An den Königl. Preussischen Kammerherrn und Legationsrath von Stein zu Konstantinopel
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An den Königl. Preußischen Kammerherrn und Legationsrath von Stein zu Konstantinopel.
Sey tausendmahl gegrüßet, Freund!
Dort, wo des Phöhus Strahl den halben Mond bescheint,
Mit dem man die Moscheen schmücket;
Dort, wo noch Mahomets geweihte Fahne weht;
Und für der Brennen König Heil erfleht,
Daß Selims Thron auf unserm Theil der Erde
Nicht durch die größte Frau[1] der Welt zerstöret werde:
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Dort wirst du, lieber Stein,
Das ohne neue Moden lebt, der Höfe Galant’rie
Nicht sonderlich, und die Philosophie
Wie sie Musarion uns lehret, gar nicht kennet;
Uns gern Redouten läßt, uns gern Konzerte gönnet,
Das nicht Romane lies’t, nicht Taschenbüchlein hält;
Das unbekannt mit unsrer Poesie,
Und immer neuem Kraftgenie,
Still vegetirt, und jeden Harm vergißt
Kaffe, Sorbet, und Rauch aus langem Rohre trinket,
Und dann der Lieblingssklavin winket,
Die ihren Herrn vielleicht mit Furcht und Zittern küst,
Doch hüte dich, ο Freund! – (ich bitte
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Vor dieser wahrhaft abgeschmackten Sitte:
Die aufgeklärten Europäerinnen,
Die Jugend, Witz und Schönheit ziert,
Regieren, werden nicht regiert;
Wenn ihn an sanftem Seil kein holdes Mädchen führt.
Dein Beyspiel, bester Stein! wird jene Sitten mildern,
Die wir vielleicht zu türkenfeindlich schildern;
Und eh’ ein ganzes Jahr verstreicht,
Zur Göttinn Mode wird bekehret;
Und einst Berlin an Ton und feinen Sitten gleicht.
- ↑ Katharina die Zweyte Kaiserinn von Rußland.