Am Brunnen (Die Gartenlaube 1895)
[448] Am Brunnen. (Zu dem Bilde S. 445.) Sie ist die Schmuckste im Städtchen, des Bürgermeisters Töchterlein; dabei sitzt ihr der Schelm im Nacken. Weil der Vater an dem heißen Tage einmal ausnahmsweise einen Trunk frischen Wassers begehrt, hat sie selbst den Krug genommen und ist über den sonnigen Platz zum Löwenbrunnen gekommen; denn solch klares kaltes Wasser giebt es im ganzen Ort nicht mehr. Zierlich steht sie nun da und rafft das Röckchen zurück, damit es nicht naß werde. Sie scheint ganz versunken in das Brunnennrauschen und nicht zu merken, daß der Herr des Hauses, zu welchem der Brunnen gehört, ihr Persönchen durch seine Augengläser einer wohlgefälligen Musterung unterzieht. Oder thut sie nur so? Der alte Junggeselle aber oben im Fenster schmunzelt behaglich auf das saubere Kind herab. Er ist zwar unverheiratet geblieben und lebt vereinsamt in seinem Haus, aber auf Frauenschönheit und Mädchenanmut hat er sich stets verstanden – er ist ein Kenner und freut sich des seltenen Gastes an seinem Brunnen, wenn auch der Schelm unterläßt, seinen Gruß zu erwidern.