An unsere Mitbürger in Sachsen!
WS: handschriftliche Aufschrift:
- Thomas.
- in Oppach nach Beendigung der Gerichtsverhandlungen u. der Gerichtsstube (?) vertheilt vom Advocat Tschirner
An unsere Mitbürger in Sachsen!
Die Ueberzeugung, daß es in ernster Zeit gilt, muthig voranzutreten und die Sprache der Ueberzeugung zu reden frei und wahr, hat die nachverzeichneten Männer heute zusammengeführt und zur Berathung über die Bedürfnisse der Gegenwart veranlaßt. War es auch schmerzlich, so viele Freunde und Gesinnungsgenossen zu vermissen, welchen die Kürze der Zeit, die zwischen Einladung und Versammlung lag, nicht zu kommen gestattete, so konnte dies doch den Ausspruch unserer Ueberzeugung nicht zurückhalten, den wir hiermit unsern Mitbürgern zur Prüfung vorlegen.
Versammelt waren:
- Adv. Auerswald aus Schneeberg.
- H. Bernhardt aus Döbeln.
- Stadtverordneten-Vicevorsteher Biedermann aus Leipzig.
- Adv. Blöde aus Dresden.
- Stadtverordneter Robert Blum aus Leipzig.
- Lehrer Böhme aus Treuen.
- Adv. Böricke aus Glauchau.
- Landtagsabgeordneter H. Brockhaus aus Leipzig.
- Kaufmann Claus aus Auerbach.
- Kaufmann Eli Evans aus Siebenhöff bei Ehrenfriedersdorf.
- Lehrer Feldner aus Haynichen.
- Bürgermeister Finke aus Crimmitzschau.
- Gerichtsdirector Gautsch aus Roßwein.
- Oeconomiecommissar Stadtrath Glaß aus Borna.
- Stadtrath Greiß aus Borna.
- Adv. Haberkorn aus Glauchau.
- Adv. Helbig aus Borna.
- Rittergutsbesitzer Helbig aus Böhlen.
- Redacteur Rittergutsbesitzer Hohlfeld aus Löbau.
- Landtagsabgeordneter Dr. Joseph.|[2]
- Stadtrath Klinger aus Camenz.
- Stadtrath Klinger aus Leipzig.
- Adv. Stadtverordneter Koch aus Leipzig.
- Adv. Kretzschmar aus Großenhayn.
- Stadtverord.-Vorsteher Langbein aus Wurzen.
- Landtagsabgeordneter Fabrikant Leuner aus Dresden.
- Geh. Justizrath Dr. Martin aus Mügeln.
- Dr. Meißner aus Rötha.
- Stadtverordt. Möbius aus Geringswalde.
- Landtagsabgeordneter Stadtrath Oberländer aus Zwickau.
- Landtagsabgeordneter Oehmichen aus Kiebitz.
- Kaufmann Oppe jun. aus Lößnitz.
- Kaufmann Pester aus Limbach bei Chemnitz.
- Dr. med. Ponitz aus Schneeberg.
- Landtagsabgeordneter Dr. Schaffrath aus Neustadt bei St.
- Lehrer Scheffler aus Lommatzsch
- Adv. Schüffner aus Mittweida.
- Adv. Schumann aus Dippoldiswalde.
- Stadtrath Dr. Schwarze aus Roßwein.
- Actuar Segnitz aus Wurzen.
- Actuar Streit aus Neustadt bei Stolpen.
- Buchhändler Thost aus Zwickau.
- Bürgermeister Landtagsabgeordneter Todt aus Adorf.
- Stadtrath Wagner aus Schneeberg.
- Stadtrath Wehner aus Leisnig.
- Stadtverordn.-Vorsteher Werner aus Leipzig.
- Landtagsabgeordneter Gutsbesitzer Wolf aus Schoebitz.
|[3] Nach reiflicher Erwägung der Verhältnisse wurden folgende Erklärungen, zum größten Theile einstimmig, abgegeben:
1) Wir erklären für eine gerechte Forderung des Volkes, für nothwendig zur Beruhigung des Landes, die sofortige Entlassung der bisherigen Minister, welche wegen der Art und Weise, wie sie die Verfassungsurkunde gegen die Freiheiten des Volks gedeutet und geschmälert und dem politischen und religiösen Fortschritt sich widersetzt haben, das Vertrauen des Volks nicht besitzen.
2) Wir erklären, daß die Einberufung der bisherigen Kammern vor Beendigung der Ergänzungswahlen gegen die Wünsche des Volks, und daß die bisherige zweite Kammer vor dem Eintritt der neuen Abgeordneten nicht mehr der getreue Ausdruck der jetzigen Stimmung der Wähler, geschweige denn des Volks sei.
(Dieser Punkt wurde gegen 13 Stimmen angenommen, welche statt desselben folgende Fassung wünschten:
„Wir erklären, daß es einer Bekräftigung des im Volke lautgewordenen Mißtrauens gegen das bestehende System durch den außerordentlichen Landtag nicht bedarf|[3], nachdem dasselbe bereits auf mehreren ordentlichen Landtagen in den wichtigten Prinzipfragen durch entscheidende Mehrheiten beider Kammern verurtheilt ist.“)
Als gerechte Forderung des Volks, deren Gewährung von einer verfassungstreuern Regierung, deren kräftige Unterstützung von einer wahren Volksvertretung zu erwarten steht, erklären wir:
3) Förmliche Lossagung von den Karlsbader Beschlüssen, durch welche dei Censur als eine Bundespflicht den einzelnen Bundesstaaten aufgelegt ward; den Bundestagsbeschlüssen von 1832, durch welche das Recht der freien Versammlung aufgehoben und das ständische Bewilligungsrecht wesentlich geschmälert wurde; und den geheimen Wiener Conferenzbeschlüssen.*)[1]
|[5]4) Vertretung der deutschen Volksstämme durch Volksabgeordnete bei dem Deutschen Bundestage.
|[6]5) Unbedingte Preßfreiheit, ohne irgend welche andre Beschränkungen, als die im Criminalgesetzbuche enthaltenen Strafbestimmungen kein anderes Preßstrafgesetz als das Criminalgesetzbuch.
6) Gründliche Verbesserung des Landtagswahlgesetzes von 1831, insbesondere Ertheilung der Stimmberechtigung und Wählbarkeit bei Landtagswahlen an Alle, welche das Stimmrecht und die Wählbarkeit in ihrer Stadt- oder Landgemeinde, und rücksichtlich der Wählbarkeit ein Alter von 30 Jahren haben, und Ausdehnung der Wählbarkeit eines Jeden über seinen Wahlkreis und aus seinen Stand hinaus.
7) Das Recht des Volks zu Vereinen und Versammlungen jeder Art und zu freier öffentlicher Berathung und Beschließung über alle seine Interessen.
8) Völlig Freiheit und Rechtsgleichheit für jedes religiöse Bekenntniß und jeden kirchlichen Verein, der |[7]nicht mit den Gesetzen des Staats und der Sittenlehre im Widerspruche steht.
9) Neben völliger und unbeschränkter Oeffentlichkeit und Mündlichkeit der Rechtspflege Geschwornengerichte.
10) Uebertragung der ganzen Strafjustitz, auch der Polizeistrafgewalt, auf die ordentlichen Gerichte.
11) Ein Polizeistrafgesetzbuch: Kein Vergehen und keine Strafe ohne ausdrücklich und öffentlich bekannt gemachtes Strafgesetz.
12) Ausdrückliche Ausdehnung der Vereidung des Militärs auf die Verfassungsurkunde.
13) Volksthümlichere, minder lästige und kostspielige Gestaltung des Heerwesens.
14) Bürgschaften gegen Misbrauch der Verwaltung und des Oberaufsichtsrechts; Aufhebung der Bestimmungen, daß Justizbehöden über die Nothwendigkeit und Zweckmäßigkeit von Verwaltungsmaßregeln nicht urtheilen, noch die Verordnungen von Verwaltungsbeamten für ungültig erklären dürfen, und daß ohne Erlaubniß der vorgesetzten Behörde Amtsvergehen der Staatsdiener nicht zur Untersuchtung gezogen werden dürfen.
15) Gesetzliche Feststellung des Grundsatzes, daß die Minister zurücktreten müssen, wenn sie bei entscheidenen Fragen der Gesetzgebung und Verwaltung, nach einmaliger Auflösung der II. Kammer, nicht eine Mehrheit für sich haben.
16) Reform der Besteuerung nach dem Grundsatze |[8]möglichster Gerechtigkeit und Erleichterung der unteren Klassen.
17) Gesetzliche Beseitigung der noch bestehenden Bannrechte und der auf Grund und Boden haftenden Lasten, insbesondere der Jagdgerechtigkeit.
18) Eine umfassende Gewerbeordnung, Verbesserung des Gewerbewesens und Schutz der arbeitenden Klasse durch eine Gewerbeordnung.
19) Eine nationale Handelspolitik und Beseitigung der Zölle auf Nahrungsmittel.
20) Abschaffung des Schulgeldes und bessere Stellung der Volksschullehrer.
Möchten Sachsens Freisinnige mit uns einstimmen in der einmüthigen Erhebung dieser „Forderungen des Volks,“ besonders über die beiden ersten Punkte sich sofort erklären, damit ein Regierungssystem aufhört, welches und hartnäckig verweigert, was unsere deutschen Brüder ringsum bereits errungen haben.
Leipzig, den 13. März 1848.
Der für die Abfassung vorstehender „Forderungen“ ernannte Ausschuß.
C. Biedermann. R. Blum. W. Schaffrath.
Leipzig, Druck von Fr. Andrä.
WS: Bibliotheksvermerke:
- Kgl. Öffentl. Bibliothek Dreden
- Hist. Saxon. J. 594, 30.
Anmerkung
[Bearbeiten]- ↑ *) Diese geheimen Wiener Conferenz-Beschlüsse sind durch die Censur bis jetzt dem Volke verborgen worden; die deutschen Minister hatten (mit Ausnahme der würtembergischen) weder den Muth offen zu bekennen, noch auch in Abrede zu stellen, was sie in Nacht und Heimlichkeit gebrütet hatten. Welcker nannte dieselbe bezeichnend „eine ministerielle Verschwörung gegen die deutschen Verfassungsrechte„ und Kapp erklärte sie für hoch- und landesverrätherisch. Es ist nun aber nothwendig, diese Beschüsse – welche in einer Zeit zu Stande kamen, wo die Herren von Könneritz und von Zeschau schon Minister waren und nach denen dieselben bisher regiert haben – mindestens im Auszuge bekannt zu machen, damit unser Volk die Regierungsgrundlage des dermaligen Ministeriums kennen lerne:
Die Wiener Conferenz-Beschlüsse kamen zu Stande |[5]um (wie es in der Eröffnungsrede des Staatskanlzers von Metternich heißt) „die gesammte Staatsgewalt im Oberhaupte vereinigt zu halten,“ d. h. mit andern Worten: um die Verfassungen zu einem bloßen Scheinwesen zu machen. Denn
§. 2. legt die Deutung zweifelhafter Verfassungsbestimmungen ausschließlich in die Hände der Regierungen.
§. 16. stellt die Verordnungen, also das ministerielle Belieben, den Gesetzen gleich.
§. 19. 20 u. 21 heben das Steuerbewilligungsrecht der Stände auf, indem sie bestimmen, daß bereits gemachte Ausgaben weder verweigert, noch deren Erstattung von den Ministern verlangt werden dürfe, und die Regierungen berechtigen, von den Ständen nicht bewilligte Steuern dennoch zu erheben.
§. 24. stellt das Militair außerhalb des gemeinsamen Rechtszustandes, indem er vorschreibt, daß „eine Vereidung desselben auf die Verfassung nirgends und zu keiner Zeit stattfinden darf.“
§. 25. 26. u. 27. beschränken die Redefreiheit und die Oeffentlichkeit in den Kammern.
§. 28. verschärft und verewigt die Censur.
§. 29–32. beschränken die Zeitungen, führen das Concessionswesen und die Nachcensur ein.
§. 33. stellt sogar die ständischen Protokolle unter Censur.
§. 35. beschränkt die Oeffentlichkeit der Gerichtsverhandlungen und spricht sich gegen Geschwornengerichte aus.
§. 38–56. heben die Lehrfreiheit auf und vernichten jede academische Freiheit.
§. 57. greift in die Rechtspflege ein, indem er die Berufung von den von der Regierung besetzten Landesgerichten |[6]an eine auswärtige Spruchbehörde abschneidet.
§. 60. endlich entzieht diese, das Verfassungswesen vernichtenden Beschlüsse dem Wissen des Volkes, in dem er „strenge Geheimhaltung“ derselben vorschreibt.
Diese Beschlüsse sind vom dermaligen sächsischen Gesandten in Berlin, von Minckwitz, im Auftrage des damaligen Gesammtministeriums, also auch der Herren von Könneritz und von Zeschau, unterschrieben worden und sind also für die letztern noch verbindlich.