Amerikanische Zwangsmaßregel

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Titel: Amerikanische Zwangsmaßregel
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aus: Die Gartenlaube, Heft 20, S. 320
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1862
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[320] Amerikanische Zwangsmaßregel. Help yourselves ist der Wahlspruch der Amerikaner, und wo „Richter Lynch“ im Großen arbeitet, da tritt die Selbsthülfe auch im gewöhnlichen Verkehr oft ein, sobald die Gesetze für die Erlangung eines einfachen Rechtes nicht genügen. Zu den großen Unannehmlichkeiten in einzelnen Staaten gehört unter Anderm die mangelhafte Gesetzgebung über das Verhältniß zwischen Hauswirth und Miether. Während in New York und andern östlichen Städten der einfachste kürzeste Proceßgang darin besteht, ist in vielen der westlichen Staaten ein „smarter“ Miether im Stande, fast noch ein Jahr nach geschehener Aufkündigung ein Haus zu bewohnen, ohne nur einen Pfennig Miethe zu zahlen. Das gewöhnlichste Zwangsmittel der Hauswirthe, einen hartnäckigen, nicht zahlenden Miether zum Weichen zu bringen, ist, diesem Thüren und Fenster ausnehmen zu lassen; zur Anwendung eines noch sonderbareren aber, des sogenannten „Crowding out“, ward einer unserer dortigen Freunde verführt, und wir geben die Schilderung der Maßregel nach seiner eigenen brieflichen Mittheilung.

Ich hatte, sagt er, ein Logis als zum Vermiethen angezeigt bemerkt, dessen Lage wunderbar gut für meine geschäftlichen Zwecke paßte; bei einer Nachfrage fand ich den Preis billig, und der Besitzer des Hauses zeigte mir die von ihm selbst bewohnten Zimmer, welche genau denen des fraglichen Quartiers gleich sein sollten – das einzige Hinderniß meines sofortigen Bezugs war, daß der jetzige Bewohner schon drei Monate nach geschehener Kündigung ohne Miethzahlung in den Räumen festsaß und nicht zum Weichen zu bringen war. Mit der Praxis des Fensterausnehmens wollte der Wirth nicht sein eigenes Haus schänden.

Mit mir war ein Bekannter, ein junger, geriebener Advocat; dieser ließ sich das Nähere der Verhältnisse nachweisen und wandte sich dann mit einem: „Schließ nur ab, der Vogel soll schon von selbst gehen!“ nach mir, und ich schloß ab, irgend einer mir noch unbekannten Rechtskraft vertrauend. „Und was soll geschehen?“ frug ich beim Weitergehen. – „Wir „crowden“ ihn aus!“ war die ruhige Antwort. Frei übersetzt hieß dies: durch eine Menge herausdrängen; indessen fehlte mir jeder Begriff über ein solches Rechtsmittel, und ich mußte mich mit dem „laß mich nur machen!“ meines Begleiters begnügen.

Der nächste Abend war für die Ausführung des Unternehmens bestimmt. Von zehn meiner jüngern Bekannten hatte ich im Laufe des Tages die Meldung erhalten, daß sie mit mir im neuen Quartier das Abendbrod nehmen würden und ich für einen tüchtigen Imbiß sorgen möge; mein Rechtsfreund hatte mir zugleich schriftlich aufgegeben, ein Fäßchen Bier und die sämmtlichen Matratzen meines Hausstandes in Bereitschaft zu halten; meine Frau schüttelte den Kopf, und mir selbst war in meiner Unwissenheit über das Bevorstehende nicht ganz behaglich zu Muthe, besonders da zwei Tage später meine eigene Miethzeit auslief und bequeme Quartiere selten wie Gold waren.

Der Abend kam, die Vorbereitungen waren wie verordnet getroffen, und mein Rechtsbeistand schritt unter einem stillen Lächeln mit mir nach der neuen Wohnung. In der schon ziemlich dunkeln Hausflur gesellte sich der Wirth zu uns, und der Advocat, vorausschreitend, zog an der Eingangsthür meines Quartiers die Klingel.

„Wer ist da?“ erklang es nach einer Weile von innen. – „Advocat S., der mit Mr. N. einige Worte zu sprechen hat!“ war die Erwiderung. Er hatte einen falschen Namen genannt, und ich bereute schon jetzt, mich in ein mir unbekanntes Unternehmen eingelassen zu haben.

Die Thür öffnete sich vorsichtig, aber der Wirth, mich mit sich ziehend, drückte sie kräftig zu voller Weite auf, und neben ihm stand ich plötzlich einem Manne gegenüber, der mit zornigem, überraschtem Auge uns ansah. „Was soll das, was wollen Sie?“ fragte er, sein Blick aber wurde durch eine andere Erscheinung von uns abgezogen, denn hinter uns marschirten unter Anführung des Advocaten meine zehn Freunde herein, und der Wirth rief, sich an mich wendend: „Mr. K., ich übergebe Ihnen hiermit das gemiethete Logis und erkläre Sie vor diesen Zeugen für den rechtmäßigen Besitzer desselben.“ Damit entfernte er sich; der Advocat aber hatte sich des Schlüssels zu der Eingangsthür bemächtigt und schritt, meinen Arm unter den seinen nehmend, ohne den wortlos dastehenden Mann mit einem Blicke zu beachten, in die offene Wohnstube. „Jetzt nicht gewichen und keine Art von Unterhandlungen!“ raunte er mir energisch zu; „für die Folgen stehe ich!“ – und damit war ich mitten in der Situation, über die ich mir einem Manne gegenüber, der dem einfachsten Rechte nicht hatte weichen wollen, kaum mehr einen Vorwurf machen mochte. Meine Freunde aber hatten sich, wie einem besprochenen Plane folgend, in den drei nächsten Piecen, wozu zwei Schlafstuben gehörten, vertheilt und im gleichen Augenblicke flackerte auch in den beiden unerleuchteten Räumen helles Licht auf.

Vor mir in dem durch eine Lampe erhellten Vorderzimmer sah ich eine ältliche Frau und zwei junge Mädchen am Tische sitzen; die Stimme des eintretenden Mannes aber, der sich erst jetzt von der raschen Ueberrumpelung erholt zu haben schien, ließ mir keine Zeit zu weitern Beobachtungen.

„Ich frage noch einmal, Gentlemen, was dieser gewaltsame Ueberfall zu bedeuten hat?“ begann er.

„Ich glaube nicht, Sir, daß irgend etwas Gewaltsames stattgefunden,“ erwiderte der Advocat, sich mit einem Streichhölzchen ruhig eine Cigarre anzündend; „wir haben nur gesetzlich den Besitz unserer Wohnung erlangt und werden diese behaupten. Wollen Sie nicht gehen, so können wir Sie vor der Hand nicht zwingen, wir denken aber von allen den Rechten, die uns zustehen, Gebrauch zu machen!“

„Ich sehe, wie es steht,“ erwiderte der Mann mit verbissenem Grimm, „Sie werden mir aber, wenn Sie Gentleman sein wollen, die nöthige Zeit zum Auszuge lassen.“

„Ich glaube, Sie haben seit drei Monaten Zeit gehabt,“ war die Antwort, „und es würde sehr unklug von uns sein, unser Quartier auch nur mit einem Schritt wieder zu verlassen.“

„Nun, Sie werden sich doch nicht die Nacht hier breit machen wollen, wo Ladies sind?“ fuhr die Frau mit scharfem Tone von ihrem Stuhle auf, „das könnte doch von Gott und der Welt nicht gelitten werden!“

„Nicht breiter, als wir das Recht haben, Ma’am,“ wandte sich der Advocat mit höflichem Tone nach ihr, „wir sind zwölf Mann, werden hier essen, rauchen, trinken, dann unser Nachtlager, so weit es uns gefällt, aufschlagen und morgen, da es Sonntag ist, noch einige Gesellschaft zu besserer Unterhaltung bei uns sehen.“

„Halt, ich glaube, wir haben es hier gar nicht mit dem eigentlichen Miether zu thun, der jedenfalls nicht verlangen wird, daß wir in der Nacht auf die Straße wandern sollen!“ begann jetzt der Mann wieder, wie sich an einen letzten Strohhalm klammernd, nach mir gewendet.

„Sie haben ein recht gutes Hotel in der Nähe, in das ich morgen gezwungen sein würde, mit meiner Familie zu gehen,“ erwiderte ich ihm, „und ich sehe keinen Grund ein, zum Besten Anderer Kosten zu haben.“

„So gebe ich Ihnen mein Ehrenwort, daß ich morgen das Quartier räume!“ rief er, ich aber wies ihn an den Advocaten, dem ich bis zum ungestörten Besitz die Angelegenheit übergeben.

„Laß sie doch, Mann, sie haben es einmal darauf angelegt,“ rief die Frau bissig, „ich aber werde doch sehen, wie weit die Rechte der Ladies mit Füßen getreten werden sollen!“

In diesem Augenblick tönte die Klingel; ruhig öffnete der Advocat die Vorderthür, und herein schoben sich die vier Doppelmatratzen aus meinem Hause, ein großer Waschkorb mit Tellern und Lebensmitteln folgte, und das bereits angezapfte Fäßchen Bier mit einigen Seideln machte den Beschluß.

Mit stieren Augen sah die Bewohnerschaft einen furchtbaren Ernst sich entfalten; die Freunde packten zu, und bald lagen zwei Matratzen, bequeme Sitze bietend, im Wohnzimmer, während die übrigen nach den Schlafzimmern wandern sollten; aber die Frau warf sich ihnen wie eine Furie entgegen. „Hier ist das Schlafzimmer meiner Töchter,“ schrie sie, „und ich möchte sehen, wer es zu dem seinigen machen will!“

„Hier ist gar kein Zimmer mehr das Ihrige!“ erwiderte der Advocat kalt, „und Sie ersparen sich ohne einen nutzlosen Widerstand viele Inconvenienzen.“ Ein scharfer Zug von kräftigen Händen an der Matratze drängte die Frau willenlos zurück, und mit einem: „O, das soll Euch ein theuerer Einzug werden!“ ergab sie sich in ihr Schicksal.

„Aber was soll aus den Frauen während der Nacht werden?“ flüsterte ich dem Advocaten zu.

„Der Parlor ist freigelassen, dort mögen sie campiren wie wir selbst!“

Bald klapperten rings die Teller, schäumten die Gläser und dampften die Cigarren; ich aber vermochte den Kampf und die stille Verzweiflung in den Mienen des Mannes, wie die entsetzten Gesichter der beiden Mädchen, welche sich nach einer der entferntesten Ecken zurückgezogen hatten, nicht mehr mit anzusehen.

„Der Parlor soll Ihnen für diese Nacht überlassen bleiben, aber merken Sie wohl, nur für diese Nacht!“, trat ich an den Mann heran; „ziehen Sie sich dorthin mit Ihrer Familie zurück und räumen Sie morgen früh!“

Ein Zug von Erleichterung ging über sein Gesicht; bald waren die Frauen von ihm benachrichtigt, und das Ausräumen der Betten begann. Nach Kurzem saßen wir beim Scheine unserer eigenen Lichter allein, und auf den Matratzen arrangirten sich Whist- und Solopartien.

Ein regelmäßiger Wachtdienst mit Ablösungen, um allen Eventualitäten zu begegnen, ward für die Nacht hergerichtet; am andern Morgen aber, als ein ganzer Kessel voll Kaffee für uns anlangte, entfernte sich der Mann und gegen Mittag kehrte er mit zwei Möbelwagen zum Abholen seines Eigenthums und seiner Familie zurück.

Das war „ausgecrowdet“; nicht Jeder aber mag wie mein Advocat die Befähigung dazu in sich haben.