Am 10. November 1870 in Frankreich

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Autor: G. L.
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Titel: Am 10. November 1870 in Frankreich
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aus: Die Gartenlaube, Heft 47, S. 791–792
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1871
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[791] Am 10. November 1870 in Frankreich. Aus den Erinnerungen eines jüdischen Kriegsfreiwilligen. Die erste Stunde des jungen Tages war kaum angebrochen, als die Stimme des „Tagesdiensthabenden“ uns aus festem Schlummer weckte. „Um vier Uhr wird Reveille geblasen, Jeder kocht ab, von fünf Uhr ab ist Alarmbereitschaft.“ So lautete die nicht eben erfreuliche Mittheilung, die er uns machte, und die uns die Aussicht auf einen schweren, vielleicht blutigen Tag eröffnete. Pünktlich um vier Uhr blies der Trompeter, uns blieb nichts übrig, als aufzustehen und abzukochen. Ehe es fünf Uhr war, waren wir alarmbereit. Du weißt wohl nicht, lieber Leser, was das für eine langweilige Sache ist, diese Alarmbereitschaft. Mit Sack und Pack in vollständiger Ausrüstung heißt es da jeden Augenblick zum Abmarsch bereit sein, kaum daß Kartenspiel oder ein Buch die Langeweile und dann wieder die Unruhe vertreiben.

Indeß, es verfloß eine Stunde nach der andern und der Befehl kam nicht, endlich aber der „Tagesdienst“, der die Bereitschaft abcommandirte. So verfloß der Tag – es war derselbe, an dem von der Tann seinen glorreichen Rückzug antrat, und ein vermutheter Vorstoß der Nordarmee gegen unsere Stellung hatte uns zu der Alarmbereitschaft verholfen –, und im langsamsten Tempo wälzten sich die Stunden vorüber. Es war ein häßlicher trüber Tag; durch die dichten Wolken vermochte kein Sonnenstrahl zu dringen, ein kalter unfreundlicher Wind strich durch das Land, und als sich die Wolken öffneten brachten sie den ersten Schnee. Wie oft hatte ich ihn in Kindertagen froh begrüßt, und heute mußte ich mich zusammennehmen, daß mir bei diesem Anblick nicht der Muth sinke. Denn wer konnte sich jetzt noch des Gedankens erwehren an die Drangsale, die der Winter in diesen menschenleeren unwirthlichen Orten mit sich bringen mochte, und wenn wir auch, Gott sei Dank, damals noch nicht wußten, wie Schweres uns bevorstünde, welch harte Entbehrungen wir noch zu ertragen haben würden, so war doch der Tag nicht geeignet dazu, trübe Gedanken in uns wachzurufen.

Für heute mindestens sollte die Wirklichkeit sie Lügen strafen. Noch saßen wir ja in einem Hause, das ganze Fensterscheiben hatte, noch war der Mangel an Feuerholz nicht so groß, die Kälte nicht so bedeutend, daß uns mehr als die Ahnung von den Schrecken des Winters entgegentrat, und so gewann der leichte Jugendmuth bald wieder die Oberhand.

Da man im Felde solche Kleinigkeiten wie Wochentag und Monatsdatum nur schwer weiß, so war es für mich eine wahre Entdeckung, als ich zufällig im Laufe des Tages erfuhr, daß wir heute den 10. November hätten, und allmählich kam mir denn auch die Erinnerung daran, daß der heutige Tag der Geburtstag Luther’s und Schiller’s sei, und mit ihr der Wunsch, diesem Tage auch seine Weihe zu geben. Aber wie? Mannigfache Schwierigkeiten stellten sich der Ausführung entgegen, und nur das erleichterte sie, daß hier, wo wir in Reserve, also in verhältnißmäßiger Ruhe lagen, die Mannschaft schon längst den Wunsch geäußert hatte, einmal eine Abendunterhaltung zu veranstalten. Mit zwei früheren Einjährigen, die als Unterofficiere bei der Compagnie waren, einigte ich mich dahin, daß einem ernsten, dem Andenken der großen Todten gewidmeten Theil ein heiterer und diesem ein „Tanzvergnügen“ folgen solle.

Am wenigsten Sorge machte uns der zweite Theil, denn ein paar Spaßvögel der Compagnie, die auch in der schlimmsten Zeit ihre gute Laune nicht verloren, erklärten sich gern bereit, ihre Schnurren an dem Abende zum Besten zu geben; zum Tanzvergnügen, das ja nun einmal „ohne den Damen“ undenkbar war, schufen wir uns, da im ganzen Dorfe außer den Soldaten kein Mensch war, die schöneren Hälften, indem wir die eine Hälfte der Tanzlustigen mit Papierstreifen verzierten, und schließlich stellten wir für den ersten Theil das Programm so auf, daß zum Anfang und Ende ein Lied gesungen werden solle, dazwischen eine Festrede und Declamation von einem oder zwei Schiller’schen Gedichten.

Unsere „Einjährigen“ hatten fest zugesagt, jeder ein Schiller’sches Gedicht zu declamiren, als sie aber nach einem halben Stündchen Beide erklärt hatten, daß sie nur noch einige Bruchstücke wüßten, da war das verehrliche Festcomité in großen Nöthen, und wir hätten wohl zur Schillerfeier ein Gedicht Schiller’s entbehren müssen, wenn uns nicht die Volksschule gerettet hätte.

Denn als die Noth am größten war, trat mein Putzer, ein sehr intelligenter Mann und mir der liebste, beste Camerad, mit stolz bescheidener Miene auf mich zu, und erklärte mir, er könne die „Bürgschaft“ wohl hersagen, wenn ihm auch einige Verse fehlten. Mit der freudigsten Ueberraschung hörte ich diese Mittheilung, die uns eins der nothwendigsten Bestandtheile unseres Festes sichern sollte. Aber war es wirklich möglich? sollte der einfache Handwerker, der vor zwölf Jahren die Schule verlassen hatte, wirklich so fest das Schiller’sche Gedicht sich eingeprägt haben? Aber als [792] er nun anfing und mir zur Probe das Gedicht fast ohne Stocken vortrug, da schwanden meine Zweifel. Die Lücken, die sich noch fanden, konnten wir alle ergänzen bis auf eine und auch die wurde glücklich verdeckt, und so hatten wir es der Volksschule zu danken, daß wir auch diesen Zoll unserm großen Todten entrichten konnten.

Aber die Festrede machte mir große Sorgen. Denn als ich nach einigem Widerstreben die Aufgabe übernommen hatte, da ahnte ich nur ihre Schwierigkeiten. Doch je mehr ich mich mit ihr beschäftigte, desto deutlicher erkannte ich sie. Der Ort, an dem wir das Fest feierten, die kleine Gemeinde, die an dieser Feier theilnahm, und unzertrennbar hiervon die Erinnerung an die jüngsten Ereignisse, alles das waren Schwierigkeiten, von denen ein Schillerfestredner in Frack und weißer Binde keine Ahnung hatte. Und so hin- und herschwankend zwischen der Scylla, mich von meinen Gefühlen hinreißen zu lassen und dadurch meinem Publicum unverständlich zu werden, und der Charybdis, nur Redensarten zu machen, um dieser Gefahr zu entgehen, betrat ich den Saal um sieben Uhr.

Ein ungewohnter Lichterglanz erhellte ihn; auf Bänken und Stühlen, die aus allen Quartieren zusammengetragen waren, hatte sich die größere Hälfte der Compagnie versammelt. Im Hintergrund rahmten zwei Gardinen, die jüngst in Gagny erbeutet waren, eine kleine Bühne ein, auf der sich die Vortragenden produciren sollten, und das Ganze machte, besonders in Anbetracht unserer ärmlichen Verhältnisse, einen sehr freundlichen Eindruck.

Programmgemäß sollte ein Lied die Feier eröffnen, und als ich nun – denn ich galt für den am meisten Musikalischen in der Compagnie – das alte Luther’sche Kampf- und Siegeslied intonirte, als ich, der Jude, anstimmte: „Ein’ feste Burg ist unser Gott, ein’ gute Wehr und Waffen“ und die Grenadiere kräftig einfielen, da dachte ich nicht an Mühler, noch an den Papst, auch nicht an den Haß, mit dem Luther einst meine Glaubensgenossen verfolgt hatte, geschweige denn an die Gefahr, die uns täglich umgab, da schwand jeder andere Gedanke vor dem einen, den der Prophet Ezechiel so schön ausdrückte: Haloh aw echod lechullonu, haloh el echod beroonu? Haben wir nicht alle Einen Vater, hat uns nicht alle Ein Gott erschaffen?

Als das Lied, von dem ich einige Verse ausgewählt hatte, verklungen war, trat ich denn vor.

Der alte böse Feind
Mit Ernst er’s jetzt meint,
Groß Macht und viel List
Sein grausam Rüstung ist,
Auf Erd’ ist nicht sein’s Gleichen.

Und so erzählte ich, wie Deutschland seit Jahrhunderten von den Franzosen die viele, schwere Unbill erlitten habe, deren Erinnerung jetzt wieder frisch auflebte im ganzen Reiche, wie endlich nach jahrzehntelangem Ringen und Kämpfen das geeinte Deutschland diesem Gegner ebenbürtig und dann so glorreich überlegen wurde; kam so auf Luther und Schiller, als die zwei hervorragenden Vertreter zweier Epochen, deren jede uns von dem geistigen Joche der Wälschen befreit hatte, als die Helden des Geistes, denen wir es vor Allem zu danken haben, daß wir heute so siegreich und glänzend die lange Schmach abgewaschen und den Platz errungen haben, der uns gebührt. – Weil mir das so von Herzen ging, so verfehlte es auch seine Wirkung nicht ganz, und es gelang mir, meinen Zuhörern eine Vorstellung zu geben von der Bedeutung des Tages, von der Größe der Männer, die wir feierten, von dem Glanz und Ruhme des geliebten Vaterlandes.

Dann trat mein Putzer vor und mit schlichtem, warmem Ton declamirte er ohne Stocken und Zagen die Geschichte vom Möros, der zu Dionys dem Tyrannen schlich, und erntete wohlverdienten Beifall.

Mit dem Sang der Wacht am Rhein und einem Hoch auf das Vaterland schloß der erste Theil.

Und auch ich will meinen Bericht hier schließen. Möge er den Lesern dieses Blattes Kunde geben von der Liebe, mit der wir „draußen“ die Erinnerungen an die Heimath pflegten, und von der Eintracht, die siegreich alle die Schranken überwand, welche sonst das Leben zwischen uns aufgerichtet hatte.

G. L.