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An eine Sechzehnjährige

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Textdaten
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Autor: Max Dauthendey
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Titel: An eine Sechzehnjährige
Untertitel:
aus: Geschichten aus den vier Winden, S. 195–207
Herausgeber:
Auflage: 4. und 5. Tausend
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1915
Verlag: Albert Langen
Drucker: Hesse & Becker
Erscheinungsort: München
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: ngiyaw-eBooks und Commons
Kurzbeschreibung:
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Bearbeitungsstand
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An eine Sechzehnjährige

Wenn ich an Oda denke, wird mein altes Herz süß wie eine Blume, die man sich gedankenlos zwischen die Zähne steckt und am Stiel hin und her dreht, während man eine selbsterfundene Melodie ohne Anfang ohne Ende, nur einem selbst hörbar, vor sich hinsummt.

Oda ist knapp sechzehn Jahre alt.

Die Luft um Odas Augen ist ohne Licht, nicht bloß, weil Sechzehnjährige eine Binde tragen, da sie mit dem Leben noch Blindekuh spielen, sondern weil die Sonne, die so viele Millionen Jahre alt ist, für dieses Alter gar nicht aufgehen mag. Denn sie hat für dieses Alter gar kein Licht, das jung genug wäre.

In Odas Nähe reizt mich vor allem immer eine gewisse natürliche und doch jungfräulich mystische Dunkelheit, in der Oda sich selbst Licht spendet. Nur ein zerstreutes Licht ist um sie, nicht mehr als um ein Küken im Ei, ehe es die Schale zerbrochen hat.

Und doch – wie glänzen Odas mohnrote Augen! Ich behaupte, die Jugendliche hat mohnrote Augen. Ich fühle Röte und viele Träume in ihren Augen, Träume, wie nur ein Opiumraucher sie haben kann.

Wenn Oda dieses lesen würde, würde sie finden, daß ich alles das, was ich von ihr schreibe, über mich selbst schreibe. Denn sie glaubt sich klar zu sehen wie eine Photographie. Das mag sein, ich gebe ihr recht. Ich beschreibe nicht Odas Augenbild, sondern ihr Wirkungsbild.

Ich habe noch niemals Frauen sehen, sondern stets nur fühlen können. Ich fühle sie mit den Augen, fühle sie mit den Ohren, fühle sie mit dem Blut.

Liebe Oda, da du dich also nicht fühlen kannst, wie das Feuer sich nicht als heiß und hell fühlt, das Wasser sich nicht selbst als naß und weich fühlt, – so mußt auch du, wenn du dieses einmal über dich lesen wirst, mir glauben, wie du von mir gefühlt wirst.

Du möchtest Schauspielerin werden, und ich zittere für dich, daß du Wege gehen mußt, die dich weglos wie einen Kometen in eine Irrwelt werfen können.

Aber du willst, und alle wollen mit dir, was du willst. Und wenn ich das bedenke, müßte ich eigentlich nicht mehr für dich zittern, denn deine Wege können höchstens Umwege, aber keine Abwege werden, wie ich dich kenne. Wenn du nur immer weißt, daß du willst.

Du kommst und setzt dich, wenn alle Damen in deiner Mutter Teestunde schon, eifrig plaudernd, das Zimmer unruhig wie ein auf- und abwankendes Fahrzeug machen. Du setzt dich mit deiner sechzehnjährigen Mädchenruhe in einen leeren Diwanwinkel und hast deine Glieder, wie nackt ohne Kleid, ohne Bewußtheit, mitgebracht und hast nicht deinen Körper vergessen, wie viele der viel zuviel gekleideten Damen es tun.

Dein Mund redete noch nicht, auch deine Glieder reden noch nichts. Du fühlst auch noch nichts. Und du bist da in deiner Dunkelheit vor mir, von deiner Mutter mit Sorgfalt in einfache zarte Kittel aus Seide gekleidet. Neulich war es grüne, herbgrüne Seide, deren Grün nichts gemein hatte mit Pflanzen oder Metallen oder Tierfarben. Es war ein fernweltliches Grün, weil aus dir ein Erlebnis strahlte. Du kamst aus einer Welt her, wo eine grüne Sonne geschienen hatte, und davon warst du noch feierlich zartglänzend und lieblich leuchtend.

Du sitzt auffällig in deiner Unauffälligkeit vor mir, und ich höre alles, was du nicht redest, lauter als rundum die glänzenden Reden der Sprechenden. Dein Herz aber ist flüssig, wenn es so, nichts sprechend, mit uns allen und mit niemandem spricht. Während uns die Teetassen in den Fingern zittern und der Witz der Nachbarn uns benachrichtigen will von Geschehnissen, die uns anfallen, bald kalt, bald glitzernd von Neugier, Eitelkeit und geistreicher Gewandtheit, bist du, Oda, verschwunden und wieder erschienen. Es rief dich irgend ein göttlich zweckloser Zweck.

Neulich, als ich zum ersten Mal seit Jahren wieder zu euch zu Besuch kam, war es der kleine zahme Kanarienvogel, den du in der Hand brachtest und mir auf den Ärmel setztest; und du lachtest, als ich verwundert aufschaute.

Warum brachtest du nicht alle Kanarienvögel der Stadt, damit ich dich hätte tausendmal lachen hören können! Ich sah den zahmen kleinen Vogel kaum, ich fühlte nur mein Herz schmerzen, weil du nur so kurz gelacht hattest, und weil, wenn du laut wirst wie die andern, ich dann unendlich viel Wirklichkeit von dir erleben möchte, von deinem unwirklichen und noch weltfernen Dasein.

Bei meinem zweiten Besuch fand ich dich, ein Tabakhäufchen zwischen zwei Fingern zu einer kleinen Kugel drehend, am Schreibtisch deines Vaters, und du stopftest eine kleine japanische Silberpfeife, die du dann rauchtest. Und du lachtest wieder kurz auf, als ich aus dem Nebenzimmer von den andern fortgegangen war, von Tee und Musik, und dich fand. Wie ein Eichhorn in einem Waldbusch versteckt, so kauertest du auf der Ottomane unter dem blauen Nebel des Tabakrauches und ließest dich nicht stören. Du lachtest einmal nur dieses kurze, gestoßene Lachen, und wieder schmerzte durch einen kleinen Ruck mein großes altes Herz, weil du einmal und nicht tausendmal lachen konntest. Weil die Lust so kurz ist, die du anschlägst und auslöschst.

Warum schmerzte aber mein Herz nicht, als du ein andermal am gleichen Schreibtisch, ans Telephon gerufen, mit einem jungen Kameraden lachtest? Er wollte dich mit andern jungen Damen abholen und zum Eisplatz zum Schlittschuhlaufen begleiten. Hinter dir aber stand dein Vater wie ein lang gen die Zimmerdecke gezeichneter Schatten und lächelte und war neckisch und sagte dir, da du um eine Antwort am Telephon verlegen warst, daß du absagen müßtest. Der Bursche am Telephon sei fad und nicht klug genug für dich. Du lachtest kurz auf, aber ich fühlte nichts bei diesem Lachen, diesmal nicht den Seufzer, nicht den zitternden Wunsch, dich noch mehr lachen zu hören.

Und wieder an einem andern Sonntag, zu einer andern Nachmittagsteestunde, als ein Freund eures Hauses, ein beweglicher, nicht alter, nicht junger Mann, vor dir hockte und vom Theater plauderte und du in einem Sessel, an die hohe Lehne zurückgedrückt, vor dem Sprecher saßest, da zitterte Schrecken in mir. Denn der Erzähler war ein gewandter Frauenverführer, und er war geistreich, weltlustig und zielte mit seinen Augen auf dich wie ein geübter Revolverschütze auf eine Scheibe. Und wie eine Zielscheibe flach lehntest du, in den Sessel tief zurückgedrückt, an der Sessellehne, und diese deine Stellung war jenem Mann Triumph genug. Und gleich wandte er sich an deine Mutter und machte den Vorschlag, dich mit ihm die Probe eines neuen Stückes besuchen zu lassen, der er beiwohnen wollte.

Und ich sah seinen vorgebeugten, glattrasierten Kopf, der wie ein Straußenei unterm Kronleuchter glänzte, und sah, wie er mit Eifer deine Mutter davon überzeugte, daß diese Theaterprobe dir nützen würde für deine Theaterkenntnis, die du dir aneignen möchtest.

Und es wurde verabredet, daß du an einem der nächsten Morgen um 11 Uhr in seine Loge kommen solltest, um die Probe zu sehen. Er hob den Zeigefinger und sagte:

„Aber es darf kein Geräusch gemacht werden, denn die Regie ist streng, und es darf eigentlich niemand wissen, daß wir zur Probe kommen. Aber im dunkeln Theaterraum und in der finsteren Loge wird niemand uns finden, wenn wir ganz leise sind.“

Ich sah dich bereits im Geist lautlos in jener dunkeln Loge und fühlte, wie du neben deinem Verführer im Dunkeln kaum zu atmen wagtest aus Lust am Theater, wie jener aber kaum zu atmen wagte aus Lust an dir.

Es waren drei Tage bis zu jenem Tage der Verabredung, die du, Oda, mit dem andern hattest. Und in jeder Nacht von diesen beiden Nächten, die zwischen den drei Tagen lagen, wachte ich auf und horchte. Ich hörte zuerst nur ferne Automobile durch die todstillen Straßen surren. Ich fühlte aber dann, wie sich die Häuser auflösten und wie sie ihre Mauern und ihre Steine nach mir warfen. Die ganze große Stadt steinigte meine Brust. Ich stöhnte, und morgens erwachte ich wie zerschlagen. Und mitten am Tage in meiner Arbeit wollte ich ans Telephon gehen. Es war mir, als müßte ich deine Mutter rufen und weiter nichts zu ihr sagen als: „Hilfe, Hilfe!“ wie einer, der ein Unglück sieht und ratlos ist.

Zufällig hörte ich dann später von deiner Mutter, du würdest doch nicht zu jener Theaterprobe gehen. Aber ich glaubte es nicht. Warum glaubte ich es nicht? Warum atmete ich nicht auf? Ich glaubte es nicht, weil du ja doch deine Umwege oder Irrwege gehen mußt, wie wir alle sie gingen, denn keine andern führen ins Leben.

Als ich nach Wochen wieder einmal zu deinem Vater kam, nötigte er mich, zum Mittagessen zu bleiben. Ganz flüchtig sollte der Besuch sein, denn wir hatten nur geschäftlich zu sprechen.

Du warst mit deiner Mutter in der Stadt, und ihr machtet an diesem Tage andere Besuche und wart nicht zum Essen zu Hause.

Dein kleiner Bruder Nickel, der flinke und geweckte Junge, sprang mit seinem graublonden Lockenkopf mitten beim Essen vom Tisch auf und holte plötzlich den kleinen Kanarienvogel aus dem Bauer und setzte ihn auf das Tischtuch. Dort spazierte das hellgelbe Vögelchen zwischen dem weißen Porzellan und den Kristallgläsern und um das Silbergeräte und pickte und lugte mich mit einem Auge an.

Der kleine Kanarienvogel war erbärmlich anzusehen. Ein Beinchen war ihm gebrochen, das schleifte er nach sich. Aber der Bruch war schon geheilt und schmerzte ihn nicht mehr. Doch sein Köpfchen war ganz kahl. Er hatte alle Federn am Kopf verloren, und man sah, was man sonst nie sehen konnte, die großen Ohrlöcher des Vogels zu beiden Seiten des Köpfchens. Sie waren im nackten Schädel wie Löcher, durch die eine Kugel gegangen war.

Wieviel hat dieser Vogel gefühlt mit diesen Ohrlöchern? Wieviel Weh- und Wohllaute zogen durch den kleinen Schädel in das Herz ein?

Er hat Oda lachen und weinen gehört. Er hat Oda tanzen gehört und auch gehört, wie sie aufstampfte im Zorn. Er hat Oda besungen, wenn er andächtig wurde.

So gerupft gehen wir alle aus der Lebensandacht hervor, dachte ich bei mir. Früher oder später zieht das Herz einen geknickten Fuß nach. Oder man verliert die Locken des Mutes.

Nach dem Essen, als ich noch einen Augenblick in deines Vaters Schreibzimmer im Ledersessel saß, las und rauchte und auf deinen Vater wartete, der sich zum Ausgehen umzog, da tönte des gerupften blankschädligen Vögeleins Singstimme aus dem Nebenzimmer.

O, er sang, als wäre er gerührt über sich selbst. Er sang so schmelzend und zärtlich, als hätte dein Bruder Nickel einen Spiegel geholt und der Kanarienvogel hätte sein verunglücktes Bild im Glase gesehen. Und er sang, um den trauernden gerupften Vogel im Spiegel zu trösten, sein lebenssüßestes Lied. Denn er erkannte sich selbst nicht und glaubte für einen Fremden zu singen.

Da hätte ich gewünscht, Oda, du hättest mit meinen Ohren hören, mit meinen Augen sehen können.

Ich habe Wiedersehen gefeiert mit eigenem Leid. In deinen sechzehnjährigen Augen sehe ich meine eigenen Gebrechen wie in einem Spiegel, alle Wunden, die mir das Leben angetan.

An einem der nächsten Abende, zu dem ich mich mit deinen Eltern verabredet hatte, wurde ich zu Hause bei mir ans Telephon gerufen.

Als ich Antwort gab, rief mir eine Stimme zu: „Ich bin es!“

„Wer?“ fragte ich ahnungslos.

„Ich, ich, ich,“ riefst du mir zu, und es belustigte dich, daß ich deine Stimme nicht gleich erkannte.

Wie seltsam, daß ich deine Stimme nicht wiedererkannte!

Aber da lachtest du das kurze Stoßlachen, das immer wieder zu rasch auslöscht.

Da erkannte ich dich wieder.

Noch oft im Leben werde ich dich nicht erkennen, wenn du sprichst, aber ich hoffe, daß ich dich immer erkennen werde, wenn du lachst.