst kalte Waschungen nachfolgen lassen.
Hierbei sind einige Erinnerungen zu machen. Erstens sind die gewöhnlichen Badethermometer in der Regel ziemlich ungenau, es ist nicht selten, daß sie um zwei oder drei Grad von einander abweichen. Man muß sich also stets überzeugen, ob der gebrauchte Thermometer richtig geht, was um so weniger Schwierigkeiten hat, als jetzt wohl die meisten Aerzte zum Zwecke der Krankenuntersuchung mit guten Thermometern versehen sind. Zweitens ist bei dem zu wählenden Wärmegrade immer daraus zu sehen, wie das Kind ihn aufnimmt: sobald es auf irgend eine Art im Wasser Unbehaglichkeit zu erkennen giebt, was es sonst nicht zu thun pflegte, so ist die Sache nicht richtig. Ist das Wasser zu warm, so wird die Haut roth, die Kinder schreien, und statt durch das Bad beruhigt und zum Schlafen geneigt zu werden, sind sie hinterher aufgeregt. Ist das Wasser dagegen etwas zu kalt, so werden sie blau und erreichen schwer ihre natürliche Wärme wieder. Man darf sich auch durchaus nicht einbilden, daß ein so allmählicher Uebergang von den warmen Bädern zu den kühlen Abwaschungen zu machen ist: die mit den letzteren verbundene Reibung mit dem Badeschwamme, den Händen etc., die plötzliche und rasch vorübergehende Einwirkung der Kälte selbst erregen die Nerven, ziehen das Blut nach der Haut und bringen in einem hinreichend kräftigen Organismus eine lebhaftere Wärmeentwickelung zu Wege, während ein zu kühles Bad, wenn es mehr ist, als eine schnelle Eintauchung, dem Körper seine Wärme so allmählich entzieht, daß keine Gegenwirkung erfolgt, die Haut, statt wie bei den Abwaschungen roth zu werden, blaß und bläulich wird und hinterher statt eines behaglichen Wärmegefühls Frösteln eintritt, welches nur durch kräftige Bewegung vortheilhaft überwunden, durch künstliche Erwärmung aber schwer ausgeglichen und vor übeln Folgen bewahrt wird. Die Abhärtung soll also nur dann durch kühle Waschungen gesucht werden, wenn die Kleinen Kräfte genug gesammelt haben, um so gewaltsamen Einwirkungen gehörig widerstehen und entgegenarbeiten zu können, was Beides vor Ablauf des ersten Lebensjahres gewiß nicht der Fall ist.
Also vernünftig gebadet, und die Kinder werden sich dabei wohl befinden! Sie werden ruhiger, bekommen bessern Appetit und bessere Verdauung, werden dadurch kräftiger und somit geeigneter, schädlichen Einflüssen, vor denen sie doch nicht ganz zu bewahren sind, zu widerstehen.
Ebensowohl ist durch die Erfahrung hinlänglich festgestellt, daß es Kindern schon im frühesten Alter sehr gut bekommt, wenn sie täglich ins Freie gebracht werden. Die frischere, reinere und im größten Theile des Jahres bei uns auch kältere Luft regt ihre Nerven kräftig an und giebt ihren Sinnen, so wenig diese auch noch ausgebildet sein mögen, Beschäftigung. In Folge davon kommen sie in der Regel mit besserem Appetit nach Hause und schlafen nachher länger und ruhiger. Ihre Blutbildung und gesammte Ernährung wird besser, was sich an der frischeren Gesichtsfarbe und dem festeren Fleische ebensowohl, wie an dem ruhigen Schlafe und dem munteren Wachsein zu erkennen giebt. Man muß nur beachten, wie früh die kleinen Wesen schon an dem Hinausgetragenwerden Gefallen finden, wie sie mit Ungeduld darnach verlangen, durch die Vorbereitungen kaum beruhigt werden und in lautesten Jubel ausbrechen, sobald die Thür sich vor ihnen öffnet! Freilich müssen in unserm Klima, und namentlich im Winter, die Kinder sorgfältig gegen die Kälte geschützt sein, und zwar so vollständig, daß beim Nachhausekommen keins ihrer Glieder sich kalt anfühlt. So lange sie im Steckkissen liegen, – was immer bis dahin der Fall sein sollte, wo ihr Rückgrat und ihre Muskeln hinlänglich erstarkt sind, um sie längere Zeit aufrecht zu tragen; wo sie, kräftige und gesunde Kinder um ihre zwölfte Lebenswoche herum, durch energische Bestrebungen aufrecht zu sitzen und um sich zu schauen, dies von selber kundthun, – so lange also werden die Kinder leicht durch Tücher oder Mäntel von der Form, wie die Thüringer Frauen und Wärterinnen zu tragen pflegen, geschützt. Ein weiches, wattirtes Hütchen, eine Art Kapuze mit [127] dichtem Schleier, ist daneben, wie auch später, nothwendig. Tragen die Kinder erst lange Kleider, so sind gestrickte wollene Strümpfchen und Schuhchen nicht wohl zu entbehren, da beim Sitzen auf dem Arme der Wärterin die Röcke und Kleider durch die Füßchen der Kinder selbst verhindert werden, unten genau zu schließen. Bei irgend windigem und kälterem Wetter ist es sehr zweckmäßig, das wollene Unterröckchen unterhalb der Hüfte zusammenzubinden, wodurch die Kinder vor jeder Zugluft geschützt sind, ohne in den Bewegungen ihrer Beinchen allzusehr beengt zu werden. Jedenfalls überzeuge sich die Mutter immer selbst, ehe der Ausgang beginnt, ob die Kleidung in Ordnung ist und ob die natürlichen Bedürfnisse des Kindes befriedigt sind, damit Durchnässung vermieden werde, die am allerleichtesten zur Erkältung führt, – und beim Nachhausekommen, ob das Kind überall warm und trocken ist.
Bei solcher Vorsicht wird man selten anders als bei sehr stürmischem und regnerischem Wetter oder strenger Kälte nöthig haben, die so wohlthätigen täglichen Spaziergänge zu unterbrechen. Gewöhnung an die Luft ist das beste Abhärtungsmittel. Ist aber ein Kind einmal unwohl, so wird es meistens besser zu Hause gehalten, denn dadurch, daß man mit einem kranken Körper von Neuem den krankmachenden Einflüssen trotzt, wird keine Abhärtung erzielt. Solche ist vielmehr, wie die Gewöhnung, nur dann zu erreichen, wenn die Wirkungen des einzelnen schädlichen Einflusses, sei dies nun Kälte oder was sonst immer, vollständig überwunden sind, ehe ein gleicher oder ähnlicher Einfluß wieder einwirkt. Sonst häufen sich die nachtheiligen Einflüsse oder die Anforderungen zur Ueberwindung derselben in rascherem Maße, als die Gegenwirkungen des Organismus jene auszugleichen und letzteren zu entsprechen vermögen, und dann ist nicht Abhärtung, sondern Schwäche und Gesundheitsstörung die Folge. Mit solchen grundverkehrten Abhärtungsversuchen, denen gar viele Erwachsene zu ihrem größten Schaden huldigen, ist es gerade so, als ob man durch unausgesetzte Arbeit suchen wollte stark zu werden, da doch Jedermann weiß, daß Arbeit nur dann stärkt, wenn sie in angemessener Weise mit Ruhe wechselt, damit der Körper neue Kräfte bereiten und sammeln kann. Wenn die Mutter zweifelhaft wird – und jede Veränderung in dem mit aufmerksamem Auge verfolgten Wesen und Gebahren der Kleinen muß sie zweifelhaft machen – sei sie lieber zu vorsichtig, als zu dreist, warte ab und frage einen verständigen Arzt um Rath. Denn bei Kindern kommt es, je jünger sie sind, destomehr darauf an, Krankheiten zu verhüten oder in ihren Keimen und Anfängen zu bekämpfen. Wie unendlich oft muß der Arzt, wenn er es auch den jammernden Eltern nicht zu gestehen wagt, sich selbst sagen, daß seine Bemühungen nur deswegen keine Hülfe bringen, weil sie zu spät kommen!
Falsch ist es also, die Kinder unter allen Umständen in’s Freie zu schicken. Ein Schnupfen oder Husten vergeht in der Regel leicht in gleichmäßig warmer Luft, während kalte Luft ihn immer von Neuem anregt, wodurch die Athmungswerkzeuge leicht bleibenden Schaden nehmen und bei Kindern jedenfalls in ihrer Entwicklung zurückgehalten werden. Aber gesunde Kinder müssen, warm gekleidet und vorsichtig behandelt, hinaus, um sich an die Luft zu gewöhnen und ihre wohlthätigen Einflüsse zu erfahren. Schutz gegen die Witterung ist für kleine Kinder viel leichter und vollständiger zu beschaffen, als für etwas größere, besonders im zweiten und dritten Lebensjahre, wo die Kinder zu schwer und zu ungeduldig sind, um sich tragen zu lassen, aber noch nicht kräftig genug, um sich bei kälterer Witterung durch eigene Bewegung gehörig zu erwärmen, noch auch so dichte Kleidung zu tragen, daß die Abkühlung nicht hindurchwirkt. Für dies Lebensalter ist es oft nothwendig, statt des Spazierganges im Freien, die Kinder warm angezogen in einem ungeheizten Zimmer oder einem andern trocknen und zugfreien Raume spielen zu lassen. Aufsicht ist aber um so mehr nöthig, weil kleinere Kinder, sobald sie anfangen zu frieren, sich erst recht keine Bewegung machen, sondern stillstehen oder sich hinkauern. Erst vom fünften oder sechsten Lebensjahre an haben sie Verstand und Kräfte genug, um sich, zum Spielen und Laufen angeregt, selbstständig der Kälte zu erwehren.
Zum Schluß noch ein Wort über die Kopfbedeckung. So
verkehrt es ist, den Kindern ihren Kopf übermäßig warm zu halten
oder immer gar zu ängstlich einzubündeln, so gefährlich ist
es, ihn ohne Schutz der Kälte auszusetzen. So lange er noch
nicht von Haaren bedeckt ist, welche die durch Wärmeausstrahlung
vor sich gehende Abkühlung des Kopfes verhindern, ist auch im
Zimmer ein leichtes Häubchen nothwendig. Der Kopf mit seinem
werthvollen Inhalt ist bei kleinen Kindern sehr empfindlich gegen
Kälte und Zugluft, und ein Schnupfen ist noch die leichteste, obwohl
bei ganz kleinen Kindern keineswegs ungefährliche Folge der
Unvorsichtigkeit in dieser Beziehung. Abhärtungsversuche möchten
aber leicht dem Gehirn mehr Schaden zufügen, als auf der andern
Seite Nutzen gewonnen wird. Eine so warme Einhüllung, daß
dadurch alle Ausdünstung verhindert und der Kopf erhitzt und zum
Schwitzen gebracht wird, ist aber ebenfalls nachtheilig, und wo
bei Kindern Neigung zum Schwitzen am Kopfe vorhanden ist, mag
man diesen lieber etwas zu kühl als zu warm halten, außerdem
aber durch Waschungen mit kühlem Wasser oder mit sehr verdünntem
Branntwein jener unangenehmen und gefährlichen Neigung
entgegenwirken.