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Freiheit (Klinckowstroem)

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Textdaten
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Autor: Agnes von Klinckowstroem
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Titel: Freiheit
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 32-35, S. 543–547, usw.
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1895
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Novelle
mit 3 Fortsetzungen
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[543]

Freiheit.

Novelle von A. von Klinckowstroem.

Schattenlos inmitten weiter Acker- und Wiesenflächen war die kleine Bahnstation der vollen Einwirkung sommerlicher Nachmittagsglut ausgesetzt. Die Sonne flimmerte auf den Schienen und erhitzte die hellen Backsteinmauern des nach der üblichen Schablone aufgeführten Gebäudes, das in seiner regungslosen Stille und träumerischen Verschlafenheit fast den Eindruck des Ausgestorbenseins machte. Das einzig Lebendige schien der Zeiger der großen Bahnhofsuhr zu sein, welcher stetig seinen Rundgang fortsetzte. Als er der sechsten Stunde nahekam, öffnete sich die Thür des Stationsbureaus. Ein Mann in blauer Bluse und Dienstmütze trat heraus, stellte schläfrig das Signal, welches verkündete, daß die Einfahrt für den Schnellzug frei sei, und blinzelte dann, die Augen mit der Hand beschattend, die Landstraße entlang, auf welcher einzelne Staubwölkchen das Nahen verschiedener Gefährte anzeigten. Auch im Innern des Gebäudes regte es sich nun. Der Kellner, der hinter dem Schenktisch geschlafen hatte, schreckte empor, als er den rostigen Klang der Signalstange hörte, scheuchte die Fliegen von den wenig Vertrauen erweckenden Wurst- und Käsebrötchen, rückte Flaschen mit Likör und Limonade-Essenzen zurecht und trat dann gleichfalls hinaus.

„Da kommen zwei Wagen aus Strehlen!“ sagte er, mit dem Kopf mach der Straße hindeutend. „Der eine ist vom Schloß. Das gnädige Fräulein wird vermutlich mit diesem Zug zurückerwartet. Der andere gehört dem Oberinspektor. Muß wohl Besuch erhalten, der Herr Boße, denn der Kutscher steckt in einer Art von Livree, die für gewöhnlich nicht spendiert wird.“

Der Mann in der Dienstmütze nickte gleichmütig. Das Kommen und Gehen der Reisenden interessierte ihn schon längst nicht mehr. Der Kellner jedoch konnte sich’s nicht versagen, als die beiden Gefährte an der Rückseite des Hauses hielten, durch die Hinterthür ein Gespräch mit den Rosselenkern anzuknüpfen. Es befriedigte ihn, zu erfahren, daß er recht vermutet, daß in der That heute Fräulein von Ostrau nach Schloß Strehlen zurückkehren werde. „Und was ist denn bei Euch los?“ fragte er den Kutscher des Oberinspektors mit einer herablassenden Vertraulichkeit, die er sich dem herrschaftlichen Würdenträger gegenüber nicht herausnahm. „Besuch, was? Jemand von der Familie? Ja, ja, im Sommer kommen die Städter gern auf Grasung.“

„Nee!“ lachte der Bursche, dem die silberbordierte Mütze schief auf dem Ohr saß. „Is nich an dem! Der Herr kriegt heute einen neuen ‚Eleven‘ für die Wirtschaft.“

„Mit denen pflegt Ihr doch sonst nicht so viel Umstände zu machen.“

„Es hat auch eine besondere Bewandtnis mit diesem. Fürs erste ist er überhaupt gar kein Eleve.“

„Das hättet Ihr gleich sagen können!“

„Zweitens hat er selbst ein Gut und kommt nur, um sich unsere Wirtschaft anzusehen. Vielleicht bleibt er aber doch längere Zeit, um dem Herrn etwas abzulernen. Soll ja auch kein ganz Junger mehr sein. Unsere Frau und nun gar die Mamsell machen ein Aufhebens von ihm, als wär’s ein Prinz, und er ist doch nur ein ganz gewöhnlicher Herr Wildenberg.“

Da gab auch die Glocke das Zeichen, der Zug brauste heran, und der Ruf „Dammhof! Drei Minuten!“ klang geschäftsmäßig von den Lippen der Schaffner, welche die Thüren der verschiedenen Abteilungen aufrissen, um etwa ein halbes Dutzend Personen herauszulassen.

Einem Coupé erster Klasse entstiegen zwei Damen. Die eine von ihnen, im Staubmantel von sandfarbener Seide, hielt ihre schlank emporgeschossene Gestalt hoch aufgerichtet und den blonden Kopf unter dem schwarzen einfachen Hut fast ein wenig zu sehr im Nacken. Leicht und elastisch war sie herausgesprungen und half dann ihrer ältlichen Begleiterin, die, beladen mit Körbchen und Päckchen, nicht so schnell hatte folgen können. Wie sie sicheren Schrittes über den Bahnsteig nach dem Wagen ging, ehrfurchtsvoll gegrüßt von dem Stationsbeamten, wandten sich die Köpfe der Anwesenden unwillkürlich, um ihr nachzublicken.

Aus einer Abteilung zweiter Klasse war ein Herr gestiegen, der seinen Gepäckschein dem Mann in der Bluse übergab und in weicher süddeutscher Mundart nach einem Wagen aus Strehlen fragte. Man wies ihn zurecht, und während er an das leichte Korbgefährt des Oberinspektors herantrat und Plaid und Reisehandbuch hineinwarf, trafen ihn die hellen Augen der jüngeren Dame, die wenige Schritte von ihm entfernt die Zügel aus den Händen des langbärtigen Kutschers entgegennahm, mit kühlem durchdringenden Forschen. Sie hielt sich jedoch nicht lange damit auf, sondern breitete die leichte Decke zum Schutze gegen den Staub sorgsam über die Knie ihrer Begleiterin, die mit einiger Mühe den hohen Vordersitz des eleganten Jagdwagens erklommen hatte. Einem unwillkürlichen Antrieb folgend, zog der Fremde den Hut und empfing zum Dank von der Blonden ein leichtes Neigen des Kopfes, in dem sich ein leises Erstaunen kundgab; er sah eben noch die reinen Linien ihres streng geschnittenen Profils und einen festen, goldig schimmernden Haarknoten im Nacken, dann zogen die Füchse, von ihrer Hand geleitet, an und entführten die Damen seinen Blicken.

Eine Weile noch blieb er nachdenklich stehen, über sich selbst lächelnd, und erst auf die Mahnung des Burschen hin, der ungeduldig zu werden begann, bestieg er den Korbwagen, der nicht allzu schnell in derselben Richtung davon rollte, welche der Jagdwagen genommen hatte.

Die Gegend war, obwohl ohne hervortretende Schönheiten, hübsch und anmutend, besonders für die Augen eines Landmanns, dem die Ueppigkeit der waldumkränzten Felder auffallen mußte, durch welche die Straße sich hinzog. Hier und da tauchten die roten Dächer stattlicher Bauernhöfe auf, und aus dichtem Laubgrün erhob sich in kleiner Entfernung ein wetterfester altersgrauer Kirchturm mit stumpfer Kuppe.

„Das ist schon unser!“ sagte der Bursche, mit dem Peitschenstiel die nächstgelegenen Felder und die Laubmassen samt dem aufragenden Kirchturm bezeichnend. „Strehlener Boden ist der beste im Kreise,“ setzte er voll Selbstgefühl hinzu. Herr Wildenberg nickte stumm und schaute weiter dem Turm entgegen, als sei der ein Wahrzeichen nach dem er seinen Kurs zu richten habe, bis das plumpe Dach hinter mächtigen Kastanien untertauchte, die vom Eingang des Dorfes her in breiter Allee am Kirchlein vorbei dem Herrenhause zuführten.

In der Lattenthür, die den Eingang von der Dorfgasse zu dem Pfarrgrundstück neben der Kirche vermittelte, stand der Geistliche, ein vollwangiger Mann in den Fünfzigen, und grüßte freundlich, als jetzt der Wagen des Oberinspektors vorüberfuhr, und ein halbes Dutzend Blondköpfe guckte neugierig durch die Fliederhecke, die den Garten umgab. Dem Ankömnnling fiel es auf, daß unter den blonden Köpfchen sich ein schwarzes befand, abweichend geartet, offenbar aus einer Rasse, die nichts mit der rotwangigen Derbheit der anderen gemein hatte. Es lag in seiner Natur, die zu stiller Beschaulichkeit neigte, dergleichen Kleinigkeiten zu beachten, und er wandte noch einmal das Gesicht aufmerksam nach dem Pfarrgarten hin, wo nun der dunkle Kopf und die blonden lachend niederduckten und sich nicht weiter sehen ließen.

Der behäbige Wohlstand und der idyllische Friede dieses Fleckchens Erde muteten ihn an. Wie freundliche Augen blickten die Fenster des Pfarrhauses aus dichtem Weinlaub zu ihm nieder; durch die grüngestrichene Pforte des Gartens trat man unmittelbar in den tiefen Schatten der Kirchhofslinden hinaus.

Der Fremde nahm den vollen Eindruck dieses Bildes in sich auf, bis der Wagen mit plötzlicher Biegung in den Gutshof einschwenkte, welcher etwa tausend Schritt von dem Herrenhause entfernt lag, das in stattlicher Größe hinter dem Gitter des Parkthors zwischen breitästigen Kastanien und Platanen sichtbar wurde. Der Oberinspektor stand vor der Thür, um seinen Gast zu bewillkommnen, und er that das mit einer höflichen Zuvorkommenheit, die dem derben Landwirt sonst fremd war, aber Hans Wildenberg war ihm als wohlhabender Mann und Großgrundbesitzer, der sich im norddeutschen Wirtschaften umsehen wollte, von einem Freunde warm empfohlen. Freilich, die äußere Erscheinung des Ankömmlings imponierte ihm nicht gerade; Wildenberg war von schlankem schmalen Wuchs und erschien dadurch kleiner, als er in Wirklichkeit war. Die grauen Augen, das Einzige, was in seinem Gesicht auffiel, hatten einen sinnenden, in sich gekehrten Ausdruck und zeigten nichts von der Thatkraft, die für den Inspektor von dem Bilde eines richtigen [544] Landwirts unzertrennlich war. Wie er aber jetzt den Hut abnahm und mit der Hand über das kurzgeschnittene dunkle Haar fuhr, ging ein Lächeln über seine Züge, das ihnen plötzlich einen eigenen Zauber verlieh, als sei ein Licht an einem Transparentbilde vorübergeglitten und habe es für wenige Sekunden in deutlichen schönen Farben aufleuchten lassen.

„Sie werden sich wundern, daß ich mich so spät noch entschlossen habe, das zu thun, womit andere Landwirte gewöhnlich anfangen,“ sagte Wildenberg, als er bald nachher mit dem Inspektor bei einem kleinen Imbiß zusammensaß. „Allein ich wurde von Hause aus nicht für den Beruf eines Gutsbesitzers erzogen, sonderm widmete nach dem Studium der Naturwissenschaften, und erst als ein Bruder meines Vaters mir sein Gut hinterließ mit der ausdrücklichen Bedingung, die Verwaltung selbst zu übernehmen, nahm ich mit der ganzen ahnungslosen Unbefangenheit des Laien diese Pflicht auf mich. An dem Unheil, das ich anrichtete, merkte ich zu meinem Schaden, daß auch die Landwirtschaft fundiert sein will. Nun, zum Glück ist es noch Zeit, das Veraäumte nachzuholen, und ich rechne darauf, das unter Ihrer bewährten Leitung zu thun.“

„Ich hoffe, einen leidlichen Landmann aus Ihnen zu machen,“ versetzte Herr Boße nicht ohne Selbstgefühl, „darf aber wohl voraussetzen, daß Sie mit den allgemeinen Grundlagen der Wirtschaft vertraut sind.“

„Erwarten Sie nicht zu viel von mir, ich bin nicht praktisch beanlagt! Ja, ich will Ihnen gestehen, daß ich mich des heutigen Ferientages noch freue wie ein Junge, der sich vor den Schulstunden fürchtet, die seine Mängel an das Tageslicht bringen müssen.“ Wieder glitt bei diesen Worten das stille Lächeln über sein Gesicht, während der Oberinspektor und die jüngeren Beamten, die sich eingefunden hatten, den Scherz geräuschvoll belachten. „Wollen Sie mich ein wenig über die hiesigen Verhältnisse unterrichten?“ fuhr Wildenberg fort. „Daß Strehlen der Familie Ostrau gehört, weiß ich ja, aber über die Glieder derselben möchte ich doch gerne etwas Näheres hören, ehe ich meinen Besuch im Schloß mache.“

„Das gnädige Fräulein haben Sie jedenfalls schon gesehen – sie kam mit dem nämlichen Zuge an wie Sie.“

„Ich sah zwei Damen den Zug verlassen und in einem Jagdwagen mit Füchsen davonfahren, die eine blond und schlank –“

„– war unsere Gnädige ... schlank wie eine Tanne, mit Haaren, die ihr bis an die Knie reichen müssen. Staat kann man mit ihr machen!“

„Die ältere Dame war vermutlich die Mutter?“

„Nein, Fräulein Hellas Eltern leben nicht mehr. Die Begleiterin war ihre Tante, die vor den Augen der Welt die Rolle einer Anstandsdame übernommen hat; in Wahrheit bedarf das Fräulein so wenig einer Beschützerin wie Sie und ich, sie weiß mit ihren siebenundzwanzig Jahren sehr gut, was sie zu thun und zu lassen hat.“

„So, so! Und der Besitzer selbst?“

„Ja, was meinen Sie denn, Herr Wildenberg? Fräulein Hella ist ja eben der Besitzer! Strehlen kam vor fünf Jahren in ihre Hände, nach dem Tode ihres Onkels, der keine näheren männlichen Erben besaß und diese Nichte zärtlich liebte. Ich war damals schon hier in Stellung und dachte bei mir: na, das wird gut werden mit einem zweiundzwanzigjährigen Mädchen als Prinzipal! Aber alle Achtung! Vor der muß man den Hut ziehen, die versteht’s! Und das, was sie nicht verstand, nämlich die Uebersicht über die Buchführung und die Feldwirtschaft, das hat sie sich mit eisernem Fleiß angeeignet, denn es gehört zu ihrem Glaubensbekenntnis, daß ein Frauenzimmer in geschäftlicher Beziehung genau dasselbe leisten könne wie ein Mann, wenn es nur dazu erzogen werde. Das ist natürlich ein Irrtum; eine Frau soll backen und kochen und Strümpfe stricken und Kinder versorgen – was darüber ist, das ist im allgemeinen vom Uebel!“

„Und die unverheiratete Frau?“ warf Hans Wildenberg dazwischen. „Ich meine die, welche gezwungen ist, sich auf eigene Füße zu stellen und sich einen Beruf zu suchen, der sie ernährt?“

„Ach was da – Beruf! Die Unverheirateten können sich überall nützlich machen, in der Familie, oder wo sie sonst wollen.“

„Aber wenn sie nun keine Familie haben?“

„So mögen sie Gesellschafterinnen oder Erzieherinnen werden oder auch Wirtschafterinnen. Da haben Sie gleich drei Berufsarten, die ihnen offenstehen. Irgendwo findet sich doch immer ein Winkelchen, wo sie unterschlüpfen können. Die Frau ist nun einmal zum Heiraten da; thut sie es nicht, so liegt das nur an ihr, und damit basta! Uebrigens wollen wir uns nicht gleich in der ersten Stunde unserer Bekanntschaft streiten. Ich merke schon, Sie blasen auch in das Horn der Gnädigen, das wird Sie gleich lieb Kind im Schloß machen. Aber halten Sie Ihr Herz fest, Fräulein Hella ist eine uneinnehmbare Festung und entschlossen, ihre Selbständigkeit um jeden Preis zu wahren!“

Wildenberg fühlte sich unzart berührt von diesem Scherz und ärgerte sich, daß ein schnelles ganz unbegründetes Rot über sein Gesicht flog; das Thema abbrechend fragte er: „Es giebt doch wohl auch sonst noch Menschen in der Gegend, mit denen man verkehren kann?“

„Natürlich – nur zu viele, sollte ich meinen! Da ist in erster Linie unser Pastor, ein vortrefflicher Mann, der ausgezeichnet Skat spielt. Sie spielen doch auch Skat?“

„Ich bedauere, nein.“

„Das ist schade. Nun Sie werden sich auch sonst gut mit ihm unterhalten. Er führt zudem einen ausgezeichneten Tisch – die Frau Pastor kocht wie ein Engel.“

„Ich wußte nicht, daß die Engel sich durch gutes Kochen auszeichnen,“ warf der Gast belustigt ein.

Herr Boße lachte gutmütig. „Die Bibel sagt zwar nichts darüber, aber vermutlich geht es jedem Menschen so wie mir, daß er die Eigenschaften, die er am höchsten schätzt, unwillkürlich auch den Engeln beilegt. Sie brauchen übrigens nur die Sprößlinge des Pastors anzusehen, dann wissen Sie schon, wie es im Hause zugeht. Rotbäckig und sauber ist die kleine blonde Bande, mit runden Gesichtern und prachtvollen Zähnen.“

„Mich dünkt, ich hätte im Vorüberfahren einen Schwarzkopf darunter bemerkt, der aus der Art schlägt.“

„Wie scharf Sie beobachten! Also unsere kleiue Lili haben Sie auch schon gesehen? Es ist ein Fräulein von Wentzel, das im Pastorhause erzogen wird, eigentlich ein Pflegekind unserer Gnädigen. Ich sage, ‚unsere kleine Lili‘, weil das Mädel uns allen ans Herz gewachsen ist.“

„Nun, gar so klein ist sie mir nicht erschienen. Ich glaubte, ein erwachsenes Mädchen vor mir zu haben.“

„Würden es die Jahre allein thun, so müßte Lili freilich schon zu den Erwachsenen zählen, den sie wird im September achtzehn, doch ist sie noch ein rechter Kindskopf und schlägt gar nicht sehr nach dem Herzen der Gnädigen aus, der sie in Anbetracht der traurigen Verhältnisse, aus denen sie hervorging, das Leben zu sehr auf die leichte Achsel nimmt.“

„Und wo ist sie hergekommen? Doch das geht mich ja im Grunde gar nichts an,“ unterbrach sich Wildenberg selbst.

„Die Frage ist durchaus berechtigt. Wenn man auf einem kleinen Fleck Erde nahe zusammengedrängt lebt, will man doch genau wissen, mit wem man es zu thun hat. Denken Sie nur, das arme Kind hat sich von seinem zehnten Jahr an in der Welt herumstoßen lassen müssen wie herrenloses Gut. Die Eltern leben getrennt, der Vater ist ein Erzlump, die Mutter eine hochgeborene pfenniglose Närrin, die nichts versteht, als ihr Geschick zu bejammern, und die paar Groschen, welche ihr Mann ihr ab und zu schickt, dazu anwendet, den Schein einer anständigen Existenz nach außen hin aufrecht zu erhalten, obgleich kein Mensch mehr daran glaubt. Es ist ein wahres Wunder, daß all das an dem guten Charakter des Mädchens glatt abgeprallt ist. Denn lernen hat die Mutter die Kleine auch nichts Ordentliches lassen. Freilich, du lieber Himmel, wie viel lernen die Mädchen heutzutage in den sogemannten höheren Töchterschulen, was sie nachher brauchen können?“

„Widerspricht das nicht Ihrer Ansicht von vorhin?“ schaltete Wildenberg ein.

„Da haben Sie mich mißverstanden. Ich meinte natürlich nicht, daß die Frauenzimmer ganz unwissend bleiben sollen. Unsere Lili aber durchlief nicht einmal wie jede andere ,höhere‘ Tochter die Schule, sondern blieb oft monatelang ohne Unterricht, wurde bald hierhin, bald dorthin geschickt, denn wenn den alten Wentzel die Laune anwandelte, seine Frau zu ärgern, so nahm er ihr das Kind fort; ihm stand ja die Bestimmung über die Tochter gesetzlich zu, und wenn die Kleine dem Mann zur Last wurde, schickte er sie wieder seiner Frau zurück. So wurde das Mädchen hin und her gezerrt, immer den schlechtesten Einflüssen ausgesetzt, bis [546] unsere Gnädige vor drei Jahren durch Zufall auf sie aufmerksam wurde und dann auch gleich in ihrer werkthätigen Art eingriff. Die Eltern waren nur zu froh, der Sorge für das Kind enthoben zu sein, und so kam es hierher. Fräulein Hella dachte zuerst daran, das Mädchen im Schloß zu behalten und die Erziehung selber zu leiten, sah aber, vernünftig wie immer, sehr bald ein, daß ihr dazu doch die Erfahrung mangle, und da die ältere Schwester unserer Pfarrfrau, die seit Jahren im Pastorhause den Unterricht der Kinder leitet, eine sehr begabte und verständige Person ist, so war es das Nächstliegende, Lili dort in Pension zu geben.“

Wildenberg hörte dem wortreichen Geplauder des Oberinspektors gedankenverloren zu. Es wäre ihm lieber gewesen, noch mehr von der „Gnädigen“ zu hören, die bisher nur für wenige Minuten in seinen Gesichtskreis getreten war, aber trotzdem einen ganz bestimmten Eindruck in ihm zurückgelassen hatte. Nur war er sich selbst nicht darüber klar, ob das Selbstbewußtsein, mit dem sie aufgetreten, ihn angenehm oder unangenehm berührt habe. Er schätzte von jeher beim Weibe die Weichheit und Milde, eine gewisse Unsicherheit und Nachgiebigkeit des Charakters, wie sie seine Mutter besessen, während zu jenem streng und edel geschnittenen Kopf Energie und Stolz wie etwas Unerläßliches gehören mußten. Eine heimliche Scheu hielt ihn jedoch ab, Fragen zu thun, welche auf Hella Bezug hatten; er fürchtete eine Wiederholung der unzarten Scherze, die ihn vorhin unangenehm berührt hatten.

Nicht zu den leichtlebigen Naturen gehörend, die sich schnell in neue Menschen und Verhältnisse schicken, begrüßte Wildenberg es dankbar, daß die Gewohnheiten des Hauses es ihm gestatteten, sich frühzeitig in sein Zimmer zurückzuziehen. Es war heiß unter der niedrigen Balkendecke, obgleich die Fenster offen standen. Er beugte sich hinaus, vergeblich Kühlung suchend, und ließ die Augen durch den Garten wandern, der, beinahe taghell vom Mondlicht durchflutet, sich zu seinen Füßen ausbreitete. In einiger Entfernung erhoben sich die Umrisse des Schlosses; aus einzelnen Fenstern des Erdgeschosses schimmerte Licht. Er hatte nicht geglaubt, daß das Schloß so nahe sei, und bemerkte nun, daß nur eine niedrige Hecke den Garten des Oberinspektors von dem herrschaftlichen Parke schied, der in seiner regungslosen Stille zu einsamer Wanderung einzuladen schien.

Wildenberg überlegte nicht lange, ob es erlaubt sei oder nicht, sondern schlich im Dunkeln die Treppe hinab und nahm seinen Weg, da die Hausthür inzwischen verschlossen worden war, durch eines der Flurfenster ins Freie. Er kam sich vor wie ein Knabe, der einen harmlosen Streich ausführt und sich dessen freut – trotz seiner dreißig Jahre gingen die Eingebungen des Augenblicks, die bei ihm oft einen naiven Charakter trugen, noch immer mit ihm durch. Ein Sprung über die Hecke brachte ihn in den Bereich des Schloßgartens, und mit raschen Schritten näherte er sich einer Rotunde, in deren Mitte ein Delphin aus einem Granitbecken einen Wasserstrahl hoch in die Luft blies. Man hatte von hier aus den besten Blick über das stattliche Herrenhaus, das in seiner wuchtigen Masse mehr imposant als schön war. Sechs runde Säulen trugen den breiten Altan des Mittelbaues, und zwischen ihnen sah man durch die geöffneten Glasthüren in ein matt erhelltes Gemach, in dessen rotem Dämmerlicht sich aber nichts genau unterscheiden ließ.

Der Eindringling ging langsam um die Rotunde herum, ab und zu stehen bleibend, um den Duft der Rosen und Jasminblüten einzuatmen, die in verschwenderischer Fülle den Rasenplatz umgaben. Plötzlich schrak er zusammen, denn aus dem Schatten des nächstgelegenen Bosketts trat rasch eine Frauengestalt hervor und zu ihm in den Mondschein. Er erkannte sie sofort – das war der schlanke stolze Wuchs, den er heute schon einmal bewundert hatte – und den Hut ziehend bat er höflich um Verzeihung, daß er zu dieser unpassenden Stunde unbefugt hier eingedrungen sei; als Fremder wisse er weder mit Weg und Steg noch mit den Sitten des Ortes Bescheid und könne daher noch nicht unterscheiden, was verboten sei und was nicht.

Er hatte scherzhaft gesprochen, aber die großen hellen Augen des Fräuleins blickten ihn erkältend ernsthaft an, und als er jetzt schwieg, neigte die Schloßherrin nur langsam den blonden Kopf und sagte, daß die Benutzung des Gartens den Bewohnern des Oberinspektorats und des Pfarrhauses frei stehe; sie sei nur überrascht gewesen, zu dieser Stunde jemand zu begegnen, da sie die Hausordnung der Familie Boße kenne und wisse, daß um diese Zeit die Lampen gelöscht und die Thüren geschlossen würden.

Wildenberg erklärte, wie er herausgekommen sei, und nun flog doch ein leises Lächeln um ihre schöngeschwungenen Lippen. Er hielt es darauf für angezeigt, sich ihr in aller Form vorzustellen, aber sie unterbrach ihn. Sie wisse schon von ihm, er vermutlich auch, wer sie sei – hier auf dem Lande könne man füglich diese Höflichkeitsformen des Salons entbehren. Sie fuhr dann fort, mit ihm zu sprechen, als sei es das Natürlichste auf der Welt, daß sie einander hier im mondbeglänzten Garten getroffen hätten, und ging dabei langsam dem Hause zu, ihn auf diese Art zwingend, an ihrer Seite zu bleiben. Ihre Stimme hatte einen tiefen metallischen Klang.

„Und so werden Sie also längere Zeit bei uns verweilen?“ sagte sie, vor der Säulenhalle stehen bleibend. „Möchte es Ihnen gefallen an diesem Orte des Friedens und der Ruhe, von dem ich mich von Jahr zu Jahr immer schwerer, selbst nur für kurze Zeit, trenne! Sie werden viel von meinem Oberinspektor lernen können. Er wirtschaftet mir sehr zu Dank – auch ich habe viel von ihm gelernt.“

Er sprach sein Erstaunen aus, daß eine so junge Dame die selbständige Leitung eines großen Besitzes übernommen habe.

„Warum sollte eine Dame nicht leisten, was jeder Mann meines Alters leisten würde?“ meinte sie, ihm fest ins Gesicht blickend. „Wo es sich um den eigenen Besitz handelt, findet sich das Interesse von selbst, und wo Interesse vorhanden ist und guter Wille, allmählich auch das Verständnis. Freilich, Lehrgeld muß jeder zahlen, der Mann, welcher ohne Vorkenntnisse ein Gut übernimmt ebenso wie die Frau; aber ich behaupte ganz entschieden und glaube, den Beweis geliefert zu haben, daß die Frau sich diese Kenntnisse ebensogut aneignen kann.“

„Auf jeden Fall sehr viel leichter als ich,“ gab Wildenberg gutmütig lachend zu. „Denn ich fürchte, ich werde mein Lebtag kein praktischer Landwirt, so gern ich auch möchte.“

„Sie haben, wie ich höre, Naturwissenschaft studiert?“

Es überraschte ihn angenehm, daß sie sich offenbar mit ihm beschäftigt hatte. „Ja, gnädiges Fräulein.“

„Nun, das muß Ihnen doch zugute kommen. Das geht ja so vielfach Hand in Hand – zum Beispiel Landwirtschaft und Chemie. Ich hoffe, Sie sollen mir auf diesem Gebiet manche Aufschlüsse geben. Mir sind in den Handbüchern der Chemie verschiedene Dingo unverständlich geblieben und ich freue mich darauf, einen Fachmann hier zu haben, der mir ein wenig weiterhelfen wird.“

„Sie sollten die leichteren Werke dieser Art studieren, gnädiges Fräulein, die für den Laien bearbeitet sind: Die großen ‚Handbücher‘ sind für Damen doch kaum geschrieben.“

„Und Sie trauen mir nicht genug Fassungskraft zu, um Dinge zu begreifen, die doch einem männlichen Durchschnittsverstand begreiflich sein müssen?“

Seine Höflichkeit rang mit der Wahrheitsliebe einen kurzen Kampf, dann kam es zögernd über seine Lippen: „Im allgemeinen halte ich allerdings das Gehirn des Weibes für von Hause aus nicht so entwickelt, um wissenschaftlich scharf und folgerichtig denken zu können.“

„Ja, das sind so die landläufigen Redensarten, mit denen die Männer kurzweg über die Befähigung der Frauen aburteilen, die ich aber entschieden bestreiten muß. Warum wird den Mädchen denn auf den Schulen nicht Gelegenheit geboten, ihren Verstand, also die Gehirnthätigkeit, durch logisches Denken auszubilden? Glauben Sie mir, nur ein paar Generationen hindurch eine andere geistige Zucht und das Können der Frauen wird auf genau derselben Stufe stehen wie das der Männer!“

„Ob sie aber dabei nicht an Reiz einbüßen?“

„In den Augen der Herren unzweifelhaft, aber was liegt daran! Sie halten mich jedenfalls für sehr unweiblich und mißbilligen meine Art der Auffassung natürlich gründlich; allein ich gestehe Ihnen, daß auch das mich nicht beirrt. Ich trete einfach mit allen Kräften dafür ein, unser Geschlecht mit den Waffen auszurüsten, durch die es zu erfolgreichem Kampf mit dem Leben befähigt wird.“

Wildenberg vergaß, daß er selbst noch vor zwei Stunden dem Oberinspektor gegenüber dieselbe Ansicht verfochten hatte; ihre Art und Weise reizte ihn zum Widerspruch, und so versetzte er in bestimmterem Tone als vorher: „Die Frauen sind nicht zum Kämpfen geschaffen. Es ist eines der schönsten Vorrechte der Männer, die Waffen für sie führen zu dürfen.“

Sie lachte ein wenig bitter. „Glauben Sie etwa im Ernst, daß für die Tausende von armen alleinstehenden ältlichen Geschöpfen, die der körperlichen Reize bar sind, sich auch nur ein Finger rühren würde? Es giebt ja bedeutend mehr Frauen in [547] der Welt als Männer, naturgemäß können da nicht alle in den Hafen der Ehe einlaufen, was wohl nach Ihrer Ansicht das Endziel alles Strebens sein soll – was wird aus den anderen? Wer kämpft für sie? Und wer führt die Waffen für all die Tausende von verheirateten Frauen, die, vor dem Gesetz in dieser Beziehung rechtlos, von ihren natürlichen Beschützern zu Grunde gerichtet werden? – Ah!“ unterbrach sie sich selbst, mit einem tiefen Atemzuge, „wohin gerate ich da! Sie werden sich über meinen leidenschaftlichen Eifer wundern, der in der ersten Viertelstunde unserer Bekanntschaft durchaus unangebracht ist.“

„Gnädige Frau,“ sagte er und stockte – „bitte um Verzeihung – gnädiges Fräulein, ich stimme darin ganz mit Ihnen überein, daß man den Gesichtskreis der Frauen erweitern und ihnen neue Berufsarten erschließen müsse; aber der Himmel bewahre die Welt davor, von gelehrten Damen regiert zu werden.“

„Ich verlange ja auch nur etwas mehr Recht und Schutz für meine Mitschwestern, es liegt mir völlig fern, lauter Gelehrte aus ihnen machen zu wollen. Man soll nur einer Jeden Gelegenheit geben, sich ihrer verschiedenen Begabung nach zu entwickeln und ihr Können zu verwerten. Nun, wir kommen wohl noch öfter auf diesen Gegenstand zurück, denn ich setze voraus, daß dieser Besuch nicht der letzte gewesen ist – obenein galt er nicht einmal uns, sondern dem Garten. Wollen Sie morgen bei uns speisen?“

Er verbeugte sich zustimmend.

„Wir essen ländlicher Gewohnheit gemäß um ein Uhr. Sie finden allerdings nur Damen, außer meiner Tante Ostrau und mir noch meine kleine Pflegetochter, die eigentlich ihr Heim im Pfarrhause hat. Ich würde Sie bitten, jetzt noch bei uns einzutreten, denn wir halten nicht auf städtische Etikette, aber meine Tante liebt es nicht, spät abends in ihrer Ruhe und ihrer Patience gestört zu werden. Auf Wiedersehen also!“

Sie nickte mit dem Kopf zum Zeichen, daß er entlassen sei, und ging durch die Säulenhalle nach dem Gartensaal.

Er fühlte, daß es eine Taktlosigkeit von ihm sein würde, länger im Park zu verweilen, konnte aber doch nicht umhin, einige Sekunden wenigstens noch stehen zu bleiben und der hohen Gestalt nachzublicken. In der Thür, ganz umstrahlt vom rosigen Schimmer des gedämpften Lampenlichtes, wandte sie noch einmal den Kopf nach ihm; er erschrak wie ein ertappter Missethäter und zog sich rasch in den Schatten zurück, um gleich darauf den Heimweg anzutreten.

Das kleine Abenteuer hatte ihn doch so erregt, daß er, in seinem Zimmer angekommen, nicht ans Schlafen dachte, sondern sich ins offene Fenster lehnte und zum Schloß hinüberblickte, in welchem allmählich die Lichter erloschen. Der Ton von Hellas tiefer Stimme zitterte in seinem Innern nach, und lächelnd gestand er sich ein, daß ihr Selbstgefühl das seinige gereizt und verletzt habe. Ihr Wesen war so ganz anders geartet, als er es sonst von Damen gewohnt war, und was ihm bei andern als zu freies Entgegenkommen erschienen wäre, trug bei ihr fast ein wenig das Gepräge der Nichtachtung.

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Autor: Agnes von Klinckowstroem
Titel: Freiheit
aus: Die Gartenlaube 1895, Heft 33, S. 559–563
1. Fortsetzung

[559] Am Tage nach seiner Ankunft wurde Wildenberg früh morgens mit den Vögeln wach und kam vor den Hausgenossen als erster in das Frühstückszimmer. Es gab erstaunte Blicke und mißbilligendes Kopfschütteln, als er dann sein nächtliches Erlebnis berichtete, denn in diesem geordneten regelmäßigen Haushalt war man an dergleichen Sonderlichkeiten nicht gewöhnt und in Sorge, wie die „Gnädige“ die Sache aufnehmen werde. In seiner Unbefangenheit merkte er indes nichts davon und begann mit Eifer seinen Tag auf die zweckmäßigste Weise einzuteilen. Es interessierte ihn, Dampfpflug und Säemaschine in Thätigkeit zu sehen, und er begleitete den Oberinspektor zu diesem Zweck auf die hinter dem Pastoracker gelegenen Felder. Es traf sich dabei, daß der Pfarrer Lewrenz mit seiner kleinen Schar zu einem Morgenspaziergang auszog und bei den Herren stehen blieb, um die Bekanntschaft des Fremden zu machen. Die Kinder sprangen voraus, nur die beiden großen Mädchen, Anna Lewrenz und Lili Wentzel, hielten sich dem Vater zur Seite und boten Wildenberg freundlich die Hand. Dieser erzählte, daß er sie schon gestern abend durch die Hecke bemerkt habe – da wurden die beiden rot und Anna senkte in unbeholfener Verlegenheit den Kopf, während Lili hell auflachte – Wildenberg glaubte, noch nie ein reizenderes Lachen gehört zu haben. Lili war ein zierliches graziöses Geschöpf voller Leben und Bewegung. Das einfache blaue Morgenkleid umschloß knapp die anmutige Gestalt, und wie sie jetzt den häßlichen braunen Strohhut abnahm und ihr weißes Gesichtchen, dessen haselnußfarbene Augen etwas von dem Glanz des Goldtopas besaßen, unbekümmert der Sonne preisgab, spielte der Morgenwind mit den luftigen dunklen Löckchen, die sich liebkosend um Stirn und Nacken schmiegten.

Während Wildenberg sich von dem Geistlichen unterhalten ließ, hörte er zu, wie sie lustig die Neckereien des Oberinspektors beantwortete, und verwünschte seine Unbeholfenheit jungen Mädchen gegenüber, die ihn verhinderte, ebenfalls einen heiteren leichten Ton mit ihnen anzuschlagen. Wie linkisch mußte es Lili erscheinen, daß er kein Wort für sie fand! Ein wenig verstimmt zu Boden blickend, sah er plötzlich zu seinen Füßen ein vierblätteriges Kleeblatt, und rasch sich bückend, pflückte er es und stand nun vor ihr, das kleine grüne Ding unsicher zwischen den Fingern drehend.

„O,“ rief sie unbefangen, „ein Vierklee! Bitte, schenken Sie es mir! Sie wissen ja! daß es dem Finder kein Glück bringt, sondern nur dem, der es geschenkt erhält?“

„Und ich soll ganz leer ausgehen?“ scherzte er.

„Einen schönen Dank sollen Sie haben!“ Sie zog eine flache silberne Kapsel hervor, die sie um den Hals unter dem Kleide trug, und legte das Blättchen hinein. „Da, nun kann mir kein Unheil begegnen! Sie lachen mich wohl aus? Kluge Leute wie Sie sind über dergleichen erhaben, aber ich glaube daran und strecke gern dem Glück eine kleine Handhabe entgegen, an der es sich bei mir, wenn auch nur ganz aus Versehen, festhaken kann.“

„Das Glück müßte doch ganz thöricht sein, wenn es sich von Ihnen nicht willig festhalten ließe. Ich kann Ihnen übrigens noch eine ganze Reihe einschlägiger Mittel nennen.“

„Da bin ich aber begierig! Wenn Sie mir etwa vorschlagen wollen, silberne Pilze oder Schweinchen an der Uhr zu tragen, so muß ich Ihnen sagen, daß sich das in meiner Praxis nicht bewährt hat.“

„O nein, meine Auskunftsmittel sind bedeutend tiefsinniger. Zur Zeit des Neumondes stellen Sie sich so, daß Sie die Mondsichel über die rechte Schulter hinweg erblicken, und sprechen dabei:

‚Eins zwei drei!
Guter Mond, ich bin so frei,
Bitt’ dich, wenn du kehrst zurück,
Bring’ mir mit ein wenig Glück!‘

Nun, Was sagen Sie dazu?“

Sie wiederholte den Spruch, und dann lachten sie beide. Dazwischen hinein erklang ein Zetergeschrei. Das jüngste der Pfarrerskinder war über einen Stein gefallen und hatte sich das Näschen arg zerstoßen. Lili sprang schnell hinzu und hob den kleinen Schreihals auf, ihn mit scherzhaften Worten beruhigend. Wie sie das Kind, welches schluchzend das blonde Köpfchen an ihre Schulter barg, sorglich in den Armen hielt, bot sie ein überaus liebliches Bild.

Die Unterbrechung gab Veranlassung zum Aufbruch für die Spaziergänger, und Wildenberg hatte nur noch Zeit, dem jungen Mädchen zuzurufen: „Auf Wiedersehen bei Tisch!“ Sie hatte aber offenbar noch keine Aufforderung vom Schloß erhalten und schüttelte verwundert den Kopf.

Es war ihm ganz froh und leicht zu Sinn und der Pflichtenkreis, der für den Vormittag noch vor ihm lag, dünkte ihn eher ein Vergnügen als eine Arbeit. Mit Spannung sah er der Mittagsstunde entgegen.

Lili war schon da, als er um ein Uhr ins Schloß hinüberkam, wenigstens sah er ihren Hut auf dem Vorplatz hängen. Aber als ihm der Diener die Thür zum Gartensaal öffnete, der als allgemeiner Empfangs- und Wohnraum diente, sah er nur die stolze Gestalt der Hausherrin, die in der Mitte des Gemachs stand und ihm entgegenblickte. Heute, in dem weichen dunkelgeblümten Foulardkleide, ein zartes Rot auf den Wangen, in den blauen Augen einen freundlichen Ausdruck, erschien sie ihm weniger statuenhaft und unnahbar, dafür aber weiblicher als gestern abend im Mondschein. Ihre ganze Umgebung stand mit ihr in Einklang. Da war nichts Häßliches oder Kleinliches; jedes Stück der Einrichtung, deren sanfte Farben mit dem dunklen Ton der Wände und dem weißen Stuck der Decke zusammenstimmten, war mit gefälligem Geschmack geordnet.

„Ich freue mich, daß Sie zu den pünktlichen Menschen gehören,“ sagte sie, ihm die weiße kräftige Hand reichend. „Willkommen! Darf ich Sie zunächst meiner Tante Lina vorstellen, und hier, meiner Lili, Fräulein von Wentzel!“

Jetzt erst wurde er die anderen gewahr, die ältliche Dame mit dem guten sanften Gesicht und das junge Mädchen im weißen Waschkleidchen; die beiden erschienen ihm aber für den Augenblick nur wie eine nebensächliche Staffage, so vollständig erlosch die ganze Umgebung in Gegenwart von Hellas imponierender Erscheinung.

„Das sind meine Lieben alle!“ fuhr die Schloßherrin fort, die beiden heiter umfassend. „Und man wird uns das Zeugnis geben, daß wir ein verträgliches Kleeblatt sind, dessen Eintracht bisher noch durch nichts gestört wurde.“

Gleich darauf ging man zu Tisch und Wildenberg erhielt seinen Platz zwischen Hella und Lili. Das Gespräch war lebhaft und angeregt und bewegte sich zumeist um Politik und Nationalökonomie, auf welchen Gebieten Fräulein von Ostrau sich vollständig sattelfest fühlte. Sie hatte die Rede sehr in ihrer Gewalt und verstand, fesselnd und glänzend zu sprechen; Wildenberg hatte Mühe, sich neben ihr zu behaupten und seine Ansichten, welche von den ihrigen abwichen, durchzufechten. Er aß nur wenig und zerstreut, wußte kaum, was ihm gereicht wurde, und war einzig erfüllt von dem Bestreben, sich dieser bedeutenden Frau gegenüber keine Blöße zu geben. Ihre Wangen röteten sich bei dem Gefecht, das sich so entspann, es kam Leben und Bewegung in das streng geschnittene Gesicht, offenbar gewährte es ihr Vergnügen, vielleicht zum erstenmal seit langer Zeit einen Gegner zu haben, der ihr nicht nur ebenbürtig, sondern in vielen Dingen überlegen war. „Genug!“ rief sie endlich lachend. „Lassen Sie uns Waffenstillstand schließen! Sie sehen, meine Tante und Lili sind bereits gänzlich verstummt.“

Es fiel ihm das jetzt erst auf – er hatte gar nicht mehr an die beiden andern gedacht und wandte sich ihnen nun mit einer höflichen Entschuldigung zu. Lili schälte gerade einen Apfel, [560] und es war hübsch, ihren schlanken weißen Fingerchen dabei zuzusehen. Als Wildenberg sie jetzt fragte, warum sie so schweigsam sei, hob sie die braunen Augen lächelnd zu ihm empor und antwortete neckend mit einem klassischen Citat: „Ich freue mich, wenn kluge Männer sprechen, daß ich verstehen kann, wie sie es meinen.“

„Bravo, Kleine!“ rief Hella; ihm aber wurde ganz warm ums Herz, denn er fühlte instinktiv, daß seine kleine Nachbarin zur Linken für ihn Partei nahm. Das gab ihm die wohlige Empfindung einer heimlichen Zusammengehörigkeit.

Man trank den Kaffee nach Tisch im Gartensaal, dessen Glasthüren geöffnet waren, und hatte Wildenberg vorher alles andere neben der königlichen Gestalt der blonden Hausherrin übersehen, so konnte er jetzt kaum die Blicke von dem jungen Mädchen wenden, das wie ein lebendiger Sonnenstrahl durch das Zimmer glitt, Tassen, Zucker und Sahne geschäftig hin und her tragend. Frau von Ostrau hatte sich mit einer Häkelarbeit in ihre Sofaecke zurückgezogen und zeigte nicht übel Lust, sich hier an diesem ungestörten Plätzchen ein verstohlenes Nachmittagsschläfchen zu gönnen.

Hella nahm auf einem Bambussessel unweit der offenen Thür Platz und winkte dem Gast, sich neben sie zu setzen. „Du könntest wohl etwas Musik machen!“ rief sie Lili zu.

„Gewiß, Tante Hella!“ gab das Mädchen bereitwillig zur Antwort und eilte zum Notenschränkchen.

„Nun, was sagen Sie zu meinem Pflegetöchterchen?“ fragte Hella halblaut, sich zu Wildenberg wendend.

„Sie ist ein gottbegnadetes Menschenkind!“ gab er begeistert zurück, obgleich er für dieses Urtheil nichts anderes hätte in die Wagschale werfen können, als daß sie ihm über die Maßen gefiel.

Sie dankte ihm mit einem warmen Blick. „So sind auch Sie dem Zauber der Kleinen verfallen, dem sich niemand entzieht? Mir ist sie förmlich ins Herz gewachsen – wenn sie meine Schwester wäre, könnte sie mir nicht lieber sein. Habe ich sie mir doch mühsam erkämpft und beinahe mit Gewalt ihren Eltern genommen, die im Begriff waren, das junge Geschöpf völlig zu verderben. Ich hoffe, das Kind bald auf eigene Füße zu stellen und seinen Platz in der Welt ausfüllen zu sehen.“

„Und was haben Sie sich als Beruf für die junge Dame gedacht?“

„Hören Sie Lili nur erst singen und Sie werden nicht mehr nach ihrem künftigen Beruf fragen. Ich beabsichtige, sie im Winter unter dem Schutz der Schwägerin unseres Pastors nach Berlin zu schicken, damit sie dort die Hochschule für Musik besucht und ihr Talent in jeder Richtung ausbildet. Sie hat es dann in der Hand, neben ihrem Auftreten als Konzertsängerin zugleich Gesangsunterricht zu erteilen und sich in irgend einer großen Stadt niederzulassen.“

„So jung schon auf eigenen Füßen?“ entfuhr es ihm. „Verzeihen Sie, gnädiges Fräulein, aber haben Sie überlegt, welche Gefahr darin liegt?“

„Zunächst hat es wohl noch einige Jahre Zeit, bis diese Selbständigkeit für Lili beginnen kann. Dann aber glaube ich, daß sie durch die Erziehung, welche sie hier erhalten hat, genügend gefestigt sein wird, um ohne Gefahr ihren eigenen Weg gehen zu können. Natürlich werde ich stets dafür sorgen, daß sie Anschluß an zuverlässige Menschen findet.“

„Ich bitte um Vergebung, aber nach meiner Ansicht gehört ein so junges Wesen doch in die Familie.“

„Ja, wenn sie eine hat!“ warf sie dazwischen. „Aber ich habe das Gefühl völliger Unfähigkeit, selbst für seine Existenz zu sorgen, in meinem eigenen Leben zu bitter empfunden, um nicht jede, die mir nahe steht, vor diesem Gefühl bewahren zu wollen.“ Er verstand sie nicht, sie sah es seinem Gesicht an. „Ja, meinen Sie denn, ich hätte immer im Ueberfluß gelebt wie jetzt?“ fuhr sie rasch fort. „Freilich, in meiner Kinderzeit wurde ich an Luxus gewöhnt; meine Mutter hatte ihrem Gatten, der selbst nichts besaß, ein bedeutendes Vermögen in Grundbesitz mit in die Ehe gebracht. Mein Vater übernahm wie etwas Selbstverständliches die Bewirtschaftung des Gutes, trotzdem er nichts davon verstand und meine Eltern nicht in Gütergemeinschaft lebten. Natürlich ging die Sache nicht. Von Jahr zu Jahr wurden die Einnahmen kleiner, die Ausgaben größer, man war es ja dem Namen schuldig, auf großem Fuß zu leben, von Jahr zu Jahr bewog mein Vater seine Frau, ihre Zustimmung zur Aufnahme neuer Hypotheken zu geben, die zu immer höherem Zinsfuß auf ihren Besitz eingetragen wurden. Endlich wurde selbst ihr argloses Gemüt stutzig; sie verstand zwar nichts von geschäftlichen Dingen, da man sie ja von jeher in vollständiger Unkenntnis darüber gelassen hatte, aber die unaufhörlichen Unterschriften, die von ihr verlangt wurden, fielen ihr doch auf, und sie bat wiederholt um Aufklärung über den Stand ihrer Angelegenheiten. Endlich erfuhr sie durch einen Zufall, daß ihr Vermögen nahezu verbraucht war, daß nur noch ein günstiger Verkauf eine kleine Summe für sie retten könnte. Aber von diesem Ausweg wollte mein Vater nichts wissen, er lachte meine Mutter aus und versprach ihr, beizeiten schon einen besseren Ausweg zu zeigen. Sie wollte sich aber nicht dabei beruhigen, dachte auch an mich und meine Zukunft und bestand auf dem Verkauf. Er verweigerte seine Zustimmung. Sie wandte sich mit der Bitte um Rat und Beistand an Freunde und Verwandte – man zuckte die Achseln, niemand wollte sich einmischen. Sie hatte ja in der Person ihres Mannes ihren Vormund und Vertreter. Es fanden sich zahlungsfähige Käufer, aber meine Mutter war nicht imstande, den Verkauf abzuschließen, weil ihr Gatte seine Zustimmung verweigerte und ihre Unterschrift allein unter einem Vertrag, der ihr eigenes Hab und Gut betraf, keine Gültigkeit besaß.

Nun, Sie können sich wohl vorstellen, daß mein Vater den versprochenen Ausweg nicht fand. Schlechte Zeiten kamen dazu, Zeiten, in denen die Einnahmen nicht mehr die Zinsen deckten und als ich siebzehn Jahre alt war, trat der vollständige Zusammenbruch unserer Verhältnisse ein. Onkel Gotthardt, der Besitzer von Strehlen, ein Bruder meiner Mutter, erbot sich sofort, sie und mich hierher zu nehmen und dem Vater ein Jahrgeld zu zahlen. Aber die Art, in der dies Anerbieten geschah, verletzte sein noch immer sehr reges Selbstgefühl, er lehnte rundweg ab mit dem Bemerken, er werde schon selbst für seine Familie sorgen. Ich denke mit tiefem Grauen an die zwei Jahre zurück, welche nun folgten. Von Ort zu Ort gezerrt, von einer Enttäuschung zur andern, täglich mit Sorgen und Entbehrungen kämpfend, unter der steten Mißstimmung meines Vaters leidend, führten wir ein trauriges Dasein, um so trauriger, als ich meine gänzliche Unfähigkeit erkannte, auch nur das Geringste selbst zu erwerben, da nach keiner Richtung hin irgend eine meiner Fertigkeiten gründlich ausgebildet war. Dieses Bewußtsein einer vollständigen Unzulänglichkeit des eigenen Könnens war das Härteste, was ich zu ertragen hatte, und wenn mein Charakter sich seitdem vielleicht etwas zu energisch entwickelt hat und Schärfen und Ecken aufweist, die nicht mit den landläufigen Begriffen von Weiblichkeit zusammenstimmen mögen, so tragen daran meine damaligen Erfahrungen die Schuld. – Auf einer seiner Reisen als Beamter einer Feuerversicherungsgesellschaft verunglückte mein Vater und starb kurze Zeit darauf an den Folgen einer inneren Verletzung. Wenige Wochen später siedelten meine Mutter und ich hierher nach Strehlen über. Was ich seitdem geworden bin, verdanke ich dem edeln Mann, der uns eine Heimat bot und mich geistig zu sich emporzog, mich selbständig machte in jedem Sinn. Sie werden es sich jetzt vorstellen können, daß ich es als meine Aufgabe betrachte, meinen Mitschwestern soviel als möglich die helfende Hand zu reichen und unermüdlich zu kämpfen für die vernünftige Entwicklung der Frauenrechte.“

Trotz der Nüchternheit und Knappheit ihrer Ausdrucksweise hatten sich ihre Wangen lebhaft gefärbt und aus den blauen Augen strahlte ein Ausdruck beinahe fanatischen Eifers. Sie hatte wohl gar nicht beabsichtigt, so weit in ihren Eröffnungen zu gehen, und war mehr gegen ihren Willen von dem Thema und der Bitterkeit, welche diese Erinnerungen in ihr erregten, fortgerissen worden. Der Blick, den sie ihrem Zuhörer in ihr Leben und Denken thun ließ, hatte diesen mit einem träumerischen Zauber umsponnen, und als sie jetzt schwieg, blieb es einen Augenblick so still im Gemach, daß man die Fliegen an den Fensterscheiben summen hörte. Plötzlich kam durch die Stille vom Klavier her ein süßer Klang. Lilis Stimme erhob sich in jubelnden Tönen und zerriß mit einem Schlage den Bann, der ihn umfangen hielt. Er war ein leidenschaftlicher Freund und gründlicher Kenner der Musik und erkannte sofort, daß diese Stimme, die bis jetzt freilich noch wenig geschult war, in der That alle Erfordernisse besaß, der Eigentümerin eines Tages eine glänzende Stellung zu sichern. Unwillkürlich stand er auf und ging zu ihr hinüber.

Lili war Evastochter genug, um die offenbare Huldigung, die in seinen Augen lag, zu verstehen, und lächelte ihm nicht ohne einen Anflug von Koketterie zu. Die Töne quollen ihr so mühelos und leicht aus der Kehle wie einem Vogel, und sie fand vollauf Zeit, sich daneben mit Wildenberg zu beschäftigen, der mit verschränkten Armen in ihrer Nähe stand und entzückt lauschte.

[562] „Genug!“ sagte Hella ruhig, als das Lied zu Ende war und Lili sich anschickte, auf Wildenbergs Bitte hin ein zweites zu singen. „Tante Lina will schlafen. Es ist besser, wir heben die Musik für ein andermal auf.“

„Meinetwegen musiziert nur ruhig weiter!“ ließ sich die freundliche alte Stimme vom Sofa her vernehmen „Ich bin’s gewohnt.“

„Nein!“ wiederholte Hella mit Bestimmtheit. „Es ist mir lieber, wenn Lili nicht weiter singt.“

Das Mädchen fügte sich mit derselben freundlichen Bereitwilligkeit, mit der es vorhin ans Klavier gegangen war, aber Wildenberg empfand eine leise Verstimmung, auf so unbegründete Weise um den erwarteten Genuß gebracht zu sein und da der Nachmittag mittlerweile schon vorgeschritten war, so empfahl er sich bald darauf.

*               *
*

Eine Woche verging, ohne daß sich die Einladung aus dem Schloß wiederholt hätte, und es schien, als sollte es vorläufig bei jener ersten sein Bewenden haben. Wildenberg hatte inzwischen auch an Pfarrhause seinen Besuch gemacht und war samt dem Oberinspektor zu einem Pastorenkränzchen gebeten worden, bei dem aber Anna Lewrenz allein ihres Amtes am Theetisch waltete und Lili unsichtbar blieb. Dann nahmen wirtschaftliche Interessen seine Zeit vollauf in Anspruch, so daß er keine Muße fand, der herzlichen Aufforderung des Pfarrers folgend, seinen Besuch zu wiederholen. Er hatte seine Pferde nachkommen lassen und ritt viel in Feld und Wald umher. Bei einem dieser Ritte war es, daß er Hella begegnete, die gleichfalls zu Pferde die Schneidemühle am Fluß besucht hatte. Sie wandte ruhig ihre Fuchsstute und ritt an seiner Seite weiter, ohne irgendwie merken zu lassen, ob sie sich freue, ihn zu sehen oder nicht. Sie schickte nur den Reitknecht heim und schlug vor, den Rückweg über das etwas abseits liegende Forsthaus anzutreten, wo sie den Förster zu sprechen wünsche. Seine Begleitung wurde also von vornherein als etwas Selbstverständliches angenommen.

Wildenberg beobachtete von der Seite ihren tadellosen Sitz, und sein Herz klopfte schneller beim Anblick der schlanken blonden Frau, mit der er so allein durch den stillen harzig duftenden Kiefernwald dahinritt. Sie gab sich ungezwungen, war liebenswürdig und heiter, wie er sie bisher noch nicht gesehen hatte, während sie auf mosigen Wegen, die den Hufschlag dämpften, dahinsprengten, aber in ihrer ganzen Art und Weise lag doch immer etwas, was ihn an die gesellschaftliche Kluft zwischen ihnen erinnerte, die sie respektiert zu haben wünschte. Endlich parierte sie ihr Pferd und zwang es, im Schritt neben dem seinigen zu gehen.

„Sie haben mir noch gar nicht von Ihrer Heimat gesprochen,“ sagte sie. „Wo leben Sie und wie? Nachdem ich Ihnen letzthin so offen meine Verhältnisse erzählt habe, darf ich wohl von Ihnen ein Gleiches erwarten, damit ich mir ein ungefähres Bild von Ihnen machen kann. Sie müssen das nicht als müßige Neugier auslegen. Hier auf dem Lande geht man nicht so gleichgültig an den Menschen vorüber wie in der Stadt.“

Ihm ging bei der Frage das Herz auf und er berichtete von dem alten traulichen Hause, dessen weinumrankte Fenster auf die Elbe hinaus sahen, von den dunkelgetäfelten Zimmern mit dem altmodischen Hausrat und den breiten grünen Kachelöfen. Er besaß eine hübsche anschauliche Art zu beschreiben, die das Kleinste mit einem Hauch von Poesie zu umgeben wußte. Hella meinte, die behaglichen Räume, denen der Geist des Besitzers seinen Stempel aufgedrückt hatte, deutlich vor sich zu sehen: an den Wänden in schwarzem Rahmen englische Kupferstiche aus dem vorigen Jahrhundert, in den Schränken Bücher, deren Zusammenstellung eine ausgesprochene Vorliebe für die Romantiker der alten Schule verriet, hochlehnige bequeme Armstühle, lauttickende schwarzwälder Uhren, dunkle Teppiche und durch alles hindurchgehend ein gewisser genialer Zug von Unordnung und ein leiser Duft von türkischem Tabak. Dann schilderte er den Garten, der, ein wenig verwildert, durchaus einer ordnenden Hand bedürfe, und ging endlich nicht ohne Humor auf seine verfehlten landwirtschaftlichen Versuche über, auf die Beziehungen zu den Nachbarn und seine Erfahrungen dabei.

Das Leben, wie er es beschrieb, war durchaus anders als das ihrige und gab zugleich von dem ganzen Menschen ein so klares und liebenswürdiges Bild, daß Hella völlig davon gefesselt wurde. So ritten sie an dem Forsthause vorüber, ohne daß eines von ihnen dessen gewahr geworden wäre.

„Demnach sind Sie die große Partie Ihrer Gegend?“ fragte sie mit gutmütigem Spott, als Wildenberg endlich lachend rief, daß er von sich nun nichts mehr zu erzählen wisse.

Sein Erstaunen war ganz ungekünstelt. „Ich habe wirklich noch nie darüber nachgedacht.“

„Und man hat Ihnen auch noch nie den Gedanken nahegelegt? Dann müssen die Mütter in Ihrer Gegend anders geartet sein als bei uns. Haben Sie auch noch nie daran gedacht, diesem Junggesellenheim, das Sie mir so anschaulich schilderten, eine Herrin zu geben?“

„O gewiß, das schon! Aber ich warte den richtigen Zeitpunkt ab.“

„Wie meinen Sie das?“

„Den Angenblick, in dem mein Herz ganz unzweideutig sprechen wird: diese oder keine!“

„Das wird schwer festzustellen sein. Die eine wird von den Eigenschaften, welche Sie hochschätzen, diese besitzen, die andere jene, und über dem Abwägen und Ueberlegen werden Ihnen Zweifel kommen, welche die rechte ist.“

„Sie leugnen also die Allgewalt der Liebe, die über jeden Zweifel hinwegträgt?“

„Ja.“

Er sah sie erstaunt an. „Ich mei ne, gerade die Frauen müßten vor allem daran glauben.“

„Ihnen gelten demnach ‚vor allem‘ die Frauen als Wesen, die nach Liebe schmachten müssen? Der Gedanke ist Ihnen wohl noch gar nicht gekommen, daß eine Frau auch ohne eine andere als die rein menschliche Liebe zum Nächsten durchs Leben gehen könne?“

„Ich gestatte mir, an dieser Thatsache zu zweifeln, die Neigung zum Mann ist dem Weibe als Naturtrieb ins Herz gelegt, und wenn es auch gewiß Frauen giebt, die diesen Trieb unterdrücken und dann ob des siegreich bestandenen Kampfes triumphieren, so werden doch auch sie im geheimen die Einsamkeit ihres Lebens oft genug beklagen und es bitter bereuen, den rechten Augenblick des Glücks ungenutzt versäumt zu haben. Die Liebe ist das eigentliche Reich der Frau und rächt sich an der, die sich selbst daraus verbannt.“

Sie lachte kühl und gelassen. „Vielleicht bin ich dann anders geartet als meine Mitschwestern – eine geistige Mißbildung, wenn Sie wollen, denn ich muß bekennen, daß es mich bisher nicht einmal einen Kampf gekostet hat, einsam zu bleiben. Ich schätze meine Freiheit viel zu sehr. Uebrigens werden wir uns über diesen Gegenstand wohl nie vereinigen.“ Mit diesen Worten setzte sie ihr Pferd in Galopp und schweigend erreichten sie den Gutshof.

Trotzdem dieser erste Spazierritt auf diese Weise mit einem Mißton geendigt hatte, trafen Wildenberg und Hella öfters zu Pferde zusammen, ob zufällig, ob von seiner Seite absichtlich, blieb dahingestellt. Jedenfalls duldete die Schloßherrin seine Begleitung und wartete sogar zuweilen auf ihn, wenn er sich verspätete. Er unterhielt sie angenehm, obgleich sie gewöhnlich anderer Ansicht war. Sie hatte bisher niemand gehabt, mit dem sie so sprechen konnte und der doch nie die Grenzen überschritt, die sie eingehalten wünschte. Ab und zu stellte sie daher nach diesen Spazierritten zu zweien noch die Aufforderung an ihn, den Abend im Schloß zu verbringen, Wildenberg hatte die Gewohnheit angenommen, den Damen bei solchen Gelegenheiten vorzulesen. Auch Lili war dann gewöhnlich dabei, und die Notwendigkeit, die Wahl der Bücher, die ihm überlassen blieb, mit Rücksicht auf die Zuhörerschaft eines jungen Mädchens zu treffen ließ seine Gedanken mehr als geboten war, bei ihr verweilen. Er liebte es, aufblickend, ihre sanften Augen auf sich gerichtet zu sehen und den Ausdruck naiven gespannten Anteils in ihnen zu lesen. Unwillkürlich nahm seine Stimme dann einen weicheren wärmeren Klang an, als lese er nur für sie allein. Wenn aber Hella ihn mit einer Frage unterbrach, die bewies, wie genau sie gefolgt war, und ihm Veranlassung zu lebhaftem Meinungsaustausch gab, so regte das seine Nerven prickelnd auf. Er wurde nicht müde, heimlich immer wieder die beiden Köpfe zu betrachten, die sich ihm gegenüber über die Handarbeit neigten, von denen jeder in seiner Art vollkommen schien, der blonde in seiner strengen klassischen Regelmäßigkeit, der dunkle in der lieblichen Jugendfrische und Kindlichkeit.

Wie die Zeit verging, trat der eigentliche Zweck seines Hierseins für ihn allmählich in den Hintergrund, und diese stillen Leseabende im Schloß wurden immer mehr der Mittelpunkt seines ganzen Denkens. Er hätte selbst nicht zu sagen gewußt, wer der Magnet sei, der ihn festhalte. Fehlte Lili einmal, so war er unruhig und zerstreut und meinte, den Abend ohne sie nicht überstehen zu können; die Sehnsucht nach ihrem frohen Gesichtchen wurde [563] dann bisweilen so groß, daß er den ersten besten Vorwand zu frühem Aufbruch benutzte und noch für einen Augenblick nach dem Pfarrhause hinüberlief, um womöglich ein paar Worte von ihr zu erhaschen, wenn auch oft nichts weiter als einen Gutenachtgruß zum Fenster heraus. Wurde aber Hella, was hie und da geschah, zu geschäftlicher Beratung mit einem der Beamten abgerufen, so schien ihm der eigentliche Mittelpunkt des kleinen Kreises zu fehlen. Er gestand sich dann heimlich, daß die stolze Herrin des Schlosses mehr und mehr Einfluß auf ihn gewinne, er fragte sich, wohin das führen werde, ohne eine Antwort darauf geben zu können, ja ohne es zu wollen. Mit seiner Abreise im Spätherbst mußte ja ohnehin alles ein Ende haben, bis dahin wollte er mit geschlossenen Augen die glückliche Zeit genießen.

Eine Störung dieses traulichen Verkehrs durch unwillkommene Gäste gehörte zu den Seltenheiten, denn der Umgang mit der Nachbarschaft war kein sehr reger und beschränkte sich auf vereinzelte große Feste. Um so unangenehmer überraschte es ihn, als Hella eines Abends die für den nächsten Tag bevorstehende Ankunft ihrer Cousine, der Gräfin Lenzen, ankündigte, die einige Zeit in Strehlen zu verweilen gedenke. „Mit unseren Leseabenden wird es da wohl für die nächsten Wochen vorbei sein,“ fügte sie hinzu, ohne daß er bemerken konnte, ob sie es bedaure oder nicht. „Die Gräfin ist eine Frau der großen Welt und interessiert sich nicht sonderlich für Litteratur. Aber es wird sie interessieren, Sie selbst kennenzulernen.“

Er verbeugte sich schweigend, die Gräfin innerlich dorthin wünschend, wo der Pfeffer wächst.

Textdaten
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Autor: Agnes von Klinckowstroem
Titel: Freiheit
aus: Die Gartenlaube 1895, Heft 34, S. 576–579
2. Fortsetzung

[576] Da die Ankunft des Gastes erst gegen Abend des nächsten Tages erwartet wurde, so ließ Hella sich nicht abhalten, am andern Morgen um die gewohnte Zeit zu Pferde zu steigen, und auf der Wiese an der nächsten Waldecke stieß Wildenberg, der hier die Mäher beaufsichtigte, zu ihr.

„Voraussichtlich für längere Zeit zum letztenmal!“ konnte er sich nicht enthalten, mit einem unsicheren Seitenblick zu sagen.

„Warum?“ entgegnete sie ruhig. „Ich bin nicht gesonnen, mich durch die Ankunft meiner Cousine in meinen Gewohnheiten stören zu lassen.“

Ihm stieg das Blut ins Gesicht, obgleich weder in ihrem Ton noch in ihrem Blick etwas lag, das er sich hätte zu seinen Gunsten auslegen können. Sie ritten langsam nebeneinander auf dem Wege hin, der zur Landstraße führte, und waren im Begriff, diese zu kreuzen, als ein Wagen, der rasch daherkam, ihre Aufmerksamkeit fesselte. Ein roter Sonnenschirm, eine Hand im gelben dänischen Handschuh, die ein Taschentuch schwenkte, alles das winkte ihnen aus dem Gefährt energisch und lebhaft entgegen. Gleich darauf hielt dasselbe und die darin sitzende Dame rief lachend: „Da bin ich! Du hast mich vermutlich nicht so früh erwartet, aber ich wollte Dich überraschen, ehe Du äußerlich und innerlich bei Dir aufgeräumt haben würdest. Solche Ueberraschungen verhelfen meist zu den amüsantesten Entdeckungen. Nun, Du scheinst, Deinem Gesicht nach zu urteilen, keinen Geschmack daran zu finden?“

„In der That, nein!“ bekannte Hella trocken. „Du beraubst mich des Vergnügens, Dich an der Schwelle meines Hauses begrüßen zu können. Wo kommst Du denn her, Lotti? Ich meinte, Du würdest mit dem Nachmittagszuge eintreffen.“

„War auch meine Absicht, aber inkonsequent wie immer, ließ ich mich von Herrwings, die ja Eure nächsten Nachbarn sind, überreden, in ihrer Gesellschaft mit einem früheren Zug zu fahren, wogegen Herr von Herrwing versprach, mich in seinem Wagen zu Euch zu schicken.“

„So fahre nur zu! Tante Lina wird Dich mit offenen Armen empfangen, und da ich nicht auf der Landstraße hinter Dir herklappern kann, so will ich versuchen, auf anderem Wege doch noch vor Dir zu Hause zu sein.“ Sie wandte ihr Pferd und jagte querfeldein, gefolgt von Wildenberg, während Gräfin Lenzen die langstielige Lorgnette an die Augen hob und ihnen mit Interesse nachblickte.

Als der Wagen auf der Rampe des Schlosses hielt, wurde Hellas dampfendes Pferd bereits in den Stall geführt; sie selbst stand mit geröteten Wangen und lächelnden Lippen unter der Thür und sah jugendlicher und mädchenhafter denn sonst aus. Sie liebte diese Verwandte, die, um mehrere Jahre älter als sie, ihr trotz der Verschiedenheit der Charaktere stets die herzlichste Freundschaft bewiesen hatte, und umarmte sie jetzt mit einer Wärme, die bei ihr ganz ungewöhnlich war.

„Und wo hast Du Mann und Kinder gelassen?“ fragte sie, als sie mit der Gräfin allein am Theetisch unter der Säulenhalle saß. „Ich hätte mich gefreut, wenn sie Dich begleitet hätten.“

„Welche Idee, mein liebes Kind! Nein, man muß den Gedanken gar nicht in ihnen aufkommen lassen, daß der Mensch ein Herdentier ist und nicht allein sein kann. Ich gewöhnte sie von vornherein an Selbständigkeit und rate Dir, wenn Du Dich verheiratest, ein Gleiches zu thun. Du glaubst nicht, wie viel Unbequemlichkeiten man sich damit erspart. Apropos ‚heiraten‘! Wie ist es denn, mein Schatz? Wann werde ich zu Deiner Hochzeit eingeladen?“

„Du weißt, daß ich nicht heiraten will.“

„Ah bah! Worte, Worte! Das sagen die meisten Mädel! Du hast Dich freilich lange genug besonnen, und in Deiner bevorzugten Lage finde ich das begreiflich; die Freier aus hiesiger Gegend mögen auch wohl nicht allzu verführerisch sein. Aber endlich mußt Du Deine Wahl treffen, denn Du kannst doch nicht im Ernst daran denken wollen, eine alte Jungfer zu werden.“

„Ich habe Dir meine Ansichten hierüber mehr als einmal auseinandergesetzt. Nach den Erfahrungen, die ich von der Ehe meiner Eltern empfangen habe, bin ich zu der Ansicht gekommen, daß es besser ist, sich die Selbständigkeit zu wahren. Ich bin nicht blind durch die Welt gelaufen und habe auch andere Ehen gesehen, habe gesehen, wie die Frauen sich durch ihr Jawort rechtlos und blindlings in die Hand eines ihnen unbekannten Mannes gaben – denn wer hat wohl je seinen Mann vor der Ehe kennengelernt?“

„Na, das ist denn doch ein bißchen stark aufgetragen! Aber sei dem, wie ihm wolle – das Ungewisse hat auch seinen Reiz, und wie ich Dir schon sagte, ich liebe die Ueberraschungen, selbst solche, die man sich gegenseitig in der Ehe bereitet. Das läßt keine Langeweile aufkommen. Uebrigens stellst Du Dir die Sache schlimmer vor, als sie in Wahrheit ist. Eine kluge Frau hat hundert Mittel, ihrem Mann einen leichten Zügel anzulegen und, wenn er dann noch nicht lenksam ist, eine Kandare, bis man ihn weich in der Hand hat.“

„Deine Mühe ist vergeblich, gute Lotti, ich handle nach einem wohlbedachten Grundsatz.“

Lotti warf sich in ihren Stuhl zurück und lachte, bis ihr die Thränen in die Augen traten. „Geh mir doch! Eine Frau, die Grundsätze hat und nach ihnen handelt! Es giebt überhaupt keine konsequente Frau, und so gebe ich doch die Hoffnung nicht auf, Dich schließlich mit Pauken und Trompeten die Segel streichen zu sehen, sobald der Rechte kommt. Sei doch nicht närrisch, Hella! Wir Verheirateten haben ja zehnmal mehr Freiheiten in der Welt als die Mädchen. Wir müssen es nur verstehen, uns dieselben zu wahren.“

„So? Sieh Dir das Leben einmal an, das ich führe! Was fehlt mir denn, um glücklich zu sein?“

„Die Liebe.“

„Das ist kein Faktor, mit dem ich rechne.“

„Der sich aber doch früher oder später in Deine Berechnungen eindrängen wird, und je später dies geschieht, um so schlimmer für Dich. Als ich Dich vorhin an der Landstraße draußen zuerst sah, glaubte ich schon, dieser Zeitpunkt sei gekommen. Du hast Dich sehr zu Deinem Vorteil verändert, siehst beinahe um fünf Jahre jünger aus als vor einigen Monaten. Deine Augen haben einen Glanz und Deine Wangen eine Farbe, die sie sonst nicht gehabt haben. Gestehe, Schatz, – wer ist es, der diese Veränderung bei Dir bewirkt hat?“

Hella lachte. „Wie Ihr klugen Frauen der großen Welt Euch doch zuweilen in Eure Ideen verrennen könnt! In Eurem Leben spielt das, was Ihr unter Liebe versteht, eine solche Rolle, daß Ihr Euch gar nicht denken könnt, daß auch frische Luft und gesunde Bewegung Veränderungen hervorbringen, die Ihr nur dem Gefühlsleben zuschreibt. Außerdem – schau Dich doch in unserm nachbarlichen Kreise nach einem Gegenstand um, der imstande wäre, irgend ein beglückendes Gefühl zu erwecken!“

Die Gräfin zog, ohne hierauf zu antworten, ihre Cigarettendose hervor und steckte eine Cigarette in Brand, den Rauch in großen Wolken durch die Lippen paffend. Sie war keine hübsche Frau; stark in die Breite gegangen, gab sie sich nicht mehr die Mühe, durch irgend einen Toilettenaufwand ihre schwindenden [578] Reize zu heben, sondern trug der Bequemlichkeit größere Rechnung als der Schönheit. Das leicht ergrauende Haar umrahmte ein lebhaft gefärbtes rundes Gesicht mit einer Stumpfnase und hellen lebensfreudigen klugen Augen. Man faßte rasch ein Herz zu ihr, denn es lag trotz einer gewissen Verschlagenheit viel Freundlichkeit und Güte in ihren Zügen, und ihr Lachen war volltönend und herzlich.

„Wer war der junge Mann, in dessen Gesellschaft ich Dir vorhin begegnete?“ fragte sie plötzlich unvermittelt, ihrer Verwandten voll ins Gesicht blickend.

Hella fühlte, daß sie unter diesem Blick errötete – sie hätte selbst nicht zu sagen vermocht, weshalb – und ärgerte sich darüber. „Ein Herr, der für einige Zeit zu meinem Oberinspektor gekommen ist, um die Wirtschaft hier kennenzulernen,“ versetzte sie kurz.

„So so! Weißt Du, daß er mir gut gefällt? Ich denke doch, Du wirst ihn mir während meines hiesigen Aufenthalts vorführen.“

„Er wird Dich nicht interessieren. Er ist kein Mann der großen Welt.“

„Um so mehr wünsche ich, seine Bekanntschaft zu machen. Es ist erfrischend, sich auch einmal Menschen aus einer andern Luft anzuschauen. Nichts liegt mir ferner als der einfältige Kastengeist, der sich hochmütig gegen jede frische Strömung abschließt. Es hat nicht viel gefehlt, so hätte ich in meinem achtzehnten Jahre statt des guten Lenzen einen höchst anziehenden Doktor der Philosophie geheiratet, in den ich mich sterblich verliebt hatte. – Du findest das wahrscheinlich unbegreiflich,“ fügte sie mit einem schlauen Seitenblick hinzu.

„In Deinem Fall allerdiugs, da Deine natürlichen Neigungen in einer ganz anderen Richtung lagen.“

„Ich fragte aber, um Deine eigene innerste Herzensmeinung über diesen Punkt zu hören.“

„Was das Verlieben anbetrifft, so apreche ich davon wie der Blinde von der Farbe. Im übrigen sehe ich nicht ein, weshalb ein Mädchen ihre Neigung nicht eher einem gescheiten Mann schenken sollte, der nicht auf derselben gesellschaftlichen Rangstufe steht, als einem Hohlkopf aus ihrer eigenen Kaste. Gleiche geistige Sphäre – das ist doch schließlich das einzig Maßgebende.“

„Ich bin sehr erfreut, Dich so sprechen zu hören, denn bei unserm letzten Beisammensein schien es mir, als seiest Du sehr exklusiv in Deinem Verkehr.“

„Meine Stellung als Besitzerin von Strehlen legt mir Verpflichtungen auf, die ich nicht umgehen kann.“ Damit erhob sich Hella, um das Gespräch über diesen Gegenstand abzubrechen. –

Die Gräfin stimmte mit ihrer Cousine in der Ansicht überein, daß bei längerem Zusammenleben auf dem Lande jedes den Tag über seine eigenen Wege gehen müsse und daß erst der Abend der Geselligkeit gehöre. So streifte sie denn schon am folgenden Tage, während Hella ihren Geschäften nachkam, auf eigene Hand umher, die Hände in den Taschen ihrer Lodenjoppe, die Cigarette zwischen den Lippen, Haus, Wirtschaft und Garten besichtigend und ihre Beobachtungen machend. Auf der Wiese hinter dem Park traf sie mit Wildenberg zusammen und schloß in ihrer kurz angebundenen Art sofort Bekanntschaft mit ihm. Wenn sie indes geglaubt hatte, ihn ganz ohne Umstände mit der etwas herablassenden Freundlichkeit der großen Dame behandeln zu können, so sah sie ihren Irrtum sehr bald ein. Wildenberg hatte sich offenbar viel und mit offenen Augen in der Welt umgesehen und sich dabei die volle Sicherheit des Auftretens erworben. Er gefiel ihr außerordentlich; und sie gab diesem Gefallen an der Mittagstafel lebhaften Ausdruck; zu ihrer Cousine gewandt, fügte sie nachlässig hinzu: „Ich habe ihn aufgefordert, uns heute abend zu besuchen. Es ist Euch doch hoffentlich nicht unangenehm?“

Hella zog die Brauen leicht zusammen, aber Tante Lina meinte unbefangen: „Warum sollte es uns unangenehm sein? Wildenberg ist ohnehin in letzter Zeit fast jeden Abend hier gewesen.“

Die Gräfin lachte still vor sich hin. – Als Wildenberg am Abend erschien, kam sie ihm aufs liebenswürdigste entgegen, schüttelte ihm die Hand und verwickelte ihn, scheinbar ohne zu bemerken, daß Hella immer einsilbiger wurde, in ein eifriges Gespräch, das ihm Gelegenheit gab, seine ganze Unterhaltungsgabe zu entfalten. Dann kam Lili. Sie schwärmte für die Gräfin, die sie schon bei deren letzten Besuch in Strehlen kennengelernt hatte, und flog ihr mit freudig geröteten Wangen um den Hals. Als Lotti dabei über Lili hinweg nach Wildenberg hinsah, bemerkte sie, daß seine Blicke mit unverhohlener Bewunderung an dem reizenden belebten Gesichtchen hingen. Oho! dachte sie betroffen, was ist denn das? und sie nahm sich vor, scharf zu beobachten. Aber so sehr sie sich auch bemühte, es wollte ihr nicht gelingen, sich Klarheit zu verschaffen. Wenn Wildenberg auf irgend eine Bemerkung Lilis mit beinahe zärtlichem Lächeln antwortete und das Mädchen dabei schelmisch zu ihm aufsah, glaubte sie, der geheimen Neigung des Gastes völlig auf der Spur zu sein. Aber dann warf Hella ein Wort in die Unterhaltung und augenblicklich wandte sich Wildenbergs Aufmerksamkeit ausschließlich ihr zu, und er schien nur für sie Auge und Ohr zu haben.

Die Gräfin wußte nicht, was sie davon zu halten habe, und gedachte mit ihrer gewohnten Rücksichtslosigkeit der Sache auf den Grund zu gehen. Nachdem die andern sich zurückgezogen hatten, blieb sie noch plaudernd mit Hella im Salon zurück und fragte so beiläufig: „Was hast Du eigentlich für Pläne mit der Kleinen?“

„Immer noch die, welche Du kennst!“

„So, so! Ich dachte, Du hättest Dir vorgenommen, eine Ehe zu stiften.“

Hella, die im Zimmer auf und nieder ging, um noch einiges zu ordnen, blieb stehen und wechselte die Farbe. „Wie meinst Du das?“

„Aber, lieber Schatz, Du mußt blind für das sein, was in Deiner Umgebung vor sich geht, wenn Du eine solche Frage stellen kannst. Du bringst ein Mädchen von Lilis Erscheinung und Temperament fast täglich mit einem jungen Mann wie Wildenberg zusammen, der mit dem einnehmendsten Wesen zugleich den unschätzbaren Vorteil verbindet, eine gute Partie zu sein – da liegt doch der Gedanke nahe, daß sie sich ineinander verlieben und mit einer Heirat enden werden. Ich würde das übrigens für ein großes Glück halten.“

Hella blieb einen Augenblick stumm, dann stieß sie halb atemlos hervor: „Du irrst Dich! Lili ist ja noch ein vollständiges Kind.“

„Gewesen, liebes Herz! Sie ist achtzehn Jahre, und die Art, wie sie diesen Herrn Wildenberg anblickte, gab mir zu denken.“

„Nein, nein! Ich sage Dir noch einmal, daß Du im Irrtum bist! Nichts liegt Wildenberg ferner als das!“

„Bist Du etwa so genau über seine Gedanken und Gefühle unterrichtet? Glaube meiner Erfahrung! Läßt Du die zwei noch lange beisammen, so werden sie eines Tages vor Dich hintreten und um Deinen pflegemütterlichen Segen bitten, den zu verweigern Du nicht das Recht haben wirst.“

„Niemals!“

„Wie?“ rief die Gräfin, scheinbar befremdet. „Welchen stichhaltigen Grund hättest Du für eine solche Weigerung, die obendrein, da Lilis Eltern noch leben, gar nicht ernstlich in Betracht kommen könnte? Es sei denn“ – sie stand rasch auf und trat vor ihre Cousine hin, ihr gerade in die Augen blickend – „es sei denn, daß Du selbst ihn liebtest. In dem Fall wäre es allerdings begreiflich –“

Hella fuhr auf wie von einer Natter gestochen, ihre Augen verdunkelten sich vor Zorn. „Du beleidigst mich!“

Die Gräfin zuckte gelassen die Schultern. „Ich sehe keine Beleidigung darin; im Gegenteil, ich würde Dich für höchst vernünftig halten, wenn Du’s thätest. Und Dein Zorn bestärkt mich in meiner Annahme, ich bin meiner Sache jetzt sicher.“

„Kein Wort weiter, wenn wir Freunde bleiben sollen! Mein Gott! Habe ich mich denn so läppisch, so kindisch albern benommen, daß Du ein Recht haben durftest, mich durch einen solchen Verdacht zu beschimpfen?“

„Aber Hella!“

„Ja, zu beschimpfen! Du weißt, wie gering ich von dieser Schwäche denke, die Ihr Liebe nennt. Außerdem – gerade dieser Mann und ich!“ Sie brach in krampfhaftes Lachen aus. Ihre Brust hob und senkte sich stürmisch; augenscheinlich hatte die unerwartete Wendung, welche das Gespräch genommen hatte, ihr Inneres aus allen Fugen gebracht.

„Verzeih’!“ sagte die andere lächelnd und legte ihre Hand beschwichtigend auf die Schulter der Erregten. „Hätte ich geahnt, daß Dich meine Bemerkung in dem Maße aufregen würde, so hätte ich sie für mich behalten. Komm, fasse die Sache von der vernünftigen Seite auf! Habe ich mich getäuscht, so lache mich aus, habe ich aber recht, so laß uns einmal ganz ruhig darüber sprechen! Warum solltest Du ihn auch nicht lieben? Er ist klug, gesellschaftlich gebildet und dabei eine höchst sympathische [579] Persönlichkeit. Also fort mit diesen abgestandenen Grundsätzen, die ja für solche, denen die Trauben zu hoch hängen, ganz gut sein mögen, die aber aus Deinem Munde immer etwas komisch geklungen haben.“

Weiter gelangte die Sprecherin nicht, denn in diesem Augenblicke kam ein Diener in den Gartensaal gestürzt und rief mit allen Zeichen des Schreckens: „Gnädiges Fräulein! Es brennt!“

Hella war sofort wieder Herrin ihrer selbst. „Wo?“

„In der Schneidemühle!“

Zugleich hörte man vom Gutshof herüber den Lärm, mit dem die Feuerspritzen angeschirrt wurden, und das Durcheinander erregter Stimmen. Hella lief ins Freie, wo ihr schon ein roter Schein am dunkeln Nachthimmel entgegenschlug. Ab und zu sah man über die Bäume des Parks hinweg jenseit des Wäldchens Flammen emporzüngeln.

„Der Fuchs soll für mich gesattelt werden!“ rief sie und eilte in ihr Schlafzimmer, um ihr seidenes Gewand mit dem Reitkleide zu vertauschen. Eine Viertelstunde später folgte die Gutsherrin in gestrecktem Galopp, den Reitknecht hinter sich, der Spritzenabteilung nach, die schon an Ort und Stelle war. Auf der Lichtung am Fluß angekommen, sprang sie aus dem Sattel und schickte den Reitknecht mit den scheuenden, wild gewordenen Pferden nach dem Gut zurück. Ein schauerlich schönes Bild bot sich ihren Blicken dar. Das Feuer fand reichliche Nahrung an den trockenen Holzvorräten der Mühle und loderte in hohen Flammengarben empor, das Wasser weithin rot beleuchtend. Zum Glück stand der Wind so, daß wenigstens der Wald und die rings aufgestapelten Bretter gesichert waren, auch erleichterte die unmittelbare Nähe des Wassers die Bemühungen der Löschmannschaft, deren schwarze Gestalten in dem Lichtmeer gleich unheimlichen Schatten umherhuschten. Zischend fuhren die nassen Strahlen in die Glut, und schwere weiße Dämpfe stiegen daraus empor, bis das verheerende Element an anderer Stelle sich aufs neue Bahn brach und schadenfroh mit frischer Kraft emporlohte.

Der Oberinspektor war selbst zur Stelle und leitete umsichtig die schwierige Arbeit. Plötzlich übertönte der gellende Schrei einer Frau das wüste Stimmengewirr. Es war die Müllerin, die wie außer sich nach ihrem ältesten Töchterlein rief. Kurze Fragen ergaben, daß das Kind schon mit der Mutter im Freien gewesen, aber wieder in das brennende Gebäude zurückgelaufen sei, um seine Lieblingskatze zu retten. In der allgemeinen Verwirrung hatte man nicht auf die Kleine geachtet, bis eines der jüngeren Geschwister erzählte, daß sie nach ihrer Katze gerufen habe und dann plötzlich ins Haus gelaufen sei, um sie zu suchen.

Eine Sekunde lang beherrschte lähmendes Entsetzen die Anwesenden, denn das nur aus Fachwerk aufgeführte Wohngebäude drohte jeden Augenblick zusammenzubrechen. Aus dem Innern drang kein Laut außer dem Krachen des brennenden Gebälks und dem Knistern der Flammen. Da kam Bewegung in die erstarrt Dastehenden. Ein Mann löste sich aus der Kette der Löschmannschaft und sprang auf das Wohnhaus zu, in dessen rauchender Thür er verschwand. Die einzige Vorsichtsmaßregel, die er in der Eile ergriffen hatte, bestand in einem nassen Sack, den er sich um Kopf und Schultern warf.

Hella, die einige Schritte seitwärts stand, fühlte, wie ihr Herzschlag sekundenlang aussetzte und dann mit stürmischem Klopfen wiederkehrte. Sie war dem Vorgang mit gespannter Aufmerksamkeit gefolgt und hatte an den Bewegungen Wildenberg erkannt. Eine tödliche Angst um ihn ergriff sie und drohte, ihr die Sinne zu rauben. Sie rang die Hände ineinander, und halb bewußtlos murmelten ihre Lippen ein kurzes Stoßgebet. Sie wollte unter die Leute springen, sie anspornen, dem Verwegenen nachzueilen, aber Füße und Lippen versagten ihr den Dienst. Doch die Leute wußten ohnehin, daß es sich hier um Tod und Leben handle, und richteten die Schläuche einzig und allein auf das Wohnhaus, das man schon dem Verderben preisgegeben hatte, um dafür das Mühlenwerk wenigstens zu halten. Bange Minuten verstrichen, die jeden eine Ewigkeit dünkten; kaum ein Laut drang über die Lippen der Draußenstehenden.

„Er kommt nicht wieder!“ murmelte irgend jemand halb verloren vor sich hin. „Der Rauch hat ihn erstickt.“ Andere wiederholten mechanisch die Worte, sie pflanzten sich von Mund zu Mund fort bis zu Hella hin.

„Tausend Mark demjenigen, der die beiden da drinnen aus dem Hause holt!“ rief sie heiser vor Erregung, mitten in den Kreis ihrer Untergebenen tretend.

Die Leute sahen sich um. Tausend Mark – das war für sie ein Vermögen! Aber dagegen stand fast sicherer Tod! Niemand regte sich. Hella biß die Zähne zusammen, und ihre Augen irrten verstört und angstvoll suchend umher. Zum erstenmal empfand sie die Ohnmacht des Weibes einem Kampfe gegenüber, der nur mit der überlegenen Kraft eines Mannes ausgefochten werden konnte. Da – die wankende Gestalt dort an der Thür, mit dem kleinen regungslosen Körper im Arm – das war Wildenberg! Ein dumpfer Schrei entrang sich ihren Lippen.

Geblendet und betäubt, mit versengten Kleidern, tastete sich Wildenberg vorwärts, stolperte über die Schwelle und fiel samt seiner Last vornüber zu Boden. Aber unzählige Hände streckten sich hilfsbereit nach ihm aus, und brausend stieg der begeisterte Zuruf der Menge zum Himmel empor. Wildenberg kam bald wieder zu sich, wehrte lebhaft weitere Hilfeleistungen ab und bemühte sich um das Kind, das noch Lebenszeichen gab. Hella hatte sich wieder zurückgezogen und saß still im Hintergrund auf einem Bretterhaufen; die Flammen beleuchteten grell ihr weißes Gesicht mit den starren düsteren Augen.

Gegen Morgen wurde man des verheerenden Elementes endlich Herr. Wohnhaus und Holzschuppen waren ein rauchender Trümmerhaufen, aber das Mühlenwerk wenigstens hatte gerettet werden können. Die Spritzen mit ihrer Mannschaft zogen heim, den Abgebrannten wurde im Schlosse Unterkunft bereitet; nur ein paar Leute blieben noch da, um Wache zu halten.

An die Stelle der blendenden Helligkeit war graue Dämmerung getreten, das vielstimmige Lärmen und Schreien hatte tiefer Stille Platz gemacht. Hella saß noch immer an derselben Stelle. Sie hatte dem Reitknecht befohlen, ihr nach dem Erlöschen des Feuers, das man von Strehlen aus beobachten konnte, den Wagen zu schicken, in der Verwirrung des Augenblicks aber mußte er den Befehl überhört oder mißverstanden haben, der Wagen kam nicht. Nachdem sie einige Zeit gewartet und schließlich fast allein zurückgeblieben war, entschloß sie sich, den Heimweg zu Fuß anzutreten. Es fröstelte sie, und sie schreckte gegen ihre Gewohnheit zusammen, als jemand sie anredete und ihr seine Begleitung anbot. Es war Wildenberg. Er war schon im Begriff gewesen, sich auf eine der heimkehrenden Spritzen zu schwingen, da hatte er die Gutsherrin einsam dasitzen sehen und war geblieben, um ihr seine Dienste anzubieten.

Hella wollte im ersten Augenblick seine Begleitung steif ablehnen, aber er machte ihr klar, daß das nächtliche Feuer eine Masse Leute aus der ganzen Umgegend angelockt haben werde, so daß der Weg durch den Wald, wenn auch nur kurz, doch nicht ohne Gefahr für eine Dame sei. Sie überlegte eine Sekunde lang, dann nahm sie sein Anerbieten an und erhob sich, um mit ihm zu gehen. Jetzt erst bemerkte sie, daß er die linke Hand mit einem Tuch umwickelt hatte, sein Bart war angesengt und die Kleider trugen große Brandflecken, aber sein Gesicht war heiter und er atmete die frische Morgenluft mit augenscheinlichem Behagen ein.

Hella betrachtete ihn verstohlen von der Seite, aber ihre Lippen blieben fest zusammengepreßt. Sie war nicht imstande, eine Silbe hervorzubringen über seine heldenmütige That und die Todesgefahr, der er entronnen war. Noch klangen die Worte der Gräfin in ihrem Ohr nach und stachelten ihren Stolz immer aufs neue an. Wie? Sie sollte sich in den ersten besten Mann verliebt haben, mit dem sie näher verkehrte? Sie, die den Beweis liefern wollte, daß eine selbständige Frau auch ohne diese eingebildete Thorheit und Gefühlsduselei durchs Leben gehen könne? Lächerlich! Und vielleicht war er selbst auch schon auf den Gedanken geraten, wer konnte das wissen! Die Männer besaßen alle ein gut Teil Eitelkeit, und unmöglich war es nicht, daß er ihr freundliches Wohlwollen falsch ausgelegt hatte. Nun, dieser Irrtum sollte ihm gründlich genommen werden!

Während das alles ihr durch den Kopf ging und eine unsichtbare Scheidewand zwischen ihnen errichtete, schritten sie schweigend nebeneinander durch den fast noch nächtlich dunkeln Wald. Es setzte ihn in Erstaunen, daß sie kein freundliches Wort für ihn hatte. Nach dem eben Erlebten und nachdem er dicht an der Grenze von Leben und Tod vorübergegangen, war ihm das Herz voll zum Ueberfließen, sehnte er sich nach herzlicher Aussprache.

Textdaten
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Autor: Agnes von Klinckowstroem
Titel: Freiheit
aus: Die Gartenlaube 1895, Heft 35, S. 590–595
Schluß

[590] [„]Sie haben die ganze Zeit über bei uns ausgehalten,“ begann Wildenberg in warmem Ton, der Hellas ohnehin gespannte Nerven erzittern ließ. „Das war schön, denn wenn die Leute sehen, daß ihre Herrschaft ein Herz für sie hat und in schweren Stunden zu ihnen steht, so nehmen sie noch einmal so willig ihre Arbeit auf sich.“

„Sie vergessen, daß dieser Brand vor allem meine eigenen Interessen geschädigt hat und daß daher schon der Eigennutz mich treiben mußte, zu sehen, wie weit der Schaden sich ausdehnen werde.“

„Nein, nein, verletzen Sie sich nicht selbst! Sie werden mir nicht weismachen, daß die Sorge um Ihren Besitz Sie die Nacht hindurch bei uns gehalten hat.“

„Und was denn sonst?“ unterbrach sie ihn herb.

Er lachte sorglos. „Als ob ich Sie nicht besser kennte! Die Sorge um die Bewohner der Mühle war’s, und auch ein wenig die Sorge um uns. Ja, meine Gnädigste, Ihr gutes Herz und Ihr Gerechtigkeitsgefühl haben Sie nicht ruhen lassen, während wir uns mühten, und es war gut, daß Sie uns durch Ihre Gegenwart bis zum letzten Augenblick angefeuert haben. Wer weiß, ob wir sonst so eifrig gewesen wären. Für mich wenigstens kann ich nicht stehen. Ich bin nicht einmal sicher, ob ich so wohlgemut in das brennende Haus hineingegangen wäre, hätte ich nicht den dunkeln Drang gefühlt, in Ihren Augen ein wenig großzuthun. O, ich hätte nach dem Muster der mittelalterlichen Ritter noch ganz andere Dinge vollbracht um ein Wort des Lobes von Ihren Lippen!“

[591] Trotzdem das alles offenbar scherzhaft gemeint war, hatte seine Stimme einen weichen erregten Klang. Das Alleinsein mit der schlanken blonden Frau wirkte wie berauschend auf ihn und ließ ihn allerlei Thorheiten sprechen, die er bei nüchterner Ueberlegung unterdrückt haben würde. Er vergaß in seiner glücklichen Unbefangenheit den praktischen Dingen des Lebens gegenüber, daß sie die Besitzerin von Strehlen war, von altem Adel, eine der besten Partien des Landes; für ihn war sie in diesem Augenblick nur ein reizvolles, begehrenswertes Weib, dessen Gegenwart ihm allmählich seine Sinne zu verwirren begann. Hella aber reizte der vertrauliche, fast siegesgewisse Ton, den er anschlug, nur noch mehr. Sie lachte spöttisch auf.

„Was Sie mir da sagen, hat nicht ganz den Reiz der Neuheit. Mit einigen Abweichungen habe ich Aehnliches schon von den meisten Herren der hiesigen Gegend gehört.“

„Können Sie sich darüber wundern? Ich finde es nur zu begreiflich, daß alle, die in Ihren Zauberkreis geraten, ein wenig von ihrer Vernunft einbüßen und Thorheiten sprechen.“

„Ja, ich wundere mich allerdings darüber, denn wer mich kennt, muß auch wissen, daß ich für dergleichen nicht empfänglich bin. Doch die Herren glauben ja immer, jede Frau, in erster Linie die unverheiratete, müsse sich von jeder, selbst der abgeschmacktesten Huldigung, die ihr pflichtschuldigst dargebracht wird, beglückt fühlen.“

Er schwieg, verletzt durch diese höhnische Erwiderung auf seine warmen Worte.

„Ich sage ‚pflichtschuldigst‘, weil es hier in der Gegend zum guten Ton gehört, mir den Hof zu machen,“ fuhr sie achselzuckend fort. „Und doch hätten die Herren der Nachbarschaft allmählich merken können, daß ich nicht gesonnen bin, meine Freiheit gegen eine sehr viel schlechtere Lage einzutauschen, ganz abgesehen davon, daß mein Name und meine gesellschaftliche Stellung mir gewisse Standesrücksichten auferlegen, welche ich auf keinen Fall außer acht lassen will. Glauben Sie mir, die Selbständigkeit ist für eine in jedem Sinn unabhängige Frau von zu großem Wert, um sie für eine Illusion hinzugeben.“

Es that ihm in der Seele weh, daß sie so unweiblich, so rücksichtslos von oben herab sprach. Er hätte sie so gern auf der Höhe erhalten, auf der sie bisher für ihn erhaben über alle anderen stand. „Eine Illusion?“ wiederholte er mechanisch, bemüht, den aufsteigenden Groll zu überwinden.

„Ja, eine Illusion! Oder ist diese sogenannte Liebe, die mir zuwider ist, etwas anderes als eine Einbildung, gerade lebendig genug, um die Gefühlsseligen und Thörichten über sich selbst zu täuschen?“

Wildenberg vermied es, sie anzublicken; er schritt eine Weile schweigend neben ihr her und sagte dann leise: „Glauben Sie mir, es wird eine Zeit kommen, in der Sie bereuen werden, einer leidenschaftlich vorgefaßten Meinung das Glück geopfert zu haben, das wir alle nur in der Gemeinschaft mit einem anderen geliebten Menschen finden.“

Sie warf den Kopf zurück. „Bin ich etwa unglücklich?“

„Die Stunde, in der Sie es sein werden, kommt unfehlbar!“

„Ich zweifle daran, daß Sie das erleben werden.“

„Wohl möglich, da ohnehin meines Bleibens hier nicht mehr lange ist! Aber ich bin sicher, daß Sie sich dieser Stunde und dieses Gesprächs noch einmal erinnern werden.“

Sie hatten inzwischen den Park erreicht und Hella trat durch die Gitterpforte ein, um ihren Weg direkt nach dem Schloß zu nehmen, während Wildenberg nach dem Gutshof hin links abbiegen mußte. Er lüftete den Hut und verbeugte sich. Vielleicht hatte er erwartet, daß sie ihm die Hand reichen werde, aber sie konnte sich nicht dazu entschließen, sondern neigte nur den Kopf und wandte sich dann parkeinwärts. Nach wenigen Schritten jedoch blieb sie unschlüssig stehen und machte eine Bewegung, als wollte sie ihn zurückrufen, aber er sah sich nicht mehr um, sondern schritt rasch davon.

Zu erregt, um sich niederzulegen, änderte Wildenberg nach kurzem Besinnen seine Richtung und bog in die Dorfstraße ein, die im Zwielicht des düstern Septembermorgens schweigend und menschenleer vor ihm lag. Die Leute, erschöpft von der nächtlichen Anstrengung, hatten sich niedergelegt und die Morgenarbeit für heute hinausgeschoben. Hier und da nur schimmerte aus dem Fenster eines der niedrigen Häuschen der Schein eines Lichtes oder des flammenden Herdfeuers. Die einsame Wanderung that ihm wohl und beruhigte seinen fieberhaften Pulsschlag. Vor dem Pfarrhause blieb er stehen und sah hinauf. Die Läden waren geschlossen, offenbar schlief hier noch alles. Doch nein, das letzte Fenster des Erdgeschosses dort zur rechten Hand stand offen, und zwischen dem Weingerank kam ein kleiner dunkler Kopf zum Vorschein.

„Fräulein Lili! Sie sind es?“ rief er froh überrascht.

„Ich konnte nicht schlafen,“ gab sie in eifrigem Flüsterton zurück. „Als das Feuer gelöscht war und die Leute zurückkehrten, gingen die andern zu Bett, aber ich war zu aufgeregt und hätte doch kein Auge schließen können. Unser Kutscher, der auch mit dabei war, hat erzählt, daß Sie in das brennende Haus eingedrungen seien und das arme Kind gerettet hätten – o, das war gut, das war edel von Ihnen!“

„Sie dürfen von dieser That nicht so viel Aufhebens machen, Fräulein Lili. Hätte ich’s nicht gethan, so wäre wohl im nächsten Augenblick ein anderer vorgegangen. Ich war nur zufällig der erste, dem nach dem Schrecken die Geistesgegenwart zurückkehrte.“

„Ja, aber die andern hatten eben nicht die Geistesgegenwart! Es soll Ihnen nicht gelingen, Ihre Heldenthat zu verkleinern. Großer Gott, wenn Sie nun verbrannt wären!“ Ein Schauer überlief sie unwillkürlich.

„Dann würde mich außer meiner alten Mutter wohl schwerlich jemand betrauert haben.“

„Und wir alle? Tante Hella und ich? Und der Herr Pfarrer?“

„O, Fräulein Hella würde sich bald getröstet haben!“ sagte er nicht ohne Bitterkeit.

„Aber wir hier nicht. Doch gottlob, da stehen Sie ja frisch und gesund! Nur etwas bleich sehen Sie aus – Sie sind doch nicht krank?“

Er lächelte. Ihr besorgter Eifer und der warme Ton ihrer Stimme thaten ihm wohl. „Es fröstelt mich ein wenig,“ sagt er, „und ich bin nach den Erlebnissen dieser Nacht begreiflicherweise etwas abgespannt, aber die kalte Morgenluft hat mir gut gethan.“

Der dunkle Kopf verschwand vom Fenster, gleich darauf erschien Lili in der Thür.

„Kommen Sie rasch herein! Das ganze Haus schläft zwar noch, aber ich weiß Bescheid und koche Ihnen schnell eine Tasse heißen Kaffee. Sie sehen wirklich sehr schlecht aus!“

Er zögerte einen Augenblick, dann folgte er ihr in das dämmerige Haus und nahm in des Pastors Lehnstuhl am Fenster Platz. Die Müdigkeit kam nun doch plötzlich über ihn, und halb im Traum, den Kopf zurücklehnend, folgte er mit den Augen der schlanken zierlichen Gestalt, die geräuschlos hin und her huschte, und Zucker und Milch herbeischaffte, während auf dem Tisch das Spirituslämpchen einen bläulichen Schein verbreitete und das Wasser mit singendem Ton zu sieden begann. Der heiße Trank, den ihre geschäftigen Hände ihm reichten, durchströmte seinen Körper mit wohliger Wärme. Wie teilnehmend und herzlich sie war und wie hausmütterlich um ihn bemüht! In dem halbwachen Zustand, in dem er sich befand, gingen ihm allerlei sonderbare Vorstellungen durch den Sinn. Es war ihm, als sei er daheim im eigenen Hause, als sei sie, mit der er sich hier so traulich im Morgendämmern allein befand, die Seine. Allmählich verflossen die Züge dieser Frau vor seinen Augen in undeutlichem Nebel; bald war es Hella, die er zu sehen glaubte, bald wieder Lili. Er konnte die beiden in seinem Herzen nicht voneinander trennen. Dieses Doppelgefühl wurde ihm mehr und mehr zur Qual in diesem Augenblick, in dem eine bleierne Müdigkeit sich auf ihn niedersenkte und er vergebens sich mühte, zum Bewußtsein seiner selbst zu kommen. Der Pfarrer, der zwei Stunden später nichts ahnend in sein Studierzimmer trat, fand zu seinem Erstaunen einen fest schlafenden Gast in dem Lehnstuhl, welcher sonst seiner eigenen beschaulichen Ruhe geweiht war.

Zu derselben Stunde saß Gräfin Lotti im Schlafzimmer ihrer Cousine und ließ sich von ihr die Erlebnisse der Nacht schildern. Aber Hella war merkwürdig zurückhaltend und verwies die Gräfin an Wildenberg und den Oberinspektor, als diese das Nähere über die heldenmütige Rettung des Kindes zu hören wünschte.

„Du sträubst Dich dagegen, ihm Deine Anerkennung zu zollen,“ bemerkte die Gräfin trocken. „Das ist ein schlimmes Zeichen.“

Diesmal war Hella im voraus gewappnet und entgegnete kühl: „Ich sträube mich durchaus nicht dagegen, aber es ist mir zuwider, durch allzu viel Lob den Wert einer That abzuschwächen. Uebrigens ist inzwischen etwas vorgefallen, was meine Aufmerksamkeit [592] in noch höherem Maße in Anspruch nimmt. Von Lilis Vater ist vorhin ein Brief gekommen, in dem er seine Tochter zurückverlangt.“

„Ich denke, er ist ein Mensch, dem man ein junges Mädchen unter keiner Bedingung anvertrauen kann?“

„Allerdings, aber gesetzlich steht ihm das Recht der Bestimmung über seine Tochter zu. Nach Ansicht der Herren vom grünen Tisch ist dieser Mann noch immer ein besserer Berater und Hüter seiner Kinder als die ehrbarste Frau. Er hat noch keine Strafen abzubüßen gehabt, folglich ist er ein ehrenhafter Mensch.“

„Aber Du kannst doch nicht im Ernst daran denken, ihm die Kleine wieder zu überlassen?“

„Gewiß nicht! Wenigstens werde ich jedes Mittel versuchen, mein moralisches Recht geltend zu machen. Ich glaube mich auch nicht zu täuschen, wenn ich annehme, daß es sich zunächst nur um eine Gelderpressung handelt. Die ganze Art, wie der Brief gehalten ist, läßt darauf schließen, daß der Elende gegen eine bestimmte Zahlung seine augenblicklichen Ansprüche aufgeben werde; denn im Grunde muß ihm die Tochter doch nur eine Last sein, wenn er auch schreibt, daß ihm in seinem augenblicklichen Geschäft – Gott weiß, worin dieses Geschäft besteht! – eine weibliche Hilfe nötig sei.“

„Nun, so zahle! Auf ein paar hundert Mark wird es wohl nicht ankommen.“

„Selbstverständlich nicht. Was mich im Augenblick aber mehr beschäftigt, das ist die Frage, wie man das Kind in Zukunft vor diesen Wünschen des Vaters sicherstellen und etwaigen neuen und gesteigerten Geldforderungen vorbeugen kann.“

„So frage Deinen Anwalt oder sprich zunächst einmal mit ein paar vernünftigen Männern, die Dir vielleicht zu raten vermögen – mit Boße oder Wildenberg.“

„Soviel wie die beiden weiß ich auch von jnristischen Dingen.“

„Nun ja, mein Herz, ich will Deinen Kenntnissen durchaus nicht zu nahe treten, aber andere sehen doch die Sache mit anderen Augen an und da ergiebt sich leicht ein neuer Gesichtspunkt. Wie wäre es, wenn wir Wildenberg zu Tisch herüberbitten ließen? Du weißt, ich unterhalte mich gern mit ihm. Nach dem Essen hast Du dann Gelegenheit, diese Angelegenheit mit ihm zu besprechen.“

Hellas Gesicht verfinsterte sich. „Meinst Du nicht, daß Du zu entgegenkommend bist?“

„Aber Beste, bei mir hat es doch wahrhaftig keine Gefahr! Eine alte Frau, Mutter von drei halberwachsenen Kindern! Nein, ich glaube, Du kannst ganz ruhig sein. Wildenberg wird keinen Johannistrieb in meinem Herzen voraussetzen, sondern meine freundliche Teilnahme als das nehmen, was sie ist. Außerdem ist er der Held des Tages uud hat fast ein Recht, gefeiert zu werden. Ich hoffe daher, Du läßt mir und ihm zu Gefallen ein paar Flaschen Champagner kalt stellen. Das hebt die Stimmung.“

„Wenn es durchans Dein Wunsch ist –“

„Ja, was kannst Du denn dagegen haben? Man könnte meinen, Du fürchtetest Dich, mit ihm zusammenzukommen, wüßten wir nicht alle, daß Du mit dem undurchdringlichen Panzer Deiner Prinzipien gewappnet bist.“

Der gutmütige Spott verfehlte nicht seine Wirkung. Hella gab noch und schickte zum Oberinspektorat hinüber, um die Herren einzuladen.

Der Vorschlag der Gräfin in Betreff des Champagners erwies sich als ein vortrefflicher, denn die Stimmung der kleinen Tafelruude, die sich um die Mittagszeit im Schloß zusammenfand, war zuerst ein wenig frostig und steif. Wildenberg und Hella vermieden es, mehr als das Rotwendigfte miteinander zu sprechen; nur der Oberinspektor erging sich in wortreichen lauten Schilderungen der nächtlichen Erlebnisse, wobei ihn die Gräfin, die ihren Spaß daran hatte, launig unterstützte. Sieh, sieh, dachte sie, die beiden andern beobachtend, es hat etwas zwischen ihnen gegeben – keine direkte Aussprache, aber doch etwas dem Aehnliches!

Wildenberg wies die übertriebenen Lobeserhebungen, die ihm von dem Oberinspektor zuteil wurden, fast ärgerlich zurück. Es war ihm durchaus unangenehm, zum Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit gemacht zu werden, und doch verletzte es ihn zugleich, daß sich die Schloßherrin mit keiner Silbe daran beteiligte. Er sah, daß ihre Augen mehr als einmal auf seiner verbundenen linken Hand hafteten, aber sie fragte nicht, ob er Schmerzen habe oder ob die Brandwunden schlimmer Natur seien. Die frohe Stimmung, in der er vormittags das Pfarrhaus verlassen hatte, erlosch auf diese Weise, und nur die gutlaunige Heiterkeit der Gräfin und der prickelnde Reiz des Champagners vermochten es, ihn dem Unmut zu entreißen, der ihn zu beherrschen drohte.

Nach Tisch, als man beim Kaffee unter der Säulenhalle saß, holte Hella den Brief von Lilis Vater herbei und las ihn vor, indem sie die Herren bat, mit ihrer Meinung nicht zurückzuhalten. Herr Boße war auch gar nicht zurückhaltend, sondern schlug mit der Hand schallend auf den Tisch, für welche Freiheit er sich sofort bei der Gnädigen entschuldigte, und rief, der Kerl verdiene für seine Unverschämtheit in Stock und Eisen gelegt zu werden. Da das aber der einzige Rat war, den er zu geben vermochte, so überließ er bald Wildenberg das Wort, auch seine Meinung zu äußern. Hella hatte ihn bisher nicht angesehen, aber die Gräfin, die ihn beobachtete, war erstaunt über den Ausdruck peinlichen Schmerzes, der sich in seinem Gesicht aussprach. Wie sich Hella jetzt zu ihm wandte, fiel es auch ihr auf uud sie stutzte.

„Gnädiges Fräulein,“ begann er rasch, „Sie wollen und können doch nicht daran denken, einem Mann, wie Sie ihn eben schilderten, irgend ein Recht über Fräulein Lili einzuräumen.“

„Ich glaube, daß ich gesetzlich dazu verpflichtet wäre. Aber es handelt sich eben darum, einen Ausweg zu finden, der den Mann zum Verzicht auf dieses Recht bringt.“

„Dieser Ausweg könnte nur in einem beglaubigten Verzicht von seiten des Vaters und in einer Adoption von Ihrer Seite bestehen.“

„Oder in einer Heirat!“ warf die Gräfin dazwischen

„Ich wüßte nicht, was die Kleine dabei gewinnen sollte!“ rief Hella scharf. „Sie ginge nur aus der Gewalt und Vormundschaft des einen Mannes in die eines andern über! Mit ihrer Carriere wäre es in beiden Fällen vorbei.“

„Ah bah, Carriere? Thorheit!“ warf die Gräfin dazwischen.

„Wollen Sie mir gestatten, gnädiges Fräulein, noch heute nach der Stadt zu fahren und mit einem Rechtsanwalt Rücksprache zu nehmen?“ fragte Wildenberg eifrig.

„Ich danke Ihnen, ich kann das ganz gut allein abmachen.“

„Vergeben Sie mir, wenn ich aufdringlich erscheine – aber der Gedanke, daß Fräulein Lili uns verlassen könnte, mit der Aussicht auf ein solches Los, geht mir so nahe, daß ich nicht unthätig zur Seite stehen kann. Ich bin fassungslos dem Unerwarteten gegeuüber.“

Er sprach unbedacht aus, was er empfand, ohne zu überlegen, wie seine Worte etwa von den Anwesenden aufgefaßt werden würden. Offenbar ging ihm die ganze Sache sehr nahe. Die Gräfin lächelte vor sich hin, Hellas Gesicht aber blieb undurchdringlich. Herr Boße schlug nur vor, selbst zu Herrn von Wentzel hinzufahren und ein verständiges Wort ohne Zuhilfenahme juristischer Einmischung mit ihm zu sprechen, doch auch das wurde von Fräulein von Ostrau abgelehnt. Sie hatte jetzt offenbar ihren Entschluß gefaßt, mit dem festen Vorsatz, sich darin durch nichts erschüttern zu lassen. Diese Wahrnehmung wirkte verstimmend auf die Anwesenden, und die Gräfin gab ihrer Mißbilligung offen Ausdruck, indem sie aufsprang und achselzuckend, die Hände auf dem Rücken verschränkt, in den Garten hinausging. Sie gab damit das Zeichen zum allgemeinen Aufbruch.

Eine Viertelstunde später traf Lotti ihre Cousine allein. Hella hatte wohl ihren Eintritt überhört und stand am Fenster, die Stirn gegen die Scheiben gepreßt. Als die Gräfin die Hand auf ihre Schulter legte, zuckte sie zusammen und wandte sich hastig um, wie unwillig über die Störung.

Lotti erschrak über den entgeisterten starren Ausdruck des blassen strengen Gesichts. „Nun?“ sagte sie leichthin „Bist Du zu irgend einem Entschluß gekommen?“

„Mit Bezug auf Lili?“

„Ja.“

„Gewiß – ich bin zu der Ueberzeugung gekommen, daß es das beste ist, sie in sicherer Begleitung ihrem Vater zu schicken und ich werde das morgen thun.“

„Das kann, das darf nicht Dein Ernst sein!“

„Ich bin bei reiflichem Nachdenken anderer Ansicht geworden. Wie ich den Mann kenne, wird ihm die Tochter höchst unbequem sein. Er hat nicht darauf gerechnet, daß wir seiner Forderung freiwillig nachkommen, und wird uns das Mädchen binnen kurzem wieder zurückschicken und sich hüten, sie ein zweites Mal zu verlangen.“

[594] „Aber das Kind, die Lili! Hast Du gar nicht bedacht, was für schreckliche Tage sie durchzumachen haben wird? Allein mit einem Trunkenbold, dessen Häuslichkeit obendrein nicht einmal für die Aufnahme eines so verwöhnten Wesens eingerichtet sein wird.“

„Für Lili wird es eine ganz gute Lehre sein. Wie Du eben sagtest, ist sie in unserem Kreise zu sehr verwöhnt worden und muß wieder lernen, sich in andere Verhältnisse zu schicken, da sie doch einmal darauf angewiesen ist, sich auf eigene Füße zu stellen.“

„Es ist eine schöne Sache um die Prinzipien,“ rief die Gräfin ärgerlich, „wenn man nur nicht seinen Nächsten damit so herzlich unglücklich machte! Uebrigens wirst Du im Grunde Dir selbst und auch mir kein X für ein U machen.“

„Was willst Du damit sagen?“

„Nun denn, ganz ohne Umschweife: die Gründe, die Du laut aussprichst, sind durchaus nicht ausschlaggebend für Dich. Der eigentliche treibende Beweggrund, der Dich veranlaßt, Lili jetzt Hals über Kopf fortzuschicken, ist die Eifersucht.“

„Lotti!“

„Jawohl, die Eifersucht! Du mußt mir das schon verzeihen, ich habe immer das Vorrecht gehabt, Dir gegenüber alles auszusprechen, was mir durch den Sinn geht. Daß Du Dich für Wildenberg interessierst, steht fest. Deine Prinzipien gestatten Dir nicht, ihn zu heiraten – gut! Du kannst es aber auch nicht ruhig mit ansehen, daß eine andere sich das aneignet, was Du aus falschem Selbstgefühl verschmähst. Und weil Du gleich mir bemerkt hast, daß sein Gefühl zwischen Dir und Deiner Pflegetochter geteilt ist, daß Ihr beide, wenn auch in ganz verschiedener Weise, seine Phantasie beherrscht, so suchst Du einen Vorwand, um Lili so schnell als möglich aus seinem Gesichtskreise zu entfernen und Deinen Triumph voll auskosten zu können. Aber Du irrst Dich. Gerade die Entfernung Lilis wird sie dem Zurückbleibenden nur um so teurer machen. Der Fehlende hält unsere Phantasie fest, die ihn mit hundert kleinen Erinnerungen umkleidet. Wir empfinden eine Lücke, welche die Anwesenden nicht auszufüllen vermögen, unsere Gedanken begleiten ihn, und schließlich sehnen wir uns in einem Grade nach dem Vermißten, daß wir uns am liebsten aufmachen möchten, um hinterher zu laufen. – So, nun habe ich meinem Herzen Luft gemacht, und nun magst Du thun, was Du für richtig hältst.“

„Niemand außer Dir hätte wagen dürfen, mir etwas Derartiges zu sagen, ich will es unserer alten Freundschaft zugute halten und versuchen, zu vergessen. Aber ich bitte Dich ernstlich, nicht mehr auf diesen Gegenstand zurückzukommen. Alles hat seine Grenzen und meine Geduld hat die ihrigen erreicht. Ueberlaß Du es ruhig mir, so zu handeln, wie ich es für recht halte – ohne Kommentare!“

„Sonst zeigst Du mir die Thür, nicht wahr? Ich will Dir die Mühe ersparen und reise morgen freiwillig ab. Es ist mir nicht gegeben, mit dem, was ich denke und fühle, hinterm Berg zu halten, und ich kann es auch nicht ruhig mit ansehen, wie Du Dein und Lilis Lebensglück mutwillig zerstörst.“

„Ich kann Dich naturlich nicht halten, wenn Dir der Aufenthalt hier nicht mehr zusagt,“ gab Hella frostig zur Antwort. „Du weißt, wie lieb Du mir bist und wie sehr mich Dein Besuch freut, aber ich kann mich selbst Dir zu Gefallen nicht mehr ändern und muß schon so verbraucht werden, wie ich nun einmal bin.“

„Und Du bestehst also darauf, die Kleine ihrem Vater zu schicken?“

„Für einige Zeit jedenfalls. Inzwischen werde ich mit meinem Rechtsanwalt Rücksprache nehmen, aber es bleibt dabei, daß Lili morgen Strehlen verläßt.“

„So wird sie es in meiner Begleitung und unter meinem Schutze thun. Ich selbst werde sie zu dem alten Trunkenbold bringen und ihn mit allen Strafen der irdischen und himmlischen Gerechtigkeit bedrohen, wenn er das Kind nicht gut behandelt.“

„Ich bin Dir natürlich sehr dankbar, wenn Du das thust, würde aber selbstverständlich für eine zuverlässige ältere Begleiterin gesorgt haben.“

Die beiden Damen trennten sich mit kaltem Gruße und vermieden bis zum Augenblick der Abreise jede intime Begegnung. Die Gräfin, eine von der Welt verzogene Frau, war es gewohnt, ihren Kopf für sich zu haben und für ihre Einfälle stets lebhaften Beifall zu finden. Der schroffe Widerstand, den ihre Cousine ihr entgegensetzte, verleidete ihr den Aufenthalt, und Hella wieder empfand jede unberufene Einmischung als einen unberechtigten Angriff auf ihre Selbständigkeit. Ihr Zusammensein endete daher beinah immer mit einem heftigen Streit und plötzlicher Abreise der einen; trotzdem liebten sie einander und versuchten es in jedem Jahr aufs neue, sich zu vertragen.

Lili selbst zeigte sich halb erschrocken, halb erfreut über die Abwechslung, welche diese Reise ihr bringen sollte. Sie war das unruhige Zigeunerleben von klein auf zu sehr gewohnt, um eine ausgesprochene Abneigung gegen den Gedanken zu empfinden, für einige Zeit in den väterlichen Haushalt zurückzukehren, dessen Jämmerlichkeit sie mit jugendlicher Unbefangenheit kaum bemerkt hatte. Die Aussicht, diesem Haushalt selbständig vorstehen zu können, hatte sogar einen gewissen Reiz für sie. Nur als Wildenberg, der es sich nicht hatte nehmen lassen, sie zur Station zu begleiten, ihr zum Abschied die Hand reichte und bewegt rief: „Auf baldiges Wiedersehen! Und möchte es Ihnen inzwischen gut ergehen!“ da lief ein Schatten über ihr Gesicht, als komme zum erstenmal die Ahnung über sie, was es mit dieser Trennung auf sich habe, und sich hastig zum Fenster des Eisenbahnwagens hinausbeugend, sagte sie lachend zwar, aber mit Thränen in den Augen: „Wie sollte es mir nicht gut ergehen, trage ich doch Ihren Vierklee bei mir!“

Gleich darauf setzte der Zug sich in Bewegung. Wildenberg blieb auf der Plattform stehen, bis er seinen Blicken entschwand. Es war ihm ganz sonderbar zu Mut. Der sonnige Tag, die warme Septemberluft vermochten nicht, in ihm ein Wohlgefühl zu erwecken, und als er durch die Strehlener Dorfstraße ritt und zum Pfarrhause hinüberblickte, fiel ihm ein, wie er zum erstenmal hier vorübergekommen war und wie damals Lilis dunkles Köpfchen durch die Lücke der Fliederhecke gelugt hatte. Bisher war ihm Strehlen immer als ein schöner Ort erschienen – in diesem Augenblick kam ihm seine ganze Umgebung öde und reizlos vor. Er konnte nicht über ein inneres Unbehagen hinweg, das ihn nicht losließ, das sich mehr und mehr steigerte und ihn unlustig zu allem machte. Da er für den Abend keine Einladung ins Schloß erhielt, so ging er zu dem Pfarrer hinüber, aber seine Unruhe steigerte sich hier bis zur Unerträglichkeit. Lilis Abwesenheit machte sich gebieterisch fühlbar. Seine Gedanken folgten ihr und beschäftigten sich unablässig mit ihrem Schicksal. Er sah sie im Geist in der dürftigen Umgebung des väterlichen Haushalts, in der Gesellschaft des verkommenen Mannes, und eine große Angst griff ihm plötzlich erkältend ans Herz. Welchen Gefahren konnte sie bei ihrer Jugend nicht in dieser Gesellschaft ausgesetzt sein!

Seine Unruhe steigerte sich wennmöglich noch am folgenden Tag. Er sehnte sich nach Lili in einem Grade, wie er es nicht für möglich gehalten haben würde, so daß Hella ganz in den Hintergrund seiner Gedanken trat und der gewohnte Ritt mit ihr unterblieb, trotzdem sie zu Pferde an dem Oberinspektorat vorüberkam. So wie so hatte sich seit der Brandnacht eine Scheidewand zwischen ihnen aufgebaut, die eine unbefangene Unterhaltung nicht aufkommen lassen wollte.

Nachwittags, wie er der Säemaschine ins Feld hinaus folgte, trat sie plötzlich durch das Parkgitter zu ihm auf den Weg. Sie pßegte sonst diese Zeit in ihrem Zimmer mit Lesen oder Schreiben hinzubringen, es lag also wohl ihrem unerwarteten Erscheinen eine bestimmte Absicht zu Grunde. Aber er dachte kaum darüber nach; er war so völlig erfüllt von dem Bilde der Abwesenden und von der Sorge um sie, daß er gleich von ihr zu sprechen begann, ohne zu bemerken, wie wenig seine Gefährtin darauf einging. Er hatte niemals Komödie spielen und mit seinen Gefühlen zurückhalten können, und was seine Worte nicht ausdrückten, das verriet der Ton seiner Stimme.

Hella ging schweigend neben ihm her. Nach ein paar Schritten jedoch kehrte sie um und bemerkte mit schwachem Lächeln, daß sie die Wärme unangenehm empfinde und ihren Spaziergang lieber auf gelegenere Zeit verschieben wolle.

„Sie sehen schlecht aus, gnädiges Fräulein!“ sagte er teilnehmend, ihr zum erstenmal voll ins Gesicht blickend. „Sie haben sich in der Brandnacht zuviel zugemutet und die Folgen machen sich jetzt geltend. Zu warm? Ich bitte Sie! Wir haben kaum vierzehn Grad, und die Luft ist leicht wie nie. Soll ich Sie nicht heimbegleiten?“

Sie richtete sich straff auf, obgleich ihr Gesicht in der That leichenblaß war, und winkte abwehrend mit der Hand, indem sie [595] mit einem Versuch zum Scherz meinte: „Halten Sie mich etwa für ein nervenschwaches Frauenzimmer, das in Ohnmacht fallen könnte? Nein, nein, setzen Sie ruhig Ihren Weg fort, ich gehe die wenigen Schritte durch den Park allein zurück!“

Er bestand nicht weiter auf seinem Vorschlag, da er wußte, daß sie es nicht liebte, ihre einmal ausgesprochene Absicht gekreuzt zu sehen; aber er blickte ihr mit unwillkürlicher Besorgnis nach, und es kam ihm vor, als sei ihr Schritt nicht ganz so sicher und fest wie sonst.

Hella ging langsam nach dem Hause zurück und begab sich in ihr Zimmer, dessen Thür sie hinter sich verschloß. Dort sank sie mit einem unartikulierten rauhen Laut zu Boden, die Arme auf den Sitz eines Diwans werfend und das Gesicht darin vergrabend. Ein krampfhaftes Zittern durchschauerte ihren Körper, ihr Stolz rang mit Aufbietung aller seelischen Kräfte gegen den Jammer, der über sie hereinbrach. Es nützte nichts mehr, Verstecken vor sich selbst zu spielen – ja, was sie zu Lilis rascher Entfernung bestimmt hatte, das war häßliche brennende Eifersucht! Was sie eben noch veranlaßt hatte, mit Wildenberg zusammenzutreffen, das war das leidenschaftliche Verlangen ihres Herzens gewesen, den Eindruck zu verwischen, den ihre Worte in jener Nacht auf ihn gemacht haben mußten, und ihren Hochmut bei dem ersten entgegenkommenden Wort von seiner Seite zu den Toten zu werfen!

Hella schlug die Hände vor das Gesicht, wie um die zornige Schamröte zu verbergen, die über ihre Züge flammte, und sprang auf. Wie? Ihr ganzes Leben, alle die Grundsätze, zu denen sie sich bisher bekannt hatte, sollten nichts als Komödie gewesen sein? Sie sollte aus keinem andern Thon geknetet sein als alle die andern Frauen, auf die sie stets mit so viel Ueberlegenheit herabgeblickt hatte?

Wer ihr zwei Stunden später begegnete, hätte keine Spur mehr von dem Sturm bemerkt, der in ihrer Seele getobt hatte. Ruhig ging sie ihren Obliegenheiten nach, beriet mit ihren Beamten und bewies eine geistige Klarheit und Urteilsschärfe, die diesen Bewunderung abnötigte. Nur eine gewisse Starrheit des Gesichtsausdrucks fiel an ihr auf, und Herr Boße äußerte seiner Frau gegenüber vertraulich, die Trennung von Lili scheine der Gnädigen doch näher zu gehen als man gedacht habe, sie sei sehr verändert gewesen. Spät am Abend noch ließ sich Wildenberg bei ihr melden, wurde aber nicht empfangen. Die Gnädige sei nicht wohl, hieß es. Er bedauerte das lebhaft, denn er hatte eigentlich von ihr Abschied nehmen wollen; er hatte den plötzlichen Entschluß gefaßt, am folgenden Morgen in der Frühe abzureisen. Es blieb ihm nur übrig, ihr schriftlich Lebewohl zu sagen, und er that es in warmen herzlichen Worten, ohne indes den Grund zu nennen, der ihn forttrieb.

Hella ahnte diesen Grund, las ihn zwischen den Zeilen und ihr Herz zog sich krampfhaft zusammen. Wie sehr sie in ihrer Vermutung recht gehabt hatte, bewies ihr ein Brief, den sie wenige Tage darauf von Lili erhielt.

„Ich bin sehr glücklich, Tante Hella,“ hieß es darin. „Und Du sollst die erste sein, der ich davon Mitteilung mache. Wildenberg ist hier, und ich bin seit wenigen Stunden seine Braut. Stelle Dir vor, daß der einfältige Mensch behauptet, er habe es ohne mich nicht länger in Strehlen ausgehalten. (Ich wollte es natürlich nicht glauben, denn da er Dich dort hatte, so brauchte er mich eigentlich gar nicht.) Papa gab, nachdem Hans mit ihm eine längere Unterredung gehabt, seine Einwilligung. Ich habe nur etwas Herzklopfen, wenn ich an Dich denke. Wieviel Zeit und Mühe hast Du an mich verwandt, um mich für meinen Beruf vorzubereiten, und nun lasse ich alles im Stich und werde eine ganz gewöhnliche Gutsfrau. Aber ich bin überzeugt, Du freust Dich viel zu sehr über mein Glück, um mir meine Fahnenflucht zu verübeln. Man muß eben ein Ausnahmemensch sein wie Du, um in der Freiheit und Selbständigkeit Befriedigung zu finden. Hans läßt sich Dir bestens empfehlen. Der Elende hat die Stirn, mir zu sagen, er wäre sich seiner Liebe zu mir erst bewußt geworden, als ich davongefahren sei! Da muß ich Dir wohl noch ganz besonders danken, daß Du mich fortschicktest, sonst wäre ihm dieser glückliche Einfall wahrscheinlich gar nicht gekommen. Er meinte auch, Du hättest alles gemerkt. Nun, auf jeden Fall sind wir Deiner Billigung sicher, und das ist die Hauptsache. Ueber den Hochzeitstag haben wir natürlich noch nichts festgesetzt, darüber schreibst Du uns vielleicht noch Deine Bestimmung.“

Hella ließ den Brief sinken und biß die Zähne zusammen. Das klang alles so selbstverständlich und heiter, ihr wurde so vollständig die Rolle der mütterlichen Beschützerin zugeteilt, als könne es nicht anders sein. Die kleine Schreiberin lief mit ihren jungen leichten Füßen sorglos dem Glück entgegen, ohne eine Ahnung, daß sie ein anderes Herz zu Boden trat.

Und ein paar Wochen später kam wiederum ein Brief: „Wünsche uns Glück, Tante Hella, morgen ist unser Hochzeitstag!“

Die Empfängerin sah nach dem Datum – es war vom vorhergehenden Tage. Also jetzt, während sie den Brief hielt, war es voraussichtlich geschehen, hatte die Trauung stattgefunden! Langsam, wie geistesabwesend ging sie durch die Säulenhalle in den herbstlichen Park hinaus, durch raschelndes welkes Laub, das der Nordwind vor ihr Hertrieb, nach der Pforte, welche auf die jetzt kahlen Felder führte. Es fröstelte sie; das Vorgefühl der mit dem Herbst beginnenden unaufhaltsamen Verödung legte sich erdrückend schwer auf ihre Seele. Zum erstenmal empfand sie das Bewußtsein, inmitten derselben ganz allein zu sein, wie eine körperliche Pein. Und sie lehnte die Stirn gegen den Stamm des fast entblätterten Ahornbaums, neben dem sie stand, und fing an zu weinen.

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