All-Macht der polnischen Nationalregierung
Es war kurz nach dem Frieden von Villafranca, wo sich die Handelswelt von Neuem zu beleben begann, als auf dem Dampfer, der gen Bacharach zu Berg fuhr, ein junger deutscher Kaufmann, dessen Vater einem nicht unbedeutenden Fabrikgeschäft in Oberschlesien vorstand, die Bekanntschaft eines Polen von fast demselben Alter machte, der auf einer Reise über Straßburg nach Paris begriffen war. Die gleiche politische Anschauung der jungen Männer, ihr Bildungsgrad brachte sie bald näher an einander. Man tauschte die beiderseitigen Ansichten über die damalige Weltlage aus, und mit Befriedigung erkannte der Deutsche, den wir Alfred nennen wollen, in seinem Begleiter zwar den Sarmaten, der mit all’ der innern Gluth, wie sie dem Polen eigen ist, an seinem Vaterlande hing, doch zugleich sich den klaren, ruhigen Blick zu bewahren verstand, die Verhältnisse mit möglichster Leidenschaftlosigkeit zu überschauen.
„Das Unglück meines Volks,“ sagte er unter Anderm, „liegt hauptsächlich darin, daß es sich, in seiner Liebe zum Vaterlande zu leicht von Illusionen blenden und bei dem geringsten Schimmer eines politischen Erfolgs zu übereilten Schritten hinreißen läßt. Es scheut dann selbst die schwersten Opfer nicht, um leider nur zu bald einzusehen, wie es sich und seiner Sache nur geschadet hat.“
„Sollten aber,“ versetzte hier der Deutsche, „eine siebzigjährige Erfahrung und siebzigjährige Prüfungen Ihre Landsleute nicht endlich weiser gemacht haben?“
„Glauben Sie das nicht,“ antwortete der Andre, „die erste scheinbar günstige Gelegenheit ist hinreichend, den fort und fort glimmenden Funken immer von Neuem zu Flammen anzufachen.“
Die Blicke des Polen ruhten auf dem dunkeln Nußlaub von Sanct Goar, wo man soeben vorüberfuhr, und mit schmerzlichem Lächeln fügte er hinzu: „Sagt nicht einer Ihrer großen Dichter: „„Verbiete du dem Seidenwurm zu spinnen““? Die Liebe des Polen zu seinem Lande gleicht nicht der abgeklärten Liebe des Gatten zu seiner Gattin, sondern der feurigen des Liebenden zu der Geliebten, wo in der Regel der Verstand mit dem Herzen davonläuft. Die Besonnenern unter uns müssen dann mit, sie mögen wollen oder nicht, selbst wenn sie den unglücklichen Ausgang vor Augen sehen.“
Die beiden jungen Männer fanden sich zu einander hingezogen und beschlossen auch ihre weitere Reise gemeinschaftlich zu machen. So erreichten sie Straßburg, und da der Pole daselbst einige Tage zu verweilen gedachte und die Geschäfte Alfred’s gleichfalls einen mehrtägigen Aufenthalt erforderten, kam man noch unterschiedliche Male zusammen, zumal sie im nämlichen Hotel ihr Quartier aufgeschlagen hatten.
Eines Tags besichtigte man auch die reichen Arsenäle der Festung. Mit Verwunderung betrachteten die beiden Fremden die imponirende Anzahl der hier aufgehäuften Feuerschlünde. Mit ernstem Sinnen frug der Pole: „Ob wohl eine Zeit kommen wird, wo diese dunkeln Mündungen ihre Stimmen für das Recht und die Freiheit erheben?“
„Gewiß,“ erwiderte Alfred, „da ich an einen sittlichen Geist der Geschichte und dessen endlichen Sieg glaube. Freilich,“ fügte er mit trübem Lächeln hinzu, „ob wir Beide diese Zeit erleben werden, ist die andre Frage. Wir müssen uns hier mit den zahlreichen Geschlechtern trösten, die ebenfalls auf ein politisches Canaan gehofft und dafür gekämpft und gelitten haben, ohne es je zu sehen zu bekommen. Die Freiheit wie die Wahrheit können warten, sagt ein Sprüchwort, beide sind unsterblich, und was zählt im Laufe der Geschichte ein Menschenalter!“
„Das ist auch mein Trost,“ versetzte der Andre, seinem Begleiter die Hand reichend und drückend, „die Freiheit kann warten, sie bleibt unverloren. Das soll uns aber nicht abhalten, daß Jeder nach seinen Kräften beitrage, dem ersehnten Ziele näher und näher zu kommen; sei es auch nur ein Tropfen in’s Weltmeer.“
Kurz darauf trennten sich die beiden Reisenden, nachdem sie sich gegenseitig einander achten und schätzen gelernt. Der Pole reiste nach Paris, Alfred durch Süddeutschland nach seiner Heimath zurück.
Vier Jahre nach dem obigen Zusammentreffen trat eines Nachmittags der Vater Alfred’s zu ungewohnter Stunde in das Zimmer seiner Gattin. Sein Gesicht war sehr ernst und drückte die lebhafteste Besorgniß aus.
„Ich habe schlechte Nachrichten empfangen, liebe Frau,“ begann er. „Die neuesten Briefe aus Warschau lassen mich für meine dortigen Außenstände das Aergste befürchten. Die durch die immer weiter um sich greifende Insurrection herbeigeführte Stockung der Geschäfte stellt den Fall von Häusern in Aussicht, der uns auf das Empfindlichste berühren würde. Namentlich ist mir’s um eine Baarzahlung meines Hauptschuldners zu thun, die bereits vor vier Wochen gefällig und deren schleunige Beschaffung für mein Fabrikgeschäft täglich dringender wird. Ich wollte Dir darum blos die Mittheilung machen, daß ich den Alfred nach Warschau schicken werde.“
Als die Gattin von der Sendung ihres Sohnes nach Warschau hörte, entfärbte sie sich.
„Bester Mann,“ bat sie, „bedenke die jetzigen gräßlichen Zustände daselbst. Man spricht selbst von einem bevorstehenden Bombardement der Stadt.“
„Die Gerüchte darüber sind übertrieben,“ beruhigte der Kaufmann. „Ich sprach noch gestern mit Geschäftsfreunden, die von dort kommen. Zudem ist Alfred mit Pässen und guten Empfehlungen hinreichend versehen und sein Aufenthalt nur auf ein paar Tage beschränkt. Aber ich muß durchaus wissen, wie es mit meinem Hauptschuldner steht und wie ich überhaupt mit ihm daran bin.“
Nur mit schwerem Herzen ergab sich die Gattin in das Unvermeidliche, und bereits den nächsten Tag reiste Alfred nach Warschau ab, das er auch glücklich erreichte, da die durch die Aufständischen eine Zeit lang unterbrochene Communication wieder hergestellt war.
Bereits am Spätnachmittage des zweiten Tages nach seiner Ankunft sehen wir den Sohn des schlesischen Kaufmannes in dem noch leeren Speisesaale des Hotels, wo er abgestiegen war, in stiller Verzweiflung auf und ab gehen. Der Zweck seiner Sendung war verunglückt. Der Hauptschuldner seines Vaters hatte ihn zwar mit aller Höflichkeit aufgenommen, aber zugleich mit großer Zungengeläufigkeit die Unmöglichkeit auseinandergesetzt, unter gegenwärtigen Zeitverhältnissen seinen Verbindlichkeiten nachzukommen. Das Schlimmste aber war, daß es dem erfahrenen und einsichtsvollen jungen Kaufmanne nicht entging, wie es dem Schuldner mehr an gutem Willen fehlte, als an Zahlungskraft. Welche Verluste auch der Pole namhaft machte, die ihn in Folge des Aufstandes und der dadurch entstandenen allgemeinen Handelscalamität betroffen, sie konnten bei dem Umfange seines Geschäfts nicht so tiefeingreifend sein, um einen haltbaren Grund zur Zahlungsverweigerung abzugeben.
Nach langem unfruchtbaren und unerquicklichen Hin- und Wiederreden, und als endlich Alfred mit Klagbarwerdung drohte, erwiderte kaltblütig der Gegner: „Thun Sie das, wenn Sie glauben, damit besser weg zu kommen. Ich muß mir es gefallen lassen; [153] gebe Ihnen aber zu bedenken, daß Sie mich in diesem Falle zur Liquidation treiben. Was alsdann auf Ihre Forderung herauskommen dürfte in einer Zeit, wo wir keine Stunde sicher sind, daß uns die Kanonen der Citadelle die Häuser über den Köpfen anzünden, stelle ich abermals Ihrem Ermessen anheim. Das Aeußerste, was ich thun kann,“ schloß er seine für Alfred niederschmetternde Rede, „ist, daß ich Ihnen ein Abfindungsquantum anbiete für den Fall, daß Sie über das Ganze quittiren. Verschmähen Sie diese von der Noth gebotene Summe, so weiß ich nicht, ob ich in Kurzem auch nur diese noch zu leisten im Stande sein werde.“
Da der Betrag der angebotenen Summe mit der Schuldforderung in zu grellem Widersprüche stand, fuhr der junge Kaufmann empört von seinem Sitze auf, griff nach seinem Hute und verließ ohne Abschied rasch das Zimmer. Spöttisch schaute der Pole dem Davoneilenden nach und brummte für sich: „Das fehlte noch, in der jetzigen Klemme auch noch dem Schwaben das Geld in den Rachen zu werfen.“
Alfred war in seiner Verzweiflung zu einem Rechtsanwalt geeilt, den ihm sein Vater für gewisse Fälle namhaft gemacht. Das Resultat hier konnte nicht trostloser sein. Der Mann des Rechts zuckte mit den Achseln und gestand, daß Alfred allerdings zu keiner unglücklicheren Zeitperiode in Warschau hätte eintreffen können. Die Situation sei in der That der Art, daß Alles auf dem Spiele stehe, und der Fall, daß sie von zahlungssäumigen Gläubigern benutzt werde, um ihrer Verbindlichkeiten quitt zu werden, stehe leider nicht vereinzelt da. Dieselbe Resolution erhielt er selbst von mehreren einflußreichen Persönlichkeiten, wo er seine Empfehlungsbriefe abgab.
Wir finden am Spätnachmittag unsern Landsmann nach seinem Hotel zurückgekehrt und beschäftigt, auf einem aus der Brieftasche gerissenen Stück Papier ein Telegramm zu redigiren, um seinen Vater von dem unglücklichen Stande der Angelegenheit zu benachrichtigen und um anderweite Verhaltungsbefehle zu bitten. Es begann bereits dunkel zu werden, Alfred hatte darum an dem obern noch lichthellen Theile der langen Tafel Platz genommen. Die nahen Fenster gingen nach der Straße hinab. Er vernahm, während er schrieb, die dumpfen Schritte und das Geklirr der Waffen der vorüberziehenden starken russischen Patrouillen, war jedoch in seine Arbeit so vertieft, daß er nicht bemerkte, wie inzwischen ein hoher stattlicher Herr in den Saal getreten war, der, sowie er einen Blick auf den jungen Kaufmann geworfen, eine freudige Ueberraschung ausdrückende Erregtheit nicht zu verbergen vermochte. Alfred bemerkte es auch nicht, wie der Fremde ihn fixirend wiederholt auf und ab ging.
Endlich war das Telegramm fertig. Alfred erhebt sich; allein wer beschreibt seine Ueberraschung, als sein alter Bekannter aus Straßburg vor ihm steht. „Wache ich oder träume ich?“ ruft endlich Letzterer und schließt den Deutschen auf das Herzlichste in seine Arme. Doch kaum hat er einen Blick auf Alfred’s Gesicht geworfen, als er betreten einen Schritt zurücktritt.
„Ihnen ist Unangenehmes widerfahren,“ spricht er in besorgtem Tone, „und überhaupt, was führt Sie gerade jetzt nach dieser unglückseligen Stadt?“
Zu jeder andern Zeit würde dieses überraschende Sichwiedersinden auch auf Alfred den freudigsten Eindruck nicht verfehlt haben. In seiner jetzigen Lage war es ihm aber unmöglich, seiner Freude hinreichend Ausdruck zu geben.
Da der Pole, den wir Stanislaus nennen wollen, mit ungeheuchelter Theilnahme in ihn drang, seinen Kummer ihm mitzutheilen und Alfred seinen ehemaligen Reisegefährten durchaus als einen Mann von edelster Gesinnung hatte kennen lernen, so trug er kein Bedenken, sein Herz vor ihm auszuschütten.
„Doch das läßt sich nicht mit trockenem Munde abthun,“ unterbrach Stanislaus, nachdem Alfred seine Leidensgeschichte begonnen; „Thaddäus, eine Flasche Cliquot.“ Obschon unserm deutschen Landsmanne durchaus nicht champagnerlustig zu Muthe war, mußte er gleichwohl auf das Wiederfinden anstoßen, worauf der Pole die Mittheilung Alfred’s mit Spannung und Aufmerksamkeit verfolgte, während seinem Munde wiederholte Male das Wort „Canaille“ entfuhr.
Alfred war zu Ende; Stanislaus stand auf und dem Tiefverstimmten die Hand reichend, sagte er: „Danken Sie es einem gütigen Geschick, das uns so unerwartet zusammenführte. Vielleicht, daß ich etwas in der Sache thun kann. Sie wenigstens sollen nicht zu den Deutschen gehören, welche sagen können, daß sie durch einen Polen um ihr Eigenthum gekommen wären!“
Alfred wußte nicht, wie ihm geschah. Er schaute trüben, fast ungläubigen Blickes zu dem Manne empor, der auf so unverhoffte Weise als sein Retter erschien. Letzterer fuhr fort: „Begeben Sie sich jetzt auf Ihr Zimmer und verlassen Sie dasselbe nicht. Binnen zwei Stunden bin ich wieder hier. Thaddäus, leuchte dem Herrn nach seinem Zimmer!“
Alfred befand sich in einer schwer zu beschreibenden Stimmung. Dieses höchst unverhoffte Zusammentreffen, dieses Anerbieten in der Noth – aber welche Mittel und Wege standen Jenem zu Gebote, einen böswilligen Schuldner zur Zahlung zu zwingen? Was unserem deutschen Landsmanne fernerhin auffiel, war die vollständige Umwandlung in dem Benehmen der Hoteldienerschaft gegen ihn. Bei seiner Ankunft war er mit einem gewissen Mißtrauen, ja mit auffälliger Kälte vom Wirthe wie dessen Dienstleuten empfangen worden. Er mußte wiederholt die Klingelschnur ziehen, ehe sich ein diensthabender Kellner gemüßigt fand, nach dem Begehr zu fragen. Jetzt war das ganz anders. Ein Wink, und Jedermann flog, seinen Wünschen nachzukommen.
Nachdem Alfred sein Zimmer betreten, war die Dunkelheit immer tiefer herabgesunken. Sofort erhellte sich der Raum, indem sämmtliche Wachskerzen auf den silbernen Armleuchtern angezündet wurden, was Tags vorher nicht geschehen war.
Mit der unterwürfigen Frage: ob der gnädige Herr noch etwas befehle? entfernte sich der Diener, und Alfred erhielt Muße, über sein höchst merkwürdiges Abenteuer die geeigneten Betrachtungen anzustellen.
Die Fenster des Zimmers gingen nach einem freien Platze. Nur vereinzelte Gestalten sah man, eine jede mit einer Laterne versehen, durch die Dunkelheit wandeln. In einiger Entfernung rauschten die Wellen der Weichsel. Alfred öffnete ein Fenster und schaute lange hinaus in die milde, schweigende Nacht. Er war in der Geschichte des polnischen Reiches nicht unbewandert; darum bewegten die seltsamsten Gefühle seine Brust. Er gedachte der Donner und Flammen Pragas unter den stürmenden Bataillonen Suwarow’s, der Donner und Flammen von Wola vor zweiunddreißig Jahren. „Wenn diese dunkeln Häusermassen,“ sprach er zu sich, „erzählen könnten, wie viel Blätter blutiger polnischer Geschichte würde man zu beschreiben haben!“ Seine Situation würde überhaupt eine recht romantische zu nennen gewesen sein, wenn der drohende Verlust die erforderliche Stimmung dazu verstattet hätte.
Abermals zog eine russische Patrouille, um die Ecke biegend, am Hause vorüber. Schweigend marschirten die Krieger dahin. Ihre Schritte verhallten allmählich und wurden schwächer und schwächer. Es herrschte wieder die vorige unheimliche Einsamkeit und Stille – da, plötzlich ein geller, kurzer, aber markdurchschauernder Hülfeschrei. Erschrocken fuhr Alfred zurück und gewahrte mit Entsetzen, wie sich in geringer Entfernung ein dunkler Gegenstand auf dem Boden wälzte und zwei Gestalten nach der entgegengesetzten Richtung anseinanderhuschten. Er vernahm, wie das Thor des Hotels aufgerissen wurde und Personen mit Lichtern hervorstürzten, die, wie es schien, einen Schwerverwundeten oder Todten in’s Haus trugen.
Alfred eilte nach dem Glockenringe und schellte. Er mußte wissen, welches Unglück sich zugetragen. Auf seine hastige Anfrage erwiderte der Diener mit einer gewissen Selbstzufriedenheit, ja selbst Schadenfreude: „Es ist der geheime Polizeiagent T., an welchem die Nationalregierung soeben das Urtheil vollstrecken ließ.“
Nationalregierung, verhängnißvolles Wort, das Alfred so oft in Deutschland nicht ohne geheimen Schauer hatte aussprechen hören und das er nur im Drange der Geschäfte zeitweilig aus dem Gedächtniß verloren, es wuchtete jetzt von Neuem unheimlich auf ihm. Nie hätte er sich träumen lassen, die Bekanntschaft dieses furchtbaren Tribunals, dieser dunkeln Vehme, in solcher Nähe zu machen. Er wollte schüchtern noch einige Anfragen an den Kellner thun, als Tritte auf dem Gange vernehmbar wurden und Stanislaus wieder in das Zimmer trat, der ihn sofort nach dem Sopha führte und Platz neben ihm nahm.
Alfred konnte nicht umhin, den alten Reisegefährten von dem soeben gehabten Schrecken zu benachrichtigen. Doch dieser entgegnete mit großem Gleichmuthe: „Daran muß man sich bei uns gewöhnen. Doch seien Sie unbesorgt. Es wird Niemand schuldlos [154] gerichtet. Nur an überwiesenen Verbrechern wird das Urtheil vollstreckt. Doch passen Sie jetzt auf, wir haben wichtigere Dinge zu verhandeln.“
Nachdem er mehrere Papiere aus seinem Portefeuille genommen, fuhr er fort: „Morgenden Tages, und zwar so zeitig wie möglich, lassen Sie sich nochmals bei Ihrem Gläubiger melden. Der Portier wird wahrscheinlich Auftrag haben, Sie nicht noch einmal vorzulassen; für diesen Fall zeigen Sie das Papier hier vor, und jede Weigerung wird aufhören. Sie werden vorkommen und mahnen den betreffenden Herrn nochmals an seine Verbindlichkeit. Macht derselbe abermals Ausflüchte und befriedigt Sie nicht bis zu Heller und Pfennig, so weisen Sie dieses zweite Papier vor und Sie werden sichere Wechsel, lautend auf Sicht an ein Breslauer Haus, erhalten. Dann aber sputen Sie sich, Warschau mit dem nächsten Zuge zu verlassen; denn wir Polen wissen nicht, was der morgende Tag über uns verhängt. Sollten Sie unterwegs von den Unsrigen behelligt werden, was ich für die nächsten Tage nicht glaube, alsdann zeigen Sie dieses dritte Papier vor, und man wird Sie ruhig Ihre Reise fortsetzen lassen. – Wie angenehm es mir gewesen wäre,“ schloß der Pole seine Ansprache, „ein paar Stündlein mit Ihnen zu verplaudern, so gestatten dies doch meine Geschäfte nicht. Reisen Sie mit Gott! Vielleicht, daß wir uns unter freundlichern Sternen noch einmal in diesem Leben begegnen.“ Und ehe der überraschte Alfred seinen Dank zu stammeln vermochte, hielt er die drei Papiere in der Hand, und Stanislaus war verschwunden.
Die nächstfolgende Nacht war eine der unruhvollsten in dem Leben unsers Landsmannes. Das Erlebte war ihm so fabelhaft, daß er wiederholt die mit polnischen Schriftzügen bedeckten Papiere besichtigen mußte, um sich zu überzeugen, daß er nicht träume. Der Gedanke, daß er es mit einem Mitgliede oder doch sehr einflußreichen Agenten der geheimen polnischen Nationalregierung zu thun gehabt, erfüllte ihn fast mit Schauer. Nichtsdestoweniger beschloß er in seiner geängsteten Lage, von der Gelegenheit, die ihm das Schicksal auf so wunderbare Weise geboten, Gebrauch zu machen, obschon er die Zweifel an einen glücklichen Erfolg nicht zu unterdrücken vermochte.
Bereits in den ersten Vormittagsstunden des folgenden Tags begab er sich, dem erhaltenen Rathe zufolge, abermals nach der Wohnung des Schuldners. Wie Stanislaus vorausgesagt, ward Alfred von dem Portier mit dem Bescheide kurz abgefertigt, daß der Herr verreist sei. Da machte unser Landsmann von dem ersten für den Portier bestimmten Papier Gebrauch, und, wie im Hotel, trat auch hier die merkwürdigste Wandlung ein. Aus der gravitätischen, vornehm herabschauenden Persönlichkeit ward plötzlich der höflichste Mensch. Er geleitete mit großer Zuvorkommenheit den Deutschen selbst nach dem Empfangzimmer und beeilte sich, den Hausherrn von dem Besuche in Kenntniß zu setzen.
Der Talisman, welcher dem Deutschen auf so räthselhafte Weise den Eintritt verschafft hatte, schien auch auf seinen Schuldner nicht ohne Einfluß geblieben zu sein. Alfred brauchte nur wenige Minuten zu warten, bis der Herr vom Hause erschien. Derselbe bemühte sich vergeblich, seine an Bestürzung grenzende Ueberraschung durch die ausgesuchteste Höflichkeit zu verdecken. Er gestand, daß es der Wunsch seines Herzens sei, mit dem schlesischen Hause in möglichst gutem Einvernehmen zu verbleiben, und nur die äußerste Noth habe ihn gestern gedrängt, ein Gebot zu thun, das ihm selbst nur zu wehe gethan; um aber wenigstens seinen guten Willen zu zeigen, wolle er die angebotene Summe um das Doppelte erhöhen.
Als Alfred hierauf nicht einging und auf vollständiger Befriedigung beharrte, legte sich der Pole aufs Bitten um Nachsicht und Gestundung. Es schien ihm Alles darum zu thun, mit seinem Gläubiger in Güte aus einander zu kommen.
Der Deutsche erwiderte, „daß man, was Nachsicht und Gestundung anlange, dieselbe bereits seit vier Wochen hinlänglich an den Tag gelegt habe und dadurch ebenso in Sorge, wie in Verlust gerathen sei.“
Der Schuldner erhöhte die Summe nochmals, und als Alfred auch hierauf nicht einging, stand Ersterer auf und erwiderte mit kälterem Tone: „Mein letztes Gebot gedenke ich verantworten zu können, gegen wen es immer sei. Sind Sie damit nicht einverstanden, so thut es mir leid; aber mehr zu bewilligen, liegt vollkommen außerhalb des Bereiches meiner Kräfte.“
Da Alfred erkannte, daß der Pole zu dem Punkte gekommen, wo seine Nachgiebigkeit die Grenze erreicht und weitere Debatten überflüssig wurden, zog er das zweite Papier aus der Brusttasche und überreichte es schweigend. Kaum hatte der Pole einen Blick auf das verhängnißvolle Papier geworfen, als eine auffallende Blässe sein Gesicht überzog. Er sprang auf und ging, wie mit einem Entschlusse kämpfend, wiederholt das Zimmer auf und ab.
Endlich blieb er vor Alfred stehen und sagte: „Sie sollen Ihr Geld haben und sollte es mich den Ruin meines Hauses kosten; aber ich bringe dieses Opfer im Interesse meines Volks und meines Vaterlandes. Wollen Sie gefälligst Quittung leisten. Hier stehen Papier und Schreibmaterial. Binnen Kurzem bin ich wieder bei Ihnen.“
Alfred schrieb im Namen seines Hauses die Quittung und zwar über die ganze Forderung, deren vollen Betrag in guten Wechseln er nach wenig Minuten in seiner Hand hielt.
Wer war glücklicher als unser Landsmann? Ohne sich in weitere Unterhaltung mit dem sehr wortkarg gewordnen Polen einzulassen, eilte er nach seinem Hotel, um seinen Retter aufzusuchen und ihm dankend um den Hals zu fallen. Aber Stanislaus war nirgends aufzufinden, noch sonst zu erfragen. So blieb ihm nichts übrig, als ein paar Dankeszeilen auf das Papier zu werfen, die er dem Wirthe zu eigenhändiger Ueberantwortung anvertraute. Zugleich bat er inständigst um den wahren Namen seines Wohlthäters, welchen dieser nie Alfred mitgetheilt hatte. Man nannte ihn, und sorgfältig notirte er denselben in seine Brieftasche, um von Hause aus noch ausführlicher seinen Dank auszusprechen.
Bereits nach wenigen Stunden lag die alte Polenhauptstadt weit hinter ihm. Er erreichte glücklich die deutsche Grenze, ohne auf Insurgentenhaufen gestoßen zu sein. So bedurfte er des dritten Papieres nicht, das er aber zum Andenken noch heute heilig und theuer aufbewahrt. In Breslau wurden die Wechsel auf das Prompteste honorirt.
Das Erste, was Alfred in der Heimath vornahm, war, daß er sich hinsetzte und in einem herzlichen Schreiben seinen Dank nochmals aussprach. Der Brief aber kam nach Verlauf weniger Tage mit der Bemerkung des Warschauer Postamtes zurück: „Adressat hier unbekannt“. Der Brief war unerbrochen, da Alfred als Absender die Firma seines Hauses bezeichnet hatte.
Als Alfred seinem Vater bei einem Glase Punsch sein Abenteuer und dessen glücklichen Erfolg ausführlicher mittheilte, stieß Letzterer auf das Freudigste mit seinem Sohne an und rief wiederholt: „Du bist ein Glückskind, wie ich das schon mehrmals in Deinem Leben zu beobachten Gelegenheit gehabt habe. Trotzdem,“ fügte er hinzu, „wollen wir mit den Herren Polen künftig etwas vorsichtiger zu Werke gehen, da nicht immer die polnische Nationalregierung die Gefälligkeit haben dürfte, wohlthätig einzuschreiten.“ – In der That möchte wohl auch der Fall, daß jene geheime Behörde einem Deutschen zu seinem Eigenthume verhelfen, sehr vereinzelt dastehen.
- ↑ Nachstehende Mittheilung ist dem Referate eines schlesischen Kaufmanns entnommen.Der Verfasser