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Als ich noch „wanderte“

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Autor: Max Grube
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Titel: Als ich noch „wanderte“
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aus: Die Gartenlaube, Heft 48, S. 816, 818–819
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1895
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Als ich noch „wanderte“.

Eine Jugenderinnerung von Max Grube.

Wandertruppen!

Wie das klingt! Wie das wiederhallt im Herzen des jugendlichen Theaterschwärmers, der seinen „Wilhelm Meister“ noch frisch im Gedächtnis hat!

Da ziehen sie hin, eine kleine Schar kunstbegeisterter junger Leute, um einen im Dienste der Muse ergrauten und erprobten Führer geschart, der sie unterweist und leitet. Gering ist der Erwerb, aber groß der Lohn, den sie im eigenen Busen tragen, keine stolzen Hallen prächtiger Schauspielhäuser umfangen sie, nicht vor übersättigten Großstädtern geben sie ihr Bestes preis, in den kleinen Städten und Flecken, ja in Dörfern,

„wo das Herz noch frisch ist und der Sinn gesund“,

verkünden sie das Evangelium der Kunst, angestaunt und bewundert von Hunderten, die sich zu ihren Darbietungen drängen. Und sollte diese Anerkennung auch einmal weniger verständnisinnig ausfallen, sollte sogar die Not des Daseins vernehmlich an die Pforte des wandernden Kunsttempels pochen – sie sind deß getrost, denn sie tragen ja alle den Marschallstab der Kunst im leichten Tornister, sie wissen, daß auch sie dermaleinst einziehen werden über die stattlichen Freitreppen der herrlichen Häuser, die in großen Städten und Residenzen Apoll und den Musen geweiht sind. Dort werden sie den goldenen Lohn ihrer Mühen einheimsen und der kurzen leicht ertragenen Leiden ihrer Lehr- und Wanderjahre gern wie eines Traumes gedenken.

Wandertruppen!

So malt sich’s in den Gedanken manches Jünglings, dem es zu enge wird im dumpfen Hörsaal oder in der Schreibstube des Kaufmanns, so träumt es sich das Herz manches phantasiebegabten jungen Mädchens, das sich zu Höherem berufen wähnt als zum Alltagsleben der Häuslichkeit.

Ein schönes Bild! Wenn es nur der Wirklichkeit entspräche!

Hängen wir es einmal ein wenig tiefer, manches jugendliche Gemüt kann das vielleicht belehren und – bekehren, manchem in den Weltläuften Erfahrenen wird es vielleicht einen Blick gönnen in Ernst und Scherz einer ihm fremden Welt!

Wollen Sie einmal ein paar Tage bei einer wirklichen „Wandertruppe“ mit erleben?

Ja? – Schön!

Also begeben wir uns auf den Bahnhof der Sekundärbahn von Neustadt.

An den Biertischen der Bahnhofsrestauration giebt sich eine gewisse Bewegung kund.

Die Bahnhofsrestauration spielt in kleinen Orten eine viel wichtigere Rolle als in Großstädten, sie ist zu Höherem berufen, als dem eiligen Reisenden eine Wegzehrung zu bieten – hierher wandert der Spießbürger, der sich dem Zeitgeist näher fühlen will. Zwar die älteren Bürger bleiben in den dunklen gewölbten Hallen des Ratskellers oder im Tabaksqualm der kleinen gemütlichen Weinstube am Markt, die jüngere Generation und die „Freigeister“ aber trinken ihr Bier, wenn „der Zug“ kommt, beobachten, ob Herr Meier wieder verreist, wie Frau Kunz ihren Gatten empfängt, stellen tiefsinnige Vermutungen an, wer der fremde, gänzlich unbekannte Herr sein kann, der vom Hausknecht des „Roten Löwen“ in Empfang genommen wird, und erhalten so eine Fülle geistiger Anregungen.

Heute,.heißt es, kommen die „Spielers“ an.

Der Zug hält und aus einigen Abteilen dritter Klasse frachten sie sich aus, die „Spieler.“ Das sind sie, unverkennbar! Zunächst einige Damen, welche ihrem Aeußeren nach schon eine beträchtliche Kunsterfahrung haben müssen. Eine kleine kugelrunde Person mit einem koketten Tirolerhütchen auf einem Tituskopf von gräßlich dürrem, zum Himmel schreienden Strohblond, wie es in gleicher Totheit nur durch lange kunstgemäße Behandlung mit Phosphat erzielt werden kann. Auf der kleinen aufwärtsstrebenden „Vivatsnase“ balanciert ein Klemmer, die Mundwinkel sind zu einem eingefrorenen schalkhaften Lächeln verzogen. Das ist die jugendliche Naive, man erkennt sie sofort an der Art, wie sie neckisch aus dem Wagen hüpft. Ihr folgt ein himmellanger zaundürrer Mensch in einem sehr kurzen, hellgelb gewesenen Sommerüberzieher und einem großkrempigen Filzhut. Eine mächtige Hakennase zieht sich über den schmallippigen verkniffenen Mund; hätte er nicht recht harmlose, nichtssagende graue Augen, welche durch den fast völligen Mangel von Augenbrauen noch ausdrucksloser erscheinen, der Kopf wäre entschieden bedeutend. Offenbar haben wir den Charakterspieler vor uns. Aus der Opferfreudigkeit, mit der er der kleinen dicken Naiven eine Unzahl von Kasten und Schachteln nachschleppt, kann der Menschen- und Theaterkenner ersehen, daß „unlösliche Bande“ die beiden wenigstens für die laufende Saison verbinden.

Hinter einer Dame, in einer rotkarrierten Bluse, mit sehr spitzer, gleichfalls rötlicher Nase und sehr großen Füßen – es ist die tragische Liebhaberin. – sie sieht auch ganz so aus – wälzt sich ein selbst in dieser Umgebung etwas schmierig aussehendes Männchen mit einem langen, grauen, sogenannten Kaisermantel und einem zerbeulten Cylinder hervor. Der Kleine hat ein rundes Gesicht, das linke Auge ist zugekniffen und der linke Mundwinkel in die Höhe gezogen, er macht ein Gesicht, als wollte er sagen: „Sehe ich nicht eigentlich furchtbar komisch aus?“ Er ist nämlich der Komiker. Mit sicherem Schritte steuert er geradeswegs auf einen der Stammtische los. Er hat schon öfter in dem Städtchen „gemimt“ und weiß, daß er auch hier wie überall, mit wenig Witz und viel Behagen, unterstützt durch ein stehendes Repertoir von Kalauern und Mikoschanekdoten, allabendlich Gönner findet, die seine Zeche bezahlen und sich sogar geschmeichelt fühlen, wenn er sich auf ihre Rechnung einen kleinen „Orangutang“ kauft, denn er ist „ein ganz verfluchter Kerl“.

Noch allerhand mehr oder minder auffallende Erscheinungen ziehen vorüber vor den sie musternden, zischelnden und tuschelnden Neustädtern. Trotz der bereits vorgeschrittenen Jahreszeit sind alle ziemlich leicht bekleidet, sogar zwei Strohhüte sind auf der Bildfläche erschienen, nur der Herr Direktor tragt bereits mit Stolz einen Pelz zur Schau, der freilich schon bedenklich Haare lassen mußte und, wo solche noch vorhanden, Neigung zu einer fettigen Schuppenbildung aufweist.

Den Omnibus des „Roten Löwen“ besteigt nur der Mann mit dem vertrauenerweckenden Pelz und seine Gemahlin, eine behäbige Dame mit energischem Ausdruck, der man es wohl ansieht, daß sie „das Kassenwesen versieht“; die anderen stapfen rasch und kühn über die aufgeweichte Landstraße dem Orte zu und sind bald dem Blicke entschwunden.

Nur ein schlanker, oder sagen wir lieber magerer, junger Mann, mit hellblondem Haar und dunkelbraunen, fast schwarzen Augen, bleibt auf dem Bahnsteig zurück und schaut etwas verlegen umher.

Mit diesem jungen Manne möchte ich mir erlauben, den geehrten Leser etwas näher bekannt zu machen, – denn ich bin es selber, vielmehr ich war es vor ....hmzig Jahren, denn ich gehöre zu den wenigen Mimen der jetzigen Generation (oder gehöre ich schon einer vergangenen Epoche unserer schnelllebigen Zeit an?), welche noch eine echte rechte „Schmierenzeit“ mitgemacht haben.[1]

Warum ich auf dem einsamer werdenden Bahnhof zurückblieb?

Weil mir einer meiner neuen Kollegen, mit denen ich unterwegs Bekanntschaft gemacht hatte, denn ich war auf einem Kreuzungspunkte der Bahn mit der Truppe zusammengestoßen, bei der ich die ersten Bühnengehversuche machen wollte – weil mir ein Kollege auf meine Frage, wie es wohl mit den Privatwohnungen in Neustadt stehen möge, den guten Rat gegeben hatte, einige Zeit auf dem Bahnhofe zu verweilen, Neustadt sei ein sehr theaterfreundlicher Ort und ein oder der andere Kunstfreund würde schon an mich herantreten und mir eine Wohnung anbieten.

Der Empfang, den unser Komiker gefunden hatte, schien zu bestätigen, was mir an und für sich gar nicht unglaublich schien, ich hätte ja auch mit Freuden jedem Künstler eine Heimstätte unter meinem Dache angeboten, wenn ich eins gehabt hätte.

Freilich waren mir schon auf der kurzen Fahrt allerhand Gedanken über diese Kunstgenossen aufgestiegen, aber meine Kunstbegeisterung hatte sie rasch besiegt, es waren eben ungewöhnliche Menschen, und konnten sie nicht trotz mancher merkwürdigen Aeußerlichkeiten talentvoll und brav sein?

[818] Erst später kam ich dahinter, daß der brave Kollege mich „geleimt“ hatte. Sein Judasrat hatte nur bezweckt, der übrigen Gesellschaft einen gefährlichen Konkurrenten bei der „Wohnungssuche“ eine Zeitlang fern zu halten.

O diese „Wohnungssuche“! Wie vieles ich auch in jenen Wandertagen mit dem fröhlichen Mute der Jugend leicht ertragen, oft wohl auch in seiner Niedrigkeit und Unwürdigkeit gar nicht bemerkt oder verstanden habe, an dieses in jedem neuen Orte unvermeidliche Uebel denke ich noch mit einem gewissen Unbehagen zurück. Ein in geordneten Verhältnissen lebender Kulturmensch kann sich gar nicht vorstellen, was es heißt, in einem kleinen schmutzigen Orte von Thür zu Thür zu wandern: „Verzeihen Sie, ich habe gehört, Sie hätten vielleicht auf vier Wochen ein Zimmer abzugeben!“ Und ehe man noch ausgesprochen hat, heißt es schon: „Ach nein – bei uns doch nicht!“ Das uns ist so ganz eigentümlich lang gedehnt, als wollte es sagen: Wie kommst Du dazu, uns ein solches Ansinnen zu stellen? Und der Ton hat hundert Variationen, vom gutmütigsten Mitleid mit den fahrenden Leuten bis zur versteckten Entrüstung, bis zur offenbaren Verachtung.

Immer und immer wieder trifft man auf dem Leidenswege Kollegen und Kolleginnen, welche sich gegenseitig Mühe geben, einander zu täuschen. Jeder sucht den andern in die Gassen zu schicken, die er selber bereits vergebens abgefragt hat, damit dieser nicht in das noch abzusuchende Terrain gerate und die Aussichten noch verschlechtere.

In Neustadt ging es mir besonders schlecht, da ich ja viel zu spät auf dem Jagdgebiet eintraf. Mit vieler Mühe fand ich endlich ein Unterkommen bei einem kleinen Beamten, wo Schmalhans Küchenmeister war und der kleine Nebenerwerb gern mitgenommen wurde.

Das Zimmer war ganz kahl, untapeziert, lang wie ein Darm, aber die Decke war gewölbt – es war ein sehr altes Gebäude – was mir sehr poetisch vorkam; auch war die Aermlichkeit des Gemaches durch einen freundlichen Ausblick gemildert. An Mobiliar hatte ich freilich nur ein Bett aus Fichtenholz, das beängstigend schmal aussah, sich dafür aber nachher als viel zu kurz auswies, einen kleinen wackligen Tisch und drei Stühle, deren einer zum Waschtisch erhoben wurde.

Ueber diesen Mangel an stilvoller Ausstattung – welche übrigens damals noch nicht Mode war – tröstete ich mich rasch, da der freundliche kleine Hausherr mir vollkommenste Freiheit zusicherte, zu studieren, so laut ich wollte, und Stimmübungen anzustellen, so viel es mir beliebte.

Ein flüchtiger Versuch ergab, daß es in dem langen hohen und leeren Raume gar herrlich schallte. Nun trieb es mich natürlich, das Theater zu besichtigen, dann beim Direktor vorzusprechen und anzufragen, ob nicht schon eine schöne dicke Rolle für mich in Sicht wäre.

Also hinaus und den Weg nach der Stätte meiner demnächstigen Triumphe erkundet!

Da geschah mir etwas Unerwartetes.

Auf jede Frage erhielt ich nämlich die Antwort: „Nee, ä Theater – das hamm mer hier gar nich!“ und wenn ich dann in berechtigtem Künstlerstolze erwiderte, daß ich das besser wissen müsse, da ich ja an diesem Theater selber engagiert sei, so sahen mich die Leute seltsam an, antworteten nichts und es wollte mir scheinen, als entfernten sie sich rascher von mir, als gerade nötig war.

Nachdem ich wie Bürgers Leonore verzweifelt den Weg „wohl auf und ab“ gefragt hatte – ich hätte mir wahrscheinlich auch mein Rabenhaar gerauft, wenn ich nicht blond gewesen wäre, wie ich es noch bin – wurde mir endlich von einem barhäuptigen und barfüßigen jugendlichen Bewohner der Stadt der erlösende Bescheid: „Nu ja – unten im Schützenhaus sind die Spielers.“

Das Schützenhaus lag etwa zehn Minuten von der Stadt entfernt auf einem großen Wiesenplan. War ich gleich durch die Nachricht, daß ich auf gar keinem richtigen, sondern auf einem Saaltheater auftreten sollte, etwas niedergedrückt, so hob sich meine Stimmung doch wieder, als ich sah, daß es ein großes Gebäude war, freilich ohne jeden architektonischen Schmuck, aber mit fünf riesengroßen Fenstern, welche einen großen Saal ankündigten, in dem es gewiß herrlich klingen mußte, wenn man einmal sein ganzes Organ „loslassen“ durfte.

Klangwirkungen erscheinen dem Anfänger meist die Hauptsache bei der dramatischen Kunst.

Vor lauter Freude und ganz in den Anblick des mir immer schöner erscheinenden Hauses versunken, stolperte ich über ein Brett, welches den Uebergang über eine sumpfige Stelle des Wiesenweges erleichtern sollte, wollte mich recht geschickt auf das Brett hinaufbalancieren, verlor aber das Gleichgewicht und setzte mich heftig, aber glücklicherweise weich, in die schlammige Pfütze.

Das war also sozusagen meine Kunsttaufe.

Ich suchte meinen rückwärtigen Menschen ein wenig zu säubern, zumal ich zwei Damen auf mich zukommen sah.

Bei näherer Betrachtung erwiesen sie sich als zwei Dienstmädchen, welche Bier aus dem Schützenhaus geholt hatten. Mein Anblick schien sie äußerst fröhlich zu stimmen und die eine rief mir wohlmeinend zu: „Lassen Sie nur, junger Herr, es wird nur immer schlimmer; Straßenkot“ – sie gebrauchte ein etwas kräftigeres Wort unserer schönen Muttersprache – „muß man trocknen lassen!“

Edle Magd! Wie oft hab’ ich in meinem späteren Theaterleben an dieses weise Wort denken müssen! Ich ließ demnach den Urbrei sitzen, worauf er saß, und worauf ich und andere Sterbliche auch zu sitzen pflegen, und schritt weiter.

Im Theatersaal traf ich meinen Direktor, der aber weniger imponierend ausschaute als bei unserer Ankunft. In Hemdsärmeln von einem zartbräunlichen Tone, war er beschäftigt, die Bühne „einzurichten“. Ein Herr in gleichem Kostüme, nur trug er statt des Leinen- ein Wollenhemd, half die gröbere Arbeit machen, ich erkannte in ihm den hakennasigen augenbrauenlosen Charakterkollegen, der außer seinen künstlerischen Obliegenheiten auch noch die eines Theater- und Maschinenmeisters versah, wofern von Maschinen hier die Rede sein konnte, denn was die beiden hier zusammenbauten, war mehr als einfach und erinnerte an die schönen Zeiten der Shakespearebühne. „Na, da sind Sie ja, junger Mann,“ redete mich mein Chef herablassend, aber doch mit einiger Zurückhaltung an, „gehen Sie nur in den ,Löwen‘ zu meiner Frau und lassen Sie sich die Rollen für morgen geben!“

Mehrere Rollen?“ fragte ich halb erstaunt, halb hocherfreut. „Und in welchen Stücken?“

„Sagt Ihnen alles meine Frau,“ tönte eine Stimme von oben, denn mein Brotherr war inzwischen mit dem Oberleib in den Soffitten verschwunden.

Ich machte dem, was von ihm noch sichtbar war, mein Kompliment und eilte hoffnungsfroh und rollengierig zum „Roten Löwen“.

Die Frau Direktorin war gleichfalls sehr beschäftigt. Aus einem Wall von Büchern, Rollen und Garderobestücken heraus teilte sie mir mit, daß als Eröffnungsvorstellung „Die Schule des Lebens“ von Raupach gegeben werden solle, und nach längerem Herumsuchen händigte sie mir die Rolle eines Hauptmanns im zweiten und eines Bürgers im vierten Akt ein. Da ich das Stück gar nicht kannte, bat ich es mir zum Lesen aus, was mir aber rund abgeschlagen wurde. Soufflierbücher gäbe man nicht weg und namentlich nicht wegen so kleiner Rollen.

„Kleine Rollen“ – das gab mir einen Dolchstich, war ich doch zur Schmiere gegangen, um große Rollen zu spielen und dadurch das Lampenfieber zu kurieren, das meine ersten Versuche auf einer großen Bühne vereitelt hatte. Ich war indessen vernünftig genug, einzusehen, daß man mich erst prüfen müsse, und dann waren es ja auch zwei Rollen, ich konnte mich in zwei, wenn auch unbedeutenden doch verschiedenen Charakteren zeigen, mich zweimal umkleiden und zweimal schminken. Das war doch immerhin etwas.

Dankend wollte ich mich entfernen, als mir die Frau Direktorin noch nachrief: „Warten Sie nur – Sie müssen auch noch den ‚Hampelmann‘ spielen!“

Einen Hampelmann?! Darauf war ich nicht gefaßt.

Zu meiner Beruhigung erfuhr ich jedoch, daß dieser Hampelmann nicht an der Strippe tanzen müsse. Der Kerkermeister im Stück wird mit den Worten angeredet: „So nahst Du mit der Ampel, Mann“, woraus eine schlechtlernende Dame, den Souffleur nicht verstehend, gemacht hatte: „So nahst Du, Hampelmann“, welcher Name der Rolle für alle Zeiten in Schmierenkreisen – in anderen wird das rührsame Stück nicht mehr gegeben – verblieben war.

Beglückt zog ich mit meinen Schätzen ab. Das Stück zu lesen, war in der That unnötig, jede Rolle bestand nur aus einigen Sätzen. Erst hatte ich als Hauptmann eine Prinzessin zu verhaften, dann als Kerkermeister die bewußte Ampel, sowie Wasser und Brot zu bringen und nachher noch im Volk einige Heilrufe auszustoßen. „Bombensicher“ trat ich am nächsten Morgen zur Probe an.

Diese verlief etwas anders, als ich es mir vorgestellt hatte. [819] In meiner Hoffnung, das Stück kennen zu lernen, wurde ich gründlich getäuscht, denn alle Mitspieler murmelten, ohne sich mit Spielen anzustrengen, ihre Rollen sehr rasch und unverständlich herunter. Laut sprach nur einer und das war der Souffleur. Meine kleinen Scenchen gingen glatt vorüber und in einer guten Stunde waren die fünf Akte heruntergehaspelt.

Auch am Abend ging die Sache ganz glatt, bis auf einen kleinen Zwischenfall.

Der Souffleur, der sich wohl auf der Probe zu sehr angestrengt hatte, war gewiß von der löblichen Absicht beseelt gewesen, seine Kehle wieder felddiensttüchtig zu machen, und hatte nur leider das hierfür nötige Spirituosenquantum ein wenig überschätzt. Im ersten Akte zwar waltete er noch seines Amtes, jedoch nur ruckweise wie eine alte Spieluhr mit schadhafter Walze, im zweiten Akt zog er es vor, sich nur als Zuschauer zu verhalten, und zwar als wohlwollender. Unsere „Prinzessin“ entlockte ihm Töne des Beifalls. Damen lernen gewöhnlich nicht schlecht, auch ohne Hilfe des „Kastengeistes“ brachte sie ihren langen Monolog im Kerker so ziemlich zuwege. Wenn aber einmal eine Pause eintrat, so wurde dieselbe durch den Souffleur ausgefüllt, der recht vernehmlich herausrief: „Das Luderchen kann’s, sie kann’s wahrhaftig!“ Nun brachte ich die schon mehrfach erwähnte Ampel, sprach und verschwand wieder. Hinter mir her tönte es anerkennend: „Der Neie kann’s ooch!“

Aber die Situation sollte noch kritischer werden.

Unser Komiker, den ich schon die Ehre hatte vorzustellen, war in dem ehrwürdigen Ritterstück gleichfalls mit zwei Aufgaben betraut, die natürlich, wie es einem routinierten Künstler zukam, viel wichtiger waren als die meinigen. Er hatte den „Grafen“ und den Hofnarren des Königs, Pedrillo, zu „machen“.

Der Graf in dem besagten Stück ist ein sehr edler Mann. Er tritt in den Kerker der Prinzessin, erklärt ihr in längerer Rede, er wolle sie befreien, läßt es aber bei bloßen Worten nicht bewenden, sondern überreicht ihr zu nachdrücklicher Bekräftigung eine goldgestickte Börse.

Diese tugendsame Scene ging nun nicht ohne Schwankungen vorüber, Schwankungen im eigentlichsten Sinne des Wortes. Wie es schien, hatte der gestrige Willkommstrunk auf dem Bahnhof noch manche Wiederholungen erlebt. Mit einem Schritte und einer Haltung, die charakteristischer für einen Matrosen während einer steifen Nordnordostbrise als für einen spanischen Granden erschien, lavierte der Graf zunächst eine Zeit lang an der Mittelthür, kreuzte dann über die Bühne, um sich endlich vor dem Souffleurkasten vor Anker zu legen.

Aber wie er auch die Netze seiner Ohren auswarf – meine seemännischen Vergleiche sind zu schön, um sie nicht ins Poetisch-hyperbolische fortzuspinnen – keine Rettungsboje wurde ihm zugeworfen, nur unheimlich klang es im Ton tiefster innerster Ueberzeugung heraus: „Der kann’s nich!“

Hierauf ward längere Zeit von keinem der Beteiligten ein Wort gesprochen.

Endlich schien es unserm Künstler doch aufzugehen, daß er irgendwie in den Gang der Ereignisse einzugreifen habe, die Börse, die er krampfhaft in der Rechten hielt, gab ihm eine dämmrige Vorstellung seiner Aufgabe, und mit staunenswertem Lakonismus faßte er den ganzen Inhalt der Scene in ein einziges Wort zusammen, er hielt der Prinzessin das Geld hin und lallte: „Da!“

Die edle Dame war jedoch nicht gesonnen, die schönsten Stellen ihrer Rolle so ohne weiteres preiszugeben; sie fuhr – denn sie war ja in der angenehmen Lage es zu können – unentwegt in ihrer Rolle fort und deklamierte mit erschütterndem Pathos ihre nächste große Rede. Auf den Grafen machte dies aber wenig Eindruck, mit noch energischerer Bewegung und noch kräftigerem „Da!“ fuhr er dazwischen, und als er damit die wie ein Uhrwerk weiter schnarrende Prinzessin nicht zum Schweigen bringen konnte, donnerte er ihr ein drittes „Da!“ entgegen und versuchte kurzer Hand sein bislang verschmähtes Gold in die Halsöffnung des Kleides der Prinzessin zu stecken, so daß diese, um namenloses Unglück zu verhüten, gezwungen war, den Beutel rasch zu nehmen, entgegen dem Hauptgrundsatz römischen Rechtes: Beneficia non obtruduntur, Wohlthaten können nicht aufgezwungen werden.

Dann wankte der Graf scheinbar tieferschüttert von dannen, die Beschenkte besah sich in sprachloser Verlegenheit die ihr zu früh zu teil gewordenen rettenden Schätze, bis der Vorhang sich endlich über dieser Scene des Edelmuts gerührt niedersenkte.

Der Graf sank in der Garderobe auf einen Stuhl, faßte sein Haupt in beide Hände und legte es auf den Schminktisch, es schien, als schluchzte er leise in tiefer Zerknirschung über seine Versündigung an Raupachs Dichtergenius. Als wir uns aber näherten, bemerkten wir, daß er sanft und selig eingeschlummert war. Keine Bitten der Mitspieler, kein Machtwort des Direktors waren im stande, ihn zu neuem Bühnenleben zu erwecken, – er schnarchte bereits.

Was war zu thun?

Die wichtige Rolle des Pedrillo, die er noch in den nächsten Akten zu „performieren“ hatte, konnte unmöglich ganz gestrichen werden.

Da zeigte sich das Feldherrngenie unseres Thespiskarrenlenkers in hellstem Lichte. Er überließ die Bierleiche ihrem Schicksal und hielt Umschau unter seinen noch kampffähigen Truppen.

Hierbei stellte sich heraus, daß der Darsteller des „Blas“ die Rolle des „Pedrillo“ vor längerer Zeit einmal gespielt hatte. Sofort avancierte der Bauernbursche Blas zum Hofnarren des Königs und ich wurde sozusagen auf dem Schlachtfelde zum „Blas“ befördert.

Mir schwindelte.

In einem Stücke, von dem ich gar keine Ahnung hatte, sollte ich während des Zwischenaktes eine verhältnismäßig nicht unbedeutende Episode „übernehmen“.

Aber es wurde mir keine Zeit zum Besinnen gelassen. Die Kutte, in der ich meinen Hampelmann gegeben hatte, wurde mir vom Leibe gerissen, eine Bauernjacke angezogen, eine blonde Dümmlingsperücke aufgestülpt, und während dieser Metamorphose las mir der Herr Direktor höchstselbst die Scene des Blas vor.

Halbbetäubt entnahm ich aus dieser Vorlesung, daß Blas ein tölpischer Bauernjunge war, welcher der befreiten, nun als Bauernmädchen verkleideten Prinzessin einen Kuß raubte und für diese Majestätsbeleidigung von ihr mit einem Backenstreich bestraft wurde.

Was dann noch vor sich gehen sollte, klang meinem Ohre nur noch wie das Brausen des Wassers dem Ertrinkenden, denn ehe ich noch zur Besinnung kam, fühlte ich mich nicht eben sanft auf die Scene hinausgestoßen und nun hieß es: Friß, Vogel, oder stirb!

Die ersten zwei, drei Reden waren meinem, ich darf wohl sagen, glücklichen Gedächtnisse so einigermaßen haften geblieben und ich konnte sie wenigstens dem Sinne nach herstammeln.

Dann wurde es dunkel um mich her.

Ich hatte nur, ganz wie der „Graf“, eine Empfindung: es mußte irgend etwas geschehen!

Was? – Es mußte geküßt werden!

Kurz entschlossen schritt ich also von Worten zu Thätlichkeiten. Meine geschminkte Partnerin erschien mir im Lampenlichte und im Geiste der Rolle küssenswert genug – ich vollführte es und nahm die vorgeschriebene Quittung in Empfang, was bei dem anspruchslosen Publikum lebhafte Fröhlichkeit erregte.

Das gab mir Mut und da ich beim besten Willen nicht wußte, was ich weiter hätte sagen oder thun sollen, ließ ich beherzt dem ersten Kusse einen zweiten folgen.

Die arme Prinzessin, der heut’ so viele Ueberraschungen zugedacht waren, wußte nicht recht, ob sie nochmals schlagfertig antworten sollte, ich ließ sie aber gar nicht dazu kommen, diese Gewissensfrage zu entscheiden, sondern förmlich berauscht von der immer mehr anwachsenden Heiterkeit der Zuschauer, versetzte ich der armen Dulderin eine ganze Serie von schallenden Küssen.

Schallender Jubel war mein Lohn, und da ich instinktiv fühlte, daß ich den Höhepunkt meiner Leistung erreicht hatte, drückte ich die verblüffte Dame nochmals herzhaft an mich, reichte ihren Lippen noch eine letzte und eine allerletzte Erquickung und verschwand dann „lang gebeint mit raschen Sätzen“ in der nächsten Coulisse.

Hinter mir her aber erscholl tosender Beifall – die Scene hatte ganz ungeheuer gefallen.

Es war mein erster großer Erfolg!

*  *  *

Ich schämte mich ehrlich noch acht Tage hinterher.

Der Direktor nannte mich aber von Stund’ an nicht mehr „junger Mann“, sondern händigte mir noch am selben Abend eine Rolle von sechs Bogen ein, die ich noch in derselben Nacht lernte und am folgenden Abend zur vollkommensten Zufriedenheit eines hochgeehrten Publikums „verzapfte“.

So geht’s in Wirklichkeit bei einer „Wandertruppe“ zu!


  1. Der Verfasser, schon lange berühmt als Charakterdarsteller, ist gegenwärtig Oberregisseur am Berliner Hoftheater. D. Red.