An die Schaamhaftigkeit

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Textdaten
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Autor: Gotthold Friedrich Stäudlin
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Titel: An die Schaamhaftigkeit
Untertitel:
aus: Taschenbuch von der Donau. Auf das Jahr 1824, S. 200–207
Herausgeber: Ludwig Neuffer
Auflage: 1. Auflage
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1823
Verlag: Stettinische Buchhandlung
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Erscheinungsort: Ulm
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Quelle: Exemplar der HAAB Weimar auf Commons
Kurzbeschreibung:
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[200]

An die Schaamhaftigkeit.

O Schaam, die mit der Reinheit
Der edle Stolz gezeugt,
Du, von der besten Mutter
Zur Grazie gesäugt!

5
Du holdes Bild der Blume,

Die, nur vom West geküßt,
Der Neugier raschem Finger
Die zarte Brust verschließt!

Ach, würdig dich besingen,

10
O Tochter der Natur,

Kann nur der Fleckenreine,
Des Himmels Seraph nur!
Drum zürne nicht dem Liede,
Das schwach von dir erklingt,

15
Und sich zu deinen Höhen

Vom Staub empor nicht schwingt.

[201]

Als vor der Wesenmutter,
Im rosigen Gewand,
Kaum ihrer Hand entschwebet,

20
Die junge Schönheit stand,

Da sprach zu dir vom Throne
Die schaffende Natur:
„Mein Meisterwerk vollenden
Kann deine Zartheit nur!“

25
Da küßtest du als Schwester,

Gehorsam dem Gebot,
Ihr auf die Lilienwange
Ein sanftes Abendroth.
Da steht sie nun die Göttinn

30
In herrlicher Gestalt,

Im Purpurlicht vollendet,
Das ihre Wang’ umstrahlt.

Mit ihr und mit der Tugend
In stiller Harmonie,

35
Durchwallst du nun die Erde,

Unsterblich, so wie sie.
Die Wunder so du thatest;
Mit deinem Schwesterpaar,
Verkünden hohe Lieder

40
Der edeln Bardenschaar.


[202]

Auf deiner Stirne thronet
Der Würde Zauberkraft;
Scheu bebt vor dir zurücke
Die wilde Leidenschaft.

45
Es rasten ihre Stürme

Im Frühlingssonnenlicht,
Das sanft und ruhverbreitend
Aus deinem Auge spricht.

Du blickest gleich bescheiden,

50
Gleich froh umher und mild,

Ob offner strahlt dein Antlitz,
Ob es dein Flor umhüllt.
Es liest aus deinem Blicke,
Wer deinen Schleier lüpft,

55
Daß an die ganze Schöpfung

Dich Gottes Friede knüpft.

Ernst blickest du den Frevler,
Den Edeln segnend an,
Du lächelst wie die Güte,

60
Und zürnest, wie ein Mann.

Dir wohnt in Einem Busen
Der kühne Heldenmuth
Der Brutus und Katone,
Und sanfte Liebesgluth.

[203]
65
Du leihst des Mädchens Arme,

Die mit dem Böswicht ringt,
Oft Ajax Heldenstärke,
Die keine Wuth bezwingt.
Du stähltest einst die Rechte

70
Der Gattin Kollatins,

Als sie ihr Dolch entrissen
Der Frevellust Tarquins.

Du wachst, wenn um die Tochter,
Die unter Blumen ruht,

75
Sich die Verführung windet,

Der Hölle Vipernbrut,
Du lenkst den gift’gen Stachel
Von ihrem Herzen ab,
Und streckst mit Herkulskühnheit

80
Die Mörderinn ins Grab.


Du hältst selbst dem Tyrannen,
Der Tod der Unschuld schwor,
Den Spiegel deiner Reinheit
In trunkner Stunde vor,

85
Daß er vor seines Bildes

Entmenschung selbst erschrickt,
Und thierisches Verlangen
In seiner Brust erstickt.

[204]

O, nie ist rührendschöner,

90
Du Himmlische! dein Bild,

Als wenn um die Gefallne
Dir Zährenthau entquillt;
Nie holder dein Erröthen,
Als wenn die Edelthat,

95
Von dir vollbracht im Stillen,

Der Dank entschleiert hat.

Du wandelst gern durch Auen,
Wo Frühlingsmilde blüht,
Wo vor des Grabes Stille

100
Schaamlose Frechheit flieht;

Nie weilest du im Saale
Voll bunter Mummereyn,
Wo zügellose Freuden
Dich, Himmlische! entweih’n;

105
Wo jach, gleich Wirbelwinden,

Gleichsiegend, gleichbesiegt,
Der Jüngling mit dem Mädchen
In Taumelkreisen fliegt.
Wo Brust an Brust, und Wange

110
An Wange pocht und glüht,

Und jedes Auge Funken
Der Lüsternheit versprüht.

[205]

O wehe, wenn die Liebe,
Im Leichtsinn von dir schied!

115
Ach, bald wird sie zur Thörinn,

Von roher Brunst durchglüht,
Zur rasenden Mänade,
Die nur der Zote lauscht,
Und sich mit wilden Scythen

120
Im Wollustgift berauscht!


Mit dir im Bunde schaffet
Die Welt sie schöner um,
Und zaubert uns hinüber
In ein Elisium;

125
Dein zarter Sinn vergeistigt

Durch Platons Hochgefühl,
Durch Ehrfurcht vor dem Menschen,
Cytherens Sinnenspiel.

O wohl der Erdentochter,

130
Der holden Charitinn,

Die, Göttinn! Du erlesen
Zu deiner Lieblinginn!
Ihr huldigen die Herzen,
Wenn mit der Majestät

135
Der Tugend, sie im Kreise

Bescheidner Männer geht.

[206]

O mehr als wohl dem Jüngling,
Den sie vor allen liebt,
Dem sie ein Bild hienieden

140
Vom Glück der Engel gibt!

O himmlisch schöne Szene,
Wenn sie, durch Treu erweicht,
Ihr Ohr, nur sanfterröthend,
Zu seinem Flehen neigt!

145
Wenn sie kaum durch ein Lächeln,

Das ihren Reiz erhöht,
Durch halbe, scheue Blicke,
Den innern Drang verräth,
Und, ähnlich dem Gesäusel

150
Des Wests im Blumenbeet,

Ihr Lispeln endlich leise
Die Liebe ganz gesteht!

Wo ihre Schwüre tönen,
Ist keines Lauschers Spur;

155
Auf ihre Freuden blicken

Des Himmels Sterne nur;
Da saugt mit ihren Küssen,
Gleich ihrem Herzen rein,
Nur Durst nach Edelthaten

160
Der Hochbeglückte ein.


[207]

Sie kämpft, die junge Heldinn,
Den Kampf der Leidenschaft,
Bis sie ermattet wanket
Am Ziel der Menschenkraft;

165
Dort bringt sie überwunden,

Von dir, o Liebe! nur,
Und unter keuschen Thränen
Ihr Opfer der – Natur.

 G. F. Stäudlin.