Armenien und Europa. Eine Anklageschrift/Erster Teil/Achtes Kapitel
Man muß es der türkischen Regierung lassen, daß sie nicht überall unempfindlich gewesen ist gegenüber der Notlage von 500 000 Menschen, die durch ihre Maßregeln aller ihrer Habe, ihrer Häuser, ihrer Saaten, ihrer Vorräte, ihrer Kleider und Betten und des täglichen Verdienstes beraubt, dem Hungertode ausgeliefert worden waren. Wir lassen es allerdings dahingestellt, ob es eine Regung des Mitleids war, die die Behörden hie und da bewog, sich der Notleidenden anzunehmen, oder ob die Regierung nur das Bedürfnis fühlte, nach der barbarischen Zermalmung und Ausplünderung der Bevölkerung auch noch den Ruhm der Humanität in Anspruch zu nehmen und gegenüber den wiederholten Anzapfungen der Botschafter, als einen Beweis ihres guten Gewissens, auf ihr „großartiges Unterstützunqswerk“ hinweisen zu können. Wir wollen die von der Regierung angeordneten Wohlthätigkeitsmaßregeln, um nichts, was zu ihren Gunsten spricht, zu unterdrücken, nicht verschweigen und alles, was wir in Erfahrung darüber haben bringen können, namhaft machen.
Zunächst wurde in umfassender Weise durch die Behörden für die Notleidenden gesorgt, indem Hunderte und Tausende von Armeniern den Gefängnissen überwiesen wurden, erstens, wie ausdrücklich geltend gemacht wurde, um sie vor den Gewaltthätigkeiten des türkischen Pöbels zu schützen und sodann, um ihnen, nach Zerstörung ihrer Häuser, eine sichere Unterkunft zu verschaffen. In Arabkir z B. wurden nach Ermordung von 4000 Armeniern sorgfältige Nachforschungen von der Polizei angestellt und alle überlebenden armenischen Männer, ohne Ausnahme, in das Gefängnis übergeführt. Dasselbe Beispiel wurde überall, wo es Gefängnisse gab, befolgt.
Auf welcher Stufe der Humanität das türkische Gefängniswesen steht, darüber kann man sich aus den Berichten von Dillon und aus einem Dokument am Schluß dieses Artikels unterrichten. Sodann wurden große Scharen von Flüchtlingen aus den Bergdistrikten durch militärische Eskorten in die Städte transportiert. Als dem Mutessarif von Marasch Vorstellungen gemacht wurden, daß die Soldaten und Baschi-Bozuks die Flüchtlinge bei diesen Transporten auf die brutalste Weise behandelten, antwortete er: „Laßt sie sterben!“ Umgekehrt wurden auch die Flüchtlinge aus den Städten wieder in die Dörfer zurückexpediert. Von Wan aus, wohin 30 000 Menschen aus dem Vilajet geflüchtet waren, wurden auf Veranlassung der Regierung 3000 wieder auf’s Land zurückgeschickt; aber alle Dörfer, in die sie heimgekehrt waren, wurden auf’s neue angegriffen und ausgeplündert, so daß ihnen alles, was von der Herbstplünderung noch zurückgeblieben war, abgenommen wurde. Der Kommissär der Pforte, auf dessen Versicherungen diese Leute zurückgeschickt wurden, drückte sein tiefes Bedauern über diesen unglücklichen Vorfall aus und schickte den Polizeichef sofort nach den nächsten Dörfern. Eine Abteilung von zehn Mann kam auf dem Schauplatz der Unruhen an, als die Kurden noch in Sicht waren, da es denselben nicht möglich war, sich bei dem schlechten Zustand der Wege mit den Heerden gestohlener Schafe schnell vorwärts zu bewegen. Die Gendarmerie feuerte einige Schüsse in die Luft und parlamentierte dann mit den Räubern, worauf diese unbehelligt weiterzogen und die Polizei in das geplünderte Dorf einkehrte. Dort ließen sie sich nieder, bis jedes übriggebliebene Huhn und alle andern noch vorrätigen Lebensmittel aufgezehrt waren.
In den Städten wurde unter das verhungerte Volk hie und da Brot verteilt, was allerdings selten mehr als einige Tage dauerte. In Sivas wurde sogar bekannt gemacht, daß die Regierung 4000 Kilo Saatkorn verteilen würde. Nach sorgfältiger Nachforschung ergab sich aber, daß nur in einem einzigen Dorf etwas Korn abgeliefert worden war und auch dort zu spät für die Saat.
Auch Unterstützungsgelder wurden hier und da durch die Zaptiehs den Dörfern überbracht. In einem Dorf bei Erzerum bestanden dieselben aus 2 Medjidies (7,20 Mk), wofür sich fünf berittene Soldaten, die diesen Betrag abzuliefern hatten, mit ihren Pferden zwölf Tage lang einquartierten und verköstigen ließen. In Arabkir ließ die Behörde an Witwen und Waisen Getreide für 14 Tage verteilen (pro Person 2 Oka, ca. 5 türk. Pfd.). Es war der ganze Rest, der von den verbrannten Vorräten übrig war. Aber auch diese Unterstützung wurde nur, und zwar unter der Bedingung der schändlichsten Zumutungen, den hübschesten unter den Witwen und jungen Mädchen zuteil. Auch vom Sultan selbst gespendete Gaben wurden in den zwangsweise konvertierten Orten verteilt, wobei billiger Weise diejenigen bevorzugt wurden, die die besten Beweise ihrer Bekehrung zum Islam abgelegt hatten.
Nicht nur die Regierung, auch die türkische Bevölkerung zeigte hier und da Regungen des Mitleids gegen die Armenier. In Severek z. B. fanden während des Massacres einige Christen bei befreundeten Türken Aufnahme und wurden dort, während sich ihre Wirte eifrig an der Plünderung ihrer Häuser beteiligten, verköstigt. Hernach, als sie in die leeren Häuser zurückkamen, liehen ihnen ihre mildthätigen Freunde das notdürftigste an Betten und Kleidern, das sie brauchten, waren auch nicht so hartherzig ihnen Almosen zu verweigern und ließen sie um ein paar Pfennige geringe Dienste in ihren Häusern thun. In Aintab forderten sogar die vornehmen Moslems die Armenier auf, ihnen ihre noch übrige Habe zu überlassen, um, bis bessere Zeiten kämen, darauf acht zu geben.
Da die Regierung die Ausplünderung der Armenier selbst angeordnet hatte, so gereicht es ihr um so mehr zur Zierde, daß sie an einigen Plätzen einen öffentlichen Beweis ihres Rechtsgefühls abgelegt hat, indem sie die Rückerstattung des gestohlenen Gutes sofort in die Hand nahm. Es war allerdings nicht der hundertste Teil und nur wertloser Plunder, der unter dem Gaudium des türkischen Pöbels auf öffentlichen Plätzen an solche ausgeboten wurde, die geneigt waren zu dem Schaden auch noch den Spott zu haben. Aber die Regierung hatte wieder einmal vor den Augen aller Welt ihre Unparteilichkeit in der Handhabung der Gerechtigkeit bewiesen. Nach der Erfahrung, daß Diebe die besten Detektivbeamten abgeben, bestellten die Behörden diejenigen, die sich bei der Plünderung hervorragend ausgezeichnet hatten, zur Wiederauffindung des verlorenen Gutes, wodurch unter Umständen der Raub in andere Hände, aber sicher nicht in die der Eigentümer zurückgelangte.
Von verschiedenen Orten wird berichtet, daß die Gendarmen, die die Regierung beauftragte, gestohlenes Gut zurückzuerstatten, nicht allein nichts ablieferten, sondern unter Drohungen, die noch übrig gebliebenen Häuser zu verbrennen, von den Leuten noch bedeutende Summen erpreßten. Wer kann es auch den armen Teufeln verargen, wenn sie Schmucksachen oder Wertgegenstände, die sie irgend jemand abnahmen, als Abschlagszahlung auf ihren Sold, den sie seit einigen Monaten nicht gesehen, behielten, und wer kann von ihnen eine so tiefe psychologische Einsicht verlangen, daß sie die Befehle von Vorgesetzten, die sie zuvor zum Plündern angestellt, ernst nehmen sollten, wenn sie von ebendenselben mit der Auffindung der Diebe beauftragt wurden. Der Erfolg war denn auch darnach, wie jenes Dorf bei Erzerum beweist, dem 12 000 Schafe gestohlen wurden und Dank des Einschreitens der Regierung ganze zwei Schafe – ein Bock und ein Mutterschaf – zurückgegeben wurden, sicher mit der Intention, daß dieselben im Lauf der Jahre nach angemessener Vermehrung den Schaden wieder einbringen sollten. Auch ließ es sich zuweilen die Behörde angelegen sein, den Kurden einen Teil der Beute wieder abzujagen, was dann verdoppelte Feindschaft der Kurden gegen die Christen, obwohl dieselben nichts zurückerhielten, zur Folge hatte.
Es konnte nicht anders sein, als daß eine so gründliche Vernichtung des Wohlstandes von acht großen Provinzen zur Folge hatte, daß bei dem völligen Darniederliegen von Handel und Wandel eine erschreckende Ebbe in den Kassen der Regierung eintrat, und niemand kann es den Behörden verargen, daß sie den Verteilern von Unterstützungsgeldern die Steuerbeamten auf dem Fuße folgen ließ, ein Umstand, der dazu mitwirkte, daß man endlich auch europäischen Hilfskomitees die Austeilung von Geld und Gaben gestattete. Konnte doch wenigstens durch die Steuererhebung ein Teil derselben wieder in die Kassen der Regierung übergeführt werden. Auch die Steuerbeamten hatten in den Massacres gelernt, wie man zu Gelde kommt. Einen armen Kerl von Armenier, der nicht einen Para zu geben hatte, marterten sie, indem sie eine Kette herbeischleppten und sie so um seinen schmalen Rücken legten, daß sich die Schlinge zuzog, wenn man daran zerrte. Sie warfen die Kette über einen hohen Balken und zogen den Mann daran in die Höhe, indem sie ihm zugleich die Steuerquittung präsentierten. Er bedauerte daß er kein Geld habe, noch etwas ausbringen könne. Sie zogen aber so lange, bis ihm das Blut aus Mund und Nase strömte und ließen ihn dann, weil doch nichts von ihm zu haben war, noch eine Weile hängen.
Der Ehrgeiz der Behörden, die Linderung des Notstands der Armenier selbst in der Hand zu behalten, war ebenso groß, als einst der Wetteifer der Großmächte für die Beglückung das armenischen Volkes. Als sich daher in den Monaten nach den Massacres europäische Hilfskomitees bildeten, um die Hunderttausende von Notleidenden vor dem Hungertode zu bewahren, wurde zunächst die Verteilung von Lebensmitteln von der Hohen Pforte und den Valis direkt untersagt oder, wo man damit ohne Erlaubnis angefangen, suspendiert. Eine ganze Zeit lang wurden die Agenten der Hilfskomitees, wenn sie bei der unerlaubten Ausübung von Humanität ertappt wurden, einfach arretiert, so daß sich niemand mehr zu diesem lebensgefährlichen Beruf hergeben wollte. Es ist nur der unbeugsamen Energie des englischen Botschafters zu danken, daß sich die Hohe Pforte in dieser Beziehung allmählich europäischen Anschauungen anbequemte. Inzwischen aber waren Hunderte von Menschen Hungers gestorben. Ein besonders lehrreicher Fall passierte in Biredjik. Man wußte, daß dort 200 Familien, die zwangsweise zum Islam übergetreten waren, von ihren neuen Glaubensgenossen einfach dem Hungertode überlassen wurden; nicht einmal ihre Betten und Kleider hatte man ihnen zurückgegeben. Da machte sich der englische Missionar Dr. Christie mit einigen Wagen voll Lebensmitteln und Kleidern und einer Empfehlung des Vali von Aleppo auf den Weg. Das Schreiben des Vali muß einen merkwürdigen Inhalt gehabt haben. Denn als Dr. Christie nach Biredjik kam und dem Kaimakam seine Aufwartung machte, wurde er zwar von vorn bekomplimentiert, aber hinten herum vereitelte man den Zweck seiner Reise. Die Hungerleidenden wurden durch die Polizei verhindert mit ihm zusammenzukommen und mußten sich begnügen, ihn über die Dächer hin durch Kreuzeszeichen, die sie machten, zu verständigen, daß sie gern wieder Christen würden. Die große armenische Kirche diente als Moschee, die kleinere protestantische, die gerüchtweise als Abtritt benutzt wurde, war zwar frisch gereinigt worden, immerhin lagen noch lose Blätter einer alten Bibel in höchst verdächtiger Beschaffenheit herum. Der Aufenthalt des Dr. Christie wurde, da auch um ihn herum mit Flinten geschossen wurde, mit jedem Tage abenteuerlicher, so daß er sich am vierten Tage entschloß, mit seiner ganzen Bagage von Liebesgaben unverrichteter Dinge wieder abzuziehen und nach Aleppo zurückzukehren. Als er sich vor der Abreise bei dem Kaimakam beklagte, hatte dieser die Unverfrorenheit ihm zu erklären, er glaube wohl, daß die Armenier nichts von ihm wissen wollten, da sie als neubekehrte Muhammedaner nunmehr zu stolz seien, etwas von einem Christen anzunehmen, er möge ihm aber von Aleppo eine Ordre mitbringen, daß er die Gaben ohne Unterschied an alle bedürftigen Muhammedaner verteilen könne, dann wolle er ihm dieselben abnehmen. Das ist alles, was wir an Maßregeln der türkischen Regierung zur Linderung des Notstandes haben feststellen können.
Da die Hohe Pforte als eine der Großmächte, die im europäischen Konzert Sitz und Stimme haben, auch den Ehrgeiz besitzt, was die Handhabung der Justiz betrifft, hinter keinem civilisierten Staat zurückzustehen, so fragt man sich billig, was dieselbe gethan hat, um gegenüber dem ungeheuren Maß von Schandthaten, die von ihren eigenen Beamten, Offizieren und Soldaten, von den kurdischen Räubern und dem türkischen Pöbel verübt wurden, ihres Richteramtes zu walten. Wir citieren pflichtschuldigst, was der Botschafterbericht hierüber mitteilt: „Der Gerichtshof in Trapezunt, der eingesetzt wurde, um die Urheber des Verbrechens vom 8. Oktober zu ermitteln, beschränkte sich darauf, den Muhammedanern Ratschläge zu erteilen, während Armenier en masse arretiert wurden, unter dem Vorwande, sie vor den Anschlägen der Muhammedaner zu schützen. Von diesen wurden 8 zum Tode und 25 zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilt.“
„In Erzerum wurde der Kurdenscheikh Hussein Pascha Haideranli, obwohl die schwersten Beschuldigungen gegen ihn Vorlagen, zwar berufen, um über seine Ausführung Rechenschaft abzulegen, aber gleichwohl nicht vor das Kriegsgericht gestellt.“ „In Charput wagte die Behörde, da die Offiziere, Soldaten und Gendarmen an der Plünderung teilgenommen haben, nicht gegen irgend jemand einzuschreiten.“ „Die Kommission, welche in Aleppo dem Verwaltungsrat beigeordnet wurde, um die Unruhestifter abzuurteilen, funktioniert in einer kläglichen Weise.“ „Zu Ak-Hissar wurden nach dem Massacre einige Arretierungen vorgenommen, aber mehrere Tscherkessen, und zwar die am meisten kompromittierten, entwischten aus dem Gefängnis, und mit der Bestrafung war es nichts.“
Dies ist alles, was die Botschafter, die über die Haltung der türkischen Behörden nach den Massacres sorgfältig Buch geführt haben, über die Handhabung der türkischen Justiz und die Bestrafung der Schuldigen haben ermitteln können. Doch nein – beinahe hätten wir einen außerordentlichen Fall übergangen. „In Erzerum wurden 200 Plünderer, Türken und Lazen, arretiert, von denen die Behörde,“ wie der Botschafterbericht sich ausdrückt, „hundert füsiliert zu haben behauptet.“ Es ist schade, daß zu diesem außerordentlichen Schauspiel nicht einige Konsuln als Zeugen eingeladen wurden, umsomehr da man weiß, daß die türkischen Gefängnisse für alle Muhammedaner, die sich an Christen verschuldet haben, die merkwürdige Einrichtung haben, daß, wenn sich vorn die Gefängnisthür schließt, eine andere Thür hinten sich öffnet. Um übrigens dem Rechtsbewußtsein eine öffentliche Genugthuung zu geben, werden alle armenischen Delinquenten, sogar in Konstantinopel, auf offener Straße coram publico gehängt.
Daß von den hohen Beamten und Offizieren, die bei den Massacres in besonders hervorragender Weise mitgewirkt haben, die meisten alsbald abberufen und auf andere hohe Posten befördert wurden, ist ebenso weise als billig, da dadurch jeder weiteren Untersuchung über das Geschehene vorgebeugt wurde.
Gleichwohl konnte sich die Hohe Pforte nicht nachsagen lassen, daß sie nicht die allerenergischsten Anstrengungen gemacht hätte, die Anstifter alles Unheils zu ermitteln und zu bestrafen. Dies ist ihr denn auch gelungen, wie folgende Mitteilung der Frankfurter Zeitung beweist:
„Konstantinopel, 12. August. Nachdem die Pforte die befremdende Forderung an das gemischte Konzilium des armenischen Patriarchats gestellt hatte, von nun an für alle Ausschreitungen, die sich in armenischen Kreisen ereignen würden, die volle Verantwortlichkeit zu übernehmen, war es vorauszusehen, daß weder Monsignore Izmirlian noch sein Beirat auf eine derartige absurde Forderung eingehen würden und es vorzögen, ihre Entlastung zu nehmen. Die Regierung, die von vornherein diesen Zweck verfolgte, ging aus der Sache als Siegerin hervor und hat nun alle Fäden in der Hand, die armenische Frage nach ihrem Gutdünken zu regeln. Bei der Wahl des einstweiligen Stellvertreters des Patriarchen verfiel man im Palais zunächst auf den Bischof Kirkiß Ohannesian, eine Kreatur der Kamarilla. Welche geheimen Intriguen jedoch im letzten Augenblicke mitgespielt haben mögen, oder aber ob derselbe einigen der gegenwärtigen Machthaber denn doch nicht so ganz verläßlich erschien, kurz, im letzten Augenblicke entschied man sich für den gewesenen Erzbischof von Brussa Bartholomäus Tschomtschian, dessen bisherige Gesinnung alle Zweifel beseitigt, da er als langjähriger Polizei-Spion eine monatliche Gratifikation von 30 türk. Pfd. bezog, und so wurde derselbe zum Locum tenens ernannt.“
„Ich schreibe aus dem Gefängnis von G. diese Zeilen. Wir waren unser gegen 500 Personen aus M. Y. O. und andern Orten als politische Gefangene. Ein Teil von uns wurde freigesprochen, da selbst das türkische Gericht mit all seiner Gewandtheit nicht imstande war, sie irgend welcher erdichteter Vergehen zu überführen.
Um Unterlagen für die Anklagen zu gewinnen, wurden zunächst die entsetzlichsten Mittel angewendet, die dazu dienen sollten, Aussagen zu erpressen: Folter, Prügel, Entehrung, Entblößung, Hunger und Durst traten an die Stelle des gewöhnlichen Untersuchungsverfahrens. Der kalte Winter mußte dazu mitwirken, diese Zwangsmittel noch unerträglicher zu machen. Einige Lappen als Betten, Brocken von Brot, das die Mäuse zernagt, als Speise und stinkendes Wasser aus schmutzigen Gefäßen als Trank, alles war darauf angelegt, die Bedürfnisse, den Hunger und Durst der Gefangenen mit möglichster Spärlichkeit zu befriedigen. Alte verrostete, mit Kugeln und Bomben belastete Ketten, eiserne Handschellen und Stockhölzer kamen zum Vorschein. Sie wurden einigen um den Hals gelegt, andern um die Füße, den meisten um die Hände, um sie zu Aussagen zu nötigen, die die Regierung und die Gefängnisbeamten zu hören wünschten. Man hielt es für geeigneter, für derartige Untersuchungen die langen, furchtbaren Winternächte zu wählen. Manchmal hörte man um drei Uhr, manchmal um Mitternacht, manchmal gegen Morgen aus allen Ecken des Gefängnisses weinendes und stöhnendes Schluchzen oder auch herzzerreißendes Geschrei: „Ich weiß nicht!“ „Ich habe es nicht gesehen!“ „Ich sterbe!“ oder dergl., worunter sich das schauerliche Gebrüll und Fluchen der türkischen Gefangenen mischte. Das Heulen und Wehklagen unter den Schlägen der Bastonnade, die Nacht für Nacht in den türkischen Gefängnissen an jedermann verabreicht wird, das Geschrei anderer, die nackt auf Schneehaufen gelegt, anderer, die mit glühenden Eisenstäben gebrannt werden: „Es ist genug, ihr Unmenschen!“ „Ich erfriere!“ „Ich brate!“ „Tötet mich und rettet mich von den Qualen!“ wird übertönt von dem Gesang und Lärm, den die Gefängnisbeamten veranstalten. Auf solche Weise folterte man viele. Von den Folterqualen habe ich gerade diejenigen erwähnt, die mir in die Feder kamen, es wurden jedoch sowohl gegen Jünglinge als auch gegen ältere Männer so unerhörte Mittel angewendet, die zu beschreiben die Feder sich sträubt. Diese tierischen Entehrungen wurden auf Befehl der Beamten durch die im Gefängnis befindlichen türkischen Mörder und Räuber ausgeführt. Gerade die Weihnachtstage und die Neujahrsnacht wurden mit solchen barbarischen Martern ausgefüllt. Da dem Gefängnis immer neue Scharen Verhafteter zugeführt wurden, mußten selbst die verpesteten Abtritte als Schlafstätten dienen und die Gefängnishöfe trotz des Winterfrostes als Aufenthaltsort für die an die Fenster geketteten Ankömmlinge.
Jeder Gefangene wurde gezwungen, alles, was er bei sich hatte und seine Lage hätte erträglicher machen können, herzugeben. Mehrere von den Verhafteten lagen in den Kohlenkammern; die am Tag gekaufte Kohle wurde auf sie geschüttet, worauf dann noch ein Wasserguß kam. Wohlhabende junge Leute und angesehene Kaufleute wurden auf diese Weise so entstellt, daß sie wie Gespenster aussahen und schmutzig wurden wie die Schweine.
Ich zähle die Namen derjenigen Gefangenen auf, die den größten Martern unterzogen wurden:
1. Name. Ort. 40 Jahre alt, Lehrer. Um 7 Uhr abends waren zwei Kaufleute mit dreißig bewaffneten Gendarmen gekommen, um unter dem Vorwande der Haussuchung alle seine Sachen, Kisten und Kasten kurz und klein zu schlagen, seine Schriften und Bücher mitzunehmen und ihn selbst ins Gefängnis zu werfen. 48 Stunden läßt man ihn hungern und dursten, sechs Tage auf nackter, feuchter Erde liegen, wobei mit der Bastonnade nicht gespart wurde.
2. Name. Ort. 41 Jahre alt. Nach einer wilden Prügelei läßt man ihn sich in Schmutz setzen und schüttet ihm große Töpfe kalten Wassers über den Kopf. – Es war Winter. – Dann rupft man ihm die eine Hälfte seines Schnurrbartes aus, und, nachdem man ihm die Arme festgebunden, hängt man ihn, den Kopf nach unten, auf. Die nun weiter erfolgten Prozeduren lassen sich nicht beschreiben. Nur soviel sei angedeutet, daß sich mit den Entleerungen dieses Gefangenen andere Gefangene auf die ekelhafteste Weise besudeln mußten und zuletzt mit einem glühenden Eisenstäbchen nach Art einer Steinoperation eine entsetzliche Tortur an dem fast schon zu Tode gequälten verübt wurde. Acht Tage lang wurde der Aermste solchen Foltern unterzogen.
3. Name. Ort. 23 Jahre alt, Lehrer, wird hart geprügelt und vier Stunden lang, den Kopf nach unten, aufgehängt. Sodann läßt man ihn die ganze Nacht durch auf nasser Erde knieen. Endlich bindet man ihm ein Seil um den Hals und schleift ihn eine ganze Strecke auf dem Boden entlang, so daß wenig gefehlt hätte, er wäre erstickt.
4. Name. Ort. 30 Jahre alt. War aus Versehen an Stelle eines andern mit gleichem Namen arretiert worden. Muß 24 Stunden lang im Schmutz sitzen, während Eimer mit Eiswasser über ihn gegossen wurden. Sodann legt man glühende Eisen an seinen Leib und foltert ihn in derselben, nicht zu beschreibenden Weise wie Nr. 2. Als dann der Gouverneur erfährt, daß er nicht der richtige sei, läßt er ihn kommen und sagt ihm: „Mein Sohn, schenke dein Recht, man hat dich aus Versehen mitgebracht.“
5. Name. Ort. 18 Jahre alt, hatte eben seine Studien vollendet. Er wird erst entblößt, unmenschlich durchgehauen, mit dem Kopf nach unten aufgehängt und in dieser Stellung von neuem mit Ruten geschlagen. Endlich muß er hungernd und durstend tagelang im Schmutz liegen. Selbst der Gouverneur prügelt den Armen eigenhändig im Gerichtsgebäude durch.
6. Name. Ort. 45 Jahre alt, wird, obwohl irrtümlich arretiert, zehn Tage lang den entsetzlichsten Qualen und Schändungen preisgegeben, sodann vier Tage lang an in der Höhe eingeschlagenen Nägeln aufgehängt. Dem Tode nahe bittet er um Wasser. Der Gendarm bringt einen Topf mit Wasser, führt ihn aber nur bis zu seinem Munde und schlägt ihm dann den Topf an den Kopf, sodaß er blutet. Nun meldet man dem Aufseher, er sei am Sterben. Man nimmt ihn von den Ketten ab und begräbt ihn als Toten nackt in den Schnee. Einige Stunden bleibt er in dieser Lage – bis man erfährt, daß der Arme irrtümlich arretiert sei. Da man seinen Tod fürchtet, wird er sofort freigelassen.
Es folgen noch siebzehn ähnliche Fälle. Wir denken aber, es ist genug und übergenug. Wir bemerken nur noch, daß gegenwärtig die Gefängnisse so gefüllt sind, daß nur ein Teil der Gefangenen in der Nacht liegen kann. Im übrigen sind die Gefängnisse durch aufgehäuften menschlichen Unrat und jede Art von Ungeziefer derart verpestet, daß man einem Vieh solchen Aufenthalt nicht geben würde. Wenn sich jemand erkühnt, gegen die erfahrene Behandlung zu protestieren, wird er sofort in noch dunklere Kerker geworfen und jeder Willkür seiner unmenschlichen Wächter preisgegeben.