Amerikanischer Frauenkrieg gegen Trinkstuben

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: G. O.
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Amerikanischer Frauenkrieg gegen Trinkstuben
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 13, S. 210–213
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1874
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[210]
Amerikanischer Frauenkrieg gegen Trinkstuben.


Der Krieg auf Tod und Leben, den seit Kurzem die Frauen im Staate Ohio gegen die Trinkstuben zu führen begonnen haben, und der sich bereits auf die Nachbarstaaten West-Virginien, Indiana und Illinois auszudehnen beginnt, müßte schon um des Geschlechts der Angreifer willen von höchstem Interesse sein, selbst wenn die Waffe, deren sie sich ausschließlich bedienen, nicht eine so ganz wunderliche wäre, da sie nichts Anderes als das Gebet und der geistliche Gesang ist. Um jedoch meinen Lesern einen klaren Einblick in diese eigenthümliche Erscheinung zu geben und sie zu einem alle Seiten derselben in Betracht ziehenden Urtheile zu befähigen, wird es um so nötiger, etwas weiter auszuholen, als dem Deutschen nach seinen Anschauungen, Sitten und Einrichtungen, so wie nach seinem nationalen Charakter eine solch gewaltsame Anstrengung ganz unbegreiflich erscheinen muß.

Es kann nicht bestritten werden und ist ein Gegenstand tiefster Besorgniß für jeden Patrioten, daß in den Vereinigten Staaten der Uebergenuß starker Getränke (Whiskey, Brandy, Cognac etc. und all’ jener mit den wunderlichsten Namen, wie „Hahnenschwanz“ etc., belegten Mischungen derselben) zu einem alle Stände, Geschlechter und Gesellschaftsclassen durchdringenden Laster geworden. So ist in den Abendgesellschaften der ersten Classen in den großen Städten der Union und insbesondere der Hauptstadt, Washington, den gebrannten Weinen ein gewöhnlich offener, häufig aber auch mehr oder weniger verschämt aufgestellter Tisch oder gewählter Nebenraum gewidmet. In den Eisenbahnwagen trägt die Mehrzahl der Reisenden aller Classen und auch Derer, die von in Gold und Sammet strotzenden Damen begleitet werden, eine kleine Flasche mit „etwas Stärkerem als Wasser“ bei sich, der nicht selten zugesprochen wird und die ich manchmal sogar schöne Lippen benetzen, öfter aber mit einem Blicke resignirter Scham zurückweisen sah. In der Stadt New-York betrug die Zahl der während des Jahres 1873 wegen Trunkenheit auf den Straßen aufgegriffenen Personen über achttausend, von welcher an sich erschreckenden Summe siebenzig Procent dem weiblichen Geschlechte angehörten. Es ist kaum glaublich und dennoch von der Polizeibehörde veröffentlicht. Der Umstand, daß diese unglücklichen von der Straße aufgegriffen wurden, möchte zu dem Schlusse veranlassen, daß sie nur den unteren Classen der Gesellschaft angehörten und daher nur unter ihnen das Laster solch furchtbare Verwüstungen anrichte. Dem scheint jedoch nicht so zu sein, ich sage „scheint“, um nicht eine Behauptung zu wagen, die ich zu beweisen außer Stande bin. Allein es ist ein offenes Geheimniß, daß sich das Laster in die ersten Familien eingedrängt hat, und daß über manchen Palast der Millionärstraßen die Trunksucht von Frauen oder selbst Töchtern einen tiefen, trostlosen Schatten wirft, und ich habe mehr als ein Mitglied des Senates der Vereinigten Staaten mühsam in seinen Armstuhl schwanken, fast aus demselben herausfallen und zuletzt darin einschlafen gesehen.

Eine tiefere Untersuchung der Frage, die sich jedem Leser wohl unwillkürlich aufdrängt, wie es komme, daß im amerikanischen Volke der übermäßige Genuß der allerstärksten Getränke so allgemein verbreitet sei, gehört, genau genommen, nicht in ein Unterhaltungsblatt. Allein es mag mir gestattet sein, einige der Ursachen, wie sie sich mir aufgedrängt haben, wenigstens anzudeuten

Es ist keinem Zweifel unterworfen, daß mit vielem Vortrefflichen die Amerikaner ihre Vorliebe für starke Getränke von ihren Stammesgenossen, den Engländern, überkommen haben. Letzteren – ich hörte diesen wunderlichen Beweisgrund noch jüngst anführen – sind diese Getränke unentbehrlich wegen des feuchten, nebeligen Klimas. Ebenso sind sie, nach Autorität der Schnapstrinker, hier absolut nöthig, in dem aufreibenden, stündlich wechselnden Klima und dem überstürzenden Geschäftstreiben der Vereinigten Staaten. Sonderbarer Weise fand ich sie gleich unentbehrlich in dem äußerst trockenen Klima von Texas und den nördlichen Staaten von Mexico. Aber das Wunderbarste war, daß in Central-Amerika, wo man das Jahr so ziemlich in eine regnerische und in eine trockene Hälfte theilen kann, man, dem Rathe der Schnapsanbeter gemäß, in der einen Hälfte Branntwein trinken müsse, um der Feuchtigkeit, in der anderen, um der übermäßigen Trockenheit in ihren äußerst nachtheiligen Folgen auf das „System“ entgegenzuwirken. Und ich glaube in der That, die letzteren Schnapsphilosophen haben Recht, und sie irren sich blos über die Stelle, wo die große Trockenheit herrscht und gefährlich ist.

Meiner festen Ueberzeugung und eigenen Erfahrung nach ist dieses Laster, wie die meisten anderen, eine reine Gewohnheit, und die geschickte Weise, in welcher die Amerikaner auf diesem Felde, wie auf jedem andern, es verstanden haben, dem Fröhnen dieser Gewohnheit so Vorschub zu leisten, daß dabei möglichst wenig Zeit verloren wird und der ihr Huldigende durch eiligstes Bedienen, Hinunterstürzen im Stehen vor der Bar (dem Schenktische) und durch eine vor der Localthür aufgestellte spanische Wand vor Beobachtung geschützt wird, hat sicher das Umsichgreifen des Lasters wesentlich befördert. Was aber noch täglich die Zahl der Trinker und das Maß der vertilgten Quantitäten stärkster Branntweine vermehrt, ist das abscheuliche Tractiren (treat). Der Amerikaner trinkt nämlich fast nie allein oder für sich. Entweder ladet er eine Anzahl Bekannter zum Trinken ein, wo dann [211] Jeder nach seinem Geschmacke aus dem höllischen Trinkzettel bestellt, was ihm beliebt, und der Einlader für Alle bezahlt, oder er läßt sich einladen. Wenn ihm dazu die Mittel fehlen oder der Durst zu groß wird, um auf eine Einladung zu warten, so ist die an die Umgebenden gerichtete Frage: „Wer will tractiren?“ fast nie erfolglos.

Gewöhnlich tritt nun der bedauerliche Fall ein, daß mit einem Treat der Durst nicht gestillt ist, oder aber Einer oder der Andere der eben Tractirten hält es für seine Ehrenpflicht, nun auch sich liberal zu zeigen. Es wird also ein zweiter Treat bestellt und abgefertigt, wohl auch ein dritter und vierter etc., bis so ziemlich die Reihe an Jeden gekommen ist, und das Alles geschieht innerhalb fünf bis sechs Minuten. Die Einladung zu einem Treat auszuschlagen, gilt für eine tödtliche Beleidigung, und es gehört eine äußerst selten anzutreffende Charakter- und nicht selten auch Körperstärke dazu, es ungestraft zu thun. Das fast einzige Schutzmittel ist die Erklärung, man habe den Temperanz-Eid geleistet, wo dann die auch dem verworfensten Amerikaner anklebende Achtung vor jeder sittlichen Anstrengung sich geltend macht. Statt daß also, wie nach deutscher Sitte, sich jene Leute ruhig um einen Tisch gesetzt und im Laufe einer kurzen Unterhaltung Jeder für sich einen Schnaps, ein Glas Bier oder Wein getrunken und dafür eine geringe Ausgabe gemacht hätte, hat er fünf bis sechs in athemloser Hast hinuntergestürzt und eine nicht unbedeutende Zeche bezahlt.

Würde man nun annehmen, daß damit das Tagewerk vollbracht sei, so würde man sich sehr irren. Jeder dieser unserer fünf bis sechs Bekannten spielt dasselbe Stück etwa jede Stunde des Vormittags ab, freilich nicht in derselben Giftbude; diese wechselt mit seiner Beschäftigung und der Vorliebe des ersten Einladenden. Man kann sich hieraus leicht ein Bild vom Zustande des Kopfes und Magens eines solchen Menschen um die Mittags- ober Abendzeit machen, wenn der Herr Gemahl mit leerem Geldbeutel zum häuslichen Herde zurückkehrt. Ich habe Männer, selbst angesehene Kaufleute, Advocaten und mehrmals wiedergewählte Beamte, sogar Richter gekannt und kenne noch solche, die dreißig bis fünfzig „drinks“ täglich als ein ihnen zukommendes Minimum ansehen. Auf meine an einen irischen Schnapswirth gestellte Frage, weshalb er nicht lieber Tische hinstelle, an welchen seine Gäste sich niederlassen könnten, erwiderte er: „Dann wäre ich bald nicht mehr Herr im eigenen Locale; die professionellen Schnapstrinker, die Bummler und Strolche würden den ganzen Tag daran sitzen bleiben, im Winter wegen der Wärme, im Sommer wegen der Kühle.“ Sein Local war nämlich in einem Keller.

Die hier ausgesprochene Ansicht über die Gefährlichkeit der Einrichtung des Bar-Raums habe ich noch nirgends angedeutet gefunden, und ich würde vielleicht selbst auch nicht dazu gekommen sein – der Mensch wird sich meistens über das ihm täglich Begegnende am wenigsten klar –, wenn ich nicht während eines mehr als zehnjährigen Aufenthaltes in spanisch-amerikanischen Ländern bemerkt hätte, daß mit der Einrichtung eines solchen Etablissements an irgend einem Orte trotz der sprüchwörtlichen Nüchternheit und Enthaltsamkeit der spanischen Race die Trunksucht begann und sich mit zunehmender Zahl derselben vermehrte, zugleich aber auch die Anzahl Derer, die an Säuferwahnsinn starben, zunahm. Es ist nämlich erwiesene Thatsache, daß der reine Rum (aguardiente, aus Zucker bereitet) jener Länder nie jene entsetzliche Erscheinung zur Folge hat, und weiter, daß alten Rumtrinkern dieses Getränk zuletzt schal erscheint und daß sie mit der größten Gier und auch für den höchsten Preis zu den Giftproducten amerikanischer, französischer (Cognac!?) und deutscher Industrie (feine Liqueure) greifen.

Die unabweisliche Nothwendigkeit, gegen dieses entsetzliche, die Grundfesten des Gemeinwesens tückisch benagende Laster Mittel zu ergreifen, machte sich bereits über ein halbes Jahrhundert geltend. Anfänglich war die Bekämpfung des Uebels auf moralische Einwirkung durch die Presse, Kanzel und herumreisende Apostel beschränkt, und das angestrebte Ziel war Mäßigkeit im Genusse der gefährlichsten Gattungen von berauschende Getränken. Es liegen mir keine Materialien vor, um zu beurtheilen, welchen Erfolg jene Schritte gehabt, und ich kann mich so lange nicht dazu verstehen, aus den nachfolgenden fanatischen Maßregeln der sogenannten Temperanzfreunde auf deren Fehlschlagen zu schließen, so lange mir nicht nachgewiesen wird, daß blinder Fanatismus eher sein Ziel erreicht als allseitig erwägende Vernunft.

Wir sehen demnächst einerseits das sogenannte Licenzsystem einführen, wonach Niemand ohne Erlaubniß einer gesetzlich bestimmten Behörde, der es zusteht, dieselbe auch zu verweigern, eine Schenkwirthschaft eröffnen darf und dafür eine jährliche Abgabe an die Gemeinde oder den Staat zu bezahlen hat, und andererseits den Charakter der Gemeinschädlichkeit auch weniger starken Getränken, wie Bier, Apfel- und Traubenwein, aufdrücken.

Aber auch damit waren die Temperanzfanatiker nicht zu beschwichtigen und unter ihrem Einflusse erließ die Legislatur des nordöstlichsten Staates der Union, Maine (sprich Mähn), das absolute Verbot jedes Schenklocales und selbst des Einführens von Getränken zu Land oder See und gestattete blos den Apothekern, zu medicinischen Zwecken Branntweine zu halten, und zwar in kleinen Quantitäten, und auf Verschreibung der Aerzte sie zu verabfolgen. Es war erstaunlich, zu beobachten, welch entschieden nachtheiligen Einfluß dieses Gesetz in Maine wie in anderen ihm folgenden Staaten auf den Gesundheitszustand der Bevölkerung hatte und für welche bisher ungeahnte Menge von Uebeln, „denen das Fleisch unterworfen“, geistige Getränke Heilmittel wurden. Das Resultat des unsinnigen Gesetzes war: jede Apotheke, jede Materialwaarenhandlung, ja ein großer Theil der Privatwohnungen wurden Schnapsbuden, und das gefährlichste aller Symptome dieses Lasters, „der heimliche Soff“, riß dermaßen ein, daß die Executivbehörden erschreckt sich zu einer milderen Praxis bequemen mußten, das heißt das Gesetz blieb ein todter Buchstabe.

Die totale Erfolglosigkeit der von den Fanatikern durchgesetzten Repressivmaßregeln und der heftige Widerstand, welchen denselben viele besonnene Leute unter den Amerikanern, besonders aber die Einwanderer vom europäischen Continente, an ihrer Spitze die Deutschen, entgegensetzten, rief eine Partei in’s Leben, die, wie es jedem Vermittler zwischen fanatisch Streitenden ergeht, bis jetzt fast noch ganz ohne Erfolg gearbeitet hat. Sie ist der Ansicht, daß es nicht der Genuß, selbst der übermäßige, von geistigen Getränken sei, welcher so beklagenswerthe Erscheinungen zur Folge habe, sondern vielmehr der Genuß verfälschter und aus der Gesundheit nachtheiligen Elementen zusammengesetzter Getränke; alle Getränke sollten daher einer chemischen Analyse unterworfen, die verfälschten und schädlichen zerstört und ihre Verfertiger bestraft werden. Sie wies überdies darauf hin, daß durch die gänzliche Unterdrückung des einheimischen Whiskey und Brandy, des Bieres und Weines fast ein Viertheil der Gesammtbevölkerung der Vereinigten Staaten, die theils mit der Erzeugung der dazu nöthigen Rohproducte, wie Mais, Hopfen, Gerste und Trauben, theils mit deren Darstellung und Versendung direct oder indirect beschäftigt sind, in Mitleidenschaft gezogen, wenn nicht brodlos gemacht würden.

In den letzten Jahren ist der Kampf der Temperanzler und ihrer Gegner immer erbitterter geworden. Keine Partei will von Vermittelungsvorschlägen hören. Die Temperanzler haben mehr und mehr eine religiöse Färbung angenommen, und ihre Gegner sind zu Maschinen in der Hand der Vereine von Brauern, Brennern etc. geworden. Es scheint, als ob die Temperanzler ihre fanatischen Zwecke zu verfolgen entschlossen sind, wenn auch Millionen darüber an den Bettelstab kommen sollten, und als ob ihren Gegnern der Ruin von Hunderttausenden von Mitbürgern und von Tausenden von Familien nichts gilt, wenn sie nur ihr Ziel erreichen. Es ist im höchsten Grade zu bedauern, daß die Mittelpartei noch so der Sache ruhig zusieht und sich nicht einmal ein öffentliches Organ von Bedeutung zur Vertretung ihrer Ansichten und Bekämpfung der Uebertreibungen Seitens der kämpfenden Hauptparteien verschafft hat.

Seit Anfang dieses Monats ist in diesem Kampfe eine ganz neue und völlig unerwartete Phase eingetreten. Wer der Erfinder der darin leitenden Idee, ist ebenso bestritten, wie das Verdienst mancher andern großen Erfindungen. Es scheint jedoch, daß dem seit langen Jahren als Humanist berühmten und vielseitig verdienten Dr. Dio Lewis (sprich Louis) von Boston die Palme zukommt, wenn es eine solche giebt. Für die deutschen Leser, die ja so vielseitige Wahlverwandtschaft mit Amerika haben [212] und von denen Mancher sich zur Auswanderung dahin vorbereitet oder doch sehnsüchtige Blicke herüberschickt, dürfte diese Episode in der Temperanzbewegung um so interessanter sein, als sie ihnen eine in Deutschland ganz unmögliche Erscheinung, die dagegen in den Vereinigten Staaten vom allerentschiedensten Gewichte ist, zur Anschauung bringt.

Schon seit mehreren Jahren kamen, besonders im Gebiete der jüngeren Staaten, wo überhaupt die Zustände noch manchmal unter einer keineswegs angenehmen Urwüchsigkeit leiden, Fälle vor, daß die Frauen eines Dorfes, einer Ansiedelung oder einer Stadt sich zusammenschaarten, in Masse einen gewaltsamen Angriff auf ein ihren Männern, Söhnen oder Brüdern besonders gefährliches Schenklocal machten, und in demselben, besonders aber unter den Fässern mit Getränken durch Einschlagen arge Verwüstungen anrichteten. So sehr auch die öffentliche Stimme im Urtheile gegen Frauen respectvoll und nachsichtig ist, und in diesem Falle um so mehr, als sich jeder Besonnene sagen mußte, daß meistens arge Herausforderung vorlag, so konnte doch diese Rücksichtnahme die Tumultuanten höchstens gegen strafrechtliches Verfahren, nicht aber gegen die Entschädigungsklagen derjenigen schützen, welche durch die ungesetzlichen Handlungen derselben Verluste erlitten hatten.

Es mußte also ein Verfahren erfunden werden, das bei gleicher Wirksamkeit doch weniger mit dem Strafgesetz in Conflict kam. Herr Dio Lewis empfahl daher, daß die Frauen, in den kleineren Ortschaften beginnend, sich zu dem Zwecke vereinigen sollten, „in hellen Haufen“ eine nach der anderen der Trinkstuben einnehmen und den Eigenthümer unter allen möglichen friedlichen Argumenten, ihrem häuslichen, durch den Trunk ihrer Männer veranlaßten Unglücke entnommen, bitten und beschwören sollten, ihrem Gewerbe zu entsagen und ihre Vorräthe an Getränken in die Straße laufen zu lassen. Würde ihren Bitten nicht entsprochen, so sollten sie in dem Trinklocale selbst sofort geistliche Lieder und Gebete zur Bekehrung des Widerspenstigen anstimmen und tagelang fortsetzen, bis sie ihr Ziel erreicht hätten. Würde ihnen das Verbleiben im Schenklocale nicht gestattet, dann sollten sie ihre Gebete und Gesänge vor der Thür des Hartnäckigen, auf dem Bürgerstieg oder in der Straße, oder in Nebenhäusern fortsetzen, bis das Ziel gewonnen.

Dieser Plan ist nun bereits seit fast einem Monate in praktischer Ausführung begriffen, und, wie es scheint, mit bedeutendem Erfolge, wenigstens auf dem Lande, das heißt, in den kleineren Ortschaften und Städtchen. Die einzige größere Stadt, in welcher diese Kreuzzüglerinnen sich bis jetzt versucht haben, ist die Hauptstadt des Staates Ohio, Columbus. Die in dem Feldzugsplane der Frauen befolgte Taktik ist überall die folgende: Zunächst wird eine Massenversammlung abgehalten, in der durch geeignete Ansprachen der Widerwille der Amerikanerinnen gegen Trinken und Trunksucht bis zum erforderlichen Grade von Aufregung und Fanatismus gesteigert wird. Dann verbinden sich die Frauen zu einem Mäßigkeitsverein; sie wählen Beamte, und die Geschäftsordnung beginnt. Alsdann werden die Opfer vorgeschlagen, die man zunächst heimzusuchen gedenkt. Ein Wirthshaus wird ausgewählt, eine Deputation ernannt – und die Frauenprocession formirt sich an der Schwelle der Kirche, in der gewöhnlich die Versammlungen stattfinden. Militärisch, zwei Damen immer nebeneinander, und in langem, zuweilen gegen hundert Frauen umschließendem Zuge, zieht die Procession durch die Straßen, bis das Ziel, ein Trinklocal, erreicht ist. Die frommen Damen, deren einzige Waffe in Sanftmuth und Ueberredung besteht, erbitten Eintritt, und wird dieser verweigert, so bleiben sie vor der Thür stehen. Eine Schwester erhebt dann ihre Stimme im Gebet, das sehr viele gute Lehren und noch mehr andächtige Stoßseufzer enthält und das die schwere Schuld des Spirituosenverkäufers und sein fluchwürdiges Gewerbe drastisch behandelt. Dem Sologebete folgt eine vom gesammten Frauenchor gesungene Hymne, am häufigsten eine aus dem schwungvollen, erweckenden methodistischen Gesangbuche. Der bekannte Refrain dieser Lieder gewinnt zuweilen durch den Chorgesang der Zuschauer eine nicht immer melodische Verstärkung. Alsdann tritt eine der Wortführerinnen zu dem entweder zerknirschten oder ergrimmten Wirthe und überreicht ihm ein Document mit der Bitte, dasselbe zu unterzeichnen. Die Denkschrift enthält das Gelübde, daß der Unterfertigte sich unter Verpfändung seines Ehrenwortes verpflichtet, dem Verkaufe geistiger Getränke fortan zu entsagen und zum eigenen Heile, wie zum Wohle seiner Mitbürger ein besseres Gewerbe zu erwählen. Auch die Stammgäste des Locals werden in ähnlicher Weise ermahnt, und in oder vor dem nächsten Trinksalon beginnt ein fernerer Act des seltsamen Schauspiels.

Die Ausdauer und Opferwilligkeit der betenden Frauen umhüllt diese auch zuweilen mit einem Nimbus des Märtyrerthums, der selbstverständlich eine fanatisirende Wirkung auf die umgebenden Volksmassen ausübt. So begann das Beten auf einem Platze, wo ein verstockt sündiger Gastwirth Haus hielt, um neun Uhr Morgens und dauerte ohne Unterbrechung bis zehn Uhr Abends, und zwar während mehrerer Tage. Die Frauen waren so organisirt, daß sie sich regelmäßig in ihrem Amte, die Geister des Weins und des Spiritus zu beschwören, ablösten. An einem anderen Orte, wo den Frauen der Eintritt in’s Gastzimmer verweigert wurde, knieten sie auf den kalten Steinen vor der Thür, vom Schneesturm umweht, und beteten für das Seelenheil des Wirthes, dem Gott nicht in gleicher Weise das Thor des Erbarmens verschließen möge. In einem Städtchen Indiana’s, wo sie nirgends Einlaß erhielten, zogen sie unter Weinen und Wehklagen in die Kirche zurück, so daß kaum ein Auge, das diesen Trauerzug erblickte, trocken blieb. In einer größeren Stadt Indiana’s, Columbus, grassirte die Seuche des Betens in ganz besonders aufregender Weise. Die Frauen erhielten hier Verstärkung durch wahrhaft begeisterte Beterinnen aus der benachbarten Quäkercolonie Azalia. Ein Augenzeuge schildert die Art und Weise, in der diese Quäkerinnen beten, als ganz besonders erschütternd. Tiefer Ernst und eine zum Herzen dringende Aufrichtigkeit charakterisiren diese Gebete, in denen Schwulst und Salbung und selbst das herkömmliche Amen vermieden wird. Die Worte klingen rhythmisch und brechen plötzlich ab, so daß man, seltsam ergriffen, noch lange lauscht, wenn das Gebet bereits verklungen ist.

Bis jetzt hatte der Kampf der Frauen in den Städten keinen bedeutenden Erfolg, doch währt er noch fort, und die Temperanzler sind hoffnungsvoll. Bereits bilden sich Vereine von Männern, welche bedeutende Summen unterzeichnen, um die nachgiebigen Wirthe zu entschädigen und ihnen die Mittel zu gewähren, einen andern Erwerb zu beginnen. Unter dem Einflusse der Mütter bilden sich Kindervereine, um die Bestrebungen der Frauen zu unterstützen. Wohl kann man mit dem Endziele dieser Frauenbewegungen einverstanden sein, und doch die Mittel, deren sie sich bedienen, entschieden verwerfen. Denn es ist nicht zweifelhaft, daß sie sich herausnehmen, gegen ein vom Gesetz anerkanntes und von ihm zu schützendes Gewerbe einen moralischen Zwang auszuüben, der jede andere Classe der Bevölkerung vor den Strafrichter bringen würde. Ueberdies übertreten sie die Polizeigesetze durch Versperrung des Eingangs der von ihnen belagerten Giftfestungen, der Trottoirs und Straßen. Allein dennoch ist es wieder unmöglich, nicht mit den Frauen zu sympathisiren, namentlich in Amerika, wo „das Recht, das mit uns geboren“, nicht selten das positive Gesetz niedertritt, und wo die Verehrung und Achtung vor allen Mitgliedern des weiblichen Geschlechtes ein so tief ausgebildeter nationaler Charakterzug ist, daß die Männer sich schweigend selbst Unarten und Ueberhebungen fügen. Diese Frauen streiten für das Höchste, was ihre Seele kennt, für häuslichen Frieden, für die Gesundheit und das Lebensglück ihrer Ehegatten, Söhne und Brüder; sie thun es muthig und unerschrocken, obwohl Alles gegen sie ist. Während sie in tiefem Schnee oder Straßenschmutz, in strömendem Regen und in schneidender Kälte ausharren, und kein Wort der Bitterkeit oder Drohung über ihre Lippen kommt, ja während sie das Einschreiten des von ihnen angebeteten höchsten Wesens zum Besten ihres Gebetes in inbrünstigen, lauten Gebeten und Gesängen herabrufen, ertragen sie ruhig die ihnen zugerufenen spöttischen Bemerkungen, Verhöhnungen und selbst manchmal Beleidigungen. Aus den Trinkstuben vertrieben, knieen sie in die schmutzigen Straßen, beten für ihren Verfolger und trotzen Wind, Schnee und Regen. Ob auch ein Wirth die in seinem Locale Knieenden mit Bier überschüttet, Schnupftabak über sie ausstreuet oder sie mit dem Stecheisen angreift, was alles vorgekommen ist – keine Widerrede kommt von ihren Lippen. Das Gesetz ist gegen sie angerufen von einem oder mehreren Wirthen; der Richter erläßt einen Einhaltsbefehl – [213] sie gehorchen ihm und ziehen vor andere Locale, bis das gerichtliche Verfahren entschieden sein wird. Ist das nicht edelster, großartigster Heroismus? Das lange stillleidende, niedergedrückte Weib, die von der Trunksucht ihres Mannes und ihrer Kinder in’s Herz getroffene Frau und Mutter, die verzweifelnde Schwester und Liebende erheben sich zur Beseitigung jener Höllen, in denen ihnen das Ihrem Herzen Theuerste verthiert, verunstaltet und sogar getödtet wird.

In wie weit diese Anstrengung, dieser feierliche Aufschwung im Leben der Frauen eines großen Theiles der Vereinigten Staaten einen dauernden Erfolg haben werde, ist freilich eine andere Frage. So viel ist klar, daß selbst wir Amerikaner bisher den Enthusiasmus und die Hingabe der Frauen an eine große Idee unterschätzt haben. Diese hochherzigen Impulse sind etwas mehr als bloße Gefühlsausbrüche, sie sind wichtige Kräfte in dem Gesellschaftsorganismus. Die Bewegung wird schwerlich die Unmäßigkeit ausrotten, oder den Verkauf von berauschenden Getränken auf die Dauer zerstören. Allein sie wird dazu beitragen, das Betrinken, das Uebermaß im Genusse und das Halten von Trinklocalen schimpflicher zu machen, und wohl auch Tausende retten, die noch nicht hoffnungslos dem Laster verfallen sind. Die Gefahr in der Bewegung liegt darin, daß ihre Apostel zu schnell und zu weit gehen, oder daß sie in die Hände der geriebenen, charakterlosen Politiker fallen und diese sie und ihre Bestrebungen als Mittel zu ihren persönlichen Zwecken benutzen.[1]

Es ist auffallend, wie verschieden die Anschauungsweise des Amerikaners und Irländers einerseits von der des Deutschen andererseits über öffentliche Trinklocale ist. Während der Letztere darin einen Ort sieht, wo sich alle Gesellschaftsclassen in demokratischster Weise dem vertrauten Umgange mit Freunden, der Erholung im Familienkreise nach des Tages Mühen, dem Genusse der Natur und der Musik hingeben und dabei ein mäßiges Quantum eines unschuldigen und billigen Getränkes zu sich nehmen, sehen jene darin (und wohl nicht mit Unrecht) einen von der öffentlichen Moral verfehmten Ort, in dem sich nicht gern Jemand sehen läßt, den man aber doch nicht vermeiden kann, wo man möglichst eilig den Spiritus hinunterschüttet, dessen man bei der aufreibendsten Thätigkeit, geistigen wie körperlichen, nicht entbehren kann, wo man nur so viel spricht wie nöthig, um seinen „drink“ zu erhalten und zu bezahlen, wo sich Niemand zur Unterhaltung niedersetzt, wo Jeder den Andern ignorirt, wo man Giftdünste mit Wollust einathmet und wo nie ein ehrbares Frauenzimmer gesehen oder eine unschuldige Kinderstimme gehört werden darf. Wohl sind in fast allen Städten der Union auch Biergärten errichtet; allein dem Amerikaner, dem das Verständniß der deutschen Anschauung durchaus abgeht, sind sie um nichts besser als seine „bar-rooms“, und es ist unmöglich, daß der Bann, den die Majorität der Bevölkerung gegen diese Gärten ausgesprochen, nicht auf den Charakter derselben, sowie auf den Ton der daselbst sich Versammelnden nachtheilig zurückwirke, da sie ja der Controle entbehren, die ihnen in Deutschland die allgemeine Popularität und die Theilnahme aller Stände und Geschlechter gewährt. Aber die weiblichen Bilderstürmer machen keinen Unterschied, und mit der irisch-amerikanischen Gift- und (gewöhnlich auch) Spielhölle wird auch der deutsche Biergarten in den Vereinigten Staaten sein Ende finden oder doch gleiches Schicksal mit ihr theilen.

New-York, im Februar 1874.

G. O.




  1. Wenn der Herr Verfasser die Hauptgefahr für die Temperanz-Bewegung der amerikanischen Frauen in der Einmischung selbstsüchtiger Politiker erblickt, so können wir dieser Auffassung unseres bewährten New-Yorker Correspondenten, wie auch einigen anderen Ausführungen des obigen Artikels, nicht überall beistimmen. Wir unsererseits glauben, daß es neben den Politikern namentlich der Clerus ist, der diese sociale Revolution zu seinen Zwecken auszubeuten bestrebt ist, wie denn überhaupt priesterliche Herrschsucht als der Haupthebel der ganzen Bewegung zu betrachten sein dürfte; werden doch die Meetings in den Kirchen gehalten und die Glocken zu den Gebeten und Gesängen der fanatischen Frauen geläutet.
    D. Red.