Als Deutsche in Paris
Als Deutsche in Paris.
Es sind bereits fünfundzwanzig Jahre her, und doch steht noch lebendig der seltsame Augenblick vor mir, in dem ich erfuhr, daß der Krieg zwischen Frankreich und Deutschland erklärt sei.
Ich befand mich damals in dem jetzt oft genannten Tanger, an der Nordküste von Afrika. Um übrigens dem Verdacht der Europamüdigkeit zu begegnen, in den man leicht gerät, wenn man sich während der Sommerhitze nach Afrika begiebt, will ich voranschicken, daß ich vor dem Typhus geflohen war. In Cadiz, wo ich mich in Familienangelegenheiten aufhielt, war er ausgebrochen, und der Arzt hatte mich bei einem Fieberanfall sogleich nach der gegenüberliegenden, ihres gesunden Klimas wegen bekannten Hafenstadt geschickt. Seit etwa sechs Wochen war ich dort; die Rückkehr nach Cadiz schien immer noch nicht ratsam.
Unter den wenigen Familien, mit denen ich in Tanger verkehrte, war die eines Arztes, Doktor Migueres, der mit seiner Frau und Schwiegermutter hier angesiedelt war – sämtlich Südfranzosen. Er – intelligent, voll Sprühfeuer; sie noch ziemlich jung, mit großen, traurigen Augen, die um den Verlust eines einzigen Kindes klagten. Ihre Mutter, wenig zugänglich, außer wenn sie von ihrem Sohne sprach, dem „talentvollsten Kadetten von St. Cyr.“
Es war am Nachmittag des 20. Juli, als ich neben Frau Migueres am Klavier saß; es schien ihr lieb, jemand gefunden zu haben, mit dem sie zuweilen vierhändig spielen konnte. Wir waren gerade in die Egmontouverture vertieft, als die Thür hinter uns aufgerissen wurde und ihr Mann eintrat. Er war in großer Aufregung und konnte kaum sprechen. Endlich, nachdem er sich gerade vor nach hingestellt und ein paarmal heftig geatmet hatte, rief er ganz unvermittelt:
„Wissen Sie auch, daß wir Feinde geworden sind?“
Ich war ganz starr vor Schreck, denn ich dachte, er hätte plötzlich den Verstand verloren; der Tag war heiß genug für einen Sonnenstich. Die arme Frau fürchtete jedenfalls dasselbe, denn sie stöhnte einmal über das andere. „O Gott – Charles, Du weißt ja gar nicht, was Du sprichst!“
Aber er wußte es nur zu gut!
„Es giebt Krieg!“ erklärte er. „Frankreich hat Ihnen (ich verkörperte ihm Deutschland) den Krieg schon am 15. Juli erklärt, aber der Draht reicht nicht bis an unser elendes Nest, so ist die Nachricht eben erst von Lissabon herübergelangt.“
Ich fiel wie aus den Wolken. Kaum vier Wochen hatte ich Europa aus den Augen gelassen, denn in Tanger las ich keine Zeitung, und da überraschte es mich nun plötzlich mit einer Kriegserklärung!
Frau Migueres, die für ihren Mann schwärmte, nahm den Krieg leichter als das, was sie vorher gefürchtet hatte. Nur ihre Mutter, die bei den lauten Worten des Doktors in die Thür getreten war, rang die Hände im Gedanken an den talentvollen Kadetten, dessen Zeit in St. Cyr beinahe um war, und der vermutlich eingezogen wurde. Migueres aber kam vom französischen Konsulat und warf zu unserer Belehrung den spanischen Thron und den Prinzen von Hohenzollern, den König von Preußen und seine Zusammenkunft in Ems mit Benedetti geläufig durcheinander.
„Ach, der entsetzliche Krieg!“ jammerte die Schwiegermutter, „und was wird erst das Ende sein!“
„Das Ende?“ schrie der Doktor mit einem triumphierenden Blick nach mir, „das kann ich Euch heute schon voraussagen. – Ist keine Karte da?“
Sie war verlegt. Das Bildungsmaterial schien überhaupt etwas mangelhaft im Hause – dafür befanden wir uns in Afrika. Er mußte mit einem Eisenbahnnetz von Mitteleuropa vorlieb nehmen, das er sogleich vor sich ausbreitete. Drauf zog er einen Bleistift aus der Tasche und rückte die „zukünftige Grenze Frankreichs“ so tief in unser Land hinein, daß ich, als Vertreter Deutschlands, mir das unmöglich gefallen lassen konnte. Ein lebhaftes Wortgefecht um den Besitz des Rheins war die Folge. Er hielt ihn fest, mit seiner Bleistiftlinie wenigstens. Beide saßen wir bald mit heißen Köpfen da und schossen wütende Blicke aufeinander.
„Da haben wir ja schon den Krieg!“ seufzte die Doktorin und setzte eine Schüssel mit frischen Feigen auf den Tisch, uns den Mund zu stopfen. Sie ruhte auch nicht eher, bis wir Frieden schlossen und uns zur Versöhnung sogar die Hände schüttelten. Der Gebietsabtretung wurde dabei nicht weiter erwähnt; jeder dachte das Seine darüber.
Mit dem Musizieren war’s natürlich vorbei. Dagegen wurde beschlossen, daß Doktor Migueres mich bis zu dem ziemlich entfernten Hause des belgischen Konsuls begleiten sollte. Wir Deutsche besaßen damals noch keinen eigenen Vertreter in Marokko; meine spanischen Verwandten hatten mich deshalb an den belgischen empfohlen, der ihnen bekannt war und mir durch seine Erfahrung auch bereits gute Dienste geleistet hatte. Die Kriegsnachricht hatte plötzlich eine unbezwingliche Sehnsucht nach den Meinen in mir geweckt und der Konsul sollte mir Rat wegen der Reise geben.
Beinahe hätten wir zwei eben erst versöhnte Feinde unterwegs wieder Streit bekommen, als wir auf ein paar Negerjungen stießen, die miteinander kämpften. – „Nehmen wir an,“ reizte mich der Doktor, „der da sei Napoleon (er hatte sich natürlich den Stärksten gewählt), der andere Ihr König von Preußen – wir wollen doch sehen, wer die Schlacht gewinnt!“
Ich antwortete nicht, sondern ging nur schneller, um mir die herrliche Gegend, die ich vielleicht zum letztenmal sah, durch seine Kriegsgelüste nicht verderben zu lassen. Von dem Hügel, auf dem wir standen, blickte man herab auf die Stadt, die sich terrassenförmig nach dem Meere senkte. Hier oben gab’s das beste Trinkwasser, was in Tanger soviel bedeutet wie in München Hofbräu. Drum traf man gegen Abend auch die Männer und Jünglinge von Tanger-nueva in einem Halbkreis hier am Boden sitzend, während meist ein Improvisator im weiten Burnus, lebhaft gestikulierend, in der Mitte stand. Zuweilen hob bei ihren Beifallsstürmen ein neugieriges Kamel der Herde den langen, krummen Hals und stieß jenen schrillen Schrei aus, der keinem Schrei eines anderen Tieres gleicht. Ernste Frauen, deren weiße Umhüllung nur die schwarzen Augen sehen ließ, schöpften daneben Wasser am Brunnen und stiegen, den antiken Krug auf dem Kopf, dann langsam zur Stadt nieder.
Am Strand, den wir passieren mußten, trafen wir die französischen Maler Henri Regnault und Clairin, die auf ihren kleinen Pferden dahinflogen. Mit Regnault sollte ich tags darauf bei einem gemeinschaftlichen Bekannten frühstücken. Am nächsten Tag! da war er bereits „zu Schiff nach Frankreich“, um die Palette mit der Flinte zu tauschen. Vor Paris hat der Tausch dem Armen das Leben gekostet.
Des Belgiers kleines Palais glich einem Museum, er besaß eine reichhaltige Sammlung orientalischer Waffen und Thongefäße. Am selben Morgen hatte eine Karawane ihm eine neue Sendung gebracht – mitten ins Auspacken hatte die Kriegsnachricht getroffen. Da saß nun der gemütliche alte Herr zum erstenmal teilnahmlos neben seinen Schätzen und durchflog die frisch eingelaufenen Briefe und Zeitungen.
„Sie sind doch bei dem Kriege nicht beteiligt!“ rief ich etwas geringschätzig, als er mit einem ellenlangen Gesicht meinen Gruß erwiderte. Denn ich kam mir als Mitglied eines Staats, der mit einem anderen Krieg führt, plötzlich viel wichtiger geworden vor. Denke ich jetzt daran, scheint mir das sehr lächerlich, aber ich erinnere mich genau, so empfunden zu haben.
„Sie vergessen, daß ich als Belgier sogar sehr nahe bei der Sache beteiligt bin,“ meinte er. Auch ihm schwebte als Resultat des Krieges eine Veränderung der Gremzen vor, nur war er auf eine Besitzerweiterung seines Landes nicht so gefaßt wie Migueres.
Ich legte ihm meinen Fall vor und setzte ihm auseinander, daß ich über Paris zurückreisen wollte, weil der Mietskontrakt für mein dortiges Maleratelier noch nicht abgelaufen sei, sich auch der größte Teil meiner Sachen in demselben befände.
Da riet er, sobald als möglich zu reisen, weil, nachdem die Feindseligkeiten erst begonnen, die deutsch-französische Grenze schwer zu passieren sein werde. Ein Diener wurde sogleich nach dem [540] Hafen gesandt, um zu erfahren, ob ein Schiff für Cadiz vor Anker läge. Nein. Der nächste Dampfer sei erst in sechs Tagen fällig. So entschloß ich mich zu dem Umweg über Gibraltar, wohin der „Neptun“ bereits in ein paar Stunden abging.
Ich kehrte ins Hotel heim, bezahlte meine Rechnung, packte schnell meine Siebensachen und begab mich noch vor Morgengrauen nach dem Hafen.
Das Einschiffen war so unbequem wie einige Wochen vorher das Landen. Wenn man während eines Sturmes, wie er sich an jenem Morgen erhoben, auf einer wahren Nußschale nach einem Dampfer überfährt, verwünscht man die Romantik südlicher Häfen, die für das Einlaufen größerer Schiffe noch nicht eingerichtet sind. Vorn ein Laternchen, denn es war noch finstere Nacht, hüpfte unser kleines Boot wie ein Irrwisch über die Wellen. Als ich endlich am „Neptun“ anlangte, mußte ich mir den Platz an Bord noch durch eine akrobatische Leistung an der schwanken Strickleiter erkaufen, deren ich heute noch mit Schrecken gedenke. Oben angelangt, sank ich auf eine Bank, von welcher aus ich dann bei Tagesanbruch die afrikanische Küste verschwinden sah.
Die Seefahrt schien mir lang und schwül. Erst gegen zwei Uhr liefen wir im Hafen von Gibraltar ein, dessen weiße Kreidefelsen die grelle Mittagssonne in einer für die Augen unerträglichen Weise zurückwarfen.
Trotz der Empfehlung des belgischen Konsuls gab’s Weitläufigkeiten, ehe ich von der Militärbehörde eine Aufenthaltskarte für die achtundvierzig Stunden erhielt, die ich hier auf den Dampfer für Cadiz warten mußte. In ungemütlichster Stimmung – unschlüssig wohin? – keine bekannte Seele nahe, die ich anrufen konnte, schleppte ich mich in afrikanischer Brathitze über blendenden Sand nach der Stadt. Gepeinigt wurde ich noch dazu von einem schrecklichen Gedanken, der mir erst kurz vorher auf dem Schiff gekommen war, nämlich: Was wird aus mir, wenn mein Geldvorrat zu Ende geht, ehe ich Deutschland erreiche? Leider wußte ich aus Erfahrung, daß eine ebenso thörichte, wie unüberwindliche Scheu es mir unmöglich machte, mich in Fällen der Not, wie sie in der Fremde und bei einer gewissen Unerfahrenheit vorkommen, selbst an solche zu wenden, bei denen ich Kredit hatte. Was finge ich erst unter Fremden an, wenn der Krieg mich von der Verbindung mit den Meinen abschnitte? Vorderhand war ich glücklicherweise noch auf einige Zeit gedeckt. Meine Devise sollte von nun ab höchste Sparsamkeit werden, Sparsamkeit bis zur Knauserei. Eine englische Banknote, die ich bei mir trug, schien mir vorteilhaft hier, auf englischem Boden, zu wechseln, zu welchem Zweck ich in ein ansehnliches Bankhaus trat. Da ereignete sich etwas so Außergewöhnliches, Wunderbares, daß ich zuerst an eine übernatürliche Einwirkung in mein Schicksal glaubte.
Im Begriff nämlich, das gewechselte Geld an mein Portemonnaie zu thun, trat ein Herr – offenbar der Chef des Hauses – der mich schon eine Weile fixiert hatte, an mich heran und fragte: „Nicht wahr, ich habe Miß Biller vor mir?“
Als ich aufs höchste überrascht bejahte, streckte er mir beide Hände entgegen, schüttelte die meinen und rief: „Nun, da seien Sie mir herzlich willkommen. Sie erlauben, daß ich Sie sogleich meiner Frau vorstelle, denn solange Sie in Gibraltar bleiben, sind Sie selbstverständlich unser Gast!“
Ich liebe die englische Sprache nicht sonderlich, in dem Augenblick aber klang sie mir wie die herrlichste Musik. Nur war mir die Anrede so verblüffend, so märchenhaft, daß ich es nicht gleich wagte, trotz des zutreffenden Namens, sie auf mich zu beziehen. Indes, alles ging mit natürlichen Dingen zu.
Englische Mitglieder meiner Familie hatten nämlich meinen Soloabstecher nach Afrika mit einer gewissen Besorgnis verfolgt, besonders als ich beiläufig einmal schrieb, ich hätte nicht übel Lust, mich einer Karawane nach Fez anzuschließen. Es war da der Gegenvorschlag gemacht worden, doch lieber das nahgelegene Gibraltar zu besuchen, zu dem man in Beziehungen stehe. Mein Schwager hatte zugleich einem ihm dort befreundeten Bankier meine Personalbeschreibung geschickt mit der Bitte, falls ich mich ihm vorstelle, mich wie ein Glied der Familie aufzunehmen. Da ich auf Gibraltar nicht einging, war dieses Briefes gegen mich nicht erwähnt worden. So fügte es nun ein glücklicher Zufall allein, daß ich das gastliche Haus und teilnehmende Menschen fand, im Augenblick, wo ich mich so lebhaft danach sehnte. Mit echt englischer Gastfreundschaft wurde ich aufgenommen. Mr. G. und seine Gemahlin machten mich mit dem interessanten Gibraltar bekannt, wobei mir besonders der Rassenunterschied zwischen Süd- und Nordländern auffiel. Die hochgewachsenen, blonden Engländer, in hellen Uniformen und weißen Mützen, die in gemessener Haltung marschierten und klanglos redeten, auf einer Seite, und auf der andern die kleinen, sonngebrannten Spanier in dunklen Kapas, mit ihrem Sprühfeuer, der drastischen Geste und vollklingenden Sprache.
Den Abend brachten wir in einem englischen Klub im Freien zu, wo fast ausschließlich der Krieg den Unterhaltungsstoff lieferte. Die letzte Sensationsnachricht war eben eingetroffen: Rußland rüste gemeinsam mit den Vereinigten Staaten, um den Franzosen nötigenfalls gegen uns beizustehen – eine Ente, die von Frankreich geflattert kam. Es wurden auch Wetten gemacht – für, wie gegen uns; ein berühmtes Rennpferd mit Namen Puck war in Bismarck umgetauft worden.
Mein Gastfreund begleitete mich am dritten Tage aufs Schiff, um mich dem Kapitän zu empfehlen, dessen Dampfer – ein französischer – zwischen Genua und Havre verkehrte und auf den Zwischenstationen Passagiere aus– und einschiffte.
„Sie sind Engländerin?“ fragte er, nachdem Mr. G. sich entfernt hatte.
„Nein, Deutsche.“
„Vielleicht aus Oesterreich?“ forschte er weiter mit teilnehmender Neugier, wie um sich meiner Nationalität aufs genaueste zu versichern. – „Nein, ich bin Preußin.“ – „Prusienne – une prussienne!“ rief er nun so laut, als wollte er alle Mitreisenden von der Anwesenheit einer Feindin auf seinem Schiff unterrichten. Natürlich wandte sich jeder auf dem Deck nach mir um.
„Aus Preußen also!“ fuhr er unbarmherzig fort. „Nun, da sind Sie allerdings sehr zu beklagen! Ihr Land ist so gut wie verloren!“
Ich bat ihn, sein Mitleid einstweilen zu sparen, bis Grund dazu vorhanden sei. Er aber lächelte überlegen und holte seinen „Figaro“ herbei; und da stand es auch bereits gedruckt, daß die Sympathien Europas mit Frankreich gingen, ja, daß selbst Bayern und Württemberg schon gerüstet wären, um mit den Franzosen ihre nordischen Unterdrücker zu bekämpfen.
Auf einem französischen Schiff ließ sich gegen eine Autorität wie die des „Figaro“ wenig vorbringen, trotzdem hätte ich mir vielleicht den Mund verbrannt, wenn mich nicht zugleich mit dem „Figaro“ die Seekrankheit angegriffen hätte. Da zog ich mich resigniert in meine Kajüte zurück und war froh, als wir am anderen Morgen in Cadiz landeten. Im Hafen hatte man geflaggt – Militärmusik klang von der Alameda. Ich brachte das sogleich in Verbindung mit einem französischen Siege; vielleicht gingen auch die Spanier mit dem verwandten Stamm – das hätte mir ans Herz gegriffen.
Aber so schlimm war’s nicht – im Gegenteil! Musik und Fahnen aber feierten San Jago, den Schutzpatron von Andalusien. Mein erster Besuch galt einem teilnehmenden Freunde, Herrn Konsul Kropf, dem ersten Deutschen, dem ich seit der Kriegserklärung begegnete. Der faßte die Lage freilich etwas anders auf wie der „Figaro“, und wenn er auch nicht im voraus von unsern Siegen renommierte, sah er doch mutig der Zukunft entgegen. Er hielt es übrigens für geboten, daß ich von nun an mit einem richtigen Paß reise, und verschaffte mir ihn.
Die nun folgende Reise war übrigens die unbequemste und anstrengendste, die ich je gemacht habe. Aus den bereits erwähnten Sparsamkeitsrücksichten nahm ich die dritte Wagenklasse, die in Spanien – damals wenigstens – der unseren sehr weit nachstand. Sich darin während der Mittagshitze im Juli durch Andalusien schleifen zu lassen, erinnerte an die Bleidächer Venedigs.
Bald rechts, bald links, je nach der Wendung des Zugs, sengten uns die Sonnenstrahlen durch gardinenlose Fenster. Alles Metall der Wagen strömte Glut aus. Staub, wie ihn nur eine monatelange Trockenheit erzeugt, drang zu jeder Oeffnung ein; die Augen schwollen und entzündeten sich. An jeder Haltestelle gab’s einen wahren Kampf um die ausgebotenen Wassermelonen. Und trotzdem wetteiferte das Kriegsfeuer mit der Sonnenhitze. Alle Gespräche hatten den bevorstehenden Krieg zum Mittelpunkt, und zwar waren – soweit meine Erfahrung reicht – die Sympathien ganz auf unserer Seite. Ja, es schien, als ob der alte Groll, den der erste Napoleon während seiner Besetzung Spaniens hinterlassen, frisch erwacht sei – als ob man frohlocke, daß endlich den [541] Unterdrückten von damals in Deutschland ein Rächer entstanden sei. Daß der Haß bei dem leidenschaftlichen Volke sich ungeschwächt durch Generationen erhalten hatte, war mir bereits von meinem Aufenthalt in den Provinzen Altkastilien und Leon bekannt. Dort hatte man verschiedene halbeingeäscherte Brandmauern nur deshalb nicht abgetragen, damit sie Gedenkzeichen blieben an die Missethaten der Sieger von damals!
Um sechs Uhr früh lief der Zug in Madrid auf dem Bahnhof ein; drei Studen später erst ging der nach Paris ab. Selbst für intimere Besuche war die Morgenstunde nicht recht geeignet; ich war überhaupt nicht besuchslustig. Nur von Einem sehnte ich mich, Abschied zu nehmen, ehe ich Spanien, vielleicht auf immer, verließ. Der liebe Eine aber saß bis um zehn Uhr hinter festen Riegeln, er war im Museum aufzusuchen und hieß – Velasquez. Ich schwankte schon, ob ich ihm nicht einen ganzen Tag opfern und erst am nächsten reisen sollte, aber die Zeit drängte. Ueberdem kannte ich meine Spanier und wußte, daß sie in besonderen Fällen die angenehme Eigenschaft besitzen, vernünftige Ausnahmen von der Regel zu machen. Bald nach sieben Uhr stand ich am Thor des Museo del Prado und zog die Glocke. Der Kastellan, ein alter ausgedienter Militär, war gefällig und billigte meine Passion; er hatte mich zwei Monate hindurch beinahe täglich mit meinem Malkasten vor den spanischen Meistern gefunden. Daß ich des Krieges wegen – der ihn lebhaft interessierte – nach Deutschland zurückkehrte, begriff er. Aber er gönnte mir vorher die stille Stunde der Betrachtung und schloß willig die Säle auf, die so viel Herrliches enthalten.
Auf dem Rückwege sah ich auf einem menschenleeren Platze – erinnere ich mich recht, war’s im Schloßhof, wo allerdings jetzt kein Kronenträger zu beschützen war – zwei Wachen Ball miteinander spielen. Wären meine Gedanken damals nicht mit Krieg und Soldaten beschäftigt gewesen, würde mir der Mangel an Disciplin nicht aufgefallen sein – so machte er mir Eindruck.
Auf dem Bahnhof wurde der „Cascabel“, der spanische „Kladderadatsch“, ausgeboten. Er brachte einen spanischen „Brief Napoleons des Großen aus dem Fegefeuer an seinen Neffen Napoleon den Kleinen“, worin ersterer dem letzteren derbe Vorwürfe über seine thörichte Kriegserklärung machte und ihm für den Fall der Niederlage Verhaltungsregeln für das Klima in St. Helena anbot . . .
In Hendaye, der Grenzstation, wurde mein Paß kaum angesehen. Als Kennzeichen der „Barbaren“ galten blaue Augen und gelbe Haare, die besaß ich nicht. Ueberhaupt kam von Spanien wohl wenig Verdächtiges. Dagegen war ich bald sicher, daß mein Nachbar im Waggon – die dritte Klasse war hier ohne Abteilung für Frauen – der bei der Revision hinter mir stand, meinen Paß über die Schulter gelesen hatte. Kaum setzte der Zug sich in Bewegung, so fing er an – noch dazu mit deutschem, das heißt elsässer Accent – auf die Preußen zu schimpfen. Es konnte natürlich nur auf mich gemünzt sein, denn die eingestiegenen Spanier, einfache Leute, unterhielten sich in ihrer Sprache und verstanden offenbar sein Französisch nicht. Um ihm den Mund zu schließen, bemerkte ich, daß ich selbst eine Preußin sei. Damit machte ich es nur schlimmer.
„So, so!“ spottete er, „nun Ihre Landsleute werden sich nächstens gefallen lassen müssen, daß wir ihnen einige Lektionen in der Kriegsführung geben, wenn wir uns auf dem Wege nach Berlin befinden.“
Natürlich hätte ich schweigen sollen. Aber ich war auch bereits vom Kriegsfieber gepackt und es schien mir unmöglich, dem „Feinde“ so etwas durchgehen zu lassen.
„Es könnte auch umgekehrt der Fall sein,“ entgegnete ich so ruhig als nur möglich; „der Weg nach Paris ist unsern Soldaten von früher her bekannt!“
Jetzt fuhr er giftig auf.
„Sie werden doch nicht etwa behaupten wollen, daß die Preußen in Paris gewesen wären? Russen, Engländer und Oesterreicher – ja! Meinetwegen in der Gesellschaft auch ein paar Preußen – allein aber hätten sie sich nie dahin gefunden!“
Da bereute ich, ihn überhaupt eines Wortes gewürdigt zu haben, und schwieg hinfort beharrlich. Glücklicherweise stieg er aus, ehe die Nacht anbrach – eine klare, sternenhelle, die wir nur leider in einem bis auf den letzten Platz gefüllten Wagen nicht genießen konnten.
In Bordeaux, wo unser Zug ein paar Stunden Aufenthalt [542] hatte, sah ich kriegerische Plakate an den Straßenecken und hörte das Geschmetter der Marseillaise überall. Die Theaterzettel zeigten Stücke wie: „La campagne du Rhin“ („Der Rhein-Feldzug“), Vaudeville, „Les Prussiens en Lorraine“ („Die Preußen in Lothringen“), „La sortie des barbars“ (Der Auszug der Barbaren“). Wenn man bedenkt, daß die Kriegserklärung kaum vierzehn Tage alt war, so muß man zugeben, daß die Franzosen ihre Zeit gut benutzt hatten!
Als ich nachts von Bordeaux weiterreiste, stand, vom Zuge aus eine Weile sichtbar, im Hafen ein Schiff in hellen Flammen. Es sah neben den unzähligen andern Fahrzeugen mit ihrem Wald von Masten wie ein feuerspeiendes Ungeheuer aus, das gegen ein Heer von Lanzentragern ins Feld rückt.
„Das ist nun schon der zweite Schiffsbrand in diesem Jahre,“ bemerkte einer der Mitreisenden.
„Warum legt man den preußischen Spionen auch nicht das Handwerk!“ entgegnete ein anderer.
Der Zug war wieder dicht besetzt. Ich hatte neben mir eine gemütliche alte Landfrau, die ihren Sohn vor dem Ausmarsch noch einmal sehen wollte. Sie erzählt mir das mit großer Umständlichkeit in einem Patois, das ich Mühe zu verstehen hatte. Dem bevorstehenden Abschied widmete sie dabei heiße Thränen, was sie indes nicht abhielt, am Ende der Geschichte in festen Schlaf zu sinken und mich als Kopfkissen zu benutzen.
In La Roche Chalais, einer kleinen Station, die wir am Morgen erreichten, hieß es: Aussteigen! – Der ganze Bahnhof war mit Soldaten angefüllt, welche unsern Zug erwarteten, um so weit als die Richtung zuließ befördert zu werden. Zur Kriegszeit gehen die Soldaten allen andern Passagieren vor; ein höflicher Stationschef erbot sich indes, einige der Reisenden, falls ihnen besonders daran läge, zugleich mit der Truppe zu befördern. Zwei Herren aus der ersten Klasse, meine Nachbarin und ein biederer Alter meldeten sich als „Eilige“. Da – ich weiß kaum wie? – überkam mich plötzlich der vorwitzige Wunsch, die Gelegenheit zu benutzen, um mir die „Grande armée“ etwas in der Nähe anzusehen. Sofort war ich neben der betrübten Mutter und verlangte ebenfalls „schleunige“ Beförderung.
Knapp vor der Abfahrt wurden wir Drei da noch in einen Wagen dritter Klasse hineingepreßt, der mit Soldaten bereits stark gefüllt war; ich quetschte mich zwischen die „Eiligen“ vom Civil.
Sobald ich nur drin saß, hätte ich aber um Gotteswillen schon wieder heraus sein und die militärischen Studien andern überlassen mögen. Keine Spur von Disciplin, die der romanischen Rasse nun einmal nicht im Blute zu liegen scheint.
Obgleich der vollgepfropfte Waggon wahrhaftig nicht zu Turnübungen einlud, gab’s ein fortwährendes Hinundherwildern, ein über die Bänkeschwingen oder versuchsweises Hinaussteigen auf die Trittbretter. Hielt der Zug, flog alles wie eingesperrte Vögel ins Freie und war nur schwer wieder einzufangen, lief auch wohl, trotz Abwehrens der Schaffner, mit diesen oben über die Wagen. Was ich leider bei meinem schnellen Entschluß gar nicht in Berechnung gezogen, war der Abschiedstrunk, den man den Kriegern gespendet, ehe sie den Zug unsicher machten. Schon bei der Abfahrt waren sie sehr angeheitert, wurden es unterwegs aber immer mehr, da ihnen auf allen Stationen noch Spenden von Wein, Schnaps, Bier, Viktualien und Cigarren mit den Segens- und Siegeswünschen anwohnender Patrioten zugetragen wurden.
Als sie bereits mehr getrunken als sie eigentlich konnten, sollte das „eilige Civil“ von dem Ueberfluß mitgenießen. Ein Gegenübersitzender hielt mir plötzlich die Flasche hin, die er eben abgesetzt, mit den Worten „A votre tour, Madame, vive la France!“
Obgleich mich der Ekel schüttelte, wagte ich nicht, mich zu weigern und that einen Schluck. Als aber sein Nachbar mit demselben Anerbieten kam und ich zu fürchten anfing, ich würde den übrigen vielleicht auch noch Bescheid thun müssen, bat ich mit ausgesuchtester Höflichkeit, mich zu entschuldigen, da ich leider nicht viel Wein vertrage.
Ich kam schön an! Sich weigern, auf Frankreichs Wohl zu trinken, galt den Exaltierten für Hochverrat. War ich vielleicht keine Französin? – vielleicht gar une prussienne?
„So seht doch nur ihr Haar und ihre Augen an, Ihr dummes Volk!“ nahm sich die alte Bauernfrau meiner an, deren Hand ich in meiner Angst immer fester drückte.
„Was Augen! Die Papiere haben die verd ... Spione vorzuzeigen!“ schrie – lallte vielmehr mein Gegenüber. Mir wurde bald heiß bald kalt – wenn sie die kleine Ledertasche untersuchten, die an meinem Gürtel befestigt war, entdeckten sie den Paß, der mich als „prussienne“ auswies. Ich sah mich bereits als Opfer meines Uebermuts zum Wagenfenster hinausfliegen ... da kam Hilfe. Aus der andern Wagenecke schrie einer, der den Streit mit angehört – vielleicht konnte er auch nicht lesen! – „Dummheit – Papiere! Die Marseillaise soll sie singen – da wird sich’s zeigen, ob sie gut französisch ist oder nicht!“
O – Vaterland! was hätte es dir genutzt, wenn ich mit diesen Wölfen nicht geheult, sondern in patriotischem Opfermut das Rheinlied angestimmt hätte? Ich kann beschwören, daß ich nicht im geringsten zum Marseillaise- noch zu anderem Singen aufgelegt war, aber mit zittriger Stimme piepte ich trotzdem: „Allons enfants de la patrie ...“
„Le jour de gloire est arrivé ...“ fiel der ganze Wagen sogleich brüllend ein. Vergessen war mein Paß und meine Unlust, mit ihnen zu trinken, und unter dem Geschmetter ihres Lieblingsliedes ging’s weiter bis zur nächsten Station. Hier wurde – Gott sei’s gedankt! – das „eilige Civil“ wieder von der grande armée getrennt und ersteres mit dem nächsten Zuge nach Paris befördert.
Ich aber gelobte mir feierlichst und brünstigst, weiteren Studien französischer Krieger in so gefährlicher Nähe für alle Zeiten zu entsagen.
In Tours hörte ich am Büffett, wo ich Kaffee trank, Folgendes: Die ausrückenden Soldaten hätten in Tarare den Stationschef gezwungen – auch sie mögen vom Abschiedstrunk schon begeistert gewesen sein! – ihnen einen Wagen für die „Damen“ abzulassen, welche sie ins Lager nach Chalons begleiten wollten. Der Uebermacht weichend, habe er diesen Personen den letzten Wagen des Zuges angewiesen, welchen sie sofort eingenommen hätten. Drauf sei das Abfahrtsignal gegeben worden und der Zug habe sich in Bewegung gesetzt bis auf – den letzten Wagen, den habe er aushängen lassen. Das Marseillaisegebrüll der Abfahrenden übertönte das Geschrei der getäuschten „Damen“.
Bald nachdem wir Tours verlassen, hatte ich die Freude, endlich einmal wieder einen bewölkten Himmel zu sehen! Der Wind hatte sich erhoben und trieb leichte, flockige Wölkchen vor sich her, die sich bald verdichteten, dunkler wurden und sich senkten. Regentropfen fielen schwer aufs Wagendach, schlugen gegen die Fenster und die durstige Erde trank, während feuchte Luft die brennenden Augen kühlte. Wie unbeachtet geht einem dieser so gewöhnliche Witterungswechsel vorüber, wenn man ihn nicht so lange entbehrt hat. Aber von Sevilla ab, das ich anfangs Mai verlassen, durch die ganze Zeit meines Aufenthalts in Cadiz und später in Tanger, hatte ich nur das vielgepriesene, ungetrübte Blau über mir gehabt. Ein farbenglühender Sonnenuntergang nach dem andern war auf Tage gefolgt, deren grelles Licht den hellen Sand und die kreidigen Häuser des Südens noch blendender erscheinen ließen.
Ich kann’s nicht sagen, welchen Genuß ich nun im Anblick der Wolken hatte und an den vornehmen grauen Lufttönen, welche sie der Landschaft mitteilten, nachdem der Regen aufgehört.
Das Kriegsfieber, dessen Symptome sich an jenem Nachmittag bei Doktor Migueres zuerst bei mir zeigten, und das sich während der Reise in einer mir bis dahin ganz unbekannten Abneigung gegen alles Französische immer mehr entwickelt hatte, ließ kurz vor Paris etwas nach. Ich kann’s nicht leugnen, daß ich während meiner beinahe zweijährigen Abwesenheit oft mit einem gewissen Heimatsgefühl an diese Stadt zurück gedacht hatte. Und wie sie jetzt immer deutlicher mit ihren Türmen am Horizont hervortrat, wurde mir mit einem Male ganz weich – die Verleumdungen gegen die „prussiens“, die ich unterwegs gehört, der Abscheu vor den undisziplinierten französischen Soldaten – für ein paar Augenblicke war das alles vergessen. Ja, ich war fast so weit, meinen Feinden zu vergeben und sie sogar zu lieben. Besonders als ich auch sehr freundlich von ihnen in meiner Wohnung empfangen wurde. Sie lag der alten Kirche St. Germain des Près so nahe, daß ich von meinem Atelier die Orgel hören konnte. Friedlich klangen an jenem Abend die Glocken zu mir herüber, als ich mich nach der ermüdenden Reise zum erstenmal wieder in ein Bett legte.
[554] Der behagliche Zustand christlicher Feindesliebe unter den Bewohnern der französischen Kapitale hielt indes nicht lange vor. Erst zeitweilig, später immer häufiger wurde auch ich von der gereizten Stimmung beherrscht, die seit der Kriegserklärung sich der Deutschen wie Franzosen bemächtigte, sobald sie zusammenkamen. Es war, als ob unser Augenwinkel plötzlich verrückt wäre und wir – Franzosen wie Deutsche – alles verändert sähen. Früher, da war kein Zweifel, daß es hüben wie drüben ehrliche Arbeit, gute Freunde und getreue Nachbarn gäbe. Jetzt hatten die Diplomaten drauf geblasen und alles war verwandelt. Nun bestimmte der Geburtsschein, was man gut oder schlecht finden durfte. Und wenn ich mir auch vorsagte: Die Menschen sind noch ganz dieselben wie vor der Kriegserklärung, nur anders beleuchtet! – es half nichts, der Krieg hatte das ruhige Denken auf beiden Seiten lahmgelegt. Kam ich mit den alten französischen Bekannten zusammen, gleich pochte mir das Herz vor lauter Nationalgefühl, und in jedem Wort witterte ich eine Beleidigung des Vaterlandes. Selbstverständlich hatte ich Deutschland stets allen andern Ländern vorgezogen; aber daß ich Frankreich einmal hassen – wirklich hassen würde aus Patriotismus, nie hätte ich das von mir erwartet. Und doch ist es eine Zeit lang so weit gekommen. –
Unsere Hausmannsleute, die Cartiers, schätzte ich nach mehrjähriger Bekanntschaft. Die Frau, eine hübsche Lothringerin, deren deutscher Accent und ehrliche blaue Augen die Abstammung verrieten, prahlte mitunter, daß sie alle „deutschen Barbaren“ vergiften könnte. Aber auf so grausamen Patriotismus war nicht zu rechnen. Ich traf sie den Tag nach meiner Rückkehr, wie sie einen alten deutschen Arbeiter, der per Schub ins Vaterland befördert werden sollte, vorher noch mit einer kräftigen Mahlzeit stärkte. Ihrem Mann wird sie das kaum erzählt haben, der war vom Kriegsfieber stärker gepackt. Er hatte unter Mac Mahon den Feldzug in Afrika mitgemacht und konnte später dessen Niederlagen nicht verwinden. Sobald er mich über den Hof kommen sah, wandte er sich ab, als hätte ich sie verschuldet. In seiner „Loge“ hing die Kriegskarte. Frau Cartier erzählte mir, jeder ausrückende Soldat erhielte sie zur Orientierung. Kaum denkbar! Ich sah sie später auch in ein paar Buchläden. Sie umfaßte Deutschland von der Rheingrenze ab; eine kleine Specialkarte Berlins befand sich an der unteren Ecke links.
Paris kam mir nach beinahe zweijährigem Aufenthalt in Spanien recht vornehm, schön und liebenswürdig vor, als ich es zum erstenmal wieder nach dem Bois de Boulogne zu durchwanderte. [555] Ungeachtet der trockenen Hitze des ersten August staubfreie Straßen, taufrische Grasplätze und Blumenanlagen. Im Louvre vergaß ich fast den Krieg. Drei weitläufige Säle waren neu eröffnet worden. Sie enthielten die herrlichen Skulpturen, die der erste Napoleon während seines italienischen Feldzuges annektierte. Ein halbes Jahrhundert lang hatten diese Marmorbilder in den Kellern des Louvre ihrer Auferstehung geharrt. Ich hörte, daß eine frühere Aufstellung das Eigentumsrecht an ihnen hätte gefährden können. Während ich bewunderte, klangen aus den Anlagen des Louvrehofs (Place Napoleon III.) die Kommandoworte, mit denen die Schulbataillone einexerziert wurden. Nette Jungen darunter, besonders fiel mir ein kleiner Trommler auf, der kaum zwölf Jahre alt sein konnte. In den blitzenden Augen schon etwas vom Kriegsfeuer kommender Zeit.
Als ich dann die Rivolistraße herunterging, hörte ich plötzlich ein besonders starkes Geplärr der unvermeidlichen Marseillaise. Vom Boulevard Sebastopol her kam ein Trupp Rekruten. Der erste trug einen Besen mit einem großen Plakat: „Pour balayer les Prussiens!“ Und ein Mützenschwenken und Lachen, ein Brüllen und Gezeter, sowohl der Soldaten, wie der sie begleitenden Volksmenge, als hätten sie wirklich die Preußen schon auf einen Haufen „zusammengefegt“, „Notre première victoire! Achetez notre première victoire!“ „Unser erster Sieg! Kauft unseren ersten Sieg!“ brüllten am dritten August die Zeitungsjungen vom frühen Morgen an. Zornig flog ich hinunter und erstand mir den Franzosensieg für zwei Sous. Man hatte im Vorgefühl dieses und der „folgenden Siege“ bereits eine neue Zeitung gegründet: „Bulletin de nos victoires“, darin ich noch auf der Straße las: „Ungeachtet der Stärke des Feindes, reichten einige Bataillone hin, die Höhen von Saarbrücken zu erstürmen etc.“ Ich knitterte das Blatt zusammen, steckte es in die Tasche und trat mit der Miene erheuchelter Gleichgültigkeit ins Haus zurück. Die Hausmannsfrau stand strahlend vor Freude an der Thür, sah mich etwas mitleidig an und versuchte mich folgendermaßen zu trösten: „Ach, Fräulein, grämen Sie sich nur nicht erst! Jetzt sind wir schon über die Grenze, und da wird der Krieg ja auch bald vorüber sein!“
Von meinen Pariser Bekannten war so ziemlich alles schon fortgeflogen. Was die Hundstage nicht nahmen, hatte der Krieg vertrieben. Die liebsten deutschen Freunde indes hatte ich noch behalten: die Familie des Doktor M ....., des Arztes unserer Gesandtschaft. Einen beliebten Arzt halten die Patienten fest. Frau und Schwägerin aber mochten ihn gerade in dieser Zeit nicht allein lassen. So war sein gastliches Haus damals die Zufluchtsstätte bekümmerter deutscher Seelen. Keine aber hat den Weg nach der Place Royale au Marais wohl öfter zurückgelegt wie ich. Viel verkehrte ich damals mit einer Hamburgerin, einem Fräulein Agnes T. Sie s–prach nicht viel, hatte aber ein gewisses fatalistisches Phlegma, das meiner Unruhe oft einen Dämpfer aufdrückte. Den Unfehlbarkeitsglauben der Franzosen z. B., der mich täglich ärgerte, fand sie höchstens ers–taunlich; für uns sogar vorteilhaft. „Wenn sie sich vor uns fürchteten, würden sie sich besser vorsehen,“ meinte sie.
Dieses Siegesbewußtsein herrschte auch in dem Damenatelier, das an das meine stieß. Ich kannte die meisten der Malerinnen von früher und klopfte am Tage, nachdem man Saarbrücken gefeiert, bei ihnen an. Mein Eintritt unterbrach offenbar ein Kriegs- und Siegesgespräch, wie ich an einzelnen Ausrufen schon vor der Thür hörte. Die Begrüßung war herzlich und auch wieder etwas unsicher, als ob man der „Prussienne“ gegenüber nicht gleich den rechten Ton fände. Dann eine Menge Fragen, die keinen interessierten – es gab ja doch nur eine, an die wir alle dachten und die zu berühren jede brannte …
Endlich fing die Vorlauteste an – ein leidenschaftliches kleines Weib mit provençalischem Blut in den Adern; dreiundzwanzig erst und schon Witwe, amüsant, pikant und hochbegabt –: „Wir glaubten eigentlich, Sie würden direkt nach Preußen zurückkehren, denn es kann für Sie doch nicht angenehm sein, solche Nachrichten hier zu hören, wie die von Saarbrücken …“
„Und es ist ja sehr möglich, daß es so weitergeht,“ bemerkte eine Zweite.
„Glauben Sie wirklich, daß ,Jhr König von Preußen’ etwas gegen uns ausrichten wird? Man ist ja in seinem eigenen Lande sehr gegen diesen Krieg eingenommen?“
So ging es weiter und bald schon war Entfremdung und keimende Abneigung an die Stelle der früheren guten Beziehungen getreten. Die Theater blieben trotz Hitze und Krieg noch ziemlich besucht. Was sollte man auch anfangen – zum Arbeiten war niemand aufgelegt. Ich dachte ans Fortgehen; meine Sachen waren bald zusammengepackt, aber ich bekam keinen Paß, ebensowenig eine Aufenthaltskarte. Gleich nach meiner Ankunft hatte ich mich mit meinem Paß im Polizeibureau gemeldet. Man hatte eine so genaue Personalbeschreibung von mir aufgenommen, als gelte es einen Steckbrief, meine Legitimationspapiere dann behalten und mich auf schriftliche Antwort verwiesen. Sie blieb aus. Ein Erinnern war erfolglos. Andern ging’s ähnlich. Man lief dahin – lief dorthin, stillte seinen Hunger und lief dann rastlos wieder auf die Straße. Diese Ungewißheit und Rastlosigkeit war’s wohl auch, die auch wenig vergnügungslustige Menschen ins Theater trieb. So beschlossen auch Fräulein Agnes und ich am 6. August ins Vaudevilletheater zu gehen.
Auf dem Boulevard wurden die Zeitungen ohne den Siegesspektakel ausgeboten, der seit Saarbrücken an der Tagesordnung war – gutes Zeichen! Wir erstanden eine Abendzeitung und lasen zu unserer schwer zu verbergenden Freude, daß bei Weißenburg ein Gefecht stattgefunden hätte, bei dem nach anfänglich siegreichem Kampf die Franzosen schließlich einer Uebermacht von eins zu sechs gewichen waren. Innerlich jubelnd, übersetzten wir mit patriotischem Scharfsinn: die Franzosen sind bei Weißenburg gründlich geschlagen worden. Und nun waren wir auch in der richtigen Stimmung, das Rheinlied von Roger singen zu hören, der auf dem Theaterzettel stand. Jeden Abend wurden nämlich in jedem Theater nach Schluß der Vorstellung noch die Marseillaise und das Rheinlied gesungen. Das letztere war die Mussetsche Antwort auf unser Beckersches Rheinlied:
„Sie sollen ihn nicht haben,
Den freien deutschen Rhein! etc.“
„Jubelt Roger zu laut,“ sagte ich zu Agnes, „so wollen wir innerlich ein Tedeum anstimmen.“
Das Lustspiel des Abends ging spurlos an mir vorüber. Ich sah in Gedanken das mir bekannte, hübsche Grenzstädtchen Weißenburg voll anstürmender Deutschen und fliehender Franzosen. Da verbreitete sich kurz vor dem Fallen des Vorhangs eine eigentümliche Bewegung im Theater. Auf den Gesichtern bemerkten wir zu unserm Schrecken etwas wie Genugthuung und Freude. Kaum war das Stück aus, lachte, lärmte und jauchzte alles durcheinander. Auf einmal wurde es auch neben uns laut: die Nachricht von einer großen Niederlage der Deutschen sei soeben eingetroffen, das Armeecorps des Kronprinzen in wilder Flucht! …
Der Umschlag war so entsetzlich für uns, wie ich kaum beschreiben kann.
Jetzt rollte der Vorhang wieder auf. Roger trat vor. Nie werde ich den übermütig spottenden Ausdruck vergessen, mit dem er das Rheinlied hinausschmetterte:
„Nous l’avons eu, votre Rhin allemand,
(Wir haben ihn gehabt, euren deutschen Rhein,)
Son vin a perlé dans nos verres . . .“
(Sein Wein hat geschäumt uns im Glas.)
Die letzte Strophe schleuderte er ins Publikum wie eine Triumphfanfare. Dann rief er laut, eh’ er abging:
„… et nous le prendrons votre Rhin allemand!“
(Und mir werden ihn nehmen euren deutschen Rhein.)
Ein wahres Siegesgeheul war die Antwort.
Unten auf den Boulevards aber scheint ganz Paris zusammengekommen zu sein. Das treibt, das wogt! Nur langsam schleichen wir uns vorwärts. Die Siegesnachricht hat gewirkt wie Sekt. Es ist, als ob alle Franzosen plötzlich die intimsten Freunde geworden wären und eben zusammengekommen, um ein gemeinschaftliches Fest zu feiern. Aus den Cafés, deren kleine Tische bis in die Mitte des Trottoirs reichen, hört man Pfropfen knallen, Gläser anklingen. Vor uns geht ein Herr, an jedem Arm eine Dame eingehenkelt. Er ruft einem Entgegenkommenden zu: „Zwanzigtausend Gefangene – vive la France!“
„Nein – dreißigtausend!“ korrigiert ein Zweiter, der offenbar nicht zu ihm gehört. Drauf ergänzt die Stimme eines Dritten von einem der kleinen Tische: „Meine Herren, die Depesche spricht von fünfzigtausend Gefangenen, die Mac Mahon gemacht – darunter der Kronprinz!“
Dies nur ein Beispiel der Stimmung, die in tausend Varianten jenen Abend in Paris laut wurde, hervorgerufen durch eine Depesche, welche an der Börse angeschlagen war. Agnes und ich empfanden das Lachen und Jauchzen wie persönliche Beleidigungen, nachdem wir erst eben im Weißenburger Siege geschwelgt hatten.
[556] Monsieur Cartier, der sonst, nachdem man geläutet, nur die Schnur anzog, die das Hausthor öffnete, und ruhig weiter schlief, war diesmal noch auf. Strahlend saß er am Fenster und rief mir zu: „Hé – bonne nuit, Mademoiselle!“
Nie wohl hat mich ein Gruß tiefer verletzt. Ich fand es empörend, jemand eine gute Nacht zu wünschen, dessen Landsleute eben eine Schlacht verloren hatten.
Lange saß ich im Finstern, ohne mich zu regen. Besiegt – besiegt! Dazwischen sah ich Cartiers triumphierendes Gesicht und hörte sein „bonne nuit!“ Endlich raffte ich mich auf, zündete meine Lampe an und sprach mich in einem Briefe an die geliebten Menschen daheim gründlich aus.
Am nächsten Tage war Paris noch ganz anders geschmückt wie nach Saarbrücken. Ueberall flatterten Fahnen. Teppiche hingen aus Fenstern und über Balkongeländern; viele Laden waren geschlossen.
Mein erster Gang ist nach der Place Royale; ich kann’s kaum erwarten, die treuen, deutschen Freunde zu sehen. Sie sind alle beim Frühstück. Der Doktor ist schon von seiner ersten Besuchstour zurück. Es ist mir unbegreiflich – da sitzt er und schmaust so behaglich, wie ihn der Maler Henneberg auf einem der drastischen Karikaturbilder gezeichnet hat, die im Eßzimmer hängen. Ich fange zu lamentieren an – da schreit er nur: „Haben Sie heute schon ’was Ordentliches gegessen? Nein? Nun dann gleich niedergesetzt und zugelangt – Anna – sieh, daß sie ’was auf den Teller bekommt.“
Und richtig, ich konnte essen – es schmeckte mir sogar, da ich seine Ruhe sah.
„Abwarten – abwarten!“ meinte er dann, nachdem mir endlich Redefreiheit erteilt worden war. „Eine Regierung, die so ein winziges Siegchen wie Saarbrücken mit Trompetenstößen feiert – die läßt einen Triumph wie den gemeldeten nicht hingehen, ohne ihn gleich an die große Glocke zu hängen. Vorläufig ist noch keine offizelle Bestätigung da – abwarten!“
Und damit trat er seine zweite Krankenwanderung an. Mich sollte man ja nicht fortlassen, bis die Geschichte aufgeklärt sei, hatte er vorher noch geboten. Es kamen den Nachmittag wohl ein Dutzend Deutsche zu Doktors; jeder brachte etwas Neues. W.s, die an der Börse wohnten, hatten die Depesche gelesen „Einnahme von Landau, der Marschall Mac Mahon hat 50000 Gefangene gemacht.“ Massenhaft ständen die Leute noch davor und warteten auf die offizielle Bestätigung. Capoul (Tenor der Komischen Oper) hatte von der Imperiale eines Omnibus die Marseillaise singen müssen, dann war in seinem Hut für die Verwundeten gesammelt worden.
Endlich kam der Doktor zurück. Er trat nur herein, da wußten wir schon, daß er eine gute Nachricht brachte. Er hatte die englische „Times“ gelesen, die einen glänzenden Sieg der Deutschen meldeten. Der Franzosensieg war eine Täuschung – die Depesche von der Einnahme Landaus das Bubenstück eines Börsenspekulanten, der Hausse damit bezweckte. Nach unsrer Qual war die Freude nun doppelt süß. Wein und Gläser wurden auf den Tisch gesetzt; aber anklingen durften wir auf unsere Sieger nicht, wegen der französischen Hausbewohner.
Doktors ließen mich nicht allein nach Hause gehen, sondern begleiteten mich über die Boulevards. Hier wirkte bereits die Nachricht der „Times“. Es grollte in dem erbitterten Volk, das an den Straßenecken die neueste Proklamation las und mit lauter, greller Stimme sein Urteil sprach. Der Anschlag verkündetet: Mac Mahon hat keine Zeit gehabt, einen Rapport ins Hauptquartier zu senden. Er ist aber immer noch in einer sichern Stellung.
„So sicher, daß er zum Rückzug hat blasen müssen!“ hieß es. An dem Eckhaus der Richelieustraße und des Boulevard Montmartre mußte es scharf hergegangen sein; hier hatte man den Urheber der falschen Depesche vermutet, einen jüdischen Bankier, und das Haus stürmen wollen. An der mit Eisenstangen geschlossenen Thür stand in dicken weißen Kreidestrichen:
Maison française et non prusienne.
Sicher wollte man es durch diese Worte vor weiteren Angriffen schützen.
Als ich diesmal heimkam, wär’s an mir gewesen, meinem Hausmann: bonne nuit! zu wünschen. Der arme Kerl! Wie ich ihn so verstört, so ganz verzweifelt sitzen sah, that er mir leid. Ich konnte mir ja vorstellen, wie ihm zu Mute sei, nach dem, was ich so kurz vorher selbst empfunden hatte.
Als ach am folgenden Tag von St. Eustache zurückkam, wo der berühmte Organist der Kirche, Baptist, mich jeden Sonntag durch seine Präludien entzückte, waren die Depeschen unserer großen Siege vom 6. an den Ecken angeschlagen. Die einfachen Worte der offiziellen Meldung machten den Eindruck der Wahrhaftigkeit, zugleich der Entmutigung. Die Proklamation der Kaiserin-Regentin, welche bald darauf folgte: sie sei von St. Cloud hereingekommen, um die Fahne Frankreichs hochzuhalten – erweckte anstatt Begeisterung nur Mißbilligung und Spott.
Das impulsive Volk, bei dem Freude wie Schmerz gleich stark nach außen wirken, zeigte nach den verlorenen Schlachten, deren Tragweite es bald begriff, eine allgemeine Bestürzung und Verzweiflung. So wie die erste Depesche, die gefälschte Siegesnachricht, alle Pariser in einem kurzen Jubelrausch zu Brüdern machte, erschienen sie in der Trauer auch wie eine große Familie, die der Schmerz nur enger verbindet.
Da ich, wie schon erwähnt, keine hellen Haare habe, die als anerkannte Barbareneigentümlichkeit verdächtig waren, wurde auch ich von Stockfremden angeseufzt und angesprochen. An jenem Sonntag der Bekanntmachung unsrer Siege kaufte ich abends den „Temps“. Die Verkäuferin hatte verweinte Augen. Als sie mir die Zeitung mit einem Blick auf die großgedruckten Depeschen übergab, flossen neue Thränen.
„Sie haben wohl einen Sohn im Kriege?“
Sie schüttelt den Kopf. „Wir sind besiegt, Madame, besiegt!“ ruft sie vorwurfsvoll, daß die Schmach, die Frankreich betroffen mir nicht genügend scheint, um Thränen zu vergießen.
Tags drauf steuern Agnes und ich mit den neuesten Zeitungen auf eine Tuilerienbank und ich beginne vorzulesen. Ein alter Herr – pensionierter Militär augenscheinlich – der dies bemerkt, fragt, ob er zuhören dürfe. – „Selbstverständlich,“ antworten wir, obwohl unsere Kritik des Gelesenen dadurch beschränkt wird. Während einer Pause stöhnt er: „Ach – so alt geworden zu sein, um das zu erleben! Aber die Revanche kommt noch – geben Sie acht! In Bayern ist die Not so groß, daß sie schon Brot von Lupinen essen. Und in Hannover und Schleswig stehen sie auf, um Rache an den Preußen zu nehmen für frühere Sünden! Das walte Gott, daß ich diese Preußen noch am Boden sehe!“
Bis zu den Lupinen war es (9. Aug.) in Paris noch nicht gekommen, aber die Not machte sich hier bereits fühlbar. Wer von Arbeitern nicht im Kriege war, hungerte mit den Seinen daheim. Alles schlug auf, selbst die Zeitungen, sobald der erste Vorrat in den Kiosken verbraucht war. Besonders interessante Nachrichten wurden dann oft drei-, viermal so hoch bezahlt wie gewöhnlich. Wer sie nicht erschwingen konnte, bat um die gelesenen Blätter. So verfolgten mich einmal zwei kleine Gamins, die sicher ein paar Jahre vorher noch Abcschützen waren. „Les nouvelles, Madame! – s’il vous plait, les nouvelles!“ riefen sie, als sie mich langsam gehend, die Zeitung lesend, trafen. Ich hätte sie den kleinen Franzosen nicht abschlagen können, obwohl ich sie eigentlich in dem schändlichen Verdacht hatte, die Zeitung ungelesen zu verkaufen. Zu meiner Beschämung gewahrte ich dann, wie eifrig sie sogleich zu buchstabieren anfingen.
Kaum waren übrigens die ersten Kummerthränen getrocknet, die Wörth und Spicheren den Franzosen ausgepreßt hatten, als ihr prahlerischer Uebermut sich auch schon wieder Luft machte. Einer der unverschämtesten Lärmtrompeter war damals Emil de Girardin in seinen Artikeln der „Liberte“. Die Blätter erhoben aufs neue den Ruf: „A Berlin! à Berlin!“ Allen voran Girardin, der außer dem linken Rheinufer auch noch Ostende und Amsterdam als zur Sicherung Frankreichs ganz unentbehrlich verlangte.
Am 13. August hatte man einen Anblick der an jene Märchenzeiten erinnerte, die von Säcken, ja Wagen voll Geld erzählen. Die Nationalbank diskontierte an jenem Tage zum letztenmal Papiergeld. Von früh fünf Uhr ab standen da lange Reihen von Menschen, Markthelfer zumeist. Gold war längst unsichtbar geworden. Die Summe von ein paar hunderttausend Franken in Fünffrankenthalern aber bedeutete schon ein ansehnliches Gewicht, konnte schon eine hübsche Menge Säcke füllen, die dann auf bereitstehende Wagen geladen und ihren Eignern zugefahren wurden.
Zwei Tage vorher hatte ich den besorgten Brief eines Verwandten erhalten, dessen Bruder den Krieg als Landwehroffizier mitmachte. Nachricht von diesem war längere Zeit ausgeblieben und ein Gerücht, daß er verwundet sei, schien damit bestätigt. Mein Verwandter hatte gehört, die deutschen Verwundeten – die gefangenen natürlich – wären nach Paris gebracht worden; könnte ich Näheres darüber erfahren?
Die Hamburgerin war gerade bei mir und begleitete mich in das nächste Militärhospital St. Martin.
[571] Auf dem Wege nach dem Militärhospital St. Martin begegneten wir einem Vierspänner, in dem eine ältere Dame neben einem jungen Mann in Uniform saß, verfolgt von einer schreienden Menge: „Das ist auch so einer von den Millionärmobilen! So fahren unsere Millionärmobilen in den Krieg!“ Sogar die Mutter wurde verhöhnt, weil sie ihre „Thränen in ein seidenes Taschentuch weine“.
Der Pförtner war wohl abwesend, jedenfalls kamen wir ohne Erlaubnisschein in den Garten des Hospitals. Es erschien uns nach der Gesellschaft, die sich im Freien sonnte, wie eine Bewahranstalt für alte Männer in blauen Schlafröcken und weißbaumwollenen Schlafmützen, die an der Neugier litten. Denn kaum hatten die Nächsten uns erspäht, als sie uns umringten und die neuesten Nachrichten vom Kriege wissen wollten. Sie bekämen keine Zeitungen!
„Das Neueste ist,“ sagte ich, „daß man die deutschen Gefangenen, die verwundet sind, in ein Pariser Hospital geschickt hat – sind vielleicht welche hier?“
Nein. Nicht ein einziger gefangener Deutscher war unter ihren Kranken! Schade – was würde man von ihm erfahren! Aber wo standen die Deutschen? War es noch nicht heraus, [572] warum Mac Mahon sie ins Land gelassen? Eine Kriegslist natürlich, um sie desto sicherer zu vernichten!
Der Gedanke, die Deutschen wären als Sieger in Frankreich, war ihnen offenbar noch nicht aufgegangen. Mac Mahon, unter dem einige gedient, erschien immer noch als der Unüberwindliche.
Den nächsten Morgen ging ich im Interesse meines Verwandten in die Intendantur des Kriegsministeriums. Name und Geburtsort wurden mir am Eingang abverlangt. Als „Preußin“ durfte ich dann nur unter militärischer Bedeckung das Innere betreten. Nach langem Wandern durch endlose Korridore gelangte ich mit meinem Begleiter in das Bureau, wo man Nachricht über Vermißte und Kranke erhielt und wo auch die langen Verlustlisten hingen, neben denen ich angewiesen wurde zu warten. Nie habe ich, in einem Raum zusammengedrängt, mehr Herzeleid gefunden – hier traf man mit den verzweifelnden Müttern zusammen, die ihre Söhne im Kriege hatten. Eine ist mir unvergeßlich geblieben. Scheu, die Züge durchfurcht von Gram, fürchtete sie sich offenbar vor der Totenliste und wagte die Augen nicht aufzuheben, als sie davor stand. Vielleicht auch hatten Thränen sie halb blind gemacht, denn sie fragte mich plötzlich, ob ich nach einem Namen suchen wollte – den ich leider auch auf der Liste fand. Wie mag einem Beamten zu Mute sein, der den ganzen langen Tag solchen Jammer mit ansieht und in sein Buch trägt!
So wahrheitsgetreu die ersten Berichte über unsere gewonnenen Schlachten gewesen waren, von dem weiteren, andauernd siegreichen Feldzug unserer Armee hatten wir Deutsche in Paris keine Vorstellung. Dagegen wurden oft die schrecklichsten Gerüchte in Umlauf gesetzt und wir durch gefälschte oder erfundene Nachrichten gequält. Das Schlimmste war, daß die Möglichkeit, die Stadt zu verlassen, immer mehr in die Ferne rückte. Wer ohne Paß war, wurde an der Grenze zurückgeschickt, gleichviel ob Mann ob Frau. Mit einem Paß reisen aber glückte nur wenigen, die besondere Protektionen hatten. Es war erklärlich. Hunderttausend Deutsche und ebensoviel andere Fremde wollten fort. Wer revidierte auf einmal so viele Pässe, die unter den obwaltenden Umständen auch noch einer besonderen Bestätigung von der Polizeipräfektur bedurften? Den Nichtdeutschen wurde es insofern leichter, als ihre Konsulate Paris nicht verlassen hatten. Wir waren aber seit der Kriegserklärung eine hirtenlose Herde. Das amerikanische Konsulat, das uns übernommen hatte, konnte trotz zuvorkommender Beamten nicht neben den eigenen Landeskindern, auch noch alle Deutschen in der kurzen Zeit befriedigen. Und so sah man jetzt diese armen Vaterlandsdurstigen in straßenlangen Reihen, dicht gedrängt, je zwei nebeneinander, bald vor dem amerikanischen Konsulat, bald vor der Polizeipräfektur, bald vor dem Ministerium des Innern Queue bilden. Wie oft habe ich mit Agnes so gestanden! Einmal, am 13. August, volle drei Stunden vor der Präfektur. Die erste Stunde außerhalb des Gebäudes auf dem Quai im hellsten Sonnenbrand. Die beiden andern Schritt vor Schritt in dichtgedrängter Reihe uns vorarbeitend durch enge Korridore nach schwülen Zimmern. Als wir endlich, halberstickt von Staub und schlechter Luft vor die Obrigkeit traten, die dort Gewalt über uns hatte, hieß es: „Des Prussiennes?!! Ja, da müssen Sie zuerst ein Attest vom Ministerium des Innern vorzeigen.“
Also umgekehrt – vorwärts, marsch! – nach dem Ministerium des Innern, wo wir ziemlich ebensolange antichambrierten, ehe wir an die Reihe kamen und erfuhren, das Bureau würde sogleich geschlossen, auch wären so viele vor uns eingeschrieben, daß man uns frühestens in drei Tagen berücksichtigen könnte.
Der Napoleonstag (15. August) verging sorgenvoll wie alle anderen. Die Pariser glaubten so sicher, Napoleon werde für die vielen Feuerwerke, die sie ihm früher an seinem Namenstage abgebrannt hatten, diesmal einen Sieg bescheren, daß sie von Morgen bis Abend auf die Depesche lauerten. – Umsonst. Zu unserer aufrichtigsten Freude!
Doktor M ... hatte als Präsident des deutschen Hilfsvereins die Organisation einer Ambulanz übernommen, welche unsere Kolonie ausrüstete. Die Mittel waren durch Zeichnungen sofort gedeckt – dreißig Betten mit allem Zubehör standen bereit – aber es fehlte lange an der Erlaubnis, diese Betten mit französischen Verwundeten zu füllen. Nachdem sie endlich eintraf und man mit der Wirksamkeit beginnen wollte – wurde die Erlaubnis wieder zurückgenommen. Die Amerikaner traten das Erbe an, die Betten wurden ihrer Ambulanz einverleibt.
Eine entsetzliche Epidemie war damals um Mitte August immer noch im Zunehmen: das Spionenfieber. Kein Franzose sagte: „Wir sind besiegt,“ sondern stets: „Wir sind von den Deutschen verraten worden!“
Wiederholt hatte mich seitdem jene provençalische Malerin, Madame B., besucht. Unsere Siege waren ihr zu Kopf gestiegen, vielleicht fühlte sie das Bedürfnis, ihren patriotischen Groll an einer Deutschen auszulassen. So kam sie eines Morgens, verstört und fiebrig, ja sogar vernachlässigt in ihrer sonst stets sehr sorgsam gewählten Kleidung.
Um ihre Empfindlichkeit zu schonen, vermied ich jede Anspielung auf die Tagesereignisse. Ich brachte sie auf Madrid, das sie kannte, zeigte ihr Fächer, die ich von der Reise mitgebracht hatte, und bat sie, sich einmal meine spanische Spitzenmantille anzustecken. Sie stand ihrem pikanten Gesichtchen reizend und für einen Augenblick war das besiegte Vaterland vergessen. Nun hatte eine verrückte Engländerin, die wir beide kannten, damals ihrem Spitz. Stiefelchen anmessen lassen, was ich ihr erzählte. Ich lachte dabei – vielleicht etwas zu laut. Denn plötzlich schlug die Stimmung um – sie fuhr auf.
„Wie können Sie mit einer Französin jetzt von solchen Narrenspossen reden!“ rief sie. „Freilich – Sie gehören zu denen, die unser Unglück verschuldet haben – Sie freuen sich ja nur darüber!“
Ich versuchte, sie zu beruhigen – sie ließ mich nicht zu Wort kommen. Erst gestern hätte sie von einem Verwandten, einem Offizier aus der Umgebung Bazaines, gehört, wie’s die Deutschen trieben. Es war ein hübsches Sündenregister, was sie ihnen ausstellte! Unter anderem – was doch nur natürlich! – hatten sie der Bazaineschen Armee die Zufuhr abgeschnitten – man hungerte im Lager.
„Das thut mir leid,“ rief ich, um nur etwas zu reden, „denn selbst der tapferste Soldat hat einen Magen, an den er im Kriege denken muß.“
„Im Kriege leidet auch der Franzose vom Hunger, aber er denkt nicht daran!“ entgegnete sie stolz.
„Ich weiß, daß der französische Soldat vom Ruhm leben kann“ – versuchte ich zu begütigen, aber da kam ich schön an.
„Sie sprechen von Ruhm, wo wir nur Niederlagen haben – wollen Sie mich auch noch verhöhnen?“ rief sie außer sich mit glühenden, haßerfüllten Augen.
„Warum sind Sie überhaupt noch hier?“ fuhr sie heftig fort. „Kein Mensch fragt, jetzt nach Bildern!“
„Ich bin hier, weil man mich nicht fortläßt …“
„Nein – um zu spionieren! Sie sind ein Spion in preußischen Diensten!“
Drauf lief sie nach der Thür, drehte sich dort noch einmal um. „Auf Wiedersehen, Spionin!“ und fort war sie.
Ganz elend blieb ich zurück, nicht sowohl wegen ihrer Drohung, die ich nicht für Ernst nahm, als weil ich mir vorwarf, sie absichtslos verletzt zu haben. Nun, sobald sie wiederkäme, wollte ich das ins Reine bringen!
Aber sie kam nicht wieder. Dagegen am nächsten Morgen ein Fräulein Z., deutsche Lehrerin, die, wie ich, auf ihren Paß wartete. Sie wollte mich warnen. Man hätte vom nächsten Polizeibureau sie ihrer Aufenthaltskarte wegen rufen lassen, sie aber-eigentlich nur über mich ausgefragt. Ob ich Feinde hätte? Jemand müsse mich angezeigt haben. – Nein. – Ich traute es niemand zu; von Frau B. schwieg ich. Sobald Fräulein Z. mich verlassen, ging ich aber zu meinen Freunden. Die Doktorin schlug die Hände zusammen und sah mich schon im Gefängnis. Selbst dem ruhigen Doktor war die Sache nicht geheuer – ich sollte nur gleich zu ihnen ziehen, meinte er.
„Da gäbe ich ja erst Grund zum Verdacht! Sie können ja untersuchen, da wird meine Unschuld klar werden.“
„Aber man untersucht nicht erst – man freut sich, der öffentlichen Meinung zu schmeicheln, wenn man einen ,Spion’ einsteckt, gleichviel ob’s wirklich einer ist oder nicht!“ behauptete er.
Etwas unruhiger, als ich gegangen, kam ich nach Hause zurück. Richtig. Die Polizei war dagewesen! Frau Cartier hatte den Beamten empfangen und erklärt, sie sei eine gute Patriotin, das wisse er – mich aber gebe sie drum doch nicht heraus! Denn daß ich ein Spion sein sollte, das wäre Dummheit, und sie kenne die, die mir’s eingebrockt hätte! Darauf holte die Gute, Brave, [574] den alten Maler Gleyre, dessen Schüleratelier dem meinen gegenüber lag, sowie den Vergolder vom Vorderhause herbei, die meinen Ruf von Verräterei zu reinigen hatten. Der Beamte erklärte übrigens, die Anklage gleich für „eine kleine Weiberrache“ gehalten zu haben.
Ich aber war froh, mit heiler Haut davon zu kommen, wie auch unter den Erbfeinden noch so gute Freunde zu haben.
Am 21. August erschien nach vielen ausweichenden und sich widersprechenden Gerüchten über die Kämpfe von Vionville, Gravelotte und Mars-la-Tour eine halboffizielle Proklamation: „Dreißigtausend Preußen von der Armee des Prinzen Friedrich Karl sind in die Kalkgruben von Jaumont getrieben worden und dort elend umgekommen. Man hat frischen Kalk auf Verwundete und Tote geworfen, aber aus dem großen Grabe sind noch lange Klagen und Hilferufe vernommen worden. Prinz Friedrich Karl hat einen Anfall von Wahnsinn gehabt, als er seine Elitetruppen auf diese Weise untergehen sah.“
Das kummervolle Gesicht, das ich nach dieser Nachricht zu Doktor M.s brachte, wurde wieder einmal verhöhnt. Er zeigte mir auf der Karte, wie weit die Deutschen bereits auf dem Wege nach Paris seien, und daß sie an den todbringenden Kalkgruben von Jaunmont gar nicht vorbei gekommen wären. Wie gewöhnlich deckten einige Tage später die englischen Zeitungen auch diese Unwahrheit auf und ließen die deutsche Armee aus der Grube auferstehen, welche die Feinde ihnen sicher gern gegraben hätten. Aber selbst der Kriegsminister hatte der Kalkgruben in der Kammer erwähnt und die Abgeordneten: très bien – très bien! dabei gemurmelt.
Die Verehrung für Mac Mahon war trotz seiner Nieberlagen nicht vermindert worden und die Subskription für den Ehrendegen, den das Land ihm spendete, lieferte eine enorme Summe, obwohl keiner mehr als 50 Centimes geben durfte. Schmuck und Edelsteine zur Zierde des Knopfes kamen von allen Seiten. Selbst unsere brave Cartier opferte das einzige Steinchen, das sie besaß – einen Amethyst, der auf Wunsch ihres Mannes aus einem Patenring gebrochen wurde.
Vom 19. August ab antichambrierte ich viel im Ministerium des Innern, um nur endlich das für meinen Paß beanspruchte Attest zu erlangen – ganz umsonst. Allerdings verlor ich in dem heißen Zimmer oft die Geduld und wartete nicht ab, bis an mich die Reihe kam, weil ich von vornherein überzeugt war, daß man mich als Preußin schließlich doch abweisen werde. Vielleicht irrte ich mich, wie ich jetzt, wo ich ruhigeren Blutes bin, wohl glaube. Denn selbst während des Krieges konnte ich mich eines Beweises von französischer Gerechtigkeitsliebe rühmen. Auf Rat eines Pariser Advokaten hatte ich nämlich Klage geführt gegen ein Pariser Speditionsgeschäft, das die Beförderung eines Bildes nach einer englischen Ausstellung übernommen, dieses aber zu spät und beschädigt abgeliefert hatte. Als die Sache gerade währenb des Krieges zum Austrag kam, bildete ich mir fest ein, ich werde meinen Prozeß verlieren. Aber kurz vor Sedan wurde er zu meinen Gunsten entschieden und mir 600 Franken als Schadenersatz zugesprochen. Eine Jury Pariser Maler hatte mir für das unbedeutende Bild diese Summe zuerkannt, die etwas höher war als die, welche ich selbst für den Verkauf angesetzt hatte.
Am 25. August wurde in einem befreundeten englischen Kreis erzählt, daß die Vereinigung der Armeen Bazaines und Mac Mahons aller Wahrscheinlichkeit nach stattgefunden habe. Denn Frau Bazaine, die Versailles aus Besorgnis vor den nahenden Deutschen habe verlassen wollen, hätte ein Telegramm von ihrem Gatten erhalten: „Bleibe, alles steht güt.“
Freilich stand alles gut – aber für uns! Die preußischen Ulanen hatten wieder eine Stadt eingenommen, und „unser Fritz“ war schon in St. Didier. Der Doktor M., der die „Times“ gelesen, brachte das nach Hause, denn ich war von meinen englischen Freunden zu den deutschen geeilt. Hier ließen wir die Ulanen in Doktors bestem Wein leben, nicht laut, aber voll Begeisterung. Denn die Thaten unserer Reiter hatten es nun einmal an sich, noch blendender zu wirken als die um nichts weniger wertvolle Tapferkeit der in den Tod schreitenden Fußbataillone. Wenn man so liest, wie keck jene zu Zweien oder Vieren im feindlichen Lande vorandrangen, durchs Thor, gerade aufs Rathaus zu: die Stadt ist unser, Herr Maire, im Namen des Königs! Dann noch befahlen, den Hundert oder Tausend, die folgen, ein Mahl zu bereiten, und ehe die verdutzten Bürger sich die Augen gerieben, die Pferde gewendet, und wieder hinaus! – Man kann gut begreifen, wie diese persönliche Bravour, das Ideal französischer Tapferkeit, den Neid erregte! An dem armen Civil ließen die Franzosen dann ihren Aerger aus. Sobald man den einen Tag gelesen, daß die Ulanen wieder eine Stadt annektiert, konnte man wetten, daß den nächsten Tag der Maire dieser Stadt von den Pariser Zeitungen moralisch vernichtet wurde.
Die letzten Tage, ehe die Ausweisung aller Deutschen uns die Freiheit gab, waren grauenvoll, eine schreckliche Scene jagte die andere, und die Aufregung im Volke stieg zusehends. Ueberall wurden Schauergeschichten erzählt von der Wildheit und unmenschlichen Härte der Preußen, die Frauen und Kinder der erschossenen Franctireurs behaupteten schreckliche Dinge und fanden erbitterte Zuhörer. Eines Morgens wurde Herth als Spion erschossen; ich hatte Gutes von ihm gehört, er sollte unschuldig sein und eine verzweifelte Mutter hinterlassen. Ich wachte in der Frühe über Flintengeknatter auf, das möglicherweise ihm galt, und ging, von Unruhe getrieben, aus. Beim planlosen Schlendern geriet ich endlich an die Centralmarkthallen. Ein halbwüchsiges, dürftiges Ding mit einem Pack Morgenblätter, die sie ausrief, kam mir dort entgegen, verfolgt von einem Rudel roher Burschen.
„Das ist auch so eine verfluchte deutsche Kanaille, die aus unserem Elend Geld schlägt!“ hörte ich schreien. Sie drehte sich um: „Ich bin aber nicht deutsch – so laßt mich doch! Ich thu’ Euch ja nichts!“ Ihre Aussprache – vielleicht war sie Elsässerin? – reizte ihre Verfolger nur immer mehr.
„Du nicht deutsch? – Halt die Gusche! – Eine Spionin bist Du! – Verraten hast Du uns so gut wie die anderen! – Versetzt Ihr doch eins!“ – schrie es durcheinander.
Ein Kerl stieß sie mit dem Fuß, daß sie hinfiel, sie aber raffte sich schnell auf und drückte den Rücken gegen das Gitter der Fleischhalle. Sie zitterte vor Angst, die Thränen stürzten ihr aus den Augen. Ein Junge hob einen Stein auf und warf nach ihr. Alles geschah viel schneller, als ich’s aufschreiben kann.
„Wollt Ihr wohl das unglückliche Ding in Ruhe lassen, sie kann sich doch nicht wehren gegen so viele!“ hatte ich unwillkürlich gerufen.
„He, das ist eine Preußin! Eine preußische Spionin!“ schrieen ein paar. Und wie bei einem Stichwort liefen die Leute zusammen, Steine flogen – glücklicherweise ohne zu treffen – ich hätte es auch kaum gefühlt – ein Augenblick nur – da faßte mich eine Hand fest am Gelenk.
„Verdammtes Pack Ihr!“ brüllte einer neben mir, dem die Hand gehörte. – „So seht Euch doch die Leute an, eh’ Ihr zuschlagt! Das ist ja eine Französin. Eine anständige Frau!“
Jetzt begriff ich; der sprach, wollte mir helfen. Er sah resolut aus, vierschrötig, bürgerlich. Offenbar war er auf dem Markte bekannt und respektiert. Sie wichen zurück. Laut weiter schimpfend, mich aber dabei fest am Arm haltend, zog er mich fort. Er schlug die Richtung nach Pont-Neuf ein, die zugleich die nach der Polizeipräfektur war. Vielleicht – dachte ich – hat er mich befreit, um mich auf der Polizei als Spion einstecken zu lassen! – Ich fürchtete mich fast ebenso vor ihm wie vor den anderen. Er sah sich ein paarmal um, ob sie uns nicht folgten – nein. Dabei hielt er mich aber immer noch fest - er hatte meinen Arm jetzt durch seinen geschoben - als ob er einen Fluchtversuch fürchte. Ich dankte Gott, als er am Quai nicht nach der Präfektur einbog, sondern über die Brücke weiterschritt. Da, wo das Reiterstandbild von Heinrich IV. steht, fing er an: „Wer heißt Sie auch, sich in Dinge mischen, die Sie nichts angehen? Wissen Sie nicht, daß Sie sich aussetzen, in die Seine geworfen zu werden? Ja – ja! Starren Sie mich nur an! Erst gestern ist so etwas passiert – das Volk fackelt jetzt nicht lang’ – weiß nicht mehr, was es thut!“
„Aber ich konnte doch nicht ruhig ansehen, wie sie das arme Ding quälten!“
„Ging Sie gar nichts an!“ – Er sprach rauh und unfreundlich, durchaus nicht wie ein Rettungsengel. – „Der thun sie schließlich nicht viel – wer Lumpen trägt wie sie selbst, kommt davon . . . Aber Sie – denn Sie sind doch wohl – une prussienne?“
Ich nickte, wollte ihm danken. Er stieß meine Hand zurück.
„Schon gut – schon gut!“ rief er, „fangen Sie nur nicht wieder von vorn an!“
Dabei kehrte er um und ließ mich stehen. Hoffentlich wird ihm gelohnt, was er an mir gethan hat und was ich im Augenblick kaum recht begriff. Alles war so rasch gegangen, daß ich keine Zeit hatte, nachzudenken. Und als dann mit der Besinnung [575] ein Gefühl grenzenloser Dankbarkeit in mir aufwallte, da war es zu spät und mein Retter schon weit weg!
Scenen wie die dort erlebte sind häßlich genug, aber doch begreiflich, denn das Volk mußte ja halbtoll werden während eines Krieges, der seiner Söhne Blut kostete, seinen Wohlstand verwüstete und ihm nichts als Schmach und Niederlagen brachte. Dazu die abscheuliche Kost, welche Zeitungen und Proklamationen ihm täglich an gefälschten Kriegsberichten und anderen Lügen vorsetzten, die das Spionenfieber immer noch steigerte! – Ein Arzt verlangte damals im „Paris.Journal“ die schleunige Ausweisung aller deutschen Aerzte aus Paris und begründete das unter anderem wie folgt: „Unterrichtet, intelligent, klavierspielend, sind sie vorzügliche Spione. Sie haben dafür ihr eigenes Wörterbuch. Meine Cousine hat einen Deutschen geheiratet – man wird ganz stutzig, wenn man sich in ihrer Familie befindet und die Mienen beobachtet, mit denen sie sich gegenseitig ansehen, die Worte beachtet, die sie gebrauchen. Es scheint, daß sie an den Erfolgen ihrer Nation auch nicht mehr den geringsten Zweifel haben!“
Natürlich gab es auch besonnene und vernünftige Blätter, die aber, weil sie teuerer waren, das Volk nicht las. So z. B. brachte der „Temps“ (27. August) einen Brief Louis Blancs von London datirt, der mit der größten Unparteilichkeit seine Landsleute beurteilte: „Nichts“ – schrieb er – „was bei uns (in Frankreich) für offiziell gilt, hat hier den geringsten Kredit. Dagegen sieht man jede Depesche, die der König von Preußen unterzeichnet hat, für einen Glaubensartikel an. Jedes Telegramm, das uns einen Vorteil zuspricht, wird betrachtet, als ob es nicht existierte. Als die widersprechenden Berichte über die mörderische Schlacht am sechzehnten eintrafen, las man auf allen Maueranschlägen. Großer Sieg der Preußen – die Franzosen rechnen sich den Sieg zu. Mit anderen Worten: Die Preußen haben gesiegt, da sie es behaupten, während bei den Franzosen die Wahrscheinlichkeit vorliegt, daß sie lügen. – Ist das für einen Franzosen, der in England lebt, nicht herzzerreißend?“
Total verändert fand ich in jenen Augusttagen die Champs Elysées und das Bois de Boulogne. Verschwunden alle heitere Eleganz, statt der Spaziergänger Karawanen von hinwegflüchtenden Städtern und hereinströmenden Landleuten, die herrlichen Bäume gefällt am Boden, Schaf- und Rinderherden auf den Grasflächen weidend. Bei einem solche Spaziergang sehe ich plötzlich in der Mitte von sechs Soldaten, wovon zwei ihn unter den Armen gefaßt halten, einen todbleichen jungen Mann und höre den Ruf: „Ein Spion! Wieder ein Spion!“ Umsonst wehrte sich der Unglückliche, mit heiserer Stimme redend. Sie führen ihn in ein nahes Haus, wo, wie es heißt, ein höherer Offizier wohnt. Ein Wagen fährt vor, in den drei der Soldaten mit dem Gefangenen steigen. Ein vierter springt auf den Bock, ein fünfter noch hintenauf. Alles um mich flucht, lärmt und nimmt Partei gegen den „Spion“. – „Bis wir diesen deutschen Hunden nicht allen den Garaus gemacht haben, wird’s nicht besser!“ brüllt ein Kerl mit einer Physiognomie zum Fürchten. Ich rettete mich in einen Omnibus und ließ mich hinwegführen nach dem Louvreeingang, wo die assyrischen Altertümer in ihren stillen Sälen stehen. Hier traf ich einen alten Herrn, der so andächtig in die Inschrift auf einem verwitterten Stein vertieft war, als gäb’s draußen keinen Krieg und kein Spionenfieber. Noch dazu ein Besiegter – ein Franzose, wie ich am Band der Ehrenlegion in seinem Knopfloch erkannte. Er war der einzige Besucher in den unteren Sälen. Als ich zurückkam, stand er noch an derselben Stelle. Ich mußte an jenen Astronomen denken, der während der ersten Revolution die Pariser Sternwarte nicht verließ, um eine Entdeckung auf dem Mond zu konstatieren! . . .
Am 28. August konnte man an allen Straßenecken die Ausweisung der Deutschen lesen – binnen drei Tagen mußten sie Paris verlafssen haben. Als Begründung der Maßregel wurde zum erstenmal offiziell bekannt gemacht, was jeder längst wußte: daß die deutsche Armee ihren Marsch auf Paris fortsetzte und die Belagerung zu erwarten sei. Nun hatte alle Paßnot ein Ende – wir waren endlich frei! Das Fortkommen schien trotzdem nicht leicht. Ueber Belgien war der Andrang so groß, daß Agnes und ich nicht sicher waren, expediert zu werden. So wählten wir den Weg über England, und zwar: Boulogne mit der Einfahrt nach London.
Noch einmal bewog mich meine Freundin, mit ihr nach dem amerikanischen Konsulat zu gehen. Ihre Bekannten hatten behauptet, daß wir von irgend einer Behörde irgend eine Bescheinigung für irgend eine Grenze haben müßten, was sich dann sofort als unnötig erwies. Ein Laufpaß ist jedenfalls auch ein Paß, und den hatten wir ja erhalten. Diesmal gelangten wir durch einen einflußreichen Bekannten ohne zu warten ins Paßbureau und sahen von dort die straßenlangen Reihen armer Landsleute, die nicht mehr auf Pässe, wohl aber auf Reisegeld harrten, das ihnen von den deutschen Regierungen durch Vermittlung hier ausgezahlt wurde.
Abschiedsbesuche gab’s nicht viele zu machen – die Franzosen verschonte man mit seinem Anblick. Als ich meinen deutschen Freunden der Place Royale, welche die Belagerung in Paris aushielten, Lebewohl sagte, hörte ich von einem schmeichelhaften Vergleich: es verließen so viele Deutsche Paris, als man Stück Rindvieh eingetrieben habe, nämlich 150000 Stück!
An den Bahnhöfen ging’s nun arg her. Der plötzliche Aufbruch der Fremden an zwei bestimmten Tagen hatte – so viele auch bereits die Stadt verlassen – doch etwas Ueberwältigendes. Die Abfahrtsstationen waren überfüllt; Gepäckexpeditionen hatten förmliche Belagerungen auszuhalten. Am schlimmsten ging es jedenfalls am Nordbahnhof zu, wo man in allen Reisenden Deutsche vermutete. Mit Gepäck beladene Wagen, die in der Richtung dahin fuhren, verfolgte der Pöbel, warf sie mit Steinen und sandte ihnen als letzten Gruß noch den Ruf: „Feige Deutsche – fliehende Spione!“ nach.
Auf dem Bahnhof St. Lazare befanden sich fast ebensoviele Engländer und andere Fremde wie Deutsche. Wir waren eine Stunde vor der bestimmten Zeit an Ort und Stelle und hatten Mühe, an den Billetschalter zu gelangen. Zum erstenmal, seit ich in Paris wohnte, sah ich, daß man nicht in Reih und Glied wartete, sondern das Ellbogenregiment vorzog. Ein lärmendes Durcheinander wirkte betäubend. Abschiedsschluchzen – Kindergeschrei – Verwünschungen – Ausrufen vermißter Personen – Hundegebell und noch anderer greller Spektakel. Gepäckstücke sah man, die jeder Beschreibung spotteten. Tisch- oder Betttücher, vollgepackt und an den vier Enden zusammengeknotet, waren ganz gewöhnlich. Ich empfing hier weniger den Eindruck einer Gesellschaft Reisender als den einer Bevölkerung, die durch eine plötzliche Katastrophe wie Feuer, Wasser oder Erdbeben in die Flucht gejagt ist. Ich sah z. B. eine Frau, die eine Schüssel trug mit gekochten Kartoffeln auf denen Bratenstücke lagen; vier Kinder klammerten sich schreiend an ihren Rock und so drängte sie der Billetausgabe zu.
Endlich saßen wir, dicht gedrängt wie die Heringe, im Waggon. Statt um fünf, verließ der Zug erst um sieben Uhr Paris. So war’s Nacht, ehe wir in Boulogne ankamen – glücklicherweise eine kühle Sternennacht. Stundenlang dauerte es dann noch, ehe Mensch, Tier und Gepäck aufs Schiff gebracht war. Als unerhörte Rücksichtslosigkeit erschien uns, daß man den größten Teil des Verdecks für Luxuspferde vornehmer Franzosen reserviert hatte, die man durch die Reise ins Ausland der Requisition militärischer Behörden entzog. Sie waren alle bereits untergebracht, ehe die Menschen eingeschifft wurden. Die Kajüten waren überfüllt; die Kinder soll man buchstäblich übereinandergeschichtet haben. Was Platz fand, blieb auf dem Verdeck, wo wir dicht aneinandergedrängt, teils am Boden, teils auf Klappstühlen die Nacht zubrachten. Vielleicht hätte Müdigkeit trotz unbequemer Lage manchen schlafen lassen, wenn das Wiehern der fahnenflüchtigen Rosse, das Stampfen der Hufe auf der bretternen Diele uns nicht wach gehalten hätte. Die Knechte, die sicher Mühe hatten, die unruhigen Tiere zu zügeln, trugen durch ihr Schimpfen zu dem allgemeinen Spektakel auch noch bei. Auf einmal hieß es, ein Schimmel habe sich losgerissen. Eine krabbelnde, von Stöhnen und Geschrei begleitete Bewegung unter den Passagieren war die Folge, bis ein Ruf des Kapitäns, der laut über das Deck schallte, Ruhe gebot; es sei keine Gefahr, niemand solle sich von seinem Platze rühren!
Wer keine Lust hatte, über Bord zu springen, für den wäre es bei den gegebenen Raumverhältnissen auch ein Kunststück gewesen, dem Befehl entgegen zu handeln.
Langsam glitt unser Fahrzeug auf der glatten Wasserfläche weiter. Kein mitleidiger Wind half mit seinem Blasen den keuchenden Rädern nach. Wie ein Mitfahrer uns versicherte, war das Schiff dreimal so schwer geladen als gewöhnlich; das geringste Mehr konnte es zum Sinken bringen. Es war gut, daß die letzten Tage in Paris uns gegen Schreckenseindrücke etwas abgestumpft hatten.
Um neun Uhr früh war uns die Ankunft verheißen, aber erst nachmittags um Drei liefen wir in die St. Catharin-Wharfs ein. [576] Natürlich dauerte das Ausschiffen ebenfalls noch eine gute Weile. Um vom Dampfer nach der schmutzigen Straße zu gelangen, mußten wir einen noch schmutzigeren Durchgang passieren. Von da sahen wir einen Zeitungsjungen laufen, der ein letztes Blatt hoch in der Haud hielt. „Gute Nachricht für Deutsche!“ schrie er dabei.
Wir winkten ihm, aber ein Herr, der aus einer Hausthür trat, riß ihm das Blatt aus der Hand und rannte damit fort.
„Wenn das einen Sieg für uns bedeutete?“ sagte ich zu Agnes, welche die Gepäckstücke in eine Droschke zählte, die sie nach Charing-Croß, mich nach Euston-Station fahren sollte. Vorbei ging’s nun an Tower und Copperstreet. Da wurde unser Wagen an dem mächtigen Bogen, auf dem die Eisenbahnbrücke ruht, von einer Menschenmenge aufgehalten, die sich um ein eben angeschlagenes Plakat mit riesenhaften Buchstaben drängte: „Großer Sieg der Deutschen – Kapitulation von Sedan – der Kaiser und das ganze französische Heer gefangen.“
Ich weiß noch, daß wir beide jauchzten und schluchzten zugleich – wir waren überzeugt, der Krieg sei nun am Ende, – und feierten tief ergriffen unsern ersten Sedanstag im Geiste, mit den jubelnden Millionen im deutschen Vaterland.