Armenien und Europa. Eine Anklageschrift/Erster Teil

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I.
Die Wahrheit über Armenien.

1. Trockene Zahlen.

Es ist notwendig, daß die Wahrheit über Armenien endlich an den Tag kommt. Seit dreiviertel Jahren wird die deutsche Presse mit Nachrichten überschwemmt aus einer Quelle, die nicht nur durch Einseitigkeit des Urteils getrübt ist, sondern wie wir nachweisen werden, durch die unerhörtesten Fälschungen den Zweck verfolgt hat, Europa zu täuschen. Es ist daher kein Wunder, daß bisher in Deutschland Thatsachen über den Ursprung, den Verlauf und die Folgen der Massenabschlachtung, Ausplünderung und Zwangskonvertierung eines großen christlichen Volkes so gut wie gar nicht bekannt geworden sind, während dafür gesorgt wurde, daß in der deutschen Presse, mit vereinzelten Ausnahmen, die Schuld der „rebellischen“ Armenier, als der Anstifter alles Unheils, in bengalische Beleuchtung gesetzt wurde.

Als am 26. Januar 1895 die türkische Kommission zur Untersuchung des Massacres von Sassun (Herbst 1894) in Musch ihre zweite Sitzung hielt, machten die ihr zur Seite gestellten Delegierten der englischen, französischen und russischen Konsulate den für europäische Begriffe von Justiz selbstverständlichen Vorschlag, zunächst nur die Thatsache des Massacres, in welchem unter Beteiligung türkischen Militärs 27 christliche Dörfer zerstört und Tausende von Christen umgebracht sein sollten, festzustellen und sodann erst an die Untersuchung der Schuldfrage zu gehen. Die türkische Kommission jedoch, welche die Thatsache eines Massacres a priori in Abrede stellte und nach einem vorher publizierten Communiqué der Pforte nur die Aufgabe hatte, „die verbrecherischen Handlungen armenischer Briganten zu untersuchen“, lehnte diesen Vorschlag rundweg ab, tagte vom 24. Januar bis zum 21. Juli in Musch, fünf bis zehn Stunden vom Schauplatz des Massacres entfernt und begnügte sich in weiser Beschränkung damit, unter Zurückweisung der von den Delegierten präsentierten christlicher Zeugen, in hundert und acht Sitzungen türkische Zeugen, die zuvor über die Aussagen instruiert waren, zu verhören und auf solche Weise die Schuld der „armenischen Briganten“ zu erhärten. Zeugen, die etwas Gegenteiliges aussagten, büßten ihre Unvorsichtigkeit mit sofortiger Ueberführung ins Gefängnis. Die Konsular-Delegierten verzichteten endlich darauf, dieser Farce noch weiter zu assistieren, begaben sich in das Sassungebiet und stellten auf eigene Faust die genugsam bekannten entsetzlichen Thatsachen und die Schuldlosigkeit der friedlichen armenischen Bevölkerung fest.

Wir sind im Begriff, in die Untersuchung nicht eines, sondern hunderter von Massacres, die seit Oktober vorigen Jahres ununterbrochen bis zu diesem Tage in Armenien stattgefunden, einzutreten. Wir ziehen es aber vor, nicht das löbliche Beispiel der türkischen Kommission zu befolgen, sondern uns europäischer Gepflogenheit anzuschließen. Wir begeben uns daher zuerst auf den Boden der Thatsachen und werden in die quaestio juris erst eintreten, wenn unsern Leser in der Lage sind, sich über die quaestio facti ein Urteil zu bilden. Also die Thatsachen.

Nach monatelangem Drängen der christlichen Großmächte, insbesondere Englands, Frankreichs und Rußlands, die seit siebzehn Jahren den armenischen Provinzen versprochenen Reformen endlich in Ausführung zu bringen, entschloß sich der Sultan im Herbst vorigen Jahres, seinen Widerstand gegen den vereinten Druck der Mächte aufzugeben und den ihm von den Mächten aufoktroyierten Reformplan für die sechs armenischen Provinzen Erzerum, Bitlis, Wan, Mamuret-ul-Aziz (Charput), Diarbekir und Sivas anzunehmen. Um die drohende Sprache Englands zu beschwichtigen, gab der Sultan überdies in einem Schreiben an Lord Salisbury sein Wort darauf, daß die Reformen buchstäblich und unverzüglich ausgeführt werden würden.

Am 30. September 1895 wünschten die Armenier der Hauptstadt Konstantinopel dem Drängen der Mächte auf Einlösung der Versprechungen des Berliner Vertrages dadurch Nachdruck zu geben, daß sie dem Großvezier eine Petition überreichten, in der die Klagen und Forderungen des armenischen Volkes niedergelegt waren. Ein Zug von 2000 Armeniern bewegte sich durch die Straßen von Stambul auf die Hohe Pforte zu. Die Polizei war beauftragt, die Uebergabe der Petition zu verhindern, und die Behörden hatten dafür gesorgt, daß durch eine ungewöhnliche Zahl von mit Stöcken bewaffneten Softas und Türken eine Gegendemonstration arrangiert wurde. Es kam zu einer Schlägerei, Schüsse wurden gewechselt und die Polizei jagte die Armenier auseinander. Etliche, vom Pöbel niedergeworfen, wurden von Gendarmen erschossen, Arrestanten im Polizeigebäude mit Bajonetten erstochen und armenische Khans in der Nacht erstürmt. 500 Armenier wurden nachträglich arretiert, und eine allgemeine Panik trieb die armenische Bevölkerung in die Zufluchtsstätte ihrer Kirchen.

Dieses unheilvolle Ereignis war das Signal für Hunderte von Massacres, die Schlag auf Schlag, mit Trompetengeschmetter eingeleitet und beschlossen, in allen sechs Provinzen, die mit Reformen beglückt werden sollten und über diese hinaus in weiteren vier Provinzen die christliche Bevölkerung aufs furchtbarste dezimierten und die Ueberlebenden dem Hungertode oder der zwangsweisen Apostasie überlieferten. Ueber die fruchtbarsten Provinzen des osmanischen Reiches, über ein Land von der Ausdehnung Deutschlands ergoß sich ein Strom von Blut und Verwüstung, bestimmt, ein ganzes christliches Volk in seinem Strudel zu begraben.

Das statistische Material des folgenden Berichtes, das noch nicht einmal auf absolute Vollständigkeit Anspruch erheben kann, ist in erster Linie dem Botschafterbericht entnommen, welchen die sechs Großmächte am 4. Februar 1896 Sr. Majestät dem Sultan zur Kenntnisnahme unterbreiteten, und wurde vervollständigt durch eine große Zahl uns vorliegender Berichte europäischer Augenzeugen, Konsuln, Reisender, Kaufleute u. s. w.

Blutbäder im Vilajet Trapezunt.

8. Oktober. Nachdem bereits am 4. und 5. Oktober 3000 bewaffnete Muhammedaner aus der Stadt und den Dörfern das Christenviertel der Stadt Trapezunt überfallen hatten, wurde am 8. Oktober ein Blutbad veranstaltet, bei dem ca. 600 Armenier getötet wurden. Die Zahl der gefallenen Muhammedaner beträgt 20. Das Massacre wurde mittags mit einem Trompetensignal begonnen und um 3 Uhr mit einem Trompetensignal beschlossen. Der Bazar und das armenische Viertel wurden geplündert. Verlust ca. 4 Millionen Mark. Die Konsuln stellten fest, „daß keinerlei Provokation von seiten der Armenier vorlag“, während klare Beweise vorhanden sind, daß unter der Konnivenz der Behörden die Sache von den Muhammedanern, die über Tag bedeutende Waffeneinkäufe im Bazar machten und sich eines Waffendepots zu bemächtigen suchten, vorbereitet war. Die Plünderung wurde bis zum Abend von den Behörden geduldet. In Trapezunt und Umgegend allein beträgt die Zahl der Notleidenden, die aller Subsistenzmittel beraubt sind, 3–4000.

In den Landbezirken von Trapezunt, von Gumusch-Hane (25. und 26. Oktober), Samsun (7. Dezember) und Aghdja-Guney (14. und 15. Dezember) wurden, soweit bekannt, 34 Dörfer zerstört und ca. 2100 Christen ermordet.

Blutbäder im Vilajet Erzerum.

Nach ganz offenkundigen Vorbereitungen von seiten der muhammedanischen Bevölkerung, die trotz der Bemühungen der Konsuln von den Behörden nicht gehindert wurden, überfiel am 30. Oktober der bewaffnete Pöbel unter Beteiligung der Offiziere und Soldaten, wie von den Konsuln festgestellt worden ist, das armenische Viertel und den Bazar der Stadt Erzerum. 1500 Läden und einige Hundert Häuser wurden geplündert. In der Stadt und Umgegend wurden während des Massacres 1200 Christen und 12 Türken getötet. Die Behörden schritten nicht ein, bis die Läden vollständig geplündert und ihre Besitzer ermordet waren. Das Massacre und die Plünderung wurde in der Nacht fortgesetzt, in den isolierten Quartieren auch in der nächsten Nacht.

Im Distrikt Terdjan wurden 40 Dörfer geplündert und zerstört und zahllose Christen umgebracht. Im Distrikt Passen wurden 14 Dörfer geplündert und 140 Armenier getötet, im Distrikt Ova 23 Dörfer zerstört und geplündert, im Distrikt Kighi 9 Dörfer geplündert. Ueberall zahlreiche Tote.

In der Stadt Erzingjan wurden bei dem Massacre am 21. Oktober 700 Christen getötet, 400 verwundet, während gleichzeitig 7 Türken auf dem Platze blieben.

In der Stadt Baiburt wurden am 27. Oktober alle armenischen Männer bis auf zwanzig entweder getötet oder eingekerkert. Die Zahl der Toten erreicht 1060. In der Umgegend von Baiburt wurden 165 Dörfer vollständig geplündert und zerstört.

In Narzahan wurden 100, in Ksanta 400, in Bajazid 500 Armenier getötet; die Türken hatten nirgends Verluste an Menschenleben.

In Baiburt, um wenigstens etwas ins Detail zu gehen, wurden 14 Frauen mit ihren Säuglingen verbrannt, 100 Frauen zerstückelt, und 50 junge Frauen töteten sich selbst, um der Schande zu entgehen.

Darauf, daß bei allen Massacres zahllose Frauen und Mädchen geschändet wurden, wollen wir hier nicht näher eingehen, da wir aus dieses Kapitel noch zurückkommen werden. Einige Dörfer sind verschont geblieben, nachdem sie hohe Lösegelder bis zu 120 türk. Pfd. (2400 M.) gezahlt hatten. Im übrigen wurden alle armenischen Dörfer der Provinz entweder geplündert oder zerstört. Die Behörden ließen überall die Meuterer gewähren. Das Militär beteiligte sich an den Massacres und der Plünderung, und allerorten wurden die Ueberlebenden gezwungen, en masse den Islam anzunehmen.

Blutbäder im Vilajet Bitlis.

Am 25. Oktober greifen beim Verlassen der Moschee die Türken die Armenier an und zwar, wie der Botschafter-Bericht feststellt, ohne irgend eine Provokation von seiten der letzteren. Das Massacre begann und wurde beschlossen mit einem Hornsignal. Die Zahl der Toten betrug 900; nach den Angaben der türkischen Behörden sind dabei 39 Muhammedaner umgekommen.

In den Distrikten von Sassun, Talori, Musch, Seert, Yerum, Chirvan, Guzel Dere, Seghjerd, Gindj und Djabagh Fagur wurden zahllose Dörfer, nicht nur von Armeniern, sondern auch von Syrern, Chaldäern und Jakobiten bewohnt, durch bewaffnete muhammedanische Banden geplündert und die Einwohner massacriert. Die Verantwortlichkeit für die Massacres trifft die Behörden.

Blutbäder im Vilajet Wan.

In 25 Distrikten wurden 543 Dörfer, über die uns umfangreiche Listen mit Namen der Dörfer und Zahl der zerstörten Häuser, Kirchen und Klöster vorliegen, vollständig ausgeplündert und zum großen Teil zerstört. Im Vilajet Wan zählen die Getöteten im Unterschied von anderen Vilajets nur nach Hunderten, dank dessen, daß dort überwiegend Kurden und nicht Türken die Werkzeuge der Vernichtung waren, welche gegen den Wunsch der Behörden nur plünderten, während die letzteren (und das gilt für alle Provinzen) mehr aufs Morden bedacht waren. Das Versäumnis wurde in den neuesten großen Massacres nachgeholt. Bei diesen wurden nach dem neuesten Bericht in der Frankfurter Zeitung vom 15. August (siehe Nr. II.) in den Tagen vom 14. bis 22. Juni dieses Jahres in Wan selbst über 1000 umgebracht. In den Landdistrikten werden die Erschlagenen auf mindestens 20 000 berechnet.

Die Zahl der Hilfsbedürftigen, die ohne Unterstützung dem Hungertode verfallen, betrug im Mai in der Stadt Wan 13 000, in den Landdistrikten 70 000. Wir bemerken noch beiläufig, daß im Vilajet Wan und zwei Distrikten von Bitlis 236 Kirchen und 53 Klöster geplündert und zum großen Teil völlig zerstört wurden, während 245 Dörfer zwangsweise zum Islam bekehrt und 116 Kirchen in Moscheen verwandelt wurden. Die uns vorliegenden Listen mit Namen sämtlicher Dörfer und Kirchen erstrecken sich aber nicht einmal auf alle Distrikte des Vilajets. Daß sich an den Plünderungen im Vilajet die neugeschaffenen Hamidijeh-Regimenter (irreguläre kurdische Reiterei) in erster Linie beteiligten, braucht kaum erwähnt zu werden.

Blutbäder im Vilajet Mamuret-ul-Aziz.

In Charput griffen am 10. und 11. November, ohne irgend welche Provokation von seiten der friedlichen Armenier, die Türken das armenische Quartier an und töteten die Einwohner. Durch den Botschafter-Bericht wird die Beteiligung der Offiziere und Soldaten an der Plünderung festgestellt, aber auch an dem Massacre selbst beteiligte sich das Militär mit Gewehrsalven und Kanonenschüssen. Eine Granate platzte in einem der Häuser der protestantischen Mission, der ihr ganzes Eigentum, sechs Missionshäuser und Schulen, zerstört wurde. Bei dem Massacre in Charput wurden 900 Armenier getötet, während nach dem Bericht des Vali von Erzerum nur 12 Muhammedaner dabei umkamen. Die Zahl der Verwundeten ist eine enorme. Die Kurden behaupten, wie der Botschafter-Bericht feststellt, im Einvernehmen mit den Behörden gehandelt zu haben.

Mehr als 60 Dörfer in der Umgegend von Charput wurden verwüstet. Die Zahl der Verluste an Menschenleben ist, da die christliche Bevölkerung in dieser Gegend sehr zahlreich ist, unberechenbar. Eine Karawane von 200 Armeniern, die von Adana nach ihrer Heimat Charput zurückgeschickt war, wurde von Kurden angegriffen, welche 193 davon töteten, die sie eskortierenden Gendarmen, statt sie zu schützen, nahmen an der Plünderung teil. In den 60 Dörfern um Charput existiert keine christliche Kirche und Schule mehr. Nur ein christlicher Priester ist übrig geblieben, alle übrigen sind getötet oder konvertiert. In Charput selbst wurden 200 Familien gezwungen, den Islam anzunehmen.

In Arabkir warfen sich die Kurden und Türken bewaffnet auf die Christen und plünderten die Stadt. Nach den Konsularberichten dauerte das Plündern und Brandstiften zehn Tage. Ungefähr 3700 Häuser und 500 Läden wurden ausgeleert und 4000 Armenier getötet. An Muhammedanern kamen nach der offiziellen türkischen Statistik 60 um. Nach Beendigung der Brandstiftungen stellte die Polizei „Nachforschungen an, und alle Männer, die dem Massacre entronnen waren, wurden ins Gefängnis geworfen“ (Botschafterbericht).

Die Not der überlebenden Frauen und Kinder ist eine entsetzliche. Die Behörden teilten „einige Tage lang“ Brot aus, dann hörte die Hilfe auf.

Die Stadt Eghin wurde verschont, nachdem sie 1500 türk. Pfd. (ca. 30 000 M.) Lösegeld bezahlt hatte. Das Versäumte wurde in dem Massacre des Septembers 1896, über das noch nähere Nachrichten fehlen, nachgeholt.

In der Stadt Malatia griffen am 4. November die bewaffneten Kurden und Türken das Quartier der Christen an, die schon seit einer Panik am 29. Oktober ihre Häuser nicht verlassen hatten. „24 Stunden lang läßt der Mutessarif (Gouverneur) den Massacres und der Plünderung freien Lauf“, auch dann schützte er nur die in ihre Kirche geflüchteten katholischen Armenier; das Massacre unter den gregorianischen Armeniern dagegen wird ohne Einschreiten der Behörden sechs Tage lang fortgesetzt, bis 5000 Armenier, worunter viele Frauen und Kinder, ermordet und alle (ca. 1000) armenischen Häuser niedergebrannt waren.

In allen Landdistrikten des Vilajets wurden die Dörfer geplündert und ungezählte Armenier umgebracht. Eine uns vorliegende Liste giebt Nachricht von 176 zerstörten Dörfern und Städten des Vilajets, in denen 7542 Häuser zerstört und 512 Läden geplündert wurden. Die Gesamtzahl der im Vilajet getöteten Christen wird, soweit Nachrichten vorhanden sind, auf 15 845 berechnet. Die Zahl der Notleidenden, die ohne Unterstützung dem furchtbarsten Elende und zum größten Teil dem Hungertode preisgegeben sind, wird nicht zu hoch auf 100 000 veranschlagt. Bis März dieses Jahres wurden von europäischen Hilfskomitees 60 000 Personen mit Lebensmitteln versorgt, 11 000 türk. Pfd. (220 000 M.) wurden bis zum März verteilt. Mindestens 100 000 türk. Pfd. sind bis zum Winter erforderlich, um die gänzlich ausgeplünderte Bevölkerung am Leben zu erhalten. Es erübrigt noch zu sagen, daß in diesem Vilajet der größte Teil der überlebenden Bevölkerung, um von weiteren Massacres verschont zu bleiben, den Islam annehmen mußte.

Blutbäder im Vilajet Diarbekir.

„Die Kurden kommen am Morgen des 1. November vom Lande in die Stadt, plündern vereint mit den Muhammedanern den Bazar, zünden ihn an und ermorden alsdann die Christen aller Konfessionen. Die Soldaten, die Zaptiehs und die Kurden vereinigen sich, um auf die Christen zu schießen. Die Metzelei dauert drei Tage, obwohl der Vali (Generalgouverneur) vor dem Massacre dem französischen Konsul erklärte, daß er für die Ruhe einstehe.“ (Botschafterbericht.) Die Behauptung, daß die Christen das Massacre provoziert hätten, wurde von den Konsuln als falsch erwiesen, dagegen die sorgfältige Vorbereitung des Massacres vonseiten der Muhammedaner festgestellt. Sogar das Konsulatsgebäude wurde fünfmal, aber erfolglos, von den Kurden angegriffen. Um die Ordnung wieder herzustellen, entwaffnete der Vali die Christen und ließ die Muhammedaner in Waffen. In Diarbekir selbst wurden 2000 Christen getötet, 1701 Häuser geplündert und 2448 Läden verbrannt. Der materielle Verlust wird auf 2 Millionen türk. Pfd. (40 Millionen Mark) veranschlagt. Alle umliegenden Distrikte wurden von den Kurden verwüstet, die Zahl derer, welche ihre Familien dezimiert und ihre Dörfer zerstört sahen, wird auf 30 000 geschätzt. Außer den nachweislich Ermordeten sind weitere 1000 Christen der Stadt und 1000 Dorfbewohner, die in der Stadt arbeiteten, verschwunden. 119 Dörfer des Sandjak wurden geplündert und angezündet. Dasselbe Schicksal betraf die übrigen Distrikte des Vilajets. Im Distrikt Severek allein wurden 176 Dörfer zerstört. Im Kloster Magapayetzotz wurden 300 Flüchtlinge erschlagen. In den Distrikten Selivan, Hyne und der Nachbarschaft 105 Kirchen geplündert und in Moscheen verwandelt, wie überhaupt im ganzen Vilajet die überlebende Bevölkerung der gregorianischen Dörfer und auch eines griechisch-orthodoxen zwangsweise konvertiert wurden; auch das große armenisch-katholische Dorf Telarmen wurde vollkommen ausgeplündert. Die Stadt Mardin, obwohl in großer Gefahr, blieb bis jetzt verschont. Unter den Notleidenden brach die Cholera aus.

Blutbäder im Vilajet Sivas.

Im Vilajet Sivas durchstreifen seit Anfang November bewaffnete Kurdenbanden das Land und sengen und brennen vereint mit den Muhammedanern. „Der Vali kann von der Pforte nicht die Autorisation zu wirksamen Maßregeln erlangen.“ (Botschafter-Bericht.) Das Massacre in der Stadt Sivas beginnt am 12. November mittags und dauert 3 Stunden, wird aber am 14. fortgesetzt. Alle den Armeniern gehörenden Läden sind ausgeplündert und der Kleinhandel vernichtet. Die Zahl der Opfer erreicht 2000. Am Abend des Massacres riefen die Muezzins von der Höhe der Minarets den Segen Allahs auf die Metzelei herab. Im Umkreis von 10 Kilometer um die Stadt sind alle armenischen Dörfer verwüstet. – Die Stadt Gurun wird am 12. November von 2000 Kurden oder, wie man behauptet, verkleideten Redifs (Reserven) belagert, nach 4tägigem Widerstand genommen und in einen Schutthaufen verwandelt. Tausend armenische Häuser wurden verbrannt; Zahl der Opfer über 2000. „Am 28. November, also 14 Tage nach dem Massacre, lagen noch 1200 Leichen unbeerdigt auf den Straßen.“ (Botschafter-Bericht.) Daß 150 Frauen und junge Mädchen von den Kurden weggeschleppt wurden, gehört zu dem Zubehör aller Massacres. 5075 Personen entbehren in Gurun des täglichen Brotes.

In Schabin-Kara-Hissar-Scharki fanden vom 27. bis 29. Oktober Massacres und Plünderungen statt. Am 1. November wurden 2000 Personen, zum großen Teil Frauen und Kinder, die sich in die armenische Kirche geflüchtet hatten, getötet. Die Zahl der Opfer übersteigt in der Umgegend der Stadt mehr als 3000. An 30 Dörfer wurden geplündert und 40–50 Prozent der Bevölkerung wurden getötet. An Städten sind weiter zu nennen Amasia mit 1000 Toten (alle Läden und Geschäfte geplündert), Marsivan, 500 Tote (400 Häuser und Läden geplündert), Vezir-Keupru, 200 Tote (300 Häuser geplündert), Zileh, 200 Tote (300 Häuser und 200 Läden geplündert). Alle Landdistrikte des Vilajets wurden verwüstet, die Ueberlebenden en masse gezwungen, den Islam anzunehmen, z. B. in Gasma 655 Personen. Die Zahl der Notleidenden im Vilajet wird nach zuverlässigen Nachrichten auf 180 000 geschätzt. Es ist keine Rede davon, daß von den Hilfskomitees die Not bewältigt werden kann.

Die vorhergehenden 6 Vilajets waren diejenigen, für die der Sultan vor den Massacres die Durchführung der Reformen mit seinem Ehrenwort versprochen hatte. Die Massacres haben aber auch auf die benachbarten Vilajets von Aleppo, Adana und Angora übergegriffen. Im Vilajet Jsmidt, gegenüber von Konstantinopel, hat schon am 3. Oktober ein Massacre unter der armenischen Bevölkerung von Ak-Hissar stattgefunden (50 Tote, Schaden im Wert von 15 000 türk. Pfd. [300 000 Mark]).

Blutbäder im Vilajet Aleppo.

Das Vilajet Aleppo gehört infolge der Massenmorde von Aintab, Ursa, Biredjik, Marasch u. a. Städten zu denen, die die größten Verluste an Menschenleben erlitten haben. Wir registrieren nur nach der Zahl der Opfer: Biredjik, 96 Tote; Killis, 216 Tote; El-Oghlu, 250 Tote; Albistan, 300 Tote; Yenidje-Kale, 600 Tote; Aintab, 1000 Tote; Marasch, 1390 Tote; Urfa mit 10 000 ermordeten Christen. Zeitun ist die einzige Stadt auf dem ganzen Gebiet der armenischen Massacres, die den ganzen Winter hindurch einen verzweifelten und endlich sieggekrönten Widerstand leistete. 20 000 Menschen hatten sich in die Stadt geflüchtet, und eine ungeheure Zahl türkischer Truppen, die nach und nach herangezogen wurden, vermochten sie nicht einzunehmen. Endlich intervenierten die europäischen Konsuln, und die Armenier von Zeitun erhielten Amnestie. Gleichwohl starben während der Belagerung, in den Kämpfen um die Stadt und vor Hunger 6000 Menschen, ungerechnet Hunderte, die in den Bergen umkamen. Eine besondere Schandthat wird noch von den Truppen berichtet, die eine flüchtende Karawane von 4000 Armeniern zwischen Zeitun und Marasch umzingelten und 3720 Männer, Frauen und Kinder erschlugen.

In Ursa, Biredjik, Severek und Adiaman sind nach den Feststellungen der Konsuln 5900 Personen zwangsweise zum Islam konvertiert worden. In Biredjik giebt es keine Christen mehr. Die Zahl der Notleidenden, welche von den europäischen Hilfskomitees vor dem Hungertode bewahrt werden müssen, beträgt in diesem Vilajet 47 000. Von den Landdistrikten ist jedoch noch verhältnismäßig wenig bekannt. Der Hergang bei den Massacres ist überall der gleiche, entweder werden die Christen ahnungslos von bewaffneten Banden unter Mitwirkung des Militärs überfallen oder auf die perfideste Weise von den Behörden aller Waffen und jedes Schutzes beraubt und dann wie eine Herde Schafe abgeschlachtet. Die Schritte der Konsuln, welche den Massacres Vorbeugen wollen, scheitern an dem Widerstand der Regierungsbehörden. Die Soldaten, Redifs und Hamidichs nehmen auch nach dem Botschafter-Bericht an den Massacres und Plünderungen den lebhaftesten Anteil und werden von ihren Offizieren bei den Angriffen auf die Christen geführt.

Blutbäder im Vilarjet Adana.

Im Vilajet Adana blieben infolge der Anwesenheit amerikanischer und französischer Kriegsschiffe die Städte Mersina, Tarsus und Adana von Massacres verschont. Zwar waren solche dreimal angesagt, doch wagte der Vali infolge des persönlichen Einschreitens der Kommandeure der Schiffe nicht, die Erlaubnis zum Ausbruch derselben zu erteilen. Dagegen wurden die Landdistrikte von Adana mit 20 geplünderten Dörfern und Gehöften und Pajas mit 16 Dörfern und 1809 zerstörten Häusern und Gehöften um so gründlicher verwüstet. Der Vali machte eine Rundreise durch das Vilajet, und sobald er die Dörfer verlassen, fanden die Plünderungen statt. Gleichwohl versicherte er dem Kommandanten des französischen Kreuzers „Le Linois“, daß im Vilajet nirgends die Ordnung gestört sei. Ueberall wurden die Christen entwaffnet, während die Muhammedaner ihre Waffen behalten durften. Die materiellen Verluste im Distrikt Pajas werden auf 50 000 türk. Pfd. (1 000 000 M.) berechnet. Im Taurus wurden viele (engl.) Quadratmeilen Weinberge von den Muhammedaner ausgerodet. Die Zahl der Notleidenden, darunter 7000 Flüchtling aus andern Distrikten, wird auf 17 000 angegeben.

Blutbäder im Vilajet Angora.

Im Vilajet Angora fand am 30. November ohne irgendwelche Provokation von seiten der Armenier ein großes Massacre statt, bei dem 1000 Armenier erschlagen und 600 verwundet wurden 200 Läden des Bazars wurden völlig ausgeplündert; auch auf das Frauenbad wurde ein Angriff unternommen. In Yuzgat, Tschorur und Hadji-Köi fanden Massacres statt, in Yuzgat wurden alle Einwohner, in Hadji-Köi 90 ermordet. 45 Dörfer des Vilajets wurden geplündert. Die Dörfer Ekrek mit 800 Häusern und Mundjursun mit 1000 Häusern wurden nach Ermordung aller Einwohner von Erdboden vertilgt. Irgend eine ernstliche Ueberwachung der sengenden und brennenden Tscherkessen von seiten der Behörden wurde nicht aus geübt, im Gegenteil, ihre Anwesenheit geduldet. Von 12 mobilisierte Bataillonen meutern 8 und die Soldaten desertieren. Ein höhere Offizier der Garnison in Cäsarca erklärte, daß, wenn die Behörde ihm nicht hindernd entgegen getreten wären, er im Augenblick den Aufstand erstickt und das Massacre verhindert haben würde. Ein anderer bedauerte das spätere Einschreiten der Behörden und erklärt, daß wenn man sie nicht gehindert hätte, sie die Armenier bis auf den letzten Mann ausgerottet haben würden. Die in allen Vilajets nach gewiesene Teilnahme des Militärs unter dem Kommando auch der höchsten Chargen wirft das grellste Licht auf den Ursprung der Massacre umsomehr, da die Konsularberichte aus allen Vilajets feststellen, daß von seiten der Armenier keinerlei Provokationen, geschweige denn Revolten und revolutionäre Erhebungen stattgefunde haben. Nur in Zeitun liegt ein besonderer Fall vor, der näher geprüft aber auch das Verhalten der Armenier entschuldigt.

Das Facit unserer statistischen Aufstellung, die ausschließlich auf verbürgten Quellen ruht und noch keineswegs einen endgiltigen Abschluß gestattet, da aus zahlreichen Landdistrikten im Innern ziffernmäßige Angaben fehlen, ist folgendes: In den Massacres erschlagen etwa 88 000. Städte und Dörfer verwüstet: etwa 2500. Kirchen und Klöster zerstört: 645. Zwangsweise zum Islam bekehrt: 559 Dörfer, mit allen überlebenden Einwohnern und hunderte von Familien in den Städten. In Moscheen verwandelte Kirchen: 328. Zahl der Notleidenden: etwa 546 000. Diese Zahlen bezeichnen nur den Umfang unserer statistischen Informationen, nicht den der Thatsachen selbst, die sich also bei weitem schrecklicher herausstellen werden.

Mit Hinzurechnung all der Tausende, die in den noch nicht registrierten Dörfern erschlagen, an ihren Wunden erlegen, auf der Flucht verschollen, an Hunger gestorben sind, Seuchen erlagen und unter dem Schnee des Winters in den Bergen begraben wurden, wird man die Zahl der Opfer der armenischen Massacres mit 100 000 noch zu niedrig berechnen.


2. Etwas für starke Nerven.

Unser erster Bericht konnte der Hauptsache nach nur eine statistische Uebersicht bringen. Zahlen sind trocken. Das Auge des Lesers gleitet über etliche 100 oder 1000 von Toten, über etliche 10 000 oder 100 000 von Notleidenden leicht hinweg, und eine Null mehr oder weniger macht für die Empfindungsbilanz wenig aus. Darum ist es notwendig, den Stoff zu beleben und wenigstens an einigen Beispielen zu zeigen, wie sich trockene Zahlen in brutaler Wirklichkeit ausnehmen. Es mag uns vielleicht jemand zürnen, daß wir Dinge ans Licht ziehen, vor denen sich das Auge lieber verschließt, und selbst vor der Schilderung des Gräßlichsten nicht zurückschrecken, aber das Opfer, das wir der Gemütsruhe der Leser zumuten, ist doch nur eine gelinde Nervenerschütterung, während die Hekatomben von Blut, Qual, Geschrei und Thränen, von denen wir eine der Wirklichkeit mehr entsprechende Vorstellung erwecken möchten, bis an die äußersten Grenzen menschlicher Leidensfähigkeit von Hunderttausenden durchgekostet wurden. Wäre es freilich so, wie man aus manchen Auslassungen unserer offiziösen Presse schließen müßte, daß diese himmelschreienden Schandthaten und Massenmorde nichts anderes sind als nichtsnutzige Phantasieprodukte englischer Diplomaten und Zeitungsschreiber, ausgeheckt, einzig zu dem Zwecke, um von Zeit zu Zeit „Europa mit einer neuen Auflage armenischer Greuel zu regulieren“, so würde auch unsere Darstellung nur der Beweis eines ebenso bösartigen Charakters sein, wie er bei englischen Staatsmännern und Publizisten vorausgesetzt wird. Sind aber die Dinge auch abgesehen davon, welchen Nutzen oder Schaden sie in den Berechnungen der hohen und niedrigen Politik verursachen, zunächst nichts anderes als wahr, so ist doch wohl anzunehmen, daß das Recht der besseren Ueberzeugung auf der Seite derer ist, die die Wahrheit sagen und nicht auf der Seite derer, die die Wahrheit verschweigen.

Wir bitten unsere Leser bei der folgenden Darstellung im Auge zu behalten, daß die armenischen Massacres, denen 100 000 schuldlose Menschen zum Opfer fielen, an einem friedlichen und wehrlosen Volke verübt wurden, denn alles, was von Revolten, revolutionären Anschlägen oder auch nur Provokationen von seiten der Armenier gegen die türkische Regierung oder Bevölkerung in unseren Zeitungen zu lesen war, den einzigen Fall von Zeitun ausgenommen, so weit es das armenische Volk und nicht einige unruhige Köpfe in London, Paris, Athen oder Konstantinopel betrifft, es sei gleich rund herausgesagt, ist von A bis Z erlogen. Wir werden darauf noch zurückkommen. Vor der Hand genügt es, das unbestochene Urteil des Botschafter-Berichtes zum Zeugen aufzurufen. Wem die Thatsachen unbekannt sind, der mag sich durch Zahlen belehren lassen. Oder wie wollte man sonst erklären, daß neben den Hunderten und Tausenden von abgeschlachteten Armeniern in dem Bericht der Botschafter die Toten der Muhammedaner nur mit ganz kleinen Zahlen figurieren? Die letzteren sind noch dazu der offiziellen türkischen Statistik, die gewiß keinen Muhammedaner zu wenig zählen wird, entnommen. Wir brauchen nur diese Zahlen türkischer Herkunft mit den durch unsere Informationen vervollständigten Verlusten der Armenier zu confrontieren und können die weiteren Schlüsse vorläufig dem Nachdenken unserer Leser überlassen.

           Muhamedaner †     Armenier †
Trapezunt      20               800
Erzerum        12               900
Erzingjan       7              1000
Bitlis         39               900
Charput        12               900
Arabkir        60              4000
Sivas         (10)             1400
Aintab         50              1000

In der That sehr merkwürdig, daß, als die Schafe eines Tages die Wölfe überfielen, solche Herden von Schafen umkamen und nur eine so geringe Zahl von Wölfen von den reißenden Schafen zerrissen wurde. Die Sache bedarf offenbar noch der Aufklärung.

Doch nun zu den Massacres. Es ist keine Frage, die Abschlachtung der Armenier war für die Türken ein Fest. Mit Trompetensignalen begonnen, mit Prozessionen beschlossen, unter dem Gebet der Mollahs, die von der Höhe der Minarets den Segen Allahs auf das Gemetzel herabriefen, vollzog sich das Ganze in bewunderungswürdiger Ordnung nach dem zuvor vereinbarten Festprogramm. In brüderlicher Einmütigkeit mit dem Militär, den Redifs (Reserven), den Zaptiehs (Gendarmen) und den neugeschaffenen kurdischen Irregulären, die als Hamidieh-Regimenter nach dem Namen des regierenden Sultans genannt wurden, begab sich der von den Behörden mit Waffen ausgerüstete Pöbel ans festliche Geschäft des Mordens. Die Stimmung war die beste. Die türkischen Frauen mit ihrem Zilghit, dem kreischenden Kehllaut ihrer Kriegsrufe, ermunterten ihre Braven und übertönten das Geschrei der Opfer mit dem Gebrüll ihrer Hochzeitslieder. Ein wilder, menschenfresserischer Humor bemächtigte sich des edlen Pöbels. Und warum auch nicht? Wenn hier ein Offizier ermutigte: „Nieder mit den Armeniern, das ist der Wille des Sultans!“ wenn dort ein Vali ermahnte: „Seid rührig, laßt nicht ab zu töten, zu plündern und zu beten für den Sultan!“ warum sollten sie innehalten mit Beten und warum abstehen vom Morden? Lag doch der Lohn der Frömmigkeit vor ihren Augen: die aufgestapelten Waren in den Magazinen armenischer Kaufleute und sämtliche Habe in ihren Häusern, so viel sich nur erraffen und hinwegschleppen ließ. War doch überdies völlige Straflosigkeit jeglicher Schandthat ihnen sicher, und von der sorglichen Regierung für ihre getreuen Unterthanen alle nur wünschenswerten Maßregeln getroffen, um das Geschäft des Mordens bei allem Blutvergießen so ungefährlich als nur möglich für alle Beteiligten zu machen, so ungefährlich, wie das Abstechen der Hammel im Schlachthaus.

In keiner Weise war die Phantasie des mutigen Pöbels und der tapferen Soldaten durch eine Sorge um das eigene Leben in Anspruch genommen. Schrankenlos konnten sie sich dem Waffentanz der Massacres und den darauf folgenden Orgien der Schändung hingeben.

Das eintönige Geschäft, Hunderte von waffen- und wehrlosen Armeniern aus ihren Häusern und Schlupfwinkeln zu zerren, Mann für Mann zu köpfen, zu erstechen, zu erdrosseln, zu erhenken, mit Knütteln, Aexten und Eisenstangen zu erschlagen, ermüdete bald. Der joviale Pöbel verlangte nach Abwechselung. Das einfache Totschlagen war zu langweilig – man mußte die Sache unterhaltender machen. Wie wäre es, ein Feuer anzuzünden und die Verwundeten drin zu braten, etliche an Pfählen die Köpfe nach unten aufzuhängen, andere mit Nägeln zu spicken oder ihrer fünfzig zusammenzubinden und in das Menschenknäuel hinein zu schießen. Wozu hat ein Armenier soviel Glieder, als dazu, daß man sie einzeln abhackt und ihm die blutigen Stümpfe in den Mund stopft. Das Ausstechen der Augen, das Abschneiden der Nasen und Ohren wird zur Spezialität ausgebildet. Besonders Priester, die sich weigern, zum Islam überzutreten, verdienen kein besseres Schicksal. Soll ich die Liste der Armen, die so ums Leben kamen, herzählen? Sie steht zur Verfügung.

Aber das alles sind noch einfache Methoden, die den Ruhm der Neuigkeit nicht in Anspruch nehmen können. Hier ist Petroleum und Kerosin! Zwar wurde es von der Behörde nur geliefert, um Häuser damit zu verbrennen und Vorräte von Lebensmitteln und Getreide zu verderben. Aber sie wird nicht zürnen, wenn man einen nützlicheren Gebrauch davon macht. Seht diesen Mann, ein Photograph, Mardiros sein Name, welch einen stattlichen Bart er hat! Gießet Petroleum hinein und zündet ihn an! Schleppt Christen zusammen, gießt Kerosin drüber her, und wenn sie brennen, werft andere in den Qualm, damit sie drin ersticken! Welch üppiges Haar hat diese Frau! Man schütte Pulver hinein – die Regierung hat noch mehr! und sengt ihr den Kopf ab. Ja, Uebung macht den Meister! Da ist ein Effendi, Abdullah sein Name; im Kloster zu Kaghtzorhayatz läßt er einen jungen Mann und eine junge Frau auf einander legen und bringt das Kunststück fertig, beider Köpfe mit einem Schwertstreich abzuschlagen. Es geht aber auch ohne Eisen und ohne Feuer. Der Kurdenscheikh Djevher von Gabars beweist es, läßt zwei Brüder mit Stricken binden und mit Pfählen auf den Boden spießen. Wetteifer spornt die Trägen, und Ehrgeiz fängt an, die Köpfe zu zählen, die eine Hand erschlug. Jener Bäcker in Kesserik, der schon 97 Armenier umgebracht, wofür ihre abgeschnittenen Nasen und Ohren den Beweis erbringen, erklärt, nicht eher ruhen zu wollen, als bis er das Hundert vollgemacht. Doch er findet einen Meister in dem Hadji Begos von Tadem, der das Hundert schon überschritten und als Trophäe seiner Heldenthaten eine Frau in vier Stücke zerschneiden und die auf Pfähle gespießten Teile öffentlich zur Schau stellen läßt. Der Schlächter in Aintab, der sechs Armenierköpfe auf seine Bratspieße steckt, wird noch übertrumpft von den Türken zu Subaschigulp, die die Armenier wie die Hammel schlachten und rings an den Fleischerhaken aufhängen. Der Pöbel von Trapezunt aber bringt Humor in die Sache. Der armenische Schlächter Adam und sein Sohn werden erschossen, in Stücke geschnitten, die Glieder einzeln aufgespießt und den Passanten feilgeboten: „Wer kauft, einen Arm, ein Bein, Füße, Köpfe, billig zu haben, kauft!“

Doch die Unschuld sollte geschont werden. Die Kinder laßt am Leben! „Nur vom siebenten Jahr ab, hat der Sultan befohlen, die Christen zu töten!“ Aber wer hört auf die Stimme der Besonneneren! Was soll die unnütze Brut, die in Angst und Verwirrung von in entsetzlicher Hast geflüchteten Eltern zurückgelassen, die in den einsamen Bergschluchten der Umgegend von Musch herumirren oder nackt, frierend und bettelnd in den Städten wie Rudel von Straßenhunden herumlungern! Die Muhammedaner eines großen Dorfes bei Marasch ersparten einem einjährigen Kind dieses traurige Schicksal und warfen es ins Feuer. In Baiburt waren sie barmherzig genug, gleich die Säuglinge mit den Müttern in 14 Häusern zu verbrennen. Der reiche Ohannes Avakian von Trapezunt bietet dem stürmenden Pöbel alle seine Habe, wenn sie sein und der Seinen Leben schonen. Seinen dreijährigen Knaben hält er im Arm. Doch die Habe entgeht den Wüterichen nicht, erst den Knaben tot, damit sie an den Alten können! und ermordet werden beide vor den Augen der Mutter und Geschwister. Kinder auf dem Schoß der Mütter zu erwürgen, ficht einen tapferen Türken nicht an, und Fangball mit einem Kleinen spielen und ihn vor den Augen der Mutter von einem Bajonett aufs andre zu werfen, scheint den Soldaten von Bitlis ein heiteres Kriegsspiel. Auf der verstümmelten Leiche des Vaters, dem man zuvor ein Stück Fleisch nach dem andern aus dem Leibe gehackt und Essig in die Wunden gegossen, noch seinen Knaben mit blutigem Spielzeug zu erschlagen, erfreute den Pöbel von Erzerum.

Wenn auch in allen Massacres Dutzende von Frauen und Kindern umkamen, wenn auch in Ksanta und Lessonk hundert Frauen zerstückelt wurden, wenn auch unter den Opfern zu Bitlis sich die fünf- bis zwölfjährigen Knaben der Pfarrschule von Surp Serkias befanden, so muß man doch den Türken die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß von den Spitzen der Behörden solche Greuel nicht immer gewollt wurden. Und wenn aus einer ganzen Reihe von Dörfern und Städten berichtet wird, daß man selbst die Kinder im Mutterleib nicht schonte, ihnen gewaltsam zu einem frühzeitigen Dasein verhalf, sie zerstückte und in die Brunnen warf oder in Kreuzform zerschnitten im Schoße ihrer Mütter wieder begrub, so ist dies freilich nur der entmenschten Grausamkeit einzelner Ungeheuer zuzuschreiben. Auch daß unter den 450 Leichen, die man auf den Friedhof zu Sivas begrub, alle Frauenleiber aufgeschlitzt waren, geht weit über die Instruktionen hinaus, die dem Pöbel zuteil wurden. Im übrigen aber wurden von den Behörden der Mordlust der Massen keinerlei Schranken gesetzt, und wo die zu bewältigende Aufgabe die Kräfte des Pöbels überstieg, half das schnell requirierte Militär gar bald zum erwünschten Erfolg. Thörichte Scharen von flüchtenden Männern, Frauen und Kindern glaubten oft genug, daß Kirchen ein Schutz seien, und daß man ihr Leben im Heiligtume schonen würde. Doch da nun einmal Hunderte von Kirchen und Klöstern in Schutt und Asche gelegt werden mußten, wenn man mit dem verhaßten Christentum aufräumen wollte, wie konnte man auf die Bagatelle Rücksicht nehmen, daß sich Männer, Frauen und Kinder zu Hunderten in dieselben geflüchtet hatten. Was hinderte auch, die Thüren der Kirche zu Ressuan zu erbrechen und alle Flüchtlinge drin zu ermorden. Warum flohen 300 Armenier in das Kloster Maghapajetzwotz, wenn nicht, um mit der Brüderschaft umgebracht zu werden? Und wenn in Indises (Distrikt Luh-Schehri), in Haburs und Bussu (Distrikt Charput) die Kirchen den Christen über den Köpfen eingesteckt wurden, wer will den Pöbel tadeln, wenn das Militär dabei mit gutem Beispiel voranging? In Schabin Kara-Hissar nahm man auf die heilige Stätte mehr Rücksicht und mordete die 2000 in die Kirche geflüchteten Männer, Frauen und Kinder wenigstens draußen vor der Thür. Die Schandsäule aber, die sich zum ewigen Gedächtnis der Islam in dem Massacre von Urfa errichtet hat, mag der Leser in Teil II mit eigenen Augen bestaunen.

Ein schrankenloser Spielraum für die mordluslige Phantasie des Pöbels eröffnete sich aufs neue, als es sich darum handelte, was mit den Leichen der Tausenden von Erschlagenen anzufangen sei. Daß hier kein Schamgefühl, kein Schrecken vor der Majestät des Todes jedem schändlichen Beginnen in den Weg trat, braucht nicht gesagt zu werden. Doch verdient es in den Annalen der Geschichte verzeichnet zu werden, daß in allen Städten und Dörfern die Christenleichen nackt ausgezogen, aufs scheußlichste entstellt und cynisch verstümmelt in Bergen auf den Straßen, auf Misthaufen, in den Brunnen oder Senkgruben aufgeschüttet lagen, bis man die Esel und Juden requirierte, um die Leichen wie das Aas gefallener Tiere vor die Stadt zu schaffen. Niemand vermochte unter den aufgetürmten und verstümmelten Massen von Menschenfleisch die Seinen wiederzuerkennen. Wo man es nicht vorzog, die Leichen für den Fraß der Hunde liegen zu lassen oder mit dem beliebten Petroleum ein Autodafé zu veranstalten, war bald eine Grube ausgeworfen und die Masse von Kadavern hineingescharrt.

Doch Männern von Bedeutung wurden besondere Funerarien zuteil. Dem Priester Mattheos zu Busseyid wurde sein abgeschlagenes Haupt zwischen die Schenkel gelegt, und die jungen Türken des Ortes amüsierten sich, seinen Leichnam mit Ruten zu züchtigen. – Dem Priester Der-Harudiun zu Diarbekir und seinem Kollegen an der Kirche zu Alipunar, sowie zehn andern Priestern des Distrikts von Tadem wurde die Ehre zuteil, daß man ihren Leichen die Haut abzog. Dem Abt Sahag, Prior des Klosters Surp-Katsch im Distrikt Kizan, wurde mit seinem jungen Adlatus ein besonderes Denkmal errichtet, indem man ihre abgezogene Haut mit Stroh ausstopfte und an den Bäumen aufhing. Der Phantasie eines Nero ist es würdig, wenn die Türken von Arabkir die abgeschlagenen Köpfe der Armenier an langen Stangen aufreihten; und der Gendarmerie-Kommandant von Baiburt, der am 26. Oktober den Frauen des Dorfes Ksanta unter dem Versprechen, ihre Männer zu schützen, Geld und Schmucksachen im Wert von 500 türk. Pfd. abnahm und sich dann nach etlichen Tagen eines anderen besann, sämtliche Frauen und Kinder desselben Dorfes auf einem Felde versammelte und unbarmherzig abschlachten ließ, hätte es wohl verdient zum Chef der Leibgarde des Tamerlan ernannt zu werden.

Die Einwohner von zwölf Dörfern im Norden und Westen von Marasch hatten sich beim Beginn der Unruhen nach dem Flecken Turnus geflüchtet in der Absicht, von dort in die Berge von Zeitun zu fliehen. Etwa 4000 Personen waren so beisammen, als sie sich eines Morgens plötzlich von Soldaten umringt sahen. Ein furchtbares Morden begann, aus dem nur 380 Frauen und Kinder übrig blieben, die nach dem blutigen Werk auf einen Haufen gesammelt, von den Soldaten zwei Tagereisen lang wie eine Herde von Schafen nach Marasch getrieben wurden. Warum sie nicht auch umbringen? Der Ruhm der Barmherzigkeit, die die Unschuld beschützt, sollte der Regierung des Sultans gesichert bleiben. Daß freilich bei diesem Viehtreiben in der Winterkälte des Dezember das arme Volk im Schnee der Berge waten, die verschmachtenden Kinder von den Müttern am Wegesrand liegen gelassen werden mußten, weil zum Rasten und Stehenbleiben keine Zeit war, thut solchem Liebeswerk keinen Eintrag. O wäre man barmherzig gewesen und hätte sie alle erschlagen, denn welche Freude kann eine Mutter noch am Leben haben, die erzählte, daß, als sie ihre beiden Kinder nicht mehr tragen konnte, sie glücklich war, beide auf eins der Tiere zu setzen, das den Soldaten gehörte. Als sie aber an einen Fluß kamen, warfen die Unmenschen die Kleinen ins Wasser.

Ist nicht genug des Bluts und der Thränen geflossen? Wann endlich wird der Schmerzensschrei eines gemarterten Volkes das Ohr der Christenheit erreichen? Und was sagen jene christlichen Großmächte dazu, die seit 18 Jahren ihre schirmende Hand über Armenien halten und papierene Reformen „im Namen des Allmächtigen“ einem geknechteten Volk verbrieft und versiegelt haben?

Doch genug davon, denn noch ein Blatt will beschrieben sein, beschrieben mit Schande, Blut und Thränen. „Die Männer schlagt tot! Ihr Eigentum, ihre Frauen und Mädchen sind unser!“ Das war die Losung in Cäsarea, mit der die Soldaten den bewaffneten Pöbel zu Mord, Plünderung und Schändung aufriefen. Und diese Losung ist befolgt worden in jeder der Hunderte von Städten und Tausende von Dörfern, über die sich der Greuel der Verwüstung ergoß. Schon vor den Massacres hatten die Soldaten die Schamlosigkeit, christliche Mütter aufzufordern, ihnen ihre Töchter zu reservieren, denn bald, sagten sie, würden alle Christenmädchen im Lande ihr eigen sein.

Die Zahl von 85 000 Erschlagenen können wir nachrechnen, soweit unsere Informationen reichen, und die Totenliste ist entfernt noch nicht abgeschlossen. Aber wer zählt die Hekatomben von Schändungen und Entehrungen, zählt die Thränen der Tausende und Abertausende, die in die Berge geschleppt, in die Harems verkauft, auf dem Sklavenmarkt feilgeboten oder nach Befriedigung der Lüste in irgend einem Winkel erschlagen und verscharrt wurden?

Soll ich einen Begriff geben von dem Maß von Schande und Entwürdigung, dem Tausende von Mädchen und Frauen auch heute noch tagtäglich preisgegeben sind?

Jener Schurke, Hadji Begos, der sich rühmte, ein Hundert von Armeniern mit eigener Hand umgebracht zu haben, er brachte es auch fertig, ein Christenmädchen nackt auszuziehen und, von allem entblößt, durch die Straßen der Stadt zu jagen. Der Pöbel von Cäsarea, der 30 Häuser von Armeniern mit ihren Insassen verbrannte, nahm auch teil an dem saubern Geschäft, das Frauenbad der Stadt zur Stunde des Bades zu stürmen. Und welchen Empfang fanden die dreißig Frauen von Koschmat, die völlig entkleidet über die Berge irrten, bis sie nach Shinag gerieten, und den Soldaten der Kaserne in die Hände fielen? Doch das ist nichts Besonderes. Kein Massacre, ohne daß nicht dem Morden der Männer das Schänden der Frauen und Mädchen auf dem Fuße folgte; keine Plünderung, ohne daß Frauen und Mädchen feilgeboten, weggeschleppt, gegen Pferde und Esel als Tauschware verhandelt, oder auf den Sklavenmarkt gebracht wurden. Keine Einquartierung zum Schutz (?) oder Mord der Bewohner in ein Dorf gesandt, ohne daß nicht Christenmädchen von den Aghas oder Offizieren nächteweis an die Zaptiehs und Soldaten verteilt wurden.

In den eigenen Häusern nicht sicher, unter den Augen der Männer, die man an die Thürpfosten bindet, geschändet, oder, auch des ohnmächtigsten Schutzes beraubt, von Haus zu Haus gejagt, bis sie der Entehrung anheimfallen, das ist das Schicksal eurer Schwestern in Armenien, ihr Frauen von Deutschland! Welche wollt ihr mehr beklagen, die verwitwet oder verwaist, in irgend einer Ecke ihrer zertrümmerten Häuser, nur notdürftig bekleidet, auf Lumpen kauern, zitternd vor jedem Schritt eines Mannes, der Türke oder Kurde, des Weges kommt, ins Haus eindringt, um sie vor den Augen ihrer Kinder und Geschwister zu schänden, oder jene andern, die, vielleicht durch Gestalt oder Schönheit ausgezeichnet, das Wohlgefallen eines türkischen Agha fanden, unter Geschrei und Thränen in seinen Harem geschleppt wurden und mit ihrer Ehre zugleich ihren Christenglauben opfern mußten.

Begreift man nun wohl, was in Armenien Hunderte von Frauen in den freiwilligen Tod trieb? Was jene fünfzig Frauen von Lessonk und Ksanta bewog, sich in die Brunnen zu stürzen oder in die Abgründe zu springen? Welche Schrecken die Seele jener vornehmen Armenierin erfüllte, die mit einer Schar von Frauen, Kindern und wenigen Männern von Uzun Oba (25 Meilen östlich von Charput) weggeschleppt wurde und am Ufer des Euphrat angelangt, ihren Gefährtinnen zurief, nach dem Flusse stürzte und in die Wellen sprang? Beweis genug, daß Schande schlimmer ist als Tod, wenn 55 Frauen und Kinder ihr folgten und ihren Tod in den Wellen fanden.

Oder giebt es ein menschliches Herz, das einem alten, unglücklichen Vater sein namenloses Weh nicht nachempfinden könnte, wie es sich in einem Brief an einen Sohn in der Fremde also ausspricht: „O, ich wage es dir nicht zu sagen ... Sie kamen und drohten mich zu töten, wenn ich ihnen deine Schwester nicht ausliefern würde. Alles hatten sie schon fortgeschleppt: Decken, Betten, Kleider, Lebensmittel und selbst das Brennmaterial, als sie wiederkamen, um auch noch unsere Tochter zu fordern. Ich widerstand ihnen, bereit zum äußersten. Aber, als sie den Säbel an meiner Kehle und meinen Tod vor Augen sah, da warf sie sich selbst den Türken zu Füßen und schrie: Schont meinen Vater, hier bin ich!

Und sie haben sie weggeschleppt.“

Daß aber die Roheit der kurdischen Horden und der Cynismus des städtischen Pöbels durch die Schandthaten der Offiziere und Soldaten weit in den Schatten gestellt wurde, das soll den Bewunderern türkischer Armeeorganisationen und den Lobrednern muhammedanischer Gesittung nicht vorenthalten bleiben. Mich ekelt zwar, meine Feder in diesen Pfuhl von Schande einzutauchen, aber wessen die Wächter der Ordnung und des Gesetzes im Lande der „armenischen Reformen“ fähig sind, das muß doch festgenagelt werden!

Der folgende kurze Bericht wird durch zwei von einander unabhängige Zeugnisse, die vor mir liegen, verbürgt: „In dem Dorfe Husseyinik (Vilajet Charput) versammelten ungefähr 600 Soldaten (und wo Soldaten sind, sind auch Offiziere) eine gleiche Zahl von ungefähr 600 armenischer Frauen und junger Mädchen im Militär-Depot und nachdem sie ihre gemeinen Lüste öffentlich an denselben befriedigt hatten, schlachteten sie die unglücklichen Opfer ihrer scheußlichen Notzüchtigungen ab.“

Sollte dieses Blut nicht gen Himmel schreien? Sollte das Jammergeschrei dieser Frauen und Mädchen nicht das Ohr des Allmächtigen erreichen, wenn auch das der Mächtigen dieser Erde taub bleibt? So wahr ein Gott im Himmel lebt, es wird’s thun!


3. Religionsfreiheit im türkischen Reich.

Im türkischen Reich besteht auf Grund der Verträge Religionsfreiheit. Nach dem Krimkriege versprach der Sultan Abdul Medschid feierlich, das Los seiner christlichen Unterthanen verbessern zu wollen und auf Grund des Hatti-Humajums vom 18. Februar 1856 wurde die Pforte in das Konzert der europäischen Großmächte aufgenommen. Um die allen Unterthanen versprochene Religionsfreiheit unter die Garantie der Mächte zu stellen, wurde folgender Erlaß der Hohen Pforte in den Pariser Friedensvertrag vom 30. März 1856 aufgenommen: „Alle Formen der Religion sollen in meinen Landen offen und unbeeinträchtigt gestattet und soll kein Unterthan meines Reiches in der Ausübung seines Glaubens behindert werden. Niemand soll gezwungen werden, seinem Glauben zu entsagen.

Die so gewährleistete Religionsfreiheit wurde im Artikel 62 des Berliner Vertrages durch die Bevollmächtigten des jetzt noch regierenden Sultan Abdul Hamid II. aufs neue bestätigt: „Da die Hohe Pforte ihre Bereitwilligkeit ausgesprochen[WS 1] hat, den Grundsatz der religiösen Freiheit aufrecht zu erhalten und demselben die weiteste Ausdehnung zu geben, so nehmen die Vertragsmächte Kenntnis von dieser freiwilligen Erklärung. ... Alle sollen zugelassen werden ohne Unterschied der Religion, vor Gericht Zeugnis abzulegen, die äußerliche und öffentliche Ausübung aller Religionen soll gänzlich frei sein, und der hierarchischen Einrichtung der verschiedenen Religions-Genossenschaften oder ihren Beziehungen mit ihren geistlichen Oberhäuptern sollen keine Hindernisse bereitet werden. Geistliche, Pilger und Mönche aller Nationalitäten, die in der europäischen oder asiatischen Türkei reisen, sollen dieselben Rechte, Vorteile und Privilegien genießen. Das Recht offiziellen Schutzes wird den diplomatischen und konsularen Agenten der Mächte in der Türkei gewährt, nicht weniger in Beziehung auf die oben erwähnten Personen mit ihren religiösen und wohlthätigen Anstalten als auch andere in den heiligen Stätten und anderswo.“

Eine angesehene deutsche Tageszeitung, „Die Post“ schrieb im vorigen Jahre bei Gelegenheit der Erörterungen über das Massacre in Sassun: „In Ermangelung sonstiger Gründe für eine europäische Intervention hat für die englische und amerikanische Presse die christliche Religion der Armenier herhalten müssen. Ja Gladstone hat sich gelegentlich jener Komödie des Empfanges der Deputation von Sassun nicht gescheut, von den „um ihres Christenglaubens willen verfolgten Armeniern“ zu reden. Das ist eine handgreifliche Unwahrheit. Welchen Grund hätte wohl die Pforte haben können, eine Religionsverfolgung plötzlich ins Werk zu setzen, nachdem sie sich Jahrhunderte lang um die Religion der Armenier nicht gekümmert hatte? Ueberhaupt hat nie (!) eine eigentliche Christenverfolgung im türkischen Reiche stattgefunden. Es wäre auch das Unklügste, was die Pforte thun könnte, die mannigfachen Schwierigkeiten ihrer Lage durch eine Verfolgung des Christentums zu vergrößern. Jedem, der auch nur ein wenig die Geschichte der Türkei studiert hat. wird bekannt sein, daß von ihr im Prinzip – einzelne Uebergriffe kommen dafür nicht in Betracht – die weitestgehende religiöse Duldung geübt wird, was bei der Menge der Religionen, Konfessionen und Sekten in dem weiten Reich ein Gebot der Selbsterhaltung ist.“

Es verlohnt sich, diese prägnante Fassung einer weitverbreiteten, durch keine Sachkenntnis behinderten Anschauung wiederzugeben, da derselbe Faden ja noch täglich in unserer deutschen Presse gesponnen wird. Wir verzichten, darauf einzugehen, zu welchen Zuständen „die weitestgehende religiöse Duldung“ im türkischen Reich seit Jahrhunderten in Uebereinstimmung mit dem Religionsgesetz der Muhammedaner geführt hat, und wir überlassen es allen Kennern der Religions- und Missionsgeschichte des Orients, sowie der jetzigen religiösen Zustände in der Türkei ihre Kenntnisse und Erfahrungen mit den apodiktischen Behauptungen obiger Ausführungen in Einklang zu bringen. Wir beschränken uns auf Armenien, und da müssen wir in der That zustimmen, daß es das Unklügste nicht nur wäre, sondern war, was die Pforte thun konnte, als sie eine Verfolgung des Christentums in Szene setzte. Denn die christlichen Unterthanen Sr. Majestät des Sultans machen numerisch ein volles Drittel und, gewogen, nicht gezählt, an Intelligenz, Bildung, wirtschaftlicher Tüchtigkeit und moralischer Energie zwei Dritteile der Gesamtbevölkerung des türkischen Reiches aus. Es ist einem Publizisten, der die Bewegungen der Weltgeschichte nur in einem oberflächlichen Kausalnexus politischer Tagesereignisse zu sehen gewohnt ist, und die religiösen und sittlichen Mächte nicht nur als Imponderabilien, sondern als quantité négligeable zu behandeln gewohnt ist, nicht zu verargen, wenn er nichts davon weiß, daß die Zersetzung des osmanischen Reiches und die „mannigfachen Schwierigkeiten ihrer Lage“ auf allen Punkten auf den Gegensatz des Islam und des Christentums und auf die Thatsache zurückzuführen ist, daß das Religionsgesetz des Islam, welches in den letzten Jahrzehnten mehr denn je die Richtschnur der ottomanischen Politik war, eine bürgerliche Gleichberechtigung der muhammedanischen und christlichen Unterthanen nicht gestattet, und daß alle dahin gehenden Zugeständnisse der Pforte nur „im Prinzip“, d. h. auf dem Papier gewährt werden können. Vielleicht könnte das Studium der Schriften Moltkes in dieser Beziehung auch heute noch gute Dienste leisten.

Was sind denn die armenischen Massacres? Ein Rassenkampf? Nein. – Denn Jahrhunderte lang sind die Türken wohl oder übel mit ihren armenischen Unterthanen ausgekommen. Eine nationale Erhebung? Nein. – Denn das armenische Volk in Armenien weiß nichts und will nichts wissen von der politischen Propaganda einiger Schwärmer, die in London, Paris oder Konstantinopel revolutionäre Klubs bilden und politische Pamphlete herausgeben. Eine Christenverfolgung? Nicht ohne weiteres. – Denn es lag keine unmittelbare Veranlassung vor. Doch was sind die armenischen Greuel? Ohne Frage: ihrem Ursprunge nach ein rein politisches Ereignis; genauer gesagt eine administrative Maßregel. Aber die Thatsachen beweisen es, daß bei dem Charakter des muhammedanischen Volkes, der auch in den politischen Leidenschaften nur religiösen Motiven zugänglich ist, diese administrative Maßregel die Form einer Christenverfolgung von riesigem Maßstabe annehmen mußte und angenommen hat. Soll uns etwa wegen des politischen Ursprungs dieser Religionsverfolgung verboten sein, „von den um ihres Christenglaubens willen verfolgten Armeniern zu reden?“ Dann hat es nie in der Welt Religionsverfolgungen gegeben, denn alle ohne Ausnahme standen mit politischen Bewegungen in Wechselwirkung, und selbst der Tod Christi wäre nichts als ein politisches Ereignis, weil politische Motive bei seiner Verurteilung den Ausschlag gaben.

Vielleicht genügen aber die folgenden, von der deutschen Presse bisher überhaupt nicht gewürdigten Thatsachen, die ganze armenische Frage in ein anderes Licht zu rücken.

Schon der Botschafter-Bericht konnte konstatieren, daß in etwa 20 Städten und Dörfern, darunter die großen Städte Bitlis, Charput, Eghin, Malatia, Cäsarea und Urfa, Massenübertritte der Christen zum Islam stattfanden, und daß überall die Androhung neuer Massacres der Beweggrund für diese Konversionen war. Der ungeheure Umfang aber der Zwangsbekehrungen, denen auf dem ganzen Gebiete der Massacres die Ueberlebenden in Hunderten von Städten und Dörfern unterlegen sind und noch täglich unterliegen, kann erst jetzt, nachdem wir aus allen Gebieten Berichte vor uns haben, annähernd festgestellt werden. Die Zahl derer, welche in den letzten zehn Monaten unter dem Terrorismus des muhammedanischen Pöbels, unter den Aufreizungen des moslemischen Klerus, unter der offenen oder versteckten Beihilfe der Regierungs-Behörden zwangsweise konvertiert worden sind, wird das erste Hunderttausend schon überschritten haben und wird das zweite Hunderttausend erreichen, wenn durch die ohnmächtige Politik der christlichen Großmächte der muhammedanische Fanatismus noch weiter so gezüchtet wird wie bisher. Uns liegen Listen vor mit 646 Dörfern, in denen die überlebenden Einwohner mit Feuer und Schwert zum Islam bekehrt wurden, mit 568 Kirchen und 77 Klöstern, die völlig ausgeplündert, demoliert oder dem Erdboden gleichgemacht wurden, mit 328 christlichen Kirchen, die in Moscheen verwandelt wurden, mit 21 protestantischen Predigern und 170 gregorianischen Priestern, die um ihrer Weigerung willen, den Islam anzunehmen, oft nach den unerhörtesten Torturen ermordet wurden. Wir wiederholen aber, daß diese Zahlen nur dem Umfang unserer Informationen, aber noch entfernt nicht dem Umfange der Thatsachen selbst entsprechen. Ist dies eine Christenverfolgung oder nicht? Oder will man noch mehr Beweise für „die weitestgehende religiöse Duldung im türkischen Reich?“

Große Zahlen werden eindrücklicher, wenn man sie in kleine zerlegt. In dem Vilajet Erzerum haben etwa 15 000 Christen unter Androhung des Todes den Islam angenommen. In dem Vilajet Charput wird die Zahl der Zwangsbekehrungen auf ca. 15 000, in dem Wan auf 10 000 berechnet. In den etwa 60 christlichen Dörfern des Bezirks von Charput dient keine christliche Kirche, keine Schule mehr ihrer Bestimmung, und von allen Priestern dieser Dörfer, die entweder Märtyrer oder Apostaten geworden, ist noch ein einziger übrig für die Seelsorge der Handvoll Christen, die noch in der Gegend zerstreut sein mögen.

In der ganzen Umgegend von Baiburt ist die Religion des Kreuzes völlig verschwunden, und in den abgelegenen Gebirgsdörfern obiger Distrikte geht das Bekehren unter gezückten Schwertern und schrecklichsten Drohungen neuer Massacres beständig fort. Mit feierlichen Massen-Beschneidungen coram publico findet diese schändliche Propaganda ihren unwiderruflichen Abschluß. Aus allen Vilajets wird von allen Seiten her berichtet: 20, 40, 60 Dörfer unter Androhung des Todes konvertiert, Kirchen und Klöster zerstört, Priester und Mönche ermordet. In allen noch stehen gebliebenen Kirchen thronen die Mollahs auf den Kanzeln und lehren die Neubekehrten die Vorschriften der muhammedanischen Religion. Von den Türmen sind die Glocken heruntergeschafft, und die Muezzin rufen die „Gläubigen“ zum Gebet. In den Provinzen Sivas, Bitlis, Wan und Diarbekir zählen die konvertierten Dörfer zu Hunderten: der Distrikt Eghin mit 40 Dörfern, der Paludistrikt mit 43 Dörfern, die Distrikte von Selivan, Bescherik, Zerigan und Paravan mit 105 Dörfern, der Distrikt von Diarbekir mit 106, der von Bitlis mit 119 und der Distrikt von Wan gar mit 176 Dörfern. „Islam oder Tod!“ war die Losung für alles, was die ersten Massacres überlebte. Im ganzen Vilajet Diarbekir dient nur noch eine christliche Kirche ihrer Bestimmung, die Sergius-Kirche in Diarbekir selbst. In den vier Städten Urfa, Biredjik, Severek und Adiaman allein sind nach den Ermittelungen des Vizekonsuls Fitzmaurice 5900 Christen zwangsweise konvertiert worden, in Biredjik, das 240 christliche Familien hatte, giebt es keinen Christen mehr.

Daß überall die Kirchen aufs schändlichste entweiht, die heiligen Geräte besudelt, die Bilder zerschnitten oder mit Kot bedeckt, das heilige Oel und Sakrament unter die Füße getreten, die Kreuze heruntergerissen, die Evangelienbücher und Bibeln angespieen, in tausend Stücke zerrissen, in den Straßenkot oder Abort geworfen wurden, ist nur die Staffage zu dem Schauspiel des Vandalismus.

Die bei den Zwangsbekehrungen angewandte Methode war überall die gleiche. Nur der Zeitpunkt war dem Belieben der führenden Männer, Beamten, Offiziere, türkischen Aghas und Effendis oder der Willkür des muhammedanischen Pöbels anheimgegeben. In einigen Städten und Dörfern wurde schon vor dem Ausbruch der Massacres die Wahl gestellt, durch Uebertritt zum Islam das drohende Verhängnis abzuwenden. So in Urfa, wo die Armenier im Falle der Bereitwilligkeit zum Uebertritt aufgefordert wurden, weiße Fahnen auf ihren Dächern aufzuhissen; so in anderen Orten, wo das aufheben des Armes oder eines Fingers als Zeichen der Unterwerfung unter den Islam angeboten wurde und vom Tode errettete. Oft genug waren auch solche Angebote eine Täuschung und wohlhabende und einflußreiche Armenier wurden auch im Falle der Bekehrung nicht geschont. In vielen Fällen fanden die Zwangs-Konversionen schon während der Massacres statt, in den meisten waren sie das unvermeidliche Nachspiel der Massenmorde.

Bei der Androhung nur des Todes hatte es selten sein Bewenden, die Bajonette wurden auf die Brust, die Schwerter an die Kehlen gesetzt: wo dies nichts half, wurden Torturen hinzugefügt. Insbesondere Priester und Prediger, welche sich weigerten, ihren Glauben abzuschwören, mußten die unausdenklichsten Folterqualen erdulden, ehe man ihnen den Gnadenstoß gab. Der Priester Der-Hagop von Charput wurde wahnsinnig, als er, bis aufs Hemd entkleidet, die Schwerter von fünfzig[WS 2] Soldaten auf sich gezückt sah. Was mit ihm machen? Da die Mollahs erklärten, daß der Uebertritt eines Verrückten zum Islam nicht gestattet sei, warf man ihn einstweilen wegen Renitenz ins Gefängnis.

Im Kloster zu Tadem wurden dem greisen Archimandriten Ohannes Papizian auf seine Weigerung, den Islam anzunehmen, zuerst die Hände, sodann die Arme bis zum Ellenbogen abgeschnitten. Als er noch nicht weich wurde, schnitt man ihm auf dem Pflaster der Kirche den Kopf ab. In Biredjik wurde ein Greis, der sich weigerte, seinen Glauben abzuschwören, niedergeworfen, glühende Kohlen auf seinen Leib gehäuft und als er sich in Qualen wand, hielten ihm die Unmenschen eine Bibel vors Gesicht und baten ihn höhnend, einige Verheißungen, auf die er sich verlassen, ihnen vorzulesen.

In Diarbekir wurde die große steinerne Kirche der syrischen Jakobiten, in die sich Massen von Flüchtlingen gerettet, von Kurden umzingelt, hineingeschossen, das Dach aufgebrochen, Brennmaterial und Brandfackeln hinabgeworfen, bis es endlich gelang, die Thür aufzubrechen. Unter dem Jubel des Pöbels wurden die Insassen in dichten Scharen ins Freie getrieben, wo sie ein Kugelregen empfing. Als man den Pastor Jinjis Khatherschian aus Aegypten, der gerade bei seinen Verwandten zu Besuch war, als Geistlichen erkannte, wurde er niedergerissen und bis zur Bewußtlosigkeit mit Knütteln geschlagen. Eins der umherliegenden heiligen Bücher wurde ihm in den Mund gestopft und er höhnend aufgefordert, eine Predigt zu halten. Brände flogen auf ihn nieder, und als der heftige Schmerz ihn aus seiner Ohnmacht weckte, und er wegzukriechen versuchte, faßte man ihn und schleuderte ihn ins lodernde Feuer, wo er verbrannte.

Erinnert es nicht an das Heldentum der Makkabäer, wenn in Urfa eine Mutter, als man ihre Söhne zum Uebertritt zwingen wollte, hinzueilte und sie anflehte: „Laßt euch töten, aber verleugnet den Herrn Jesum nicht!“ und die Standhaften sich mit dem Schwert erwürgen ließen. Frauen und Kinder sind den Männern im Märtyrertum gefolgt. In Bitlis wurden 100 Frauen, nachdem man ihre Männer erschlagen, von Soldaten auf einen Platz geführt. Was antworteten sie, als man ihnen sagte: „Gebt euren Jesus auf, und ihr sollt leben bleiben?“ „Nein, unsere Männer sind für ihn gestorben, und auch wir wollen es thun!“ und alle wurden ermordet.

In Cäsarea war beim Massacre am 30. November ein Protestant und dessen zwölfjährige Tochter allein im Haus, das die Mutter zuvor verlassen hatte. Ein Türke brach in das Zimmer ein, wo das Mädchen saß. „Mein Kind,“ sagte er, „dein Vater ist tot, weil er den Islam nicht annehmen wollte, jetzt muß ich dich zu einer Muhammedanerin machen, und dann will ich dich in mein Haus nehmen, und du sollst gehalten werden, wie meine Tochter. Willst du?“ „Ich glaube an Jesum,“ antwortete[WS 3] das Mädchen, „er ist mein Heiland, und ich liebe ihn! Ich kann nicht thun, was du willst, selbst wenn du mich tötest.“ Darauf fiel der Wüterich mit seinem Schwert über das Kind her und schnitt und stach sie an zwölf verschiedenen Stellen. Was darauf folgte, weiß man nicht; das Haus wurde geplündert und verbrannte mit dem Leichnam des Vaters. Aber an jenem Abend fuhr ein Karren in einem anderen Stadtteil vor dem Hause vor, in welchem die Mutter des Mädchens war. Ein Nachbar, ein ihr befreundeter Türke, kam hinein und sagte: „Ich habe dir den Leichnam deiner kleinen Tochter gebracht. Du bist meine Freundin, und ich konnte ihn nicht da liegen lassen. Es thut mir leid, daß dies geschehen.“ Die Mutter nahm den bewußtlosen Körper und entdeckte, daß noch Leben in ihm war. Ein Chirurg wurde gerufen. Er brachte das Kind zum Bewußtsein, und es ist jetzt wieder genesen. Es wurde später nach Konstantinopel und dann nach Deutschland gebracht und lebt gegenwärtig in Frankfurt a. M.

Ich könnte noch viele solche Geschichten erzählen, und es verlohnte sich, die Märtyrerakten der armenischen Kirche zu schreiben, die so viel Tausende der Zahl der Blutzeugen aller Zeiten hinzufügte.

Wenn Tausende von Armeniern für ihren Glauben in den Tod gingen, wer will sich wundern, wenn andere Tausende unter entsetzlichen Drohungen, durch die Schrecken der Blutbäder zur Verzweiflung gebracht, durch einen Schein-Uebertritt zum Islam ihr und der Ihrigen Leben und Ehre zu retten suchten! Ja, verdienen nicht diese Unglücklichen, unter denen Witwen und Waisen die große Masse bilden, noch mehr unser Mitleid als all die Erschlagenen, die durch ihren Tod Gott preisen dursten? Man lese folgenden Brief eines höheren armenischen Geistlichen, der an seinen Freund schreibt: „Mit Dankbarkeit und Thränen lasen wir die tröstlichen Worte Ihres väterlichen Briefes. Doch haben wir augenblicklich alle den Islam angenommen aus Angst vor dem Tod durch Tortur. Auch ich, Ihr geringer Diener, im Alter von 70 Jahren, habe es gethan. Nachdem ich mehrfach wie durch Wunder dem Tode entgangen war und keinen Ausweg fand, fügte ich mich scheinbar und nahm ihren Glauben an, bat aber, daß man mir meines hohen Alters wegen die Beschneidung ersparen möge. Allein sie zwangen mich dazu unter der Drohung, mir im Falle der Weigerung den Kopf abzuschneiden. Sie bedrohten mich ferner mit den schrecklichsten Torturen, wenn ich zum Christentum zurückkehren würde; und wie mit mir, so handeln sie mit allen Christen. Ich kann Sie versichern, daß es hier kein Christentum mehr giebt, wenn nicht bald von irgend einer Seite Hilfe kommt.“

Ja, so ist es. Für all die Aermsten giebt es keine Möglichkeit der Rückkehr zu ihrem väterlichen Glauben. All die Zehntausende, die jetzt in ihren weiland christlichen Kirchen muhammedanischen Gottesdienst verrichten, all die Priester, die man zum Hohn ihres früheren Amtes gezwungen, als Mollahs oder Muezzins den Namen Muhammeds zu verkündigen, sie alle müssen es verlernen, im Namen Jesu ihre Kniee zu beugen. Nicht einmal ihre christlichen Namen durften sie behalten. Die Ohannes, Bedros, Mattheos wurden in Mustafa, Achmed, Abdallah verwandelt. Die schlauen Türken faßten wohl ins Auge, daß die Zwangsmuhammedaner in besseren Zeiten wieder abfallen könnten, und man sicherte sich klüglich gegen solchen Verrat an der heiligen Sache des Islam. Das prompteste Mittel fanden die Türken von Aivose, die den christlichen Priester, den sie gezwungen, auf das Minaret zu steigen und als Muezzin die Gläubigen zum Gebet zu rufen, sobald er herunterkam, erschossen. Und ebenso besorgt um das Seelenheil ihrer Konvertiten waren die Türken von Garmuri, die die zur Beschneidung niederknieenden Christen bei dem feierlichen Akte selbst umbrachten. Auch die Bewohner des Dorfes Plur (Distrikt Baiburt) wurden schleunigst ins Paradies befördert, nachdem sie den Islam angenommen. War es nicht barmherzig, sie zu erschießen, da, wie die Türken geltend machten, Gefahr vorhanden war, daß sie im Herzen Christen bleiben, später wieder abfallen und ihre Seligkeit einbüßen könnten?

Eine weniger radikale, aber um so scharfsinnigere Methode, den einmal erfolgten Uebertritt unwiderruflich zu machen, wird aus einer großen Zahl von Städten und Dörfern berichtet, wo man die Neophyten-Familien zwingt, mit ihren neuen Glaubensgenossen verwandtschaftliche Bande zu knüpfen. Christliche Priester braucht man nur mit zwei oder drei türkischen Frauen zu verheiraten, um sie ein für allemal für ihren früheren Beruf zu verpfuschen. Haben sie noch Grund zur Klage, wenn dafür die Mollahs die Freundlichkeit haben, die Frauen derselben von ihren Gatten zu scheiden und in ihren Harem aufzunehmen? Daß vonseiten ihrer Glaubensbrüder dafür gesorgt wurde, daß sie herdenweise mit Turbans bedeckt, in die Moscheen geführt und zu den Exerzitien des Namaz (Gebets) aufs Peinlichste gedrillt wurden, wer sollte das ihrem religiösen Eifer nicht zutrauen? Weh dem, der sich irgend eine Versäumnis seiner rituellen Pflichten zu Schulden kommen läßt! Man bedarf keines weiteren Vorwandes, um ihn als heimlichen Apostaten zum Tode zu befördern. Lässigen oder Verdächtigen werden Posten gestellt, die bei Tag und Nacht ihr Seelenheil zu überwachen haben.

Die Haltung der Behörden war nicht weniger menschenfreundlich, als die des Pöbels. Was wollten sie auch anders thun, da nur die Wahl blieb zwischen Tod und Islam, zu letzterem so eindringlich als möglich zu raten, noch dazu, wenn ihre tiefe politische Einsicht in die gegenwärtige Weltlage ihnen die Gewißheit gab, daß die Christen keinerlei Schutz von einer auswärtigen Macht zu gewärtigen hatten? „Verlaßt euch nicht auf die Christen!“ sagten die türkischen Beamten zu Zileh den armenischen Notablen, die man auf die Regierung entboten hatte, um sie zum Uebertritt zu drängen. „Verlaßt euch nicht auf die Christen in Europa! Die Engländer sind geflohen mit ihrer Flotte, und die Russen haben den Islam angenommen“ (freilich eine irrtümliche Auffassung der russisch-türkischen Entente). Hat nicht der Gouverneur von Aintab nur seine Pflicht gethan, wenn er den Christen sagen ließ: Die einzige Sicherheit für Leben und Eigentum sei jetzt, Muhammedaner zu werden? Und wer will die Regierungsbehörden von Arabkir noch verantwortlich machen für das achtzehnstündige Massacre, in dem 4000 Christen ermordet, 3700 Häuser und 500 Läden ausgegeplündert wurden? Hatten sie doch zwei Tage zuvor die armenischen Notablen auf die Regierung entboten und ihnen gesagt: „Wenn ihr am Leben bleiben wollt, müßt ihr euch zum Islam bekehren!“ Die Notablen befragten ihre christlichen Mitbürger, und diese erklärten: „Wir wollen nicht unsern Glauben wechseln, mag die Regierung mit uns machen, was sie will.“ Wenn am nächsten Tag das Massacre ausbrach, wer war anders schuld als die Armenier mit ihrer rebellischen Hartnäckigkeit in ihrer Religion! Man mag einige Zweifel hegen ob ein gewisser oben zitierter Passus des Pariser Vertrages: „Niemand soll gezwungen werden, seinem Glauben zu entsagen“, Provinzial-Behörden in der Türkei bekannt ist, da auch die Centralregierung in Konstantinopel sich desselben nicht mehr zu erinnern scheint. Aber soviel ist gewiß, sowohl die Beamten in den Provinzen als auch die Paschas in der Hauptstadt wissen ganz genau, daß die Botschafter christlicher Großmächte gewisse überflüssige Bücher besitzen, in denen man die Paragraphen gewisser überflüssiger Verträge nachschlagen kann. Um nun der Regierung Sr. Majestät des Sultans jede etwaige Verlegenheit zu ersparen – denn auch in der Provinz hat man eine feine Nase für die Wünsche des Palastes, – haben sich diese loyalen und weitblickenden Beamten schon längst von ihren konvertierten Glaubensgenossen Bescheinigungen mit Massenunterschriften ausstellen lassen, daß es bei den Konversionen ebenso rechtens hergegangen sei, wie bei der Unterschrift dieser Erklärungen, und daß die Christen alle mit einander freiwillig zum Islam übergetreten seien, weil sie die Vorzüge der muhammedanischen Religion erkannt hätten.

Was wollen nun noch die christlichen Großmächte mit ihren ewigen diplomatischen Noten? Und wer darf noch einen Zweifel hegen an der Vertragstreue der Hohen Pforte?


4. Die Inszenierung der Massacres durch die Civil- und Militär-Behörden.

Die Inszenesetzung eines über acht große Provinzen sich erstreckenden Massacres, die Durchführung einer fast völligen Ausplünderung und nebenbei noch Zwangskonvertierung eines ganzen christlichen Volkes ist, wenn man bedenkt, daß es sich dabei ja nicht um offene Kriegführung handelt, sondern um einen im tiefsten Frieden ausgeführten Massen-Raubmord, dessen Anschlag verborgen bleiben sollte, und dessen Spuren möglichst schnell wieder von der Bildfläche verschwinden mußten, eine Sache, die, wenn sie gelingen soll, ein höheres Maß von Berechnung, Umsicht und Organisationstalent erfordert, als selbst eine Mobilmachung zu einem Kriege. Man muß es zugestehen, daß die Inspiratoren und Regisseure der armenischen Mastacres einen geradezu glänzenden Beweis ihrer Fähigkeiten abgelegt und ein in der Geschichte selbst des türkischen Reiches selten erreichtes „génie du mal“ bethätigt haben.

Wer waren die Inspiratoren? – Die Frage ist im gegenwärtigen Stadium dieser unserer Untersuchung noch nicht spruchreif. – Wer waren die Regisseure? – Die Frage wird sich nach Vorführung des Thatsachen-Materials unserer ersten Kapitel der Leser schon selbst beantwortet haben. Daß die Civil- und Militärbehörden bei der Vorbereitung, dem Ausbruch und der Durchführung der Massacres alle Fäden in der Hand hatten und nichts von der ungeheuren Masse von Schandthaten und Verbrechen ohne ihre Konnivenz, Ordre, Mitwissenschaft oder nachträgliche Sanktion geschah, ist eine Sache von so absoluter Evidenz für jeden, der einen Einblick in die Thatsachen gewonnen hat, daß es hieße, den Wald vor Bäumen nicht sehen zu wollen, wenn man sie zu bestreiten versuchte. Es ist eine dreiste Spekulation auf die Unkenntnis ihrer Leser oder ein Beweis völlig ungenügender Information, wenn angesehene Blätter der europäischen Presse sich anstellen, als ob das Märchen von der Revolution der Armenier oder die Fabeln von armenischen Provokationen in dem Massacre-Gebiet noch aufrecht erhalten werden könnten, und als ob man sich gegen die Thatsache der planmäßigen Vorbereitung und Durchführung der Massacres durch die Behörden noch länger die Augen verschließen dürfte.

Es ist bedauerlich, daß die deutsche Presse von den schon recht umfangreichen Erhebungen und Aufschlüssen des Botschafter-Berichtes, der doch schon Februar dieses Jahres im englischen Blaubuch (Turkey Nr. 2, 1896) vorlag, eine eingehendere Kenntnis nicht genommen hat. Ein aufmerksames Studium derselben hätte schon längst die Widersprüche des Urteils über den Ursprung der armenischen Massacres hinwegräumen können.

Die Aufgabe der Civil- und Militär-Behörden bei der Regie der Massacres war eine verschiedene. Die der Militär-Behörden war einfach. Sie hatten zunächst nur im Geheimen den Pöbel, die einberufenen Reserven, die Kurden- und Tscherkessen-Banden, soweit dieselben nicht schon versehen waren, mit Waffen zu versorgen, eine gewisse Einmütigkeit im Vorgehen der irregulären Truppen, der kurdischen Hamidieh-Regimenter und der Gendarmerie mit der bewaffneten türkischen Bevölkerung durch vorgehende Instruktionen zu bewirken, und mit den regulären Truppen nur einzugreifen, wo entweder ein Widerstand vonseiten der Armenier zu befürchten war, oder das Massacre wegen der anfänglichen Scheu des Pöbels nicht in Fluß kommen wollte oder wegen der Schwäche der Angreifer und der Uebermacht der sich verteidigenden Armenier zurückgeschlagen wurde. Wo irgend die Armenier durch Verbarrikadierung ihrer Dörfer oder Quartiere sich zur Defensive entschlossen, was nur in verschwindendem Maße der Fall und wegen der Plötzlichkeit der Ueberfälle selten möglich war, ist es ihnen hernach, wie in Gurun und Diarbekir, um so schlimmer ergangen. In einzelnen Fällen, wo man fürchtete, daß das Militär schon zu sehr mit der christlichen Bevölkerung fraternisiert hätte, wurden unmittelbar vor den Massacres Truppen-Dislokationen vorgenommen, oder, wo die Besatzung zu schwach war, Verstärkungen herangezogen. Beim Ausbruch der Massacres selbst gab die Notwendigkeit, die Ordnung wieder herzustellen, die besten Vorwände, die armenischen Quartiere zu besetzen, Einquartierungen in die Dörfer zu legen, Reserven (Redifs) auszuheben und die irregulären Truppen hierhin und dorthin zu lancieren, um dann im gegebenen Moment die Ordre zum Ueberfall zu erteilen. Die Zwischenzeit von ihrer Stationierung an irgend einem Platz, scheinbar zum Schutz der Bevölkerung, bis zum definitiven Ueberfall, pflegte das Militär, die Redifs und die Zaptiehs zu den einträglichsten Erpressungen und fortgesetzten Entehrungen ihrer Schutzbefohlenen zu benutzen. Nach Beendigung der Verwüstungen und Bergung der Beute wurde dann das Militär nur noch hier und da für die Aufräumungsarbeiten herangezogen.

Die Aufgabe der Civilbehörden war ungleich komplizierter, da sie mit einer doppelten Front zu agieren hatten. Der muhammedanischen Bevölkerung gegenüber mußten sie die Aufreizung zu den Massacres, die Vorbereitung des Ausbruchs und die Garantie für die Straflosigkeit aller Schandthaten übernehmen, während sie der christlichen Bevölkerung und insbesondere den Konsulaten gegenüber, soweit sie es über sich zu gewinnen vermochten, die Arglosigkeit selbst spielten, durch betrügerische Versprechungen ihres Schutzes die Opfer bis zu dem zuvor fixierten Schlachttage hinzuhalten und durch perfide Maßregeln in einer Lage zu überraschen suchten, in der sie der Schlag möglichst plötzlich, sicher und furchtbar traf. Die durch die offizielle türkische Statistik sicher bezeugte Thatsache, daß den Hekatomben von hingeschlachteten Armeniern nur ganz verschwindende Verluste von wenigen Toten auf seiten der Türken gegenüberstehen, – eine Thatsache, über die schon der Botschafterbericht keinen Zweifel ließ – wäre ein absolutes Rätsel, wenn nicht die Lösung so verwünscht einfach wäre.

Auf dem ganzen Gebiet der Massacres wurde, wo etwa ein Widerstand vonseiten der Armenier zu befürchten war, von den Behörden das sehr einfache Rezept befolgt, die Armenier, unter Androhung der Entziehung jeglichen Schutzes vonseiten der Obrigkeit, vollständig zu entwaffnen. Durch Staatsgesetz ist zwar so wie so schon den Christen, und zwar nur den Christen, verboten, Waffen zu tragen. Aber in einem Lande, wo die Regierung ihren christlichen Unterthanen keinerlei Sicherheit gewährt und die Wächter der Ordnung oft genug mit den Räubern und Banditen unter einer Decke stecken, mußte gleichwohl von den Behörden der Besitz von Waffen (mit Ausnahme von gezogenen Gewehren) geduldet werden. Wollte man für die angreifende muhammedanische Bevölkerung Blutvergießen vermeiden, – was die Behörden mit großer Gewissenhaftigkeit bei allen ihren Maßregeln im Auge behielten – so mußte auf der einen Seite die christliche Bevölkerung entwaffnet, auf der anderen Seite für eine ausreichende Bewaffnung der muhammedanischen Bevölkerung Sorge getragen werden. Beides geschah auf eine systematische und gründliche Weise. Durch die Hände der Behörden gingen die Waffen der Armenier in den Besitz der Türken über; wo das nicht ausreichte, wurden die Militär-Depots für die Bewaffnung der Bevölkerung in Anspruch genommen; unter Umständen einfach bekannt gemacht, daß jeder Muhammedaner, der eine Waffe bei einem Christen fände, dieselbe in Besitz nehmen dürfe. Durchgängig leisteten die Armenier schon aus Furcht den Befehlen der Obrigkeit unverzüglich Gehorsam und lieferten ihre Waffen aus; in der Regel machten sie zwar zur Bedingung, daß auch die Muhammedaner entwaffnet werden müßten, was ihnen zwar meist versprochen, aber in keinem einzigen Falle gehalten wurde. Wir wissen nur von einem Ort, dessen Bewohner sich weigerten, ihre Waffen abzuliefern, nämlich Germusch, wo sie es vorzogen, der Obrigkeit lieber gleich ihre Köpfe zum Abschneiden zu Füßen zu legen.

Nachdem so durch die weisen Maßregeln der Behörden die Chancen für die bevorstehenden Massacres derartig verteilt waren, daß bei einem Minimum von Risiko auf seiten der angreifenden Muhammedaner ein Maximum von Wehrlosigkeit auf seiten der angegriffenen Armenier vorhanden war, lag den Regierungsbeamten des weiteren die Pflicht ob, den günstigsten Moment für den Ausbruch der Massacres zu fixieren. Nachdem zu Anfang der Unruhen, die Behörden sich viele Mühe gegeben hatten, ihre Teilnahme an den Vorbereitungen der Massacres, besonders gegenüber den Konsuln zu verschleiern – dem es auch zu danken ist, daß einigen schwer belasteten Beamten im Botschafterbericht noch ein gutes Zeugnis ausgestellt wird – traten sie später ganz ungeniert hervor und nahmen die Leitung der Massacres selbst in die Hand. Man hat es in den seltensten Fällen, wie etwa in Sivas, wo man einigen vornehmen Türken die Fenster einwerfen ließ, für nötig gehalten, da keinerlei Provokationen vonseiten der Armenier Vorlagen, solche herbeizuführen. Man begnügte sich, falsche Gerüchte auszusprengen, die zwar durch ihre stereotype Wiederholung und lächerliche Unwahrscheinlichkeit keinen Glauben finden konnten, aber einen Vorwand hergaben, gegen die Armenier scharf vorzugehen, Arretierungen von Leuten vorzunehmen, die man zuvor aus dem Wege schaffen wollte, und die Entwaffnung der Christen durch kategorische Maßregeln zu bewirken. Die geradezu tolle Behauptung, die in verschiedenen Städten ausgesprengt wurde, die Armenier hätten während des Freitagsgebetes in die Moscheen geschossen, erklärt sich auf sehr einfache Weise dadurch, daß von den Muhammedanern selbst in den Moscheen, wo sie von den Mollahs aufgereizt wurden, Schüsse gelöst worden sind, um solchen Gerüchten einen Anhalt zu geben. In der Regel fand auch der Ausbruch des Massacres unmittelbar nach dem Freitagsgebet statt, wenn die Armenier ruhig und keines Ueberfalls gewärtig in ihren Läden im Bazar saßen. Das Maß von List und Perfidie, welches von den Behörden angewendet wurde, um die Armenier, welche sich meist nach der ersten Panik in ihre Quartiere zurückgezogen und ihre Läden und Magazine geschlossen hatten, zur Wiederaufnahme der Geschäfte und Oeffnung ihrer Läden zu bewegen, übersteigt an Niedertracht oft noch den brutalen Mord. Erst wenn man absolut sicher war, die Armenier völlig unvorbereitet und wehrlos überfallen zu können, wurde das längst erwartete Signal zum Angriff gegeben, oft unmittelbar nachdem die Armenier durch das Drängen und die heuchlerischen Vorspiegelungen der Regierungs-Beamten überlistet, das Geschäft wieder aufgenommen hatten. Zum Tag für das Massacre wurde gern ein Markttag gewählt, damit das hereingekommene türkische Landvolk sich an der Plünderung beteiligen konnte; im übrigen waren die umwohnenden Kurden- und Tscherkessen-Stämme rechtzeitig instruiert worden.

Um die Gleichzeitigkeit des Angriffs an verschiedenen Punkten des Bazars und der Christen-Quartiere zu ermöglichen, wurde in einer Reihe von Städten, so in Trapezunt, Bitlis, Gumuschhane, Erzerum, Charput und anderen durch einen Trompetenstoß, in Urfa durch das Schwenken einer grünen Fahne vom Minaret das Zeichen zur Attacke gegeben.

Die Beteiligung der regulären Truppen an den Massacres und der Plünderung ist nachgewiesen in Trapezunt, Erzerum, Baiburt, Charput, Malatia, Arabkir, Erzingjan, Segherd, Konkhuli, Mezraa, Sivas, Tokat, Marsivan, Amasia, Diarbekir, Urfa, Marasch, Yenidje-Kale, Biredjik und zahlreichen Landdistrikten. In den meisten Fällen hatte das Militär die Führung. Auch die von der Regierung zur Aufrechterhaltung der Ordnung (?) einberufenen Redifs (Reserven) nahmen überall an der Plünderung und den Massacres lebhaften Anteil. Die Zaptiehs (Gendarmen) verfehlten nicht, ihrem Beispiel zu folgen. Aber nicht etwa nur die Gemeinen, auch die Offiziere selbst der höchsten Chargen, beteiligten sich an der Aufreizung der Bevölkerung und vor allem an der Plünderung und Bergung der Beute, wie schon durch den Botschafter-Bericht festgestellt wurde.

Zum Beweis für die von uns gekennzeichnete Haltung der Behörden wurde schon in unsern ersten Kapiteln viel Material beigebracht. Wir müßten, um das Belastungsmaterial in extenso vorzulegen, die ausführliche Geschichte aller hauptsächlichen Massacres erzählen, was aber wenig Zweck hätte, da dieselben nach einer stereotypen Methode durchgeführt wurden und sich wie ein Ei dem andern gleichen.

Wir begnügen uns daher, noch eine Reihe markanter Illustrationen zu unsern obigen Ausführungen beizufügen. Anführungen aus dem Botschafter-Bericht geben wir in Anführungsstrichen.

In Trapezunt sandte der armenische Metropolitan vor dem Ausbruch der Massacres an den Vali Kadri Bey Abgeordnete, um Schutz zu erbitten. Dieser verschwor sich, daß niemand es wagen würde, die Armenier anzugreifen: Wer euch angreifen wollte, müßte erst über meinen Leib hinweg. Gleichwohl duldete derselbe, daß die Muhammedaner drei Tage lang bedeutende Waffeneinkäufe machten, während die Polizei die Armenier daran hinderte. Auf wiederholte Vorstellungen beruhigte der Vali die Armenier aufs neue, erklärte ihnen aber dann, kurz vor dem Ausbruch des Massacres, wenn sie nicht zwei, eines Angriffs auf zwei Paschas verdächtige Individuen, ausfindig machen würden, gäbe es keine Sicherheit für sie. Bei dem Massacre selbst gab der Vali Instruktionen, indem er einzelne hervorragende Armenier bezeichnete, die in erster Linie zu töten seien. Nach Beendigung des Massacres gab er Befehl, die Läden und Häuser der Armenier auszuleeren, indem er rief: Wohlan, meine Krieger, nun beginnt die große Plünderung!

Während sich die türkische Bevölkerung in Erzerum ganz offen auf das Massacre vorbereitete, „beschäftigte sich die Behörde trotz der Bemühungen der Konsuln, sie zu Maßregeln zu veranlassen, ausschließlich damit, Armenier zu arretieren.“

Der Marschall Zekhi Pascha in Erzingjan ermutigte den Pöbel zu den größten Schandthaten, indem er den armenischen Notabeln ganz offen erklärte: Rußland allein könnte euch Armenier schützen, aber es ist im Augenblick Freund der Türkei; die übrigen Mächte vereint mit England können euch keine wirkliche Hilfe bringen. Dank der Freundschaft Rußlands können wir euch ohne Besorgnis vernichten, und ihr könnt gewiß sein, daß wir nicht verfehlen werden, es zu thun.

Die Behörden in derselben Stadt bewogen kurz vor dem Beginn des Massacres die Armenier, ihre Läden wieder zu öffnen. Der Tag war vorher fixiert, der Sturm brach los unter Führung hoher Beamter, welche die Menge anfeuerten: Schlagt die Giaurs tot und fürchtet nichts!

In Charput und Umgegend organisierte der Vali Mustafa Pascha und der Militär-Kommandant Raghib Pascha das Massacre, indem er Waffen an die Türken verteilen ließ. Unter seinen Augen beteiligte sich die Besatzung von Charput mit einer Kanonade von Granatschüssen und Gewehrsalven an der Einäscherung des armenischen Viertels.

Der Vali Aniz Pascha“ von Diarbekir zeigte „offene Feindschaft gegen die Christen und erklärte dem französischen Konsul gegenüber, der ihn auf die beunruhigende Aufregung unter den Muhammedanern aufmerksam machte, daß er nichts von ihrer Seite fürchte und daß er für die Ordnung einstehe.“

„Der Vali“ von Sivas konnte bei Ausbruch der Unruhen im Vilajet „von der Pforte nicht die Autorisation zu wirksamen Maßregeln erlangen.“

In Aleppo „wurden die Vorstellungen der Konsuln bei den Behörden mit offener Gleichgiltigkeit aufgenommen, sie scheiterten an der Entschlossenheit des Vali Hassan Pascha, die Dinge so optimistisch als möglich anzusehen.“

In Urfa leitete der Mutessarif Hassan Pascha die Vorbereitungen zu dem großen Massacre vom 28. Dezember und der Militär-Kommandant Nazif Pascha gab persönlich das Zeichen zum Angriff auf das armenische Viertel, derselbe, der erklärte, er wisse, da er in Bulgarien gewesen, wie man rebellische Rayahs zu behandeln habe.

Der Vali von Adana, Faïk Pascha, anstatt die Maßnahmen, die geeignet sind, die Ordnung aufrecht zu erhalten, zu leiten, machte eine Rundreise durch das Vilajet und stellte sich, als wisse er nichts von dem, was vor sich ging. Der Defterdar Mehemed Idad, sein Stellvertreter, vermehrte die Aufregung durch ungerechtfertigte Maßregeln gegen die schuldlosen Christen.“ Obwohl überall, wo der Vali auf seiner Rundreise durchgekommen ist, das Plünderungswerk begann, erklärte er doch dem Kommandanten des französischen Kriegsschiffes, daß in seinem Vilajet die Ordnung nirgends gestört sei. Ebenderselbe ließ den Priester von Messis einkerkern, weil er sich bei ihm telegraphisch wegen der Plünderung der Kirche beschwerte.

In Amasia war der Vali, ein Tscherkesse, abgeneigt, die Ordre zum Massacre zu erteilen. Der türkische Militärkommandant und die Offiziere hätten ihn beinahe deswegen umgebracht und erzwangen die Ausführung. Ein angesehener Türke sagte einer hochstehenden christlichen Dame: der Befehl für das Gemetzel ist noch früher angekommen, aber die hiesigen Türken wagten nicht, die nach ihrer Meinung wohlbewaffneten Armenier anzugreifen. Deshalb hat man zuerst das Militär vermehrt, unter dessen Beistand dann die türkische Bevölkerung loszuschlagen sich entschloß.

Der Mutessarif von Jsmidt begab sich an den Schauplatz des Massacres von Ak Hissar und erklärte sodann in einem offiziellen Bericht, daß das Vorkommnis ohne Bedeutung sei.

Der mit einer Enquete in der armenischen Reformsache betraute Kommissär der Hohen Pforte Schakir Pascha bereiste das Vilajet Trapezunt, und wo er durchkam, brachen die Massacres aus.

Das letzte Massacre in Wan, 14.–22. Juni 1896, wurde durch den Spezialabgesandten des Sultan, den Kommissär der Hohen Pforte Saadeddin Pascha inszeniert. Er beschuldigte den Vali Nazim Pascha der Lauheit und Unthätigkeit und setzte sich mit dem berüchtigten Kurden-Scheikh Schekir in Verbindung, der das Massacre in den Landdistrikten organisieren mußte. Der Major Halim Effendi, berühmt durch seine Greuelthaten in Sassun, wurde an der Spitze einer starken Truppenabteilung beauftragt, das armenische Quartier Aigestan zu stürmen, wobei er durch eine Kanonade von einem die Stadt überragenden Hügel unterstützt wurde. Die Pöbel-Haufen feuerte er an, indem er ihnen zurief: Wohlan, meine Kinder! Macht nur erst alles nieder, hernach könnt ihr in aller Ruhe rauben und plündern.

Als die Unruhen in Malatia anfingen, eilten zwei hervorragende Männer der protestantischen Gemeinde, Mitglieder des Gerichtshofes, mit ihren beiden Söhnen, zum Mutessarif der Stadt und baten um Schutz. Er erwiderte: Ich kann euch nicht schützen. Sie baten um Schutz für ihre Söhne; er antwortete: Schickt sie in die Kaserne! Die Männer entfernten sich; darauf gab der Mutessarif dem dienstthuenden Zaptieh ein Zeichen, und beide wurden im Hof des Regierungsgebäudes erschossen. Die beiden Jünglinge baten um ihr Leben. Der eine wurde, als er davonlief, niedergeschossen, der andere begegnete einem Kurden, der Geld von ihm verlangte. Er gab 65 Piaster und wurde dann auch niedergeschossen.

In Konkhuli ließ der Militärkommandant zum Anzünden der Häuser Petroleum kommen. Im Distrikt von Yenidje-Kale überfielen die Truppen unter Führung der Offiziere das Hospiz von Mudjuk Deressi, töteten den Pater Salvatore und brannten in Yenidje-Kale alle Häuser und das Franziskaner-Kloster nieder. Der Pater Salvatore war am Abend noch mit einem türkischen Offizier zusammen, dem Führer der ihm von der Regierung gesandten Eskorte, den er bei sich bewirtete; am Morgen mußte er mit den Ordensleuten herunter kommen und wurde vor die Frage gestellt: Muhammedaner zu werden oder zu sterben. Er wollte seinen Glauben nicht abschwören und wurde mit Bajonetten erstochen, zerstückelt und verbrannt.

„Die nach einigem Zögern dem französischen Vizekonsul zu Sivas als Wache gesandten Soldaten murrten laut, daß sie dadurch verhindert seien, am Massacre und der Plünderung teilzunehmen.“

„Die den Hafen von Alexandrette postierenden Soldaten rühmten sich laut, an den Massacres teilgenommen zu haben.“

„Die in Erzerum einberufenen Redifs erklärten, wenn sie ausziehen sollten, um den Befehlen des Sultans zu gehorchen, sie erst das Land von allen Christen reinigen müßten.“

Auch in Aleppo sagten sie offen, „daß, wenn man sie veranlaßt hätte, ihr Heim zu verlassen, man ihnen auch Freiheit geben müsse, die Christen zu plündern und auszurotten.“

In Trapezunt sah man, wie höhere Offiziere geraubte Sachen, auf Wagen geladen, in ihre Wohnungen bringen ließen. Den Kommandanten der Gendarmerie sah man mit Pferden Säcke voll Silbers wegbringen.

In Charput sicherte sich sogar der Vali Mustafa Pascha einen Teil der Beute, indem er einen Kordon von Tscherkessen um die Stadt legte und besonders wertvolle Sachen, die man wegschleppen wollte, für sich mit Beschlag belegen ließ.

All diese Beweise für die Schuld der Militär- und Civil-Behörden ließen sich noch ins Endlose vermehren. Wir glauben aber, daß es eines weiteren Verhörs nicht bedarf, um unsere Leser zu überzeugen und fassen deshalb die Beschuldigungen gegen die türkischen Behörden der armenischen Provinzen in folgende Punkte zusammen:

I. Die Civil- und Militärbehörden sind der Vorbereitung der Massacres von seiten der mohammedanischen Bevölkerung in keiner Weise, weder von selbst, noch auf Ansuchen der Häupter der armenischen Gemeinden, noch auf Ansuchen der Konsuln entgegengetreten.

II. Die Civil- und Militärbehörden haben die Vorbereitung der Massacres selbst in die Hand genommen, indem sie vor Ausbruch derselben folgende Maßregeln trafen: 1) Sie erzwangen in einer gründlichen und systematischen Weise die Entwaffnung der armenischen Bevölkerung. 2) Die muhammedanische Bevölkerung ließen sie im Besitz ihrer Waffen. 3) Sie versorgten noch überdies die türkische und kurdische Bevölkerung in reichlicher Weise mit Waffen, zum Teil aus den Militärdepots. 4) Einige Valis und Militärkommandanten machten Rundreisen in den Vilajets, um die Bevölkerung zur Plünderung aufzureizen, Waffen zu verteilen und die Kurden- und Tscherkessen-Stämme zum Ueberfall der armenischen Dörfer und Stadtquartiere einzuladen und zu instruieren. 5) Sie täuschten die christliche Bevölkerung durch die Versicherung ihres Schutzes, durch Einquartierung von Militär und Aushebung von Redifs, welche scheinbar zur Aufrechterhaltung der Ordnung bestellt waren, in Wahrheit aber angewiesen wurden, an den Massacres und der Plünderung teilzunehmen. 6) Sie ermöglichten den Ueberfall und die Ausplünderung der Bazars, indem sie die armenische Stadtbevölkerung, wenn sie aus Furcht vor den drohenden Massacres ihre Läden geschlossen und sich in ihre Häuser zurückgezogen hatte, entweder durch falsche Vorspiegelungen der wiederhergestellten Ruhe oder durch kategorische Befehle und Zwangsmaßregeln nötigten, ihre Läden und Magazine wieder zu öffnen und das Geschäft wieder aufzunehmen.

III. Die Civil- und Militärbehörden beteiligten sich vielfach unter persönlicher Mitwirkung der höchsten Beamten an den Massacres, der Plünderung und der Zwangskonvertierung, indem sie 1) den Ausbruch des Massacres auf einen bestimmten Tag und eine bestimmte Stunde fixierten, 2) eine bestimmte Zeit von Stunden oder Tagen festsetzten, während welcher dem Pöbel, den Kurden und dem Militär straflose Freiheit zum Morden und Plündern gewährt wurde, 3) die Massacres durch Trompetensignale oder andere Zeichen einleiten und beschließen ließen, 4) Hilfegesuche von seiten der christlichen Bevölkerung abwiesen oder die Supplikanten arretierten, 5) Hilfegesuche und telegraphische Petitionen an höhere Behörden, insbesondere an den Sultan, verhinderten, 6) vor, während und nach den Massacres zahllose Arretierungen von Armeniern Vornahmen, die ohne Einleitung eines Rechtsverfahrens zum größten Teil jetzt noch in den Gefängnissen schmachten und meist den entsetzlichsten Torturen ausgesetzt wurden, 7) das Militär, die Redifs, Kurden und Tscherkessen zur Teilnahme an den Massacres kommandierten, 8) sich durch die ihnen unterstellten Truppen oder Gendarmen einen Anteil an der Beute sicherten.

IV. Die Civilbehörden versuchten nach den Ereignissen die Thatsache der Massacres und der Plünderung zu verschleiern oder zu entschuldigen, indem sie 1) die Armenier fälschlicherweise der Anstiftung beschuldigten, 2) von armenischen Notablen durch Gefängnisstrafen, Androhung des Todes oder neuer Massacres Erklärungen erpreßten des Inhalts, daß die Armenier an dem Ausbruch der Unruhen schuld seien und dank der Maßregeln der Behörden die Ordnung wieder hergestellt sei, 3) die Bestattung der Leichen anordneten und die Spuren der Verwüstung soweit thunlich hinwegräumen suchten, 4) eine Berichterstattung über die Lage der Dinge zu verhindern wußten, indem sie die Briefe der Betroffenen abfingen, Reisen von Armeniern ins Ausland verhinderten und das Eindringen fremder Berichterstatter nicht zuließen, 5) hier und da eine scheinbare Zurückerstattung des geraubten Eigentums anordneten, bei der nur das wertloseste Zeug, kaum ein Hundertstel der Verluste, abgeliefert wurde, 6) Befehle, welche die Sistierung von Massacres, Plünderungen und Zwangskonvertierungen bekannt machten, ohne die Ausführung derselben zu bewirken.

V. Die Behörden thaten nichts, um die, für die völlig ausgeplünderte Bevölkerung verhängnisvollen Folgen der Massacres abzuwenden. 1) Die Unterstützungen der Notleidenden, von seiten der Regierung waren nicht allein lächerlich unzureichend, sondern hörten auch in der Regel nach wenigen Tagen wieder auf. 2) Bemühungen der europäischen Hilfskomitees, den Notstand zu lindern, wurden auf alle nur erdenkliche Weise gehindert oder erschwert und nur dem energischen Vorgehen des englischen Botschafters, als des Vorsitzenden des Internationalen Hilfskomitees, gelang es, in dieser Beziehung Wandel zu schaffen. 3) Für den Wiederaufbau der Häuser, für die Bestellung der Saaten, für den Schutz der Notleidenden gegen den hereinbrechenden Winter geschah nichts. 4) Die Auswanderung der Notleidenden wurde gehindert. 5) Für die Hunderttausende von Witwen, Waisen, Kranken und Hilflosen wurde in keiner Weise gesorgt. 6) Den Notleidenden wurde häufig der letzte Rest ihrer Habe durch rigorose Steuereintreibungen genommen, ja sogar auf dieselbe Weise die erhaltenen Unterstützungsgelder wieder abgejagt.

VI. Einer Wiederholung der Massacres oder einem Ausbruch derselben in den noch nicht betroffenen Distriten wird auch jetzt noch nicht von seiten der Behörden vorgebeugt; im Gegenteil, wie die neuesten Massacres Juni 1896 in Vilajet Wan, Eghin und Niksar und die letzten Unruhen in Trapzunt im August und die ununterbrochenen Zwangskonvertierungen in[WS 4] allen Landdistrikten beweisen, wird die Vernichtung des armeninischen Volkes ungehindert zum Ziel geführt.

VII. Die Urheber und Mitschuldigen der Massenmorde, Plünderungen und Zwangskonvertierungen blieben straflos.


5. Die türkische Lügenfabrik.

Wir haben im vorigen Kapitel unsere Beschuldigungen gegen die türkischen Civil- und Militärbehörden in einer langen Reihe von Anklagen zusammengefaßt und unsern Lesern bereits genügendes Material unterbreitet, um sie in stand zu setzen, sich von der Wahrheit unserer Beschuldigungen zu überzeugen. Wir müssen nun einen Schritt weitergehen und die Frage aufwerfen: Haben diese Behörden aus eigener Initiative oder auf höheren Befehl gehandelt?

Ehe wir eine Antwort auf diese Frage geben, ist es notwendig, zuvor eine merkwürdige Thatsache zu untersuchen, welche aus allen Provinzen in übereinstimmender Weise berichtet wird: In allen Städten und Landdistrikten wurden die Vorsteher, Notabeln und Priester der armenischen Gemeinden durch Einkerkerung, Folterungen, Bedrohung mit Tod und Androhung neuer Massacres durch die Behörden selbst gezwungen, lügenhafte Erklärungen, falsche Berichte, erheuchelte Dankadressen und gefälschte Dokumente jeder Art zu unterschreiben, des Inhalts, daß sie selbst, die Armenier, durch revolutionäre Aufstände den Frieden gestört hätten, der nun, dank der Bemühungen der Regierungsbehörden, wieder hergestellt sei.

Für wen waren diese Zwangserklärungen bestimmt? Von wem wurden sie gewünscht? und welcher Gebrauch wurde von ihnen gemacht?

Die Erörterung dieser Fragen ist notwendig, ehe wir den nächsten Schritt in der Untersuchung der Schuldfrage thun können.

Zunächst die Thatsache der Zwangserklärungen und die Methode, mit der sie erpreßt wurden. Wir geben eine kleine Auswahl von Berichten, die einen genügenden Einblick in beides eröffnen. Anführungen aus dem Botschafter-Bericht setzen wir in Anführungsstrichen:

Diarbekir. „Nachdem Aniz Pascha die Bestätigung seines Amtes als Vali Anfang Oktober 1895 erhalten hatte, begann er damit, die Christen aufzureizen und Zwietracht zwischen den Gemeinden und dem Klerus zu säen, indem er diesen zwingt, ein Dank-Telegramm an den Sultan zu unterzeichnen für seine definitive Ernennung zum Vali. Nach dem Massacre verweigert er der armenischen Gemeinde, welche 400 Familien zu ernähren hat, die geringen Unterstützungen, die von der Behörde bewilligt sind, aus dem Grunde, weil der Bischof es abgelehnt hat, ein Telegramm zu unterzeichnen, welches die Schuld den Armeniern zuschrieb.

Erzingjan. Drei Wochen nach dem Massacre präsentierten die Behörden dem Bischof ein Telegramm, das an den Sultan und die Centralbehörde gesandt werden sollte, dessen Inhalt den Armeniern die Provokation und Verantwortlichkeit für die Massacres zuschrieb. Die Armenier weigerten sich, aber man übte Pression aus. Arretierungen erfolgten. An den Bettelstab gebrachte Notable seufzen im Kerker.

Sivas. „Alle möglichen Mittel wurden angewendet, um die Christen zu zwingen, Erklärungen zu unterzeichnen, in denen die Armenier der Provokation beschuldigt werden, und ihre Glaubensgenossen zu denunzieren.

Seert. „Die Behörde bedient sich aller Mittel, um die Armenier zu zwingen, eine Erklärung zu unterzeichnen, dahingehend, 'daß sie selbst die Unruhen provoziert hätten.“

Arabkir. Man zwingt die armenischen Gefangenen, eine Erklärung zu unterzeichnen, daß die Armenier die Unruhen provoziert hätten.

Die Behörden des Distriktes von Aghen verlangen von den Armeniern, daß sie mit ihrer Unterschrift bescheinigen, sie hätten freiwillig den Islam angenommen. Die Einwohner des Dorfes Antscherti mußten ebenfalls eine Erklärung in gleichem Sinne unterzeichnen.

Nicht nur auf die Armenier, sondern auch auf Würdenträger und angesehene Männer anderer Konfessionen, selbst auf Europäer, wird ein dahingehender Druck ausgeübt. „In Marsivan versuchte der Kaimakam (Distrikts-Gouverneur) die Jesuiten-Patres zu zwingen eine Erklärung zu unterzeichnen, daß die Armenier die Massacres provoziert hätten.

In Urfa wurden die Häupter verschiedener Religionsgemeinschaften und sogar Europäer mit ähnlichen Zumutungen von den Behörden belästigt.

Diese Zwangserklärungen wurden fast allerorten, wie es scheint, schon durch die eigene Initiative der Lokalbehörden erpreßt. Für die Aufhellung des Dunkels, welches bisher über das Entstehen der armenischen Massacres schwebte, ist es aber von besonderem Werte, festzustellen, daß auch die Emissäre des Sultans und die Enquete-Kommissionen, die von der Central-Regierung nach den Massacres in die Provinzen gesandt wurden, es sich angelegen sein ließen, solche Zwangsadressen sei es selbst zu erwirken oder von den Lokalbehörden erwirken zu lassen, wie denn überhaupt diese Kommissionen sich ihrer Aufträge auf die merkwürdigste Weise erledigt haben.

Nach Baiburt und Mezere kamen zwei Kommissare, riefen einige der ersten Männer unter den Armeniern zu sich, sagten ihnen, wieviel von dem gegenwärtigen Herrscher für ihr Volk gethan worden sei, schoben alle Schuld der Unruhen auf sie und drohten, daß noch größere Strenge angewendet werden würde, wenn sie noch weitere Unruhen verursachten. Diese Kommissare, welche herumreisten, um die Spuren der Verwüstungen hinwegzuschaffen, zwangen die Armenier, Läden und Bazare zu öffnen, obgleich sie keine Waren zum Verkaufen hatten. Anfang Januar kamen mehrere Regierungsbeamte in die Provinzen Charput und Diarbekir, um die vor kurzem bekehrten Dörfer zu besuchen und den Einwohnern einzuschärfen, wenn gefragt, keineswegs einzugestehen, daß man sie zur Annahme des Islam gezwungen habe. Im anderen Falle stehe ihnen die Todesstrafe bevor.

Die türkische Enquete-Kommission in Musch begann nach ihrer Ankunft damit, den Lokalbehörden Vorwürfe zu machen, daß es ihnen noch nicht gelungen sei, von den Armeniern von Musch Dankadressen an den Sultan zu erwirken. Der Pascha rief den Vorsitzenden der Ephorie und forderte ihn unter Drohungen auf, ein Danktelegramm zu unterzeichnen. „Aber wofür wollen Sie, daß wir uns bedanken?“ fragte der Vorsitzende. „Das geht Sie nichts an, thun Sie wie die andern.“ Er bat, das Telegramm vom Metropolitan unterzeichnen zu lassen und entfernte sich. Auch in das Gefängnis wurde geschickt. Nachdem man die Gefangenen gefoltert, ihnen die Bastonnade gegeben, Massen von Eiswasser über ihre Köpfe geschüttet und ihren Leib mit Nägeln durchbohrt, erpreßte man von ihnen ein Telegramm an die Centralbehörde, worin sie die Verantwortlichkeit der Unruhen auf sich nahmen und die armenische Bevölkerung der Anstiftung beschuldigten. Auf Bitte der Gefangenen unterschrieben auch die angesehensten Einwohner der Stadt das Telegramm, um ein neues Massacre zu vermeiden. Nach diesem ersten Telegramm redigierten die Behörden ein zweites, welches den Armeniern noch schwerere Verschuldungen aufbürdete, und man zwang sie unter den schrecklichsten Drohungen zu unterzeichnen. Sie gaben nach, um einem neuen Massacre zu entrinnen.

Bei dem letzten Massacre in Wan, 14.–22. Juni 1896, zwang der Kommissar der Hohen Pforte eine Anzahl hervorragender Armenier unter Anwendung von Gewalt dazu, ein Schriftstück an die Adresse des Sultans zu unterschreiben, worin sie erklären, daß die belanglosen Unruhen (es wurden dabei nur 20 000 Armenier ermordet) in Wan durch Anstiften einiger verbrecherischer armenischer Uebeltbäter hervorgerufen worden seien.

Man wird vielleicht sagen, warum unterschreiben die Armenier solche Lügenfabrikate? Wir geben die Antwort mit zwei Dokumenten, die wohl genügen werden, um jede weitere Nachfrage nach Gründen verstummen zu machen.

Das eine, ein Brief aus Arabkir vom 29. Dezember 1895:

„Mein lieber Bruder! … Das cynischste an dieser ganzen Sache ist dies, daß nach allen Leiden, die wir haben erdulden müssen, man uns zwingt, Dankadressen an den Sultan zu unterzeichnen. Man zwingt uns sogar, zu sagen, daß wir selbst, die Armenier, all dies gethan hätten. Sind denn die Armenier verrückt geworden, daß sie sich selbst, einer den andern umgebracht und ihre eigenen Häuser verbrannt haben sollen? Und ist Europa so blöde, daß man sich nicht schämt, es mit solchen abgeschmackten Mitteln zu täuschen? Oh, sagen Sie es in Europa, wie es hier zugegangen, damit man kommt, uns zu retten; ohne Hilfe sind wir verloren. Unser Elend ist furchtbar. Was die Massacres überlebt hat. Frauen, Greise und Kinder, kommt von den Bergen, wohin sie sich geflüchtet hatten, zurück; krank, halb nackt, erschöpft vor Hunger und Kälte, irren sie von Straße zu Straße, klopfen an die Thüren der Häuser, die aus dem Brande übrig geblieben sind, und betteln. Aber niemand hat etwas, ihnen zu geben. Man ißt Gras.“

Haben Menschen, die an der Grenze des Hungertodes leben, noch die moralische Kraft, auch unter Torturen und Todesgefahr sich den diabolischen Lügenerpressungen der Obrigkeit zu entziehen? Daß es dennoch möglich ist, dafür ein heroisches Beispiel. Vielleicht gehen unsern Lesern die Augen darüber auf, welches Maß von Blut und Thränen selbst an ganz trockenen Depeschen oder Nachrichten klebt, welche von der türkischen Regierung in die stets willigen Telegraphen-Agenturen und Bureaus der großen Weltblätter hineinlanciert werden.

„In dem Dorfe Hoh, Distrikt Charput, versprachen die Aghas, die Christen zu schützen; aber als sie überall brennende Dörfer sahen, weigerten sie sich, ihr Wort zu halten. Die Christen wurden in einer Moschee versammelt, 80 junge Männer wurden ausgewählt und zum Dorf hinausgeführt, um dort abgeschlachtet zu werden. Hunderte von armenischen Christen wurden gepeinigt, weil sie sich weigerten, Adressen an den Sultan zu unterschreiben, in denen ihre Verwandten und Nachbarn des Hochverrats beschuldigt wurden. Einer z. B. hatte sich geweigert, einen Eid zu leisten, der die besten Leute seines Dorfes dem Henker überliefert hätte. Daraufhin befahlen seine Richter, ihn zu foltern. Eine ganze Nacht wurde darauf verwendet. Zuerst empfing er Schläge auf die Fußsohlen in einem Raum, in dessen unmittelbarer Nähe sich seine weiblichen Angehörigen befanden. Dann entkleidete man ihn und band zwei Stangen, die von den Achselhöhlen bis zu den Füßen reichten, an seinem Körper fest. Dann wurden seine Arme ausgestreckt, die Hände an Stangen befestigt und dieses lebende Kreuz an einem Pfeiler festgebunden, worauf die Auspeitschung begann. Der Unglückliche vermochte kein Glied zu regen, um seine Schmerzen zu mildern, nur seine Gesichtszüge verrieten durch furchtbare Verzerrungen, welche Qualen er litt. Je lauter er schrie, um so wuchtiger fielen die Hiebe. Wiederholt fragte man ihn, ob er den Eid leisten wolle. Aber er antwortete stets: „Ich kann meine Seele nicht mit unschuldigem Blut beflecken, ich bin ein Christ!“ Nun holte man Zangen herbei, um ihm die Zähne auszureißen, stand aber davon ab, da er fest blieb. Ein Beamter gab hierauf seinen Dienern den Befehl, dem Gefangenen die Barthaare einzeln mit den Wurzeln auszuziehen. Es geschah unter lautem Hohngelächter. Als auch dies nichts half, hielt einer einen glühenden Bratspieß an die Hände des Unglücklichen, dessen Fleisch brannte, und der in seiner Qual ausrief: „Um Gottes Barmherzigkeit willen tötet mich gleich!“ Die Henker nahmen hierauf das rotglühende Eisen von den Händen weg und legten es an Brust, Rücken, Gesicht und Füße. Dann rissen sie seinen Mund mit Gewalt auf und brannten seine Zunge mit glühenden Zangen. Der Unglückliche fiel drei Mal in Ohnmacht, aber jedes Mal, wenn er wieder zu sich kam, war sein Entschluß gleich unerschütterlich. Die Frauen und Kinder im Nebengemach wurden ohnmächtig vor Schrecken bei dem Stöhnen und Wehklagen des gefolterten Mannes. Als sie die Besinnung wieder erlangt hatten, wollten sie hinaus eilen, um Hilfe herbeizurufen. Die Polizeidiener an der Thür aber stießen sie ins Zimmer zurück.“

Wir denken, daß die Thatsache der Zwangserklärungen und die Methode, mit der sie erpreßt wurden, genügend erhärtet und beleuchtet ist. Ueberdies steht uns ja der Botschafter-Bericht auch hier zur Seite. Ehe wir aber die oben aufgeworfenen Fragen beantworten, möchten wir noch auf die offizielle Berichterstattung der türkischen Behörden etwas Licht fallen lassen. Der Botschafter-Bericht giebt an verschiedenen Stellen die von der türkischen Regierung gegebene Statistik der aus armenischer Seite Getöteten an. Wir konfrontieren diese türkischen Zahlen mit den Thatsachen.

                                               Armenier †
                              Offizielle Statistik     In Wahrheit
                              d. türk. Regierung     n. europ. Quellen.
Erzingjan                             70                 1000
Bitlis                               130                  900
Charput                               80                  900
Arabtir                              200                 4000
Amasia                                80                 1000
Vezir-Keupru                          38                  200
Aintab                               100                 1000
Marasch                               30                 1390

Wir haben bereits in einem früheren Artikel Angaben der türkischen Regierung über gefallene Muhammedaner notiert. Die Zahl derselben ist jedenfalls sehr sorgfältig ermittelt worden, und doch ist sie eine verschwindende. Man fragt sich: Wie wurden die Zahlen für die getöteten Armenier gewonnen? Hätte man die Wahrheit auch nur annähernd festgestellt, so würde man das Märchen von den armenischen Revolten niemandem haben glaubhaft machen können, deshalb begnügte man sich wahrscheinlich, die Zahl der gefallenen Türken mit 2 oder 3 zu multiplizieren und die so gewonnene Statistik den Botschaftern zu präsentieren. Wenn auch die europäischen Berichterstatter hernach einige Nullen anhängen mußten, so floß darüber viel Wasser den Bosporus hinab, und man konnte sie dann immer noch dementieren.

Es geht weiter aus dem Botschafter-Bericht hervor, daß die türkische Regierung bei allen Nachrichten von Massacres sofort bei der Hand war, die Armenier der Provokation zu beschuldigen; und sie wird auch nicht verfehlt haben, die von allen Seiten aus den Provinzen einlaufenden Erklärungen, über deren Ursprung wir uns bereits überzeugt haben, als Beweismittel vorzulegen. Leider erwiesen nur die gleichzeitig einlaufenden Konsularberichte, daß es mit den Provokationen nichts war, und daß die schönen Geschichten von armenischen Revolten, vom Schießen in die Moscheen, von Angriffen auf Patrouillen u. s. w. sich als niederträchtige Lügen herausstellten. Aber semper aliquid haeret, selbst an Botschaftern. Und was bei den Botschaftern nicht verfing, konnte immer noch gute Dienste leisten bei Telegraphen-Agenturen, Korrespondenten von europäischen und amerikanischen Zeitungen und zur Versendung an die türkischen Botschafter in allen Ländern. Ueberdies wurde auch noch der Telegraph in Atem gehalten mit nicht endenwollenden Nachrichten über revolutionäre Komitees, armenische Geheimbünde, Mordanschläge auf türkische Paschas, das Auftauchen armenischer Agitatoren bald in Paris, bald in London, bald in Athen, bald in Konstantinopel, bald selbst in Armenien, wo immer es nötig schien. Die Hohe Pforte konnte in dieser Beziehung daheim und auswärts so viel Nachrichten erhalten, als sie nur irgend wünschte. Was war auch leichter als, wo immer drei Armenier die Köpfe zusammensteckten, ein revolutionäres Komitee auszuheben und die Delinquenten, die man zu Dutzenden in Konstantinopel auf offener Straße hängen ließ, waren ja Beweis genug für die Wahrheit aller gegen die Armenier ausposaunten Beschuldigungen. Ganz gewiß, es hat einige Revolutionäre gegeben, und es giebt noch in einigen Städten des Auslandes revolutionäre Komitees, und die menschliche Natur müßte sich verwandelt haben, wenn es sie nicht geben sollte, denn die türkische Verwaltung züchtet dieselben förmlich, und man kann sich nur darüber wundern, daß ihre Zahl so gering und ihre Handlungen so unbedeutend sind. Immerhin weiß es die türkische Regierung ihnen Dank, daß sie existieren, hat sie auch schon auf freien Fuß gesetzt, damit sie nicht aussterben, denn wer würde sonst die Spatzen liefern, nach denen man mit Kanonen schießen kann? Welcher Unfug aber mit den Nachrichten über armenische Revolutionskomitees etc. in europäischen Zeitungen getrieben wurde, darauf hat bereits der Herausgeber der „Christlichen Welt“ D. Rade gebührend hingewiesen und über die bodenlose Leichtgläubigkeit unserer Zeitungen und unserer Zeitungsleser ein gerechtes Urteil gefällt. „Die Teilnahmlosigkeit will nun einmal ihre Schutzhütte haben, in der sie unterkriechen kann!“

Nun, für wen sind jene Zwangserklärungen bestimmt gewesen, die den Armeniern alle Schuld in die Schuhe schoben? Für wen die Dankadressen, welche die väterliche Regierung Sr. Majestät des Sultans und die mütterliche Sorgfalt der Provinzialbehörden bescheinigten? Für wen die Telegramme, welche „vollkommene Ruhe“ kurz vor dem Ausbruch der Massacres oder mitten im Aufruhr nach Konstantinopel depeschierten? Ohne Frage in erster Linie für das ängstliche Europa, welches vor jedem Krachen in den Fugen des morschen türkischen Reiches wie vor einer Weltkatastrophe zittert, für besorgte Diplomaten, die um des Weltfriedens willen Beruhigung um jeden Preis für die höchste politische Weisheit halten und nicht vielleicht zum mindesten für das böse Gewissen christlicher Großmächte, welches auf diesem Ruhekissen über der durch ihre Politik aufgerührten orientalischen Frage am liebsten wieder einschlafen möchte. Um alles in der Welt Ruhe! Die hunderttausend erschlagenen Armenier werden ja so wie so den Mund halten. Es könnte aber sein, daß die Fabrikate der Lügenfabrik noch einen anderen Zweck gehabt haben. Vielleicht bedurfte eine emsige Hofkamarilla im Yildiz-Kiosk solcher Machwerke, wie wir sie charakterisiert haben, um ihren Herrn und Gebieter zu Entschließungen zu drängen, zu denen sonst vielleicht der zureichende Grund gefehlt hätte. Doch um diese Schlußkette zu Ende zu führen, müssen wir erst weiter ausholen.


6. Wer ist der Schuldige?

Wir fragen zuvor: Wer ist nicht der Schuldige?

Die Armenier sind nicht die Schuldigen. Es wäre allerdings kein Wunder, wenn das armenische Volk, das seit Jahren durch eine systematische Vernichtungspolitik von seiten der Hohen Pforte jeder Ungesetzlichkeit der türkischen Beamten, jeder Gewaltthat der kurdischen Herren, jeder Erpressung der Steuerbeamten und völliger Rechtlosigkeit vor den Gerichten wehrlos ausgeliefert war, die letzte Kraft zu einer verzweifelten Erhebung gegen das eiserne Joch der Tyrannei aufgeboten hätte. Aber thatsächlich war es gar nicht in der Lage, an einen nationalen Aufstand nur zu denken, denn erstens bilden die Armenier, wenn auch in großen Distrikten kompakt zusammenwohnend, in den in Frage kommenden Provinzen keineswegs überall die Majorität, und zweitens waren sie durch die Gesetze, welche den Christen das Waffentragen verbieten, den Muhammedanern aber erlauben, ein wehr- und waffenloses Volk. In der That hat auch niemand in Armenien selbst daran gedacht, etwas wie eine Autonomie zu erstreben. Was man erhoffte, war nur die endliche Durchführung von Reformen, die, seit 18 Jahren von den christlichen Großmächten garantiert, wenigstens ein erträgliches, noch menschenwürdiges Dasein in Aussicht zu stellen schienen. Auf dem ganzen Gebiet der Massacres ist es uns trotz unserer umfangreichen Informationen, abgesehen von Zeitun, nicht gelungen, irgend eine Bewegung, die auf die Absicht einer Revolte schließen läßt, zu entdecken. Auch der Botschafter-Bericht konnte nirgends auch nur Provokationen von seiten der Armenier feststellen, und wo immer solche von den türkischen Behörden vorgegeben wurden, hat sich die offizielle Berichterstattung als lügenhaft herausgestellt.

In Zeitun lag die Sache so. Als von allen Seiten die Nachrichten von Massacres in den benachbarten Provinzen die armenische Bergbevölkerung des Anti-Taurus in Schrecken versetzten, flüchteten sich Tausende von armenischen Landleuten in das durch den natürlichen Schutz der Berge befestigte Zeitun. In der Umgegend dieser Stadt sind mehr als hundert Dörfer ausschließlich von Armeniern bewohnt. Auch diese drängten nach Zeitun hinein. Nun befand sich nahe bei der Stadt eine türkische Citadelle mit etwa 600 Mann Besatzung. Die Armenier bekamen Nachricht, daß diese Besatzung bedeutend verstärkt werden solle und daß man einen Ueberfall über das in Zeitun versammelte wehrlose Volk im Schilde führe. Sie beschlossen, dem zuvorzukommen, bewaffneten sich, so gut sie konnten, cernierten die Citadelle und zwangen die Besatzung zur Uebergabe, ehe Verstärkung anlangte. Sodann verschanzten sie sich in Zeitun und hielten sich den ganzen Winter gegen eine Armee von 80 000 Mann, die nach und nach gegen sie aufgeboten wurde. Der Erfolg hat bewiesen, daß die Armenier von Zeitun, wenn anders man ein Recht der Notwehr überhaupt noch anerkennen will, gut gethan haben. Während in dem ganzen ungeheuren Gebiet die Armenier sich in Tausenden von Dörfern und Städten, ohne auch nur Widerstand zu leisten, hinschlachten ließen, sind allein die Tapferen von Zeitun, dank der Intervention der europäischen Konsuln, nicht nur mit einer Amnestie davongekommen, sondern haben sich sogar noch das Vorrecht einer Art von Autonomie für Zeitun und Umgegend erwirkt. Es ist wirklich eine Ironie des Schicksals. Die europäische Diplomatie entschuldigt die Zuschauerrolle, die sie gegenüber der Abschlachtung eines ihr schutzbefohlenen christlichen Volkes spielt, damit, daß dasselbe durch seine revolutionäre Haltung gegen die türkische Regierung den Schutz von seiten der Mächte verwirkt habe; aber an dem einzigen Punkte, wo die Armenier, wenn man will, wirklich revoltiert haben, finden sie den ernstlichen Beistand eben dieser Mächte und setzen noch mit Hilfe derselben bei der Pforte alle ihre Forderungen durch, während an den Tausenden von Plätzen, wo sie, an jeder Gegenwehr verzweifelnd, sich dem mörderischen Schwert der Feinde ausliefern, ihnen jeglicher Schutz verweigert und obendrein noch eine Moralpredigt gehalten wird, daß sie es nicht bester verdient hätten. Da möchte man wirklich wünschen, daß die Armenier überall in der Lage gewesen wären, das Beispiel der Bürger von Zeitun zu befolgen und eine allgemeine nationale Erhebung zu stande zu bringen. Sicherlich wäre von den christlichen Großmächten einem Volk mit den Waffen in der Hand die Hilfe zuteil geworden, die man einem wehrlosen Volk unter heuchlerischen Gründen verweigerte.

Die Armenier sind nicht die Schuldigen.

Oder sind es die Engländer? Es offenbart die ganze Verlegenheit der öffentlichen Meinung Europas, sich auf die armenischen Massacres einen Vers zu machen, daß man sogar auf den abgeschmackten Einfall gekommen ist, die „armenischen Revolten“ auf „englische Umtriebe“ zurückzuführen und die anglophobe Phantasie des kontinentalen Publikums mit „englischen Golde“, „englischem Waffenschmuggel und „englischen[WS 5] Hetzaposteln“ zu erhitzen. Wo waren denn die englischen Waffen? Wo war das englische Gold? Irgendwo auf dem ganzen Massacregebiet hätte es doch zum Vorschein kommen müssen. Man könnte einen Preis darauf setzen, die „englischen Umtriebe“ in Armenien nachzuweisen, und gewiß sein, daß kein glücklicher Finder ihn sich verdienen würde. Oder sind das schon „englische Umtriebe“, wenn die englischen Konsuln über die Zustände in Armenien Bericht erstatten? Sind das „englische Umtriebe“, wenn englische Diplomaten sich nach siebzehn Jahren gewisser Paragraphen des Berliner Vertrages und der Cyprischen Konvention erinnern und im Verein mit der französischen und russischen Diplomatie sich daran machen, die altbackenen Versprechungen von Reformen, die man einst einem unglücklichen Volke gegeben, wieder aufzuwärmen? Unterlassungssünden, nicht Thatsünden sind es, die das Gericht der Weltgeschichte England und mehr noch als England den andern Großmächten zum Vorwurf machen wird.

Wenn weder die Armenier, noch die Engländer die Schuldigen sind, wer bleibt noch? Ist es wirklich nur ein durch nichts motivierter Einfall der türkischen Behörden von acht großen Provinzen gewesen, ihren armenischen Unterthanen a tempo den Krieg bis aufs Messer zu erklären? Mehr als unwahrscheinlich, – unmöglich! Das türkische Reich ist absolut und centralistisch regiert. Suprema lex regis voluntas. Der Palast und nicht die Valis regieren das Reich.

Wer unsere bisherigen Ausführungen mit Aufmerksamkeit gelesen hat, wird schon längst zu dem Schluß gekommen sein, daß die armenischen Massacres nichts anderes gewesen sind als eine administrative Maßregel, welche im Namen des Sultans von seiten der Centralregierung angeordnet, mit nur allzu großer Bereitwilligkeit von den Provinzialbehörden angeführt wurde. Den zwingenden Beweis hierfür zu liefern, ist jedem mit den Thatsachen Vertrauten ein Leichtes.

Der Vernichtung des armenischen Volkes liegt ein einheitlicher, schon seit Jahren vorbereiteter Plan zu Grunde, der in den letzten Monaten des vergangenen Jahres infolge des Vorgehens der Mächte mit überstürzter Hast zur Ausführung gebracht wurde. Während schon seit Jahren die von der Regierung bestellten Werkzeuge der Zerstörung in aller Stille und mit möglichst wenig Aufsehen arbeiteten, sah sich die Hohe Pforte durch die drohenden armenischen Reformen genötigt, den Prozeß zu beschleunigen und, selbst auf die Gefahr hin, ganz Europa in Empörung zu setzen, mit einem Schlage das armenische Volk zu vernichten und dem verhaßten Christentum, welches immer wieder die Sympathie Europas erweckte, ein schnelles Ende zu bereiten. Ein einheitlicher Plan in Bezug auf Ort, Zeit, Nationalität der Opfer und sogar auf die Methode des Mordens und Plünderns, lag der Gesamtheit der Massacres zu Grunde.

In Bezug auf den Ort waren dieselben zunächst beschränkt auf das Territorium der sechs Provinzen, Erzerunm, Bitlis, Wan, Charput, Sivas, Diarbekir, in denen Reformen eingeführt werden sollten. Als eine Bande berittener Kurden und Tscherkessen, die auf 2–3000 geschätzt wurde, das Gebiet dieser Provinzen zu verlassen drohte, traten ihnen die Behörden der Provinz Angora entgegen und veranlaßten sie, umzukehren mit der Begründung, daß sie keine Vollmacht hätten, die Grenze der Provinz Sivas zu überschreiten. Allerdings haben die Massacres im Verlauf der Unruhen, abgesehen von einem völlig deplacierten Putsch in Ak-Hissar (Mutessariflik Ismidt), auch auf die Provinzen Aleppo, Adana und Angora übergegriffen, aber man muß bedenken, daß auch für diese Provinzen von den Mächten, soweit in bestimmten Distrikten derselben armenische Bevölkerung kompakter zusammenwohnte, Reformen gefordert wurden, denen vorzubeugen ebenso notwendig erschien. Uebrigens sind auch die Provinzen Angora (mit Ausnahme von Cäsarea und Umgebung) und Adana (mit Ausnahme der Landdistrikte von Paias und Tschok-Merzemen) ziemlich verschont geblieben. Daß in Trapezunt die Massacres ihren Anfang nahmen, scheint daher zu rühren, daß dort ein besonderer Zwischenfall, ein noch unaufgeklärtes Attentat auf zwei Paschas, eine besonders günstige Gelegenheit zum Losschlagen bot. In der Provinz Aleppo nahm der durch die Nachrichten aus anderen Vilajets aufgereizte muhammedanische Fanatismus die Bewegung in den Bergen von Zeitun zum Anlaß und für Marasch, Aintab, Biredjik und Urfa ist es nachgewiesen, daß Sendlinge und Briefe der muhammedanischen Glaubensgenossen die Bevölkerung aufreizten, auch dort ihre Pflicht als Moslems zu thun. Allerdings fehlte es auch hier auf seiten der Behörden nicht an Bereitwilligkeit, die ausgestreuten Funken zur furchtbaren Feuersbrunst anzufachen, wofür ihnen überdies, wie durch Konsularberichte nachgewiesen, die zweideutigen Instruktionen der Centralbehörde zur Richtschnur dienten.

2. Was die Zeit betrifft, so begannen die Massacres nicht von ungefähr unmittelbar bevor der Sultan nach monatelangem Widerstand jeder Art endlich durch England, Frankreich und Rußland gezwungen wurde, dem Reform-Entwurf beizustimmen, wie um die europäischen Mächte zu warnen, daß im Falle sie auf ihrem Willen beständen, die Mine für die Vernichtung des armenischen Volkes schon gelegt sei. Von Trapezunt aus flutete die Welle von Mord und Plünderung durch jede Stadt und jedes Dorf in den sechs Provinzen, in denen den Armeniern Hilfe zugesagt war.

Um einen Eindruck von der Schlagfertigkeit zu geben, mit der die Provinzialbehörden die Ordres der Centralbehörde befolgten, notieren wir die Daten der Massacres an den Hauptplätzen. 30. September: Konstantinopel. – Oktober 3.: Ak-Hissar. – 4.: Trapezunt. – 6.: Erzerum. – 14.: Kighi. – 16.: Hadjin. – 20.: Tschorum und Marasch. – 21.: Erzingjan. – 25–26.: Gumuschhane, Bitlis, Albistan. – 27.-29.: Baiburt, Schabin-Kara-Hissar, Pajas, Urfa. – 30.: Erzerum. – 31.: Mersina, Adana. – November 1.–9.: Malatia. – 2.–5.: Severek. – 3.: Marasch. – 1.–20.: Vilajet Wan. – 7.: Adiaman, Alexandrette. – 8.: Eghin. – 10.: Charput, Talori, Pajas. – 12.: Sivas, Gurun, Kharza. – 13.: Tschok-Merzemen. – 14.–17.: Aintab. – 15.: Tokat, Musch, Merfivan. – 16.: Amasia. – 17.: Denidje-Kale. – 18.: Marasch. – 19.: Seert. – 20.: Wan. – 27.: Passen, Ova. – 28.: Zileh. – 30.: Cäsarea. – Dezember 3.: Sivas. – 7.: Samsun. – 13.: Tarsus. – 14.–15.: Aghdja-Guney. – 24.; Akbes. – 28.-29.: Urfa. – Januar 1. (1896): Biredjik. – Hiermit schließt die erste Serie der Massacres ab.

Wir machen darauf aufmerksam, daß ein örtlicher Zusammenhang nur in engeren Grenzen nachzuweisen ist, im übrigen springen die Massacres über das ganze Gebiet der neun Provinzen willkürlich hin und her. Der Zeitpunkt des Ausbruchs hängt überall von der kürzeren oder längeren Frist ab, die die Vorbereitung in Anspruch nahm. Die Demonstration in Konstantinopel, die zu Ungunsten der Armenier ausgelegt werden konnte, gab einen guten Vorwand her und wurde von den türkischen Behörden im ganzen Lande weidlich aufgebauscht und ausgebeutet, um den muhammedanischen Fanatismus aufzureizen. Später wurde die Veröffentlichung des Reformplanes, der von den Behörden fälschlich und absichtlich im Sinne völliger Autonomie für die Armenier ausgelegt wurde, zur Aufreizung der muhammedanischen Bevölkerung gegen die Christen benutzt. Als die Nachricht von dem ersten Massacre Konstantinopel erreichte, sagte ein hoher türkischer Beamter zu einem der Botschafter: „Massacres sind wie die Windpocken, alle müssen sie haben; aber niemand bekommt sie zum zweiten Mal.“ Das war ein leiser, wenn nicht malitiöser Wink von dem, was man zu erwarten habe. Selbst der Sultan, als er der Zustimmung zum Reformentwurf zu entrinnen versuchte, sagte den Botschaftern, um sie einzuschüchtern, daß Unruhen daraus entstehen würden. Und der Erfolg lehrt, daß er wußte, wovon er sprach.

3. Auch in Bezug auf die Nationalität der Opfer waren strikte Ordres gegeben. Der Schlag sollte nur die Armenier treffen. In vielen Städten, die Massacres hatten, sind starke griechische Bevölkerungen. Niemand hat sie angerührt. Wenn trotz vorheriger Warnung seitens der Behörden doch etliche Griechen umkamen, war es ein Zufall. Noch während der Massacres trafen strengste Befehle ein, die Griechen zu schützen. Man wußte in Konstantinopel, daß man im Falle eines Angriffs auf die griechische Konfession es sofort mit Rußland zu thun bekommen würde. Solche Ordres allein schon, die den Schutz der Behörden auf eine Konfession beschränkten, erklärten die andere, die armenische, für vogelfrei. Uebrigens gelang es im Vilajet Aleppo und Diarbekir doch nicht, dem entfesselten muhammedanischen Fanatismus solche Schranken aufzuerlegen. Die Syrer, Jakobiten und Chaldäer wurden trotz der Befehle von oben mit den Armeniern über einen Kamm geschoren. Mit besonderer Sorgfalt hatte die Centralregierung eingeschärft, ja keinem Unterthan fremder Nationen, selbst den verhaßten Missionaren nicht, auch nur ein Haar zu krümmen. Man wußte, daß ein einziger Europäer der Pforte teurer zu stehen kommt als 20 000 Armenier, und war sehr darauf bedacht, auswärtige Verwickelungen und Zahlung von Entschädigungen zu vermeiden. Selbst da, wo man, wie in Charput, Marasch, Mersivan, Malatia, Yenidje-Kale protestantische oder katholische Missionshäuser plünderte und zerstörte, war man darauf bedacht, das Leben ihrer Insassen zu schonen. Der Pater Salvatore scheint der einzige Europäer gewesen zu sein, der dem armenischen Massenmord mit zum Opfer fiel. Wären die fanatischen Muhammedaner nicht durch strengste Befehle von oben her zurückgehalten worden, sie würden wahrscheinlich die protestantischen und katholischen Missionen zuerst überfallen und die Missionare und Priester totgeschlagen haben, denn gerade diesen wird, als den Hauptwerkzeugen der Bildung, von den Behörden die Schuld beigemessen, die Armenier durch Einpflanzung moralischer Begriffe über die Menschenunwürdigkeit der an ihnen verübten Gewaltthaten und Schändungen aufgeklärt zu haben, und europäische Diplomaten scheinen sich dieser Auffassung anzuschließen und darin einen guten Grund für ihre Abneigung gegen die christlichen Missionen zu erblicken. Viel bester, man läßt die Armenier in Unwissenheit und Sklaverei, und Europa bleibt in Ruhe.

4. Auch die Methode des Mordens und Plünderns war von oben her vorgeschrieben und wurde mit bewunderungswürdiger Gleichmäßigkeit und Präzision unter den so verschiedenartigen Verhältnissen der Provinzen gehandhabt. Mit geringen Ausnahmen war die Methode die: In möglichst kurzbegrenzter Zeit eine möglichst große Zahl von Armeniern totzuschlagen und ihnen möglichst alle ihre Habe abzunehmen und ihren Besitz zu vernichten. Hierbei wurde mit großer Sorgfalt darauf gesehen, daß von allen Männern von Einfluß, Bildung und Wohlstand (nämlich gerade denen, die bei der Durchführung der Reformen einen Anteil an der Verwaltung oder Justiz hätten nehmen können) möglichst keiner übrig blieb und ihre Familien an den Bettelstab gebracht wurden. Da man diese Auslese dem Pöbel nicht mit genügender Sicherheit anvertrauen konnte, wurden von den Valis selbst solche Listen ausgestellt und den Soldaten in die Hand gegeben. Um die armenischen Kaufleute, in deren Händen in den Städten fast 9/10 des Handels war, möglichst mit einem Schlag um alle ihre Waren zu bringen, fanden in allen größeren Plätzen die Massacres in den Geschäftsstunden statt, wenn die Läden und Magazine geöffnet waren und die Armenier gleich hinter dem Ladentisch totgeschlagen werden konnten. Wo diese ihre Läden und Magazine aus Furcht geschlossen hatten, wurden sie durch die Versprechungen oder Drohungen der Behörden veranlaßt, sie kurz vor den Massacres wieder zu öffnen. Die für die Mord- und Plünderungsfreiheit gewährte Frist wurde in der Regel durch Trompetensignale eingeleitet und geschlossen.

Wenn schon das konforme Vorgehen der Civilbehörden ohne gleichlautende Ordre von der Centralbehörde unerklärlich sein würde, so ist das überall den Maßregeln der Civilbehörden korrespondierende Eingreifen der Militärbehörden völlig undenkbar ohne die direkten Befehle aus dem Seraskierat (Kriegsministerium), noch dazu da für die Bewaffnung des Pöbels, der Kurden, Tscherkessen und Lazen, sowie der Redifs überall die Militärdepots in Anspruch genommen werden mußten.

Die einheitliche Vorbereitung und präzise Durchführung der Massacres nach einem vorbedachten und genau umgrenzten Plan läßt keine Möglichkeit offen, die Centralbehörde von der Schuld bewußter Anstiftung und alle Folgen berechnender Anordnung freiznsprechen. Es ist ein vollständiger Irrtum, anzunehmen, wie man es öfter hört, daß die Behörden, nicht imstande gewesen wären, den fanatischen türkischen Pöbel und die räuberischen Kurden zurückzuhalten. Thatsache ist, daß überall die Behörden wo sie nicht selbst mitwirkten, der Schlächterei und Plünderung zusahen, ohne auch nur die Hand aufzuheben, um Einhalt zu thun, und daß überall, wo Behörden eingriffen, wenn die zuvorbestimmte Zeit, ob Stunden oder Tage, abgelaufen war, das Massacre zum sofortigen Stillstand gebracht wurde. Es ist auch von Offizieren und Beamten ausgesprochen worden, daß sie imstande gewesen wären, sofort den Pöbel auseinander zu treiben, wenn sie nicht von ihren Vorgesetzten gehindert worden wären, und wo irgend einmal ein Regierungsbeamter, dem die Entscheidung zustand, nicht mitmachen wollte, oder, wie z. B. in Adana aus Furcht vor den Kriegsschiffen nicht vorzugehen wagte, sind die Massacres nicht zum Ausbruch gekommen.

Wären nicht die Behörden nach der festgesetzten Zeit von ein oder mehreren Tagen eingeschritten, die gesamte christliche Bevölkerung würde bis auf den letzten Mann ausgerottet worden sein. Dem blutigen Werk aber wurde Einhalt gethan, nicht weil die Muhammedaner nicht gewünscht hätten, reinen Tisch mit den Christen zu machen und allen ihren Besitz an sich zu reißen, sondern weil die Inspiratoren der Massacres dachten, daß ein, zwei oder drei Tage Morden so viel sei, als sich Europa auf einmal würde gefallen lassen. Auch diese Rücksichtnahme auf die Nerven der Diplomatie liegt gänzlich außerhalb des Gesichtskreises von Provinzialbehörden und weist direkt auf den feinen politischen Instinkt des Palastes hin.

Eins steht über allem Zweifel fest, daß die gesamte türkische Bevölkerung, und das Militär und die Kurden dazu, sich bewußt waren, nicht nur auf Anordnung untergeordneter Behörden, die ihnen Straflosigkeit zugesichert hatten, sondern auf Befehl und im Namen des Sultans zu handeln. „Das Eigentum der Giaurs ist zu plündern, und ihre Köpfe gehören der Regierung.“ Dies war die Losung, die überall ausgegeben war, auf den persönlichen Willen des Sultans zurückgeführt wurde und die formelle Erlaubnis zu allen Greuelthaten bedeutete. Ueberall hat sich die muhammedanische Bevölkerung in diesem Sinne ausgesprochen, und ihr Urteil fand nirgends eine Zurückweisung seitens der Behörden. Es kommt noch dazu, daß nachweislich die Muhammedaner in ihren Moscheen von den Mollahs in gleichem Sinne instruiert wurden, wo ihnen mitgeteilt wurde, daß das Vorgehen der Regierung gegen die Christen auch die Sanktion des Scheikh ül Islam, des unfehlbaren geistlichen Hauptes der muhammedanischen Welt, besitze, und daß das Religions-(Scheri)Gesetz des Islam die Ausrottung der Christen gebiete, weil diese die Intervention fremder Mächte angerufen und den Versuch gemacht hätten, sich aus der ihnen durch dasselbe Gesetz vorgeschriebenen Lage der Unterwürfigkeit und Sklaverei zu befreien und eine nicht zu duldende Gleichberechtigung mit den Muhammedanern anzustreben. Wie die Bevölkerung, so beriefen sich auch das Militär und die Kurden überall für alle ihre Schandthaten ganz offen auf die Befehle der Regierung, und selbst die höchsten Beamten machten weder unter sich noch gegenüber anderen einen Hehl daraus, daß sie nach übereinstimmendem Plane handelten und Instruktionen des Palastes besäßen. Wie sich der Marschall Zeki Pascha in Erzingjan ausgesprochen, haben wir bereits berichtet. Der Kaimakam von Gurun telegraphierte an den Vali von Sivas: „Du kannst sicher sein, daß nicht ein Armenier in Gurun übrig geblieben ist.“ In Arabkir gaben die Behörden folgende Befehle aus: „Alle die, welche Kinder Muhammeds sind, müssen jetzt ihre Pflicht thun, nämlich alle Armenier zu töten, ihre Häuser zu plündern und zu verbrennen. Nicht ein Armenier soll geschont werden. Das ist der Befehl des Palastes. Die, welche nicht gehorchen, sind als Armenier anzusehen und ebenfalls zu töten. Darum hat ein jeder Muhammedaner seinen Gehorsam gegen die Regierung dadurch zu beweisen, daß er zuerst die ihm befreundeten Christen umbringt.“

Wenn wir auch die Frage offen lassen, ob der Befehl zu den Massacres von der persönlichen Initiative des Sultans ausgegangen ist, oder ob er durch die verschlagene Kunst der Kamarilla des Palastes mittels gefälschter Berichte und von den Provinzialbehörden eingeholter Zwangsadressen dazu vermocht worden ist, Befehle zu geben, die dann mit den nötigen Verschärfungen und praktischen Anweisungen versehen, aus dem Palast in die Provinzen weitergegeben wurden, jedenfalls trägt ein autokratischer Monarch die volle Verantwortung für die Maßregeln seiner Regierung und unwiderrufen bezeichnet ihn die Stimme seines eigenen Volkes als den intellektuellen Urheber all der Tausende von Massenmorden, Plünderungen, Schändungen und Zwangskonversionen, begangen an einem wehrlosen christlichen Volk, das das Unglück hat, ihm unterthan zu sein.

Das Urteil der Geschichte wird auch kaum ein anderes sein können, denn durch zuviel Handlungen hat sich dieser Monarch als den ersten Repräsentanten des alttürkischen Fanatismus bewiesen. Durch die Uniformierung kurdischer Räuberbanden, welche als Hamidieh-Regimenter nach seinem Namen genannt wurden, hat er die vornehmlichsten Werkzeuge zur Vernichtung seiner christlichen Unterthanen geschaffen, durch die Dekorierung und Beförderung der am meisten in den Massacres kompromittierten Regierungsbeamten hat er die Urheber der größten Schandthaten als die auserwählten Rüstzeuge seiner Politik bezeichnet und durch die Straflosigkeit von allem und jedem, was in dieser Schreckenszeit geschehen, sein Kaiserliches Siegel unter ein Regiment des Mordes und des Vandalismus ohne gleichen und unter eine der größten Christenverfolgungen aller Zeiten gesetzt.


7. Die Verantwortlichkeit der Mächte.

Es handelte sich bisher für uns darum, zunächst die Thatsache und den Umfang der armenischen Massacres und ihre Folgen zu ermitteln und sodann durch eine Reihe von Mittelgliedern die Frage zu verfolgen, wem in letzter Instanz für die nach einem einheitlichen Plan durchgeführte Vernichtung des armenischen Volkes die Schuld beizumessen ist. Die von uns dokumentarisch erhärtete Thatsache ist: Hunderttausend wehrlose Christen abgeschlachtet, hunderttausend oder mehr zwangsweise konvertiert und fünfhunderttausend Menschen dem Hungertode ausgeliefert. Diese Thatsache war das Ergebnis einer mit kaltblütiger Berechnung angeordneten und mit unerhörter Grausamkeit durchgeführten administrativen Maßregel. Die Urheber dieser Maßregel befinden sich im Palast Sr. Majestät des Sultans.

Soweit könnten wir unsere Aufgabe als gelöst ansehen. Doch es bleibt in unserer ganzen Untersuchung eine rätselhafte Frage übrig, die sich dem Leser schon aufgedrängt haben wird, und die, wenn nicht beantwortet, dem gewonnenen Ergebnis den Stempel einer so kolossalen Unwahrscheinlichkeit aufdrückt, daß vor derselben selbst die zwingendsten Gründe ihre Beweiskraft verlieren, und die sichersten Thatsachen in das Reich der Fabel gewiesen werden müßten. Man fragt sich mit Recht: Wie konnte die Regierung des Sultans zu einer solchen That des Wahnsinns schreiten, daß sie durch ihre eigenen Organe sechs oder sieben der wohlhabendsten und steuerkräftigsten Provinzen des Reiches in einen Zustand der Verwüstung, wie ihn kein Krieg hinter sich zurückläßt, verwandeln ließ? Steht nicht die Pforte seit Jahrzehnten am Rande eines wirtschaftlichen Bankerotts, der sich durch die gewagtesten Finanzoperationen kaum mehr verschleiern läßt? Mußte nicht die Pforte von dem Vernichtungskrieg, den sie gegen die eigenen Unterthanen führte, eine Revolutionierung der so wie so schon durch eine Jahrzehnte lange Mißwirtschaft gegen die Regierung aufgebrachten Bevölkerung auch in den anderen Teilen des Reiches befürchten? Lehrte nicht vor allem die politische Geschichte dieses Jahrhunderts, daß ein so furchtbarer Schlag gegen die christlichen Unterthanen des Reiches die unmittelbare Intervention der auswärtigen Mächte, denen noch dazu Vertragsverpflichtungen in dieser Hinsicht oblagen, herbeiführen mußte? Hatte nicht das Blutbad von Chios, März 1822, in welchem 23 000 Griechen von dem hinterlistigen Ali Pascha abgeschlachtet wurden, den griechischen Freiheitskämpfern die begeisterte Sympathie Europas verschafft? Hatte nicht das Massacre im Libanon 1860, dem 6000 Christen zum Opfer fielen, die französische Expedition und die Autonomie des Libanondistriktes zur Folge gehabt? Führte nicht die Abschlachtung von 25 000 Bulgaren zum russisch-türkischen Krieg und zur Emanzipation der Balkan-Völker, und der Aufstand des Arabi Pascha in Aegypten zur Beschießung Alexandriens und zur Aufrichtung der englischen Herrschaft am Nil? Konnte denn die um die Aufrechterhaltung des osmanischen Reiches fast wie um ihr eigenes Leben besorgte europäische Diplomatie noch eine Stunde länger dem Sultan seinen Thron garantieren, wenn zu den chronisch gewordenen Unruhen in Makedonien, Arabien und Syrien ein solcher Paroxismus auch noch die bisher intakten Glieder des Reiches ergriff? Wie lange sollte noch die bewunderungswürdige Geduld europäischer Kabinette die Fieberphantasieen des im Delirium des Todes zuckenden kranken Mannes mit diplomatischen Noten beantworten und die an allen Gliedern aufbrechenden Pestbeulen mit den Pflastern ihrer papierenen Verträge verkleben? Doch wen Gott verderben will, den verblendet er zuvor.

Gleichwohl bedürfen auch die Handlungen eines Irren noch einer Art psychologischer Motivierung und daß der politische Wahnsinn, der die armenischen Massacres herbeiführte, Methode hatte, davon haben wir uns ja leider genugsam überzeugen können. Es fehlt uns aber noch das selbst für eine perverse Denkweise zureichende Motiv, welches die über Armenien verhängte Vernichtungsmaßregel erklärlich macht.

Als die ausländischen Konsuln zu Erzerum im vergangenen Jahre einen besonders schreienden Fall von Ungerechtigkeit zur Kenntnis des Vali brachten, sagte derselbe: Die türkische Regierung und das armenische Volk stehen in dem Verhältnis von Mann und Frau, und Dritte, die für die von ihrem Manne gezüchtigte Frau Mitleid fühlen, thun besser, sich in den ehelichen Zwist nicht einzumischen.

Man kann in der That das Verhältnis der christlichen Großmächte zu der Regierung des Sultans nicht besser, als mit diesem Bilde geschieht, zum Ausdruck bringen. Der Sultan, um im Bilde zu bleiben, hat bekanntlich nicht nur eine, sondern eine ganze Zahl von Frauen in seinem Harem, nicht nur türkische, kurdische, tscherkessische, arabische, sondern auch christliche: armenische, griechische, syrische und soviel immer Nationalitäten unter seinem Scepter vereinigt sind. Gewiß, es verdrießt ihn, zu sehen, wenn neugierige Augen durch die vergitterten Fenster seines Palastes spähen, und wenn selbst die Wände desselben Ohren haben, um den häuslichen Krieg zu erkunden, und geschäftige Zungen die Geheimnisse des Palastes in alle Welt hinaustragen. Als Hausherr und Türke glaubt er das unveräußerliche Recht zu haben, seine Haremsdamen zu züchtigen, mit Füßen zu treten, einzukerkern oder auch zu erhenken, zu erdrosseln, zu ersäufen, und er verbittet sich das Mitleid einer christlichen Moral, für die sein mohammedanischer Glaube kein Organ besitzt.

Aber in civilisierten Staaten kommt es vor, daß einem brutalen Ehegatten sogar die Rechte über seine Frau beschränkt und daß den Handlungen eines Wahnsinnigen, selbst wenn sie das eigene Fleisch und Blut gefährden, durch den Arm des Gesetzes vorgebeugt wird. Wenigstens hatten sich die christlichen Großmächte seit einer geraumen Zeit von Jahren für berechtigt gehalten, solche Maßregeln dem Beherrscher der Gläubigen anzudrohen, wenn er sich nicht im eigenen Hause nach Art civilisierter Menschen betragen würde. Leider hatte es bei den Drohungen, wenn dieselben auch „im Namen des Allmächtigen“ verbrieft und versiegelt in einer Reihe von Verträgen dem Sultan übergeben wurden, sein Bewenden gehabt. Mit klugen Versprechungen hatte sich derselbe der Exekution der Verträge zu entziehen gewußt und vertraute darauf, daß die europäische Justiz, über der Schwierigkeit der Ausführung der schon längst für notwendig erachteten Maßregeln, ihm Zeit genug lassen würde, den häuslichen Krieg auf seine Weise zu beendigen. Und er hat die Frist benutzt. Als nach siebzehnjährigem Warten sich die europäische Diplomatie des einst so großartig zur Schau getragenen Mitleids mit den Opfern türkischer Barbarei in Armenien wieder erinnerte und im vorigen Jahr ihre Advokaten zum Sultan schickte, um durch Schriftsätze ohne Ende eine menschenwürdige Behandlung seiner christlichen Unterthanen zu erwirken, machte der türkische Hausherr, während er die lästigen Dränger mit Versprechungen hinhielt, von rasender Eifersucht besessen, von seinem barbarischen Rechte Gebrauch und erdrosselte kurzer Hand das unglückliche Opfer des europäischen Mitleids. Noch standen die Botschafter christlicher Großmächte vor der Pforte des Kaiserlichen Palastes, um, wie sie aller Welt verkündet, das befreite Armenien, stolz auf die Erfolge ihrer Diplomatie, in ihre Arme zu schließen, als sich plötzlich die Pforten öffneten, und ein scheußlich verstümmelter Leichnam ihnen vor die Füße geworfen wurde. Die Diplomaten kehrten auf der Stelle um, und niemand wollte etwas gesehen haben. Sie sitzen nach wie vor an der Tafel des Sultans und sind glücklich, für die Erfolge ihrer Diplomatie durch hohe Dekorationen ausgezeichet zu werden!

Doch um aus der Sprache des Bildes in die der Politik zurückzukehren: Wie lauteten doch jene Verträge, durch welche sich einst das humane Europa für das Glück des armenischen Volkes verbürgt hatte?

Nach der siegreichen Beendigung des russisch-türkischen Krieges hatte sich Rußland im Vertrage von St. Stefano als eine der Früchte des Sieges den Schutz des unglücklichen armenischen Volkes ausbedungen. Artikel 16 des Vertrages lautete: „Da der Abzug der russischen Truppen aus dem von ihnen besetzten armenischen Gebiete, das den Türken zurückgegeben werden soll, Veranlassung zu Konflikten und Verwicklungen geben könnte, die die Aufrechterhaltung der guten Beziehungen zwischen den beiden Ländern unmöglich machen würde, so verpflichtet sich die Hohe Pforte, ohne weiteren Verzug die durch örtliche Bedürfnisse in den von Armeniern bewohnten Provinzen erforderten Verbesserungen und Reform ins Werk zu setzen und den Armeniern Sicherheit vor Kurden und Tscherkessen zu garantieren.

Die christlichen Großmächte aber, welche die Palme der Humanität nicht den Händen Rußlands überantworten wollten, ehe sie zuvor um so hohen Preis im edelsten Wettstreit gerungen, schoben im Berliner Vertrag auf Vorschlag Englands, den Artikel 16 des Vertrages von St. Stephano beiseite und ersetzten ihn durch die solidarische Bürgschaft aller Signatarmächte für die Einführung von Reformen und den Schutz der armenischen Christen:

Die Hohe Pforte,“ so lautet der 61. Artikel des Berliner Vertrages, „übernimmt die Verpflichtung, ohne weiteren Verzug, die durch lokale Bedürfnisse in den von den Armeniern bewohnten Provinzen erforderten Verbesserungen und Reformen ins Werk zu setzen und den Armeniern Sicherheit vor Kurden und Tscherkessen zu garantieren. Sie wird die in dieser Richtung gethanen Schritte in bestimmten Zeitabschnitten den Mächten bekannt geben, die ihr Inkrafttreten überwachen werden.“ England hatte aber hieran noch nicht genug.

Der humane Ehrgeiz oder ein sonstiges Interesse spornte es an, noch während der Verhandlungen des Berliner Vertrages, allen anderen Mächten bei der Pforte den Rang abzulaufen und sich durch die sogenannte Cyprische Konvention einen besonderen Auftrag für die Beglückung Armeniens zu erwirken. Schon vor der Unterzeichnung derselben hatte Lord Salisbury in einer Depesche vom 30. Mai 1878 dem britischen Gesandten in Konstantinopel folgende Instruktion gegeben: „Garantieen, die erforderlich sind, um England ein Recht zu geben, auf befriedigende Maßregeln für diese (Reform-) Absichten zu dringen, werden ein unentbehrlicher Bestandteil jedes Uebereinkommens sein, zu dem die Regierung Ihrer Majestät ihre Zustimmung geben könnte.“ In Uebereinstimmung damit erhielt dann auch England, in der Cyprischen Konvention, für die der Türkei gewährte Garantie ihres asiatischen Besitzes, „von Sr. Kaiserlichen Majestät dem Sultan das Versprechen, notwendige Verwaltungs-Reformen, über die zwischen den beiden Mächten späterhin Vereinbarungen getroffen werden sollen, in der Regierung zum Schutz der christlichen und anderen Unterthanen der Pforte in diesen Gebieten einzuführen.

Der logische Zusammenhang, in welchen die englische Diplomatie mit diesen Abmachungen die Occupation von Cypern zu setzen wußte, ist aus dem Wortlaut des Vertrages, selbst mit dem größten Scharfsinn, nicht zu ermitteln. Wahrscheinlich aber hatte England eine so lebhafte Vorempfindung der bei der Pforte für das unglückliche Armenien von ihm durchzusetzenden Reformen, daß es nicht umhin konnte, sich schon im Voraus einen angemessenen Lohn dafür zu sichern.

Wenn sechs Großmächte mit heiligen Verträgen – die Hauptstadt des Deutschen Reiches war Zeuge dieses erhabenen Schauspiels – sich für das Glück eines geknechteten Volkes verbürgen, so möchte man fast glauben, daß selbst der Himmel seinen ohnmächtigen Geschöpfen keinen besseren Schutz gewähren und den Stellvertretern seiner richterlichen Gewalt auf Erden getrost die Wahrung seiner Gerechtigkeit überlassen könnte.

Aber man sagt uns, daß, sintemalen zugestandenermaßen die Politik die treuloseste aller Künste ist, jene heiligen Verträge nichts anderes gewesen sind, als eine schöne moralische Kulisse, hinter der sich das politische Intriguenspiel der Mächte zu verbergen wünschte, und daß, Armenien hin, Armenien her, keiner der Unterzeichner des Berliner Vertrages ernstlich daran gedacht hat, auch nur einen Finger zu rühren, um die hübschen Versprechungen irgend wann einmal einzulösen oder die Pforte zur Ausführung ihrer Verpflichtungen anzuhalten. Ja der Versuch, der in dieser Richtung nach 17jährigem Nichtsthun im vergangenen Jahre von einer der Signatarmächte – aus welchen Motiven immer – unternommen wurde, den papierenen Verträgen zu einem wirklichen Dasein zu verhelfen, wird von ganz Europa als ein gröblicher diplomatischer Friedensbruch angeschrieen, und Entsetzen ergreift die civilisierte Welt über das „perfide“ England, welches, weil es ihm einmal so paßt, aufhören will. Papier für Papier und die Armenier unter türkischer Herrschaft für ein glückliches Volk zu halten.

Vielleicht aber, wird man einwenden, stand es gar nicht mehr so schlimm in Armenien, und die Mächte werden darum auf die Ausführung der Vertragsverpflichtungen verzichtet haben, weil durch die inzwischen eingetretene Besserung der Zustände die Einführung von Reformen sich als unnötig herausgestellt hatte. Nun die Mächte, die in der Lage sind, sich durch ihre Konsuln jede wünschenswerte Information über die Zustände in Armenien zu verschaffen und in der That, wie die Bände des diplomatischen Aktenmaterials beweisen, keinerlei Unkenntnis vorschützen können, mögen selbst das Urteil in dieser Sache sprechen. In den ersten Jahren nach dem Berliner Vertrag hielt man es noch für eine Sache des politischen Anstandes, die völlige Nichtachtung der auf Armenien bezüglichen Bestimmungen desselben vonseiten der Pforte wenigstens mit diplomatischen Noten zu rügen und sich den Anschein zu geben, als ob man wirklich auf die Durchführung der Reformen in den armenischen Provinzen einen Druck ausüben wolle.

Am 7. September 1880 wurde der Hohen Pforte von den Botschaftern der sechs Signatarmächte eine Kollektivnote überreicht. Darin ist folgendes zu lesen:

„Die Unterzeichneten haben die Note vom 5. Juli des Jahres erhalten, durch welche die Hohe Pforte dem Paragraphen ihrer Mitteilung vom 11. Juni entsprach, der sich auf die Verbesserungen und administrativen Reformen bezog, welche die ottomanische Regierung durch den 61. Artikel des Berliner Vertrages in den von Armeniern bewohnten Provinzen einzuführen sich verpflichtet hat. Ein aufmerksames Studium dieses Dokuments hat ihnen bewiesen, daß die von der ottomanischen Regierung formulierten Vorschläge weder dem Geist noch dem Buchstaben nach diesem Artikel entsprechen. ... Nichts beweist, daß irgendwelche Verbesserung in der Verwaltung der Justiz eingeführt wurde. Im Gegenteil, zahlreiche Konsularberichte stellen fest, daß die gegenwärtige Lage, was die Unabhängigkeit der Civil- und Straf-Tribunale betrifft, ebenso unbefriedigend, wenn nicht noch schlimmer ist als zuvor.

„Was die Gendarmerie und Polizei anlangt, so versichert die Note vom 5. Juli, daß die Pforte mehrere spezielle Beamte aufgefordert habe, Reform-Vorschläge für diese beiden Kategorien vorzulegen. Die Mächte haben keine Kenntnis von diesen Vorschlägen erhalten, und selbst die ottomanische Regierung war nicht imstande, zu erklären, daß sie ihr selbst unterbreitet wurden.

„Die Unterzeichneten können nicht zugeben, daß die Antwort Euer Excellenz den in ihrer Note vom 11. Juni formulierten Beschwerden auch nur im geringsten gerecht geworden ist. Sie glauben sich um so mehr berechtigt, die in dieser Hinsicht von der ottomanischen Regierung versuchten Anstrengungen auf ihren wahren Wert zurückzuführen, da die Pforte, nach eben dieser Antwort zu schließen, sich offenbar eine nichts weniger als genaue Rechenschaft von der Lage und den Verpflichtungen giebt, welche ihr der Berliner Vertrag auferlegt.

„Die Ausdrücke selbst, in denen sich die Hohe Pforte über die in den von den Armeniern bewohnten Provinzen begangenen oder berichteten Verbrechen bewegt, beweisen, daß sie sich weigert, den Zustand der Anarchie, der in diesen Provinzen herrscht, und den Ernst einer Lage, deren Fortdauer aller Wahrscheinlichkeit nach die Vernichtung der christlichen Bevölkerung in jenen weiten Landesteilen zur Folge haben würde, anzuerkennen.

„Die Note vom 5. Juli formuliert keinen ernstlichen Vorschlag, der dahin zielte, den Excessen der Tscherkessen und Kurden ein Ende zu machen. … …

„Die Mächte würden ohne Zweifel mit Genugthuung die Einführung von Reformen in allen Teilen des osmanischen Reiches begrüßen, aber sie bestehen vor allem andern auf der vollständigen Ausführung des Berliner Vertrages und können nicht zulassen, daß die Pforte sich den Verpflichtungen, die sie in dieser Hinsicht übernommen, überhoben glaubt, indem sie eine Reorganisation vorschlägt, in welcher keine einzige der speziellen Reformen figuriert, welche zu Gunsten der von diesem namhaft gemachten Provinzen ausbedungen wurden.“

Die Kollektiv-Note macht des weiteren der Pforte die eingehendsten Vorschläge in Bezug auf die vertragsmäßig geforderte Reorganisation der Verwaltungs-, Justiz- und Polizeibehörden und schließt: „Die Unterzeichneten lenken noch einmal die Aufmerksamkeit der Pforte auf die Thatsache hin, daß die Reformen, welche in den von den Armeniern bewohnten Provinzen einzuführen sind, nach dem Wortlaut der Verpflichtungen, welche dieselbe durch einen internationalen Akt eingegangen ist, den lokalen Bedürfnissen entsprechen und unter der Ueberwachung der Mächte vollzogen werden müssen.

Die Unterzeichneten u. s. w. gez. Hatzfeldt. Novikow. Goschen, Corti. Tissot. Calice.“

Dies war, zwei Jahre nach dem Berliner Vertrag, der letzte ernstliche Schritt, der von den Mächten unternommen wurde, um die dem unglücklichen armenischen Volke gegebenen Versprechungen einzulösen.

Eine Zirkularnote des Earl Granville vom 12. Januar 1881, welche die andern 5 Mächte noch einmal zu weiteren Vorstellungen bei der Pforte einlud, wurde von denselben ausweichend beantwortet. England hatte auch nichts anderes erwartet, denn der englische Gesandte in Konstantinopel, Mr. Goschen, hatte bereits an Earl Granville geschrieben: „Wenn sie [die Mächte] ablehnen oder nur eine laue Unterstützung gewähren, hat Ihrer Majestät Regierung weiter keine Verantwortung.“ So wurde „die armenische Frage“ zu den diplomatischen Akten gelegt und die Pforte rieb sich die Hände.

Also, die Vertreter christlicher Großmächte waren sich dessen vollkommen bewußt, daß die „Fortdauer“ der in den armenischen Provinzen „herrschenden Anarchie aller Wahrscheinlichkeit nach die Vernichtung der christlichen Bevölkerung in jenen weiten Landesteilen zur Folge haben würde,“ und gleichwohl verzichteten sie weitere fünfzehn Jahre einmütig darauf, dem kraftvoll arbeitenden Vernichtungswerk der türkischen Verwaltungsmaschine in Armenien, die die christliche Bevölkerung wie das Stroh auf der Tenne drosch, noch irgend welche Schwierigkeiten zu bereiten. Warum auch? Wußten doch diese Diplomaten ebenso gut, wie die klugen Paschas der Hohen Pforte, daß die „durch einen internationalen Akt“ garantierten Reformen ewig auf dem Papier bleiben würden, und daß daran all’ ihr Schreibwerk mit samt ihren mündlichen Vorstellungen nichts ändern würde. Sie hätten ja die Kollektivnote vom 7. September 1880 stereotypieren und in den nächsten fünfzehn Jahren am Ende jeden Quartals der Hohen Pforte wieder überreichen lassen können; aber wer kann es Männern von Bildung und Ehre verargen, wenn sie darauf verzichteten, nachdem sie zwei oder dreimal an der Nase herumgeführt waren, bei diesem Fackeltanz noch länger mitzuwirken. Denn daß von keiner Seite etwas anderes als Stilübungen diplomatischer Noten in Vorschlag gebracht werden würden, darüber war man sich von vornherein klar.

Inzwischen arbeitete die Maschine weiter. In welcher Weise von ihren eisernen Zähnen die christliche Bevölkerung Armeniens langsam aber sicher zermalmt wurde, davon kann man sich aus den dokumentarischen Berichten eines Augenzeugen, der im Herbst vorigen Jahres das christliche Publikum von England alarmierte, eine sachgemäße Vorstellung bilden. Wir geben den Artikel von E. J. Dillon in der „Contemporary Review“ : „The Condition of Armenia“, August 1895, im folgenden (Nr. III) wieder. Auch die lehrreichen Publikationen von Fr. D. Greene und Rev. Malcolm Mac Coll hätten es verdient, dem deutschen Publikum zugänglich gemacht zu werden; denn diese Männer nehmen auch der Politik ihrer eigenen Regierung gegenüber kein Blatt vor den Mund und enthüllen mit einer Deutlichkeit, die selbst einem Türken die Schamröte ins Gesicht treiben müßte, die schmachvollen Praktiken türkischer Beamten, Offiziere, Richter, Steuer- und Polizeibeamten, neben deren Schandthaten sich die Plündereien und Mordthaten der Kurden wie harmlose Schuljungenstreiche ausnehmen.

„Der tatsächliche Erfolg unseres Vorgehens gegen Rußland 1878,“ schreibt Dillon, „ist, vom rein humanitären Gesichtspunkt aus betrachtet, der gewesen, daß wir in den armenischen Provinzen ein Schreckenssystem verewigt haben, im Vergleich zu dem die Leiden der Negersklaven in den amerikanischen Südstaaten leichte Unzuträglichkeiten gewesen sind. Wir haben feierlich das Fegfeuer abgeschafft und ließen zu, daß an dessen Stelle eine Hölle gesetzt wurde. Wir übernahmen, dafür zu sorgen, daß die Mißstände ... sofort und endgiltig beseitigt werden sollten; und dann haben wir nicht nur versäumt, diese freiwillig übernommene Pflicht ... zu erfüllen, sondern wir ließen zu, daß sich das lockere System einer ungeordneten Verwaltung allmählich zu einer diabolischen Vernichtungspolitik entwickelte, ohne daß wir gewagt hätten, unsere Macht fühlen zu lassen oder unsere Ohnmacht einzugestehen.“

Sechzehn Jahre lang arbeitete die Maschine still und geräuschlos. Wenn auch dann und wann von den Diplomaten, denen ja die „Ueberwachung“ der Maßregeln der Pforte oblag, ein Steinchen zwischen die Räder geworfen wurde, so empfand doch die Pforte dies lediglich als einen harmlosen Scherz. Da plötzlich, im August 1894, gab die Maschine, weil sie zu scharf arbeitete, einen hörbaren Ruck und das aufgeschreckte Europa wurde durch das Massacre von Sassun in unliebsamer Weise an die Existenz von Armenien erinnert. Wie in einem aufgestörten Bienenkorb surrte es in der hohen Politik durcheinander. Eine Untersuchungs-Kommission wurde eingesetzt und 108 Protokolle abgefaßt, gar nicht zu reden von den Bänden diplomatischer Noten, die zusammengeschrieben wurden. Die Hohe Pforte konnte gar nicht begreifen, was eigentlich los war; denn was in Sassun passierte, war ja nur ein etwas markanteres Specimen der üblichen Verwaltungsmethode und nebenbei noch eine kleine Belastungsprobe von dem, was die europäische Diplomatie sich etwa in Armenien gefallen lassen würde.

Es ist kein Zweifel, die Verlegenheit, die den kontinentalen Kabinetten durch die auch allzu unvorsichtige innere Politik der Pforte bereitet wurde, kam dem Auswärtigen Amt in London gerade recht und die Wiederaufnahme der Verhandlungen über die armenischen Reformen im Februar 1895 entsprang keineswegs nur dem humanitären Bedürfnis der liberalen Regierung. Aber die Prozesse der Zeitgeschichte auf zwei oder drei Drähte zurückzuführen, die in den Kabinetten von London, Petersburg und Paris von mehr oder weniger reinlichen Händen gezogen werden, und den elementaren Ausbruch der orientalischen Krise, die voraussichtlich nur mit dem Zusammenbruch des türkischen Reiches enden wird, nur Machenschaften etlicher mehr oder weniger klugen Diplomaten zur Last zu legen, das heißt denn doch das Drama der Weltgeschichte aus der Konstruktion eines Kasperle-Theaters begreifen zu wollen.

Das Massacre in Sassun hatte ein so grelles Licht auf die Vernichtungspolitik der Pforte in Armenien geworfen, daß, auch abgesehen von dem Nutzen, den ein schärferes Vorgehen im Orient in der allgemeinen politischen Lage England bringen konnte, das liberale Kabinett kaum umhin konnte, der Entrüstung des englischen Publikums Rechnung zu tragen und endlich an eine Einlösung der Verpflichtungen der Cyprischen Konvention zu denken. Den Verhandlungen wegen Einführung von Reformen in Armenien, die England Ende März 1895 bei der Pforte aufzunehmen begann, schlossen sich im April Rußland und Frankreich offiziell an. Am 11. Mai überreichten die Dragomanen der englischen, französischen und russischen Botschaft der Pforte den von den drei Botschaften ausgearbeiteten Reformplan für die östlichen Provinzen Kleinasiens, der die Billigung der drei Mächte gefunden hatte. Dieser erstreckte sich auf die sechs Provinzen Erzerum, Bitlis, Wan, Siwas, Charput, Diarbekir und forderte eine durchgreifende Reform der Verwaltungs-, Justiz- und Polizei-Behörden, des Gefängnis- und Steuerwesens und energische Maßregeln gegen die Uebergriffe der Hamidieh-Truppen und die Raubzüge der Kürdenstämme. Die Verwaltungs-, Justiz- und Polizei-Behörden sollten im Verhältnis der Bevölkerung aus muhammedanischen und christlichen Beamten zusammengesetzt werden. Eine Statistik aus dem Jahre 1880 giebt für die in Frage kommenden sechs Vilajets folgende Zahlen: Christen: 1 0548 000 (Armenier: 780 800 – Syrer: 251,000 – Griechen: 23 000) Muhammedaner 776 500 (Türken: 220 000 – Tscherkessen: 100 000 – Kurden 380 000 und sonstige 76 500).

Die Hohe Pforte wurde durch diesen Reformplan, hinter dem die drei im Orient interessiertesten Großmächte standen, in die äußerste Verlegenheit geführt, um so mehr, da auch die anderen Mächte, Deutschland eingeschlossen, die Pforte drängten, demselben zuzustimmen. Eine bürgerliche Gleichberechtigung der Christen, auch nur vor dem Gesetz, wie viel weniger in der Verwaltung, duldet das muhammedanische Religionsgesetz nun und nimmermehr; gestattet dasselbe doch nicht einmal das Zeugnis eines Christen gegen einen Muhammedaner vor Gericht. Allerdings hatte alles, was der Reformplan forderte, im Wesentlichen schon der Hatt-i-Humayum von 1856 für das ganze türkische Reich auf dem Papier bewilligt, aber derselbe war ein toter Buchstabe geblieben, schon aus dem einfachen Grunde, weil er niemals die Sanktion des Scheikh-ül-Islam erhalten hat und erhalten konnte. So sehr sich die Diplomaten der Hohen Pforte wanden und drehten und durch monatelange Verhandlungen der Zustimmung zu dem Reformplan auszuweichen suchten, so blieb doch endlich dem Sultan nichts anderes übrig, als zu der langen Reihe unerfüllter Versprechungen auch noch diese hinzuzufügen und den Reformplan zu unterschreiben. Schon am 14. September hatte die Pforte in einem Telegramm an Rustem Pascha, den Botschafter in London, in der Hauptsache ihre Zustimmung zu den Reformen erklären lassen und nach weiteren Verhandlungen fand die armenische Reformfrage am 22. Oktober durch eine Verbalnote des Großvezir Said Pascha ihren diplomatischen Abschluß. Ueberdies gab der Sultan in einem Schreiben an Lord Salisbury sein Ehrenwort, daß die Reformen unverzüglich und buchstäblich in Ausführung gebracht werden sollten. Aber die Hohe Pforte hatte aus den Verhandlungen mit den Mächten diesmal die Ueberzeugung gewonnen, daß nach deren Willen die Reformen mehr als Papier sein sollten, und daß, wollte sie die thatsächliche Ausführung dennoch hintertreiben, irgend etwas in den Provinzen passieren müßte, was de facto die Reformen unmöglich machen würde.

Anfang Oktober, nachdem die armenische Demonstration in Konstantinopel eine gute Handhabe geboten, hatten die Civil-, und Militär-Behörden in den Provinzen schon ihre Instruktionen aus dem Palast erhalten. Die Vernichtungsmaschine der türkischen Verwaltung wurde auf Volldampf gestellt und binnen drei Monaten war die Zermalmung der armenischen Bevölkerung in allen Provinzen, für die Reformen zugestanden waren, und darüber hinaus, der Hauptsache nach vollendet.

Wir fragen noch einmal: Was sind die armenischen Massacres? Sie sind eine administrative Maßregel der Hohen Pforte, welche zum einzigen Motiv und Zweck hatte, die von den Großmächten durchgesetzten armenischen Reformen durch Vernichtung des armenischen Volkes selbst endgültig unausführbar zu machen.

Ein hoher Beamter in der Türkei, der außergewöhnliche Gelegenheit hatte sich zu unterrichten, sprach sich über die armenischen Massacres folgendermaßen aus: „Lassen Sie sich durch die albernen Regierungsberichte nicht täuschen, welche alle diese Metzeleien auf die Armenier schieben wollen: es war der vorbedachte Plan der Regierung, die Armenier zu züchtigen; der Sultan war ergrimmt, weil er gezwungen war, ihnen Reformen zuzugestehen und so ließ er, nachdem er den Reformplan unterschrieben hatte, die Armenier umbringen, um seine Macht zu zeigen.“

Vor kurzem ging eine Mitteilung durch die Presse, wonach der Zar gegenüber dem während der Drucklegung dieser Schrift verstorbenen Fürsten Lobanoff sich folgendermaßen ausgesprochen habe:

Die Türkei scheint uns hintergehen zu wollen. Ich kann und will aber nicht gestatten, daß die Greuelthaten weiter fortgesetzt werden, bis vielleicht der letzte christliche Unterthan des Sultans abgeschlachtet worden ist. Dies muß ein Ende haben.

Hier ist des Rätsels Lösung gefunden; aber für die unter der Erde liegenden 10 000 Armenier leider zu spät.

Soll es aber wirklich dazu kommen, daß die europäische Politik auf dem seit Jahren beschrittenen, verhängnisvollen Wege umkehrt, so muß zuerst die schmerzliche Wahrheit zur allgemeinen Erkenntnis kommen, daß niemand anders die furchtbare Vernichtung des armenischen Volkes herbeigeführt hat, als die Politik der christlichen Großmächte selbst. Hätten die Mächte nicht den von den Armeniern bewohnten östlichen, sondern den von Griechen bewohnten westlichen Provinzen Kleinasiens ihr Interesse zugewendet, man kann mit Sicherheit behaupten, daß diese das gleiche Schicksal wie Armenien betroffen hätte. Denn es bestand in Armenien selbst keinerlei Ursache, die den Armeniern den vernichtenden Haß der türkischen Regierung hätte zuziehen können. „Die armenische Bevölkerung ist eine friedfertige gewesen“, bezeugte noch im September der auswärtige Minister Turkhan Pascha den Dragomanen Englands, Frankreichs und Rußlands, „bis sich ihnen die Sympathieen der Großmächte zuwandten.“ Hätten die Mächte Armenien sich selbst überlassen, die Armenier wären noch heute, zwar kein glückliches, aber nicht das unglücklichste Volk, das jetzt der Erdboden trägt.

Aber nicht, daß die europäischen Diplomaten sich eines armen, zertretenen Volkes angenommen, ist zu tadeln; wohl aber, daß sie es in einer Weise gethan, daß eben dieses Volk die Zeche für ihre Politik mit seinem Blut bezahlen mußte.

Es ist immer noch besser an der Brutalität einer barbarischen Regierung, als an dem Mitleid civilisierter Völker zu Grunde zu gehen. Dann wäre doch wenigstens dies arme Volk von den Moralpredigten unwissender Zeitungsschreiber und den Krokodilsthränen europäischer Diplomaten verschont geblieben und nicht um eine ehrliche Leichenpredigt gebracht worden. Oder thue ich den Diplomaten Unrecht? Man sagt, daß das Krokodil, wenn es auf Raub lauert, die Stimme eines weinenden Kindes annimmt. Paßt der Vergleich etwa nicht? Was war sonst der Sinn jener Verträge, die unter dem Vorwande der Humanität, wie es den Anschein hat, nur der brutalsten Interessenpolitik dienen sollten?

Oder giebt es vielleicht in dem christlichen Europa noch ein anderes Ideal von Politik? Es wäre wirklich an der Zeit, es zu beweisen.

Aber was geht die ganze Geschichte Deutschland an? In Wahrheit, die deutsche Diplomatie hat sich durch keinerlei strafbare Handlungen in dem ganzen Lauf der Jahre seit dem Berliner Vertrag an dem armenischen Volk versündigt. Sie hat es vorgezogen die Freundschaft des Sultans nicht einmal durch Sympathie-Kundgebungen für das Opfer auch ihrer Politik zu verscherzen. Ihre Richtschnur war ihr vorgezeichnet durch das Diktum von den „Knochen des pommerschen Grenadiers“, deren kein Bulgare, geschweige denn ein Armenier, wert zu achten sei. Wohl niemals hat ein zu seiner Zeit zutreffendes bon mot eine so nachhaltige politische Macht ausgeübt, als dieses glücklich geprägte Wort. Und von der Tyrannei, die ein kraftvoller plastischer Ausdruck über die hausbackene Prosa logischer Gründe ausüben kann, mag sich jeder überzeugen, der heut oder morgen, im harmlosen Gespräch, für eine Wandlung unserer Orient-Politik eine Lanze zu brechen versucht und die Erfahrung machen muß, daß auch die stärkste an dem Panzer dieses Wortes zersplittern muß. Ist denn überhaupt schon davon die Rede, daß deutsches Blut an den Gestaden des Bosporus fließen muß? Zwischen höflichen diplomatischen Noten und einer Kriegserklärung ist wahrlich für die europäische Diplomatie wenn sie nur einen ernstlichen Willen besitzt, Spielraum genug, um bei der ohnmächtigen Hohen Pforte etwas durchzusetzen. Oder ist es eine würdige Sache, wenn eine christliche Großmacht auf die Nerven der Machthaber im Yidiz Kiosk eine so zärtliche Rücksicht nehmen zu müssen glaubt, daß sie das Wort Armenien im kaiserlichen Palast am liebsten überhaupt nicht mehr über die Lippen bringt? Da legt man doch wahrlich an die Nerven der Türken, die sich am goldenen Horn bequem auf ihren Divans ausstrecken und an die Nerven armenischer Christen, die ihnen von denselben Türken unter den ausgesuchtesten Qualen aus dem Leibe herausseciert werden, einen etwas verschiedenen Maßstab an.

Wenn, wie von maßgebender Seite versichert wurde, der deutschen Diplomatie in der Kampagne der letzten 10 Monate nur die eine Richtschnur vorgezeichnet war, „jede Berührung mit der armenischen Frage wie das höllische Feuer zu fliehen“, so wird ja freilich niemand verlangen, daß sich dieselben an dem einmal angezündeten Feuer die Finger hätte verbrennen sollen. Aber das ist die Frage, ob es nicht des mächtigsten Volkes auf dem Kontinent würdiger gewesen wäre, im Verein mit andern, das höllische Feuer zu löschen, statt nur darauf bedacht zu sein, auf gutem Fuße mit denen zu bleiben, die es angezündet. Ja, ein höllisches Feuer ist es in der That! und auch die deutsche Politik wird nicht unschuldig daran sein, wenn dasselbe binnen kurzem um sich fressen und die ganze Christenheit des Orients in seinen Flammen verzehren sollte. Es wird ja freilich dann immer noch Zeit sein, daß sich die Diplomaten am goldenen Horn auf eines der beiden Stationsschiffe retten, die sie so besorgt gewesen sind mit einem umfangreichen diplomatischen Notenwechsel sich zur Verfügung zu stellen.


8. Satyrspiel.

Man muß es der türkischen Regierung lassen, daß sie nicht überall unempfindlich gewesen ist gegenüber der Notlage von 500 000 Menschen, die durch ihre Maßregeln aller ihrer Habe, ihrer Häuser, ihrer Saaten, ihrer Vorräte, ihrer Kleider und Betten und des täglichen Verdienstes beraubt, dem Hungertode ausgeliefert worden waren. Wir lassen es allerdings dahingestellt, ob es eine Regung des Mitleids war, die die Behörden hie und da bewog, sich der Notleidenden anzunehmen, oder ob die Regierung nur das Bedürfnis fühlte, nach der barbarischen Zermalmung und Ausplünderung der Bevölkerung auch noch den Ruhm der Humanität in Anspruch zu nehmen und gegenüber den wiederholten Anzapfungen der Botschafter, als einen Beweis ihres guten Gewissens, auf ihr „großartiges Unterstützunqswerk“ hinweisen zu können. Wir wollen die von der Regierung angeordneten Wohlthätigkeitsmaßregeln, um nichts, was zu ihren Gunsten spricht, zu unterdrücken, nicht verschweigen und alles, was wir in Erfahrung darüber haben bringen können, namhaft machen.

Zunächst wurde in umfassender Weise durch die Behörden für die Notleidenden gesorgt, indem Hunderte und Tausende von Armeniern den Gefängnissen überwiesen wurden, erstens, wie ausdrücklich geltend gemacht wurde, um sie vor den Gewaltthätigkeiten des türkischen Pöbels zu schützen und sodann, um ihnen, nach Zerstörung ihrer Häuser, eine sichere Unterkunft zu verschaffen. In Arabkir z  B. wurden nach Ermordung von 4000 Armeniern sorgfältige Nachforschungen von der Polizei angestellt und alle überlebenden armenischen Männer, ohne Ausnahme, in das Gefängnis übergeführt. Dasselbe Beispiel wurde überall, wo es Gefängnisse gab, befolgt.

Auf welcher Stufe der Humanität das türkische Gefängniswesen steht, darüber kann man sich aus den Berichten von Dillon und aus einem Dokument am Schluß dieses Artikels unterrichten. Sodann wurden große Scharen von Flüchtlingen aus den Bergdistrikten durch militärische Eskorten in die Städte transportiert. Als dem Mutessarif von Marasch Vorstellungen gemacht wurden, daß die Soldaten und Baschi-Bozuks die Flüchtlinge bei diesen Transporten auf die brutalste Weise behandelten, antwortete er: „Laßt sie sterben!“ Umgekehrt wurden auch die Flüchtlinge aus den Städten wieder in die Dörfer zurückexpediert. Von Wan aus, wohin 30 000 Menschen aus dem Vilajet geflüchtet waren, wurden auf Veranlassung der Regierung 3000 wieder auf’s Land zurückgeschickt; aber alle Dörfer, in die sie heimgekehrt waren, wurden auf’s neue angegriffen und ausgeplündert, so daß ihnen alles, was von der Herbstplünderung noch zurückgeblieben war, abgenommen wurde. Der Kommissär der Pforte, auf dessen Versicherungen diese Leute zurückgeschickt wurden, drückte sein tiefes Bedauern über diesen unglücklichen Vorfall aus und schickte den Polizeichef sofort nach den nächsten Dörfern. Eine Abteilung von zehn Mann kam auf dem Schauplatz der Unruhen an, als die Kurden noch in Sicht waren, da es denselben nicht möglich war, sich bei dem schlechten Zustand der Wege mit den Heerden gestohlener Schafe schnell vorwärts zu bewegen. Die Gendarmerie feuerte einige Schüsse in die Luft und parlamentierte dann mit den Räubern, worauf diese unbehelligt weiterzogen und die Polizei in das geplünderte Dorf einkehrte. Dort ließen sie sich nieder, bis jedes übriggebliebene Huhn und alle andern noch vorrätigen Lebensmittel aufgezehrt waren.

In den Städten wurde unter das verhungerte Volk hie und da Brot verteilt, was allerdings selten mehr als einige Tage dauerte. In Sivas wurde sogar bekannt gemacht, daß die Regierung 4000 Kilo Saatkorn verteilen würde. Nach sorgfältiger Nachforschung ergab sich aber, daß nur in einem einzigen Dorf etwas Korn abgeliefert worden war und auch dort zu spät für die Saat.

Auch Unterstützungsgelder wurden hier und da durch die Zaptiehs den Dörfern überbracht. In einem Dorf bei Erzerum bestanden dieselben aus 2 Medjidies (7,20 Mk), wofür sich fünf berittene Soldaten, die diesen Betrag abzuliefern hatten, mit ihren Pferden zwölf Tage lang einquartierten und verköstigen ließen. In Arabkir ließ die Behörde an Witwen und Waisen Getreide für 14 Tage verteilen (pro Person 2 Oka, ca. 5 türk. Pfd.). Es war der ganze Rest, der von den verbrannten Vorräten übrig war. Aber auch diese Unterstützung wurde nur, und zwar unter der Bedingung der schändlichsten Zumutungen, den hübschesten unter den Witwen und jungen Mädchen zuteil. Auch vom Sultan selbst gespendete Gaben wurden in den zwangsweise konvertierten Orten verteilt, wobei billiger Weise diejenigen bevorzugt wurden, die die besten Beweise ihrer Bekehrung zum Islam abgelegt hatten.

Nicht nur die Regierung, auch die türkische Bevölkerung zeigte hier und da Regungen des Mitleids gegen die Armenier. In Severek z. B. fanden während des Massacres einige Christen bei befreundeten Türken Aufnahme und wurden dort, während sich ihre Wirte eifrig an der Plünderung ihrer Häuser beteiligten, verköstigt. Hernach, als sie in die leeren Häuser zurückkamen, liehen ihnen ihre mildthätigen Freunde das notdürftigste an Betten und Kleidern, das sie brauchten, waren auch nicht so hartherzig ihnen Almosen zu verweigern und ließen sie um ein paar Pfennige geringe Dienste in ihren Häusern thun. In Aintab forderten sogar die vornehmen Moslems die Armenier auf, ihnen ihre noch übrige Habe zu überlassen, um, bis bessere Zeiten kämen, darauf acht zu geben.

Da die Regierung die Ausplünderung der Armenier selbst angeordnet hatte, so gereicht es ihr um so mehr zur Zierde, daß sie an einigen Plätzen einen öffentlichen Beweis ihres Rechtsgefühls abgelegt hat, indem sie die Rückerstattung des gestohlenen Gutes sofort in die Hand nahm. Es war allerdings nicht der hundertste Teil und nur wertloser Plunder, der unter dem Gaudium des türkischen Pöbels auf öffentlichen Plätzen an solche ausgeboten wurde, die geneigt waren zu dem Schaden auch noch den Spott zu haben. Aber die Regierung hatte wieder einmal vor den Augen aller Welt ihre Unparteilichkeit in der Handhabung der Gerechtigkeit bewiesen. Nach der Erfahrung, daß Diebe die besten Detektivbeamten abgeben, bestellten die Behörden diejenigen, die sich bei der Plünderung hervorragend ausgezeichnet hatten, zur Wiederauffindung des verlorenen Gutes, wodurch unter Umständen der Raub in andere Hände, aber sicher nicht in die der Eigentümer zurückgelangte.

Von verschiedenen Orten wird berichtet, daß die Gendarmen, die die Regierung beauftragte, gestohlenes Gut zurückzuerstatten, nicht allein nichts ablieferten, sondern unter Drohungen, die noch übrig gebliebenen Häuser zu verbrennen, von den Leuten noch bedeutende Summen erpreßten. Wer kann es auch den armen Teufeln verargen, wenn sie Schmucksachen oder Wertgegenstände, die sie irgend jemand abnahmen, als Abschlagszahlung auf ihren Sold, den sie seit einigen Monaten nicht gesehen, behielten, und wer kann von ihnen eine so tiefe psychologische Einsicht verlangen, daß sie die Befehle von Vorgesetzten, die sie zuvor zum Plündern angestellt, ernst nehmen sollten, wenn sie von ebendenselben mit der Auffindung der Diebe beauftragt wurden. Der Erfolg war denn auch darnach, wie jenes Dorf bei Erzerum beweist, dem 12 000 Schafe gestohlen wurden und Dank des Einschreitens der Regierung ganze zwei Schafe – ein Bock und ein Mutterschaf – zurückgegeben wurden, sicher mit der Intention, daß dieselben im Lauf der Jahre nach angemessener Vermehrung den Schaden wieder einbringen sollten. Auch ließ es sich zuweilen die Behörde angelegen sein, den Kurden einen Teil der Beute wieder abzujagen, was dann verdoppelte Feindschaft der Kurden gegen die Christen, obwohl dieselben nichts zurückerhielten, zur Folge hatte.

Es konnte nicht anders sein, als daß eine so gründliche Vernichtung des Wohlstandes von acht großen Provinzen zur Folge hatte, daß bei dem völligen Darniederliegen von Handel und Wandel eine erschreckende Ebbe in den Kassen der Regierung eintrat, und niemand kann es den Behörden verargen, daß sie den Verteilern von Unterstützungsgeldern die Steuerbeamten auf dem Fuße folgen ließ, ein Umstand, der dazu mitwirkte, daß man endlich auch europäischen Hilfskomitees die Austeilung von Geld und Gaben gestattete. Konnte doch wenigstens durch die Steuererhebung ein Teil derselben wieder in die Kassen der Regierung übergeführt werden. Auch die Steuerbeamten hatten in den Massacres gelernt, wie man zu Gelde kommt. Einen armen Kerl von Armenier, der nicht einen Para zu geben hatte, marterten sie, indem sie eine Kette herbeischleppten und sie so um seinen schmalen Rücken legten, daß sich die Schlinge zuzog, wenn man daran zerrte. Sie warfen die Kette über einen hohen Balken und zogen den Mann daran in die Höhe, indem sie ihm zugleich die Steuerquittung präsentierten. Er bedauerte daß er kein Geld habe, noch etwas ausbringen könne. Sie zogen aber so lange, bis ihm das Blut aus Mund und Nase strömte und ließen ihn dann, weil doch nichts von ihm zu haben war, noch eine Weile hängen.

Der Ehrgeiz der Behörden, die Linderung des Notstands der Armenier selbst in der Hand zu behalten, war ebenso groß, als einst der Wetteifer der Großmächte für die Beglückung das armenischen Volkes. Als sich daher in den Monaten nach den Massacres europäische Hilfskomitees bildeten, um die Hunderttausende von Notleidenden vor dem Hungertode zu bewahren, wurde zunächst die Verteilung von Lebensmitteln von der Hohen Pforte und den Valis direkt untersagt oder, wo man damit ohne Erlaubnis angefangen, suspendiert. Eine ganze Zeit lang wurden die Agenten der Hilfskomitees, wenn sie bei der unerlaubten Ausübung von Humanität ertappt wurden, einfach arretiert, so daß sich niemand mehr zu diesem lebensgefährlichen Beruf hergeben wollte. Es ist nur der unbeugsamen Energie des englischen Botschafters zu danken, daß sich die Hohe Pforte in dieser Beziehung allmählich europäischen Anschauungen anbequemte. Inzwischen aber waren Hunderte von Menschen Hungers gestorben. Ein besonders lehrreicher Fall passierte in Biredjik. Man wußte, daß dort 200 Familien, die zwangsweise zum Islam übergetreten waren, von ihren neuen Glaubensgenossen einfach dem Hungertode überlassen wurden; nicht einmal ihre Betten und Kleider hatte man ihnen zurückgegeben. Da machte sich der englische Missionar Dr. Christie mit einigen Wagen voll Lebensmitteln und Kleidern und einer Empfehlung des Vali von Aleppo auf den Weg. Das Schreiben des Vali muß einen merkwürdigen Inhalt gehabt haben. Denn als Dr. Christie nach Biredjik kam und dem Kaimakam seine Aufwartung machte, wurde er zwar von vorn bekomplimentiert, aber hinten herum vereitelte man den Zweck seiner Reise. Die Hungerleidenden wurden durch die Polizei verhindert mit ihm zusammenzukommen und mußten sich begnügen, ihn über die Dächer hin durch Kreuzeszeichen, die sie machten, zu verständigen, daß sie gern wieder Christen würden. Die große armenische Kirche diente als Moschee, die kleinere protestantische, die gerüchtweise als Abtritt benutzt wurde, war zwar frisch gereinigt worden, immerhin lagen noch lose Blätter einer alten Bibel in höchst verdächtiger Beschaffenheit herum. Der Aufenthalt des Dr. Christie wurde, da auch um ihn herum mit Flinten geschossen wurde, mit jedem Tage abenteuerlicher, so daß er sich am vierten Tage entschloß, mit seiner ganzen Bagage von Liebesgaben unverrichteter Dinge wieder abzuziehen und nach Aleppo zurückzukehren. Als er sich vor der Abreise bei dem Kaimakam beklagte, hatte dieser die Unverfrorenheit ihm zu erklären, er glaube wohl, daß die Armenier nichts von ihm wissen wollten, da sie als neubekehrte Muhammedaner nunmehr zu stolz seien, etwas von einem Christen anzunehmen, er möge ihm aber von Aleppo eine Ordre mitbringen, daß er die Gaben ohne Unterschied an alle bedürftigen Muhammedaner verteilen könne, dann wolle er ihm dieselben abnehmen. Das ist alles, was wir an Maßregeln der türkischen Regierung zur Linderung des Notstandes haben feststellen können.

Da die Hohe Pforte als eine der Großmächte, die im europäischen Konzert Sitz und Stimme haben, auch den Ehrgeiz besitzt, was die Handhabung der Justiz betrifft, hinter keinem civilisierten Staat zurückzustehen, so fragt man sich billig, was dieselbe gethan hat, um gegenüber dem ungeheuren Maß von Schandthaten, die von ihren eigenen Beamten, Offizieren und Soldaten, von den kurdischen Räubern und dem türkischen Pöbel verübt wurden, ihres Richteramtes zu walten. Wir citieren pflichtschuldigst, was der Botschafterbericht hierüber mitteilt: „Der Gerichtshof in Trapezunt, der eingesetzt wurde, um die Urheber des Verbrechens vom 8. Oktober zu ermitteln, beschränkte sich darauf, den Muhammedanern Ratschläge zu erteilen, während Armenier en masse arretiert wurden, unter dem Vorwande, sie vor den Anschlägen der Muhammedaner zu schützen. Von diesen wurden 8 zum Tode und 25 zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilt.“

„In Erzerum wurde der Kurdenscheikh Hussein Pascha Haideranli, obwohl die schwersten Beschuldigungen gegen ihn Vorlagen, zwar berufen, um über seine Ausführung Rechenschaft abzulegen, aber gleichwohl nicht vor das Kriegsgericht gestellt.“ „In Charput wagte die Behörde, da die Offiziere, Soldaten und Gendarmen an der Plünderung teilgenommen haben, nicht gegen irgend jemand einzuschreiten.“ „Die Kommission, welche in Aleppo dem Verwaltungsrat beigeordnet wurde, um die Unruhestifter abzuurteilen, funktioniert in einer kläglichen Weise.“ „Zu Ak-Hissar wurden nach dem Massacre einige Arretierungen vorgenommen, aber mehrere Tscherkessen, und zwar die am meisten kompromittierten, entwischten aus dem Gefängnis, und mit der Bestrafung war es nichts.“

Dies ist alles, was die Botschafter, die über die Haltung der türkischen Behörden nach den Massacres sorgfältig Buch geführt haben, über die Handhabung der türkischen Justiz und die Bestrafung der Schuldigen haben ermitteln können. Doch nein – beinahe hätten wir einen außerordentlichen Fall übergangen. „In Erzerum wurden 200 Plünderer, Türken und Lazen, arretiert, von denen die Behörde,“ wie der Botschafterbericht sich ausdrückt, „hundert füsiliert zu haben behauptet.“ Es ist schade, daß zu diesem außerordentlichen Schauspiel nicht einige Konsuln als Zeugen eingeladen wurden, umsomehr da man weiß, daß die türkischen Gefängnisse für alle Muhammedaner, die sich an Christen verschuldet haben, die merkwürdige Einrichtung haben, daß, wenn sich vorn die Gefängnisthür schließt, eine andere Thür hinten sich öffnet. Um übrigens dem Rechtsbewußtsein eine öffentliche Genugthuung zu geben, werden alle armenischen Delinquenten, sogar in Konstantinopel, auf offener Straße coram publico gehängt.

Daß von den hohen Beamten und Offizieren, die bei den Massacres in besonders hervorragender Weise mitgewirkt haben, die meisten alsbald abberufen und auf andere hohe Posten befördert wurden, ist ebenso weise als billig, da dadurch jeder weiteren Untersuchung über das Geschehene vorgebeugt wurde.

Gleichwohl konnte sich die Hohe Pforte nicht nachsagen lassen, daß sie nicht die allerenergischsten Anstrengungen gemacht hätte, die Anstifter alles Unheils zu ermitteln und zu bestrafen. Dies ist ihr denn auch gelungen, wie folgende Mitteilung der Frankfurter Zeitung beweist:

„Konstantinopel, 12. August. Nachdem die Pforte die befremdende Forderung an das gemischte Konzilium des armenischen Patriarchats gestellt hatte, von nun an für alle Ausschreitungen, die sich in armenischen Kreisen ereignen würden, die volle Verantwortlichkeit zu übernehmen, war es vorauszusehen, daß weder Monsignore Izmirlian noch sein Beirat auf eine derartige absurde Forderung eingehen würden und es vorzögen, ihre Entlastung zu nehmen. Die Regierung, die von vornherein diesen Zweck verfolgte, ging aus der Sache als Siegerin hervor und hat nun alle Fäden in der Hand, die armenische Frage nach ihrem Gutdünken zu regeln. Bei der Wahl des einstweiligen Stellvertreters des Patriarchen verfiel man im Palais zunächst auf den Bischof Kirkiß Ohannesian, eine Kreatur der Kamarilla. Welche geheimen Intriguen jedoch im letzten Augenblicke mitgespielt haben mögen, oder aber ob derselbe einigen der gegenwärtigen Machthaber denn doch nicht so ganz verläßlich erschien, kurz, im letzten Augenblicke entschied man sich für den gewesenen Erzbischof von Brussa Bartholomäus Tschomtschian, dessen bisherige Gesinnung alle Zweifel beseitigt, da er als langjähriger Polizei-Spion eine monatliche Gratifikation von 30 türk. Pfd. bezog, und so wurde derselbe zum Locum tenens ernannt.“

Ein türkisches Gefängnis.
Bericht eines Gefangenen.

„Ich schreibe aus dem Gefängnis von G. diese Zeilen. Wir waren unser gegen 500 Personen aus M. Y. O. und andern Orten als politische Gefangene. Ein Teil von uns wurde freigesprochen, da selbst das türkische Gericht mit all seiner Gewandtheit nicht imstande war, sie irgend welcher erdichteter Vergehen zu überführen.

Um Unterlagen für die Anklagen zu gewinnen, wurden zunächst die entsetzlichsten Mittel angewendet, die dazu dienen sollten, Aussagen zu erpressen: Folter, Prügel, Entehrung, Entblößung, Hunger und Durst traten an die Stelle des gewöhnlichen Untersuchungsverfahrens. Der kalte Winter mußte dazu mitwirken, diese Zwangsmittel noch unerträglicher zu machen. Einige Lappen als Betten, Brocken von Brot, das die Mäuse zernagt, als Speise und stinkendes Wasser aus schmutzigen Gefäßen als Trank, alles war darauf angelegt, die Bedürfnisse, den Hunger und Durst der Gefangenen mit möglichster Spärlichkeit zu befriedigen. Alte verrostete, mit Kugeln und Bomben belastete Ketten, eiserne Handschellen und Stockhölzer kamen zum Vorschein. Sie wurden einigen um den Hals gelegt, andern um die Füße, den meisten um die Hände, um sie zu Aussagen zu nötigen, die die Regierung und die Gefängnisbeamten zu hören wünschten. Man hielt es für geeigneter, für derartige Untersuchungen die langen, furchtbaren Winternächte zu wählen. Manchmal hörte man um drei Uhr, manchmal um Mitternacht, manchmal gegen Morgen aus allen Ecken des Gefängnisses weinendes und stöhnendes Schluchzen oder auch herzzerreißendes Geschrei: „Ich weiß nicht!“ „Ich habe es nicht gesehen!“ „Ich sterbe!“ oder dergl., worunter sich das schauerliche Gebrüll und Fluchen der türkischen Gefangenen mischte. Das Heulen und Wehklagen unter den Schlägen der Bastonnade, die Nacht für Nacht in den türkischen Gefängnissen an jedermann verabreicht wird, das Geschrei anderer, die nackt auf Schneehaufen gelegt, anderer, die mit glühenden Eisenstäben gebrannt werden: „Es ist genug, ihr Unmenschen!“ „Ich erfriere!“ „Ich brate!“ „Tötet mich und rettet mich von den Qualen!“ wird übertönt von dem Gesang und Lärm, den die Gefängnisbeamten veranstalten. Auf solche Weise folterte man viele. Von den Folterqualen habe ich gerade diejenigen erwähnt, die mir in die Feder kamen, es wurden jedoch sowohl gegen Jünglinge als auch gegen ältere Männer so unerhörte Mittel angewendet, die zu beschreiben die Feder sich sträubt. Diese tierischen Entehrungen wurden auf Befehl der Beamten durch die im Gefängnis befindlichen türkischen Mörder und Räuber ausgeführt. Gerade die Weihnachtstage und die Neujahrsnacht wurden mit solchen barbarischen Martern ausgefüllt. Da dem Gefängnis immer neue Scharen Verhafteter zugeführt wurden, mußten selbst die verpesteten Abtritte als Schlafstätten dienen und die Gefängnishöfe trotz des Winterfrostes als Aufenthaltsort für die an die Fenster geketteten Ankömmlinge.

Jeder Gefangene wurde gezwungen, alles, was er bei sich hatte und seine Lage hätte erträglicher machen können, herzugeben. Mehrere von den Verhafteten lagen in den Kohlenkammern; die am Tag gekaufte Kohle wurde auf sie geschüttet, worauf dann noch ein Wasserguß kam. Wohlhabende junge Leute und angesehene Kaufleute wurden auf diese Weise so entstellt, daß sie wie Gespenster aussahen und schmutzig wurden wie die Schweine.

Ich zähle die Namen derjenigen Gefangenen auf, die den größten Martern unterzogen wurden:

1. Name. Ort. 40 Jahre alt, Lehrer. Um 7 Uhr abends waren zwei Kaufleute mit dreißig bewaffneten Gendarmen gekommen, um unter dem Vorwande der Haussuchung alle seine Sachen, Kisten und Kasten kurz und klein zu schlagen, seine Schriften und Bücher mitzunehmen und ihn selbst ins Gefängnis zu werfen. 48 Stunden läßt man ihn hungern und dursten, sechs Tage auf nackter, feuchter Erde liegen, wobei mit der Bastonnade nicht gespart wurde.

2. Name. Ort. 41 Jahre alt. Nach einer wilden Prügelei läßt man ihn sich in Schmutz setzen und schüttet ihm große Töpfe kalten Wassers über den Kopf. – Es war Winter. – Dann rupft man ihm die eine Hälfte seines Schnurrbartes aus, und, nachdem man ihm die Arme festgebunden, hängt man ihn, den Kopf nach unten, auf. Die nun weiter erfolgten Prozeduren lassen sich nicht beschreiben. Nur soviel sei angedeutet, daß sich mit den Entleerungen dieses Gefangenen andere Gefangene auf die ekelhafteste Weise besudeln mußten und zuletzt mit einem glühenden Eisenstäbchen nach Art einer Steinoperation eine entsetzliche Tortur an dem fast schon zu Tode gequälten verübt wurde. Acht Tage lang wurde der Aermste solchen Foltern unterzogen.

3. Name. Ort. 23 Jahre alt, Lehrer, wird hart geprügelt und vier Stunden lang, den Kopf nach unten, aufgehängt. Sodann läßt man ihn die ganze Nacht durch auf nasser Erde knieen. Endlich bindet man ihm ein Seil um den Hals und schleift ihn eine ganze Strecke auf dem Boden entlang, so daß wenig gefehlt hätte, er wäre erstickt.

4. Name. Ort. 30 Jahre alt. War aus Versehen an Stelle eines andern mit gleichem Namen arretiert worden. Muß 24 Stunden lang im Schmutz sitzen, während Eimer mit Eiswasser über ihn gegossen wurden. Sodann legt man glühende Eisen an seinen Leib und foltert ihn in derselben, nicht zu beschreibenden Weise wie Nr. 2. Als dann der Gouverneur erfährt, daß er nicht der richtige sei, läßt er ihn kommen und sagt ihm: „Mein Sohn, schenke dein Recht, man hat dich aus Versehen mitgebracht.“

5. Name. Ort. 18 Jahre alt, hatte eben seine Studien vollendet. Er wird erst entblößt, unmenschlich durchgehauen, mit dem Kopf nach unten aufgehängt und in dieser Stellung von neuem mit Ruten geschlagen. Endlich muß er hungernd und durstend tagelang im Schmutz liegen. Selbst der Gouverneur prügelt den Armen eigenhändig im Gerichtsgebäude durch.

6. Name. Ort. 45 Jahre alt, wird, obwohl irrtümlich arretiert, zehn Tage lang den entsetzlichsten Qualen und Schändungen preisgegeben, sodann vier Tage lang an in der Höhe eingeschlagenen Nägeln aufgehängt. Dem Tode nahe bittet er um Wasser. Der Gendarm bringt einen Topf mit Wasser, führt ihn aber nur bis zu seinem Munde und schlägt ihm dann den Topf an den Kopf, sodaß er blutet. Nun meldet man dem Aufseher, er sei am Sterben. Man nimmt ihn von den Ketten ab und begräbt ihn als Toten nackt in den Schnee. Einige Stunden bleibt er in dieser Lage – bis man erfährt, daß der Arme irrtümlich arretiert sei. Da man seinen Tod fürchtet, wird er sofort freigelassen.

Es folgen noch siebzehn ähnliche Fälle. Wir denken aber, es ist genug und übergenug. Wir bemerken nur noch, daß gegenwärtig die Gefängnisse so gefüllt sind, daß nur ein Teil der Gefangenen in der Nacht liegen kann. Im übrigen sind die Gefängnisse durch aufgehäuften menschlichen Unrat und jede Art von Ungeziefer derart verpestet, daß man einem Vieh solchen Aufenthalt nicht geben würde. Wenn sich jemand erkühnt, gegen die erfahrene Behandlung zu protestieren, wird er sofort in noch dunklere Kerker geworfen und jeder Willkür seiner unmenschlichen Wächter preisgegeben.


9. Hungersnot.

Daß mit Ende vorigen Jahres und noch gegenwärtig in Armenien eine Hungersnot von den riesigsten Dimensionen herrscht und daß dort 500 000 Menschen, um nicht Hungers zu sterben, thatsächlich auf die Unterstützung der Christen des Abendlandes angewiesen sind, davon weiß man in Deutschland, dem Lande, das sich schon gerühmt hat, an der Spitze der Humanität zu marschieren, nichts.

Die hohe Politik gebietet, daß in Armenien weder Massacres stattgefunden haben, noch eine Hungersnot herrscht, und die gehorsame offiziöse Presse – und wer alles gehört in der orientalischen Frage nicht dazu? – verschweigt tapfer alles, was man über Armenien weiß und wissen kann; denn dem guten Freunde, dem Türken gegenüber, hat eine christliche Politik das Gebot des Katechismus zu befolgen: „sondern ihn entschuldigen, Gutes von ihm reden und alles zum besten kehren.“

Wenn irgendwo in der Welt eine Feuersbrunst, eine Ueberschwemmung, eine Seuche zu berichten ist, und unsere gewissenhafte Presse läßt sich in der Beziehung keine Versäumnisse zu schulden kommen, werden Sammlungen für Notleidende veranstaltet, Wohlthätigkeitskonzerte und Vorstellungen gegeben, Bazare arrangiert, Kirchenkollekten ausgeschrieben; hohe und höchste Herrschaften stellen sich an die Spitze von Hilfskomitees und nichts wird unterlassen, bis das öffentliche Gewissen die Beruhigung hat, daß die Not behoben[WS 6] ist. Aber mit Armenien ist das etwas anderes. Da gebietet die hohe Politik dem Mitleid Schweigen, und ein politisch wohlerzogenes Publikum nebst allem was offiziell ist, Presse so gut wie Kirche, gehorcht. Der Hungersnot in Armenien zu steuern, überläßt man dem „perfiden“ England und den Antipoden im christlichen Amerika. In der That, hätte es nicht in England und Amerika ein großes christliches Publikum gegeben, das nicht nur dank seiner unabhängigen Presse politisches Urteil, sondern auch ein Herz für ein armes, zertretenes Volk besaß: – alles, was in Armenien aus den Massacres noch übrig geblieben war, Hunderttausende von Menschen, die jeder Habe, der Kleider, der Betten, der Häuser und des täglichen Brotes beraubt waren; Hunderttausende von Witwen und Waisen wären dem Hungertode erlegen.

Die Endabsicht der türkischen Vernichtungspolitik wäre erreicht, die armenische Frage aus der Welt geschafft und das europäische Konzert hätte nur noch die marcia funebre zu spielen. Aber Gott sei Dank, England und Amerika haben durch großartige Opferwilligkeit, die Millionen aufbrachte, das armenische Volk davor gerettet, daß nicht, was dem Schwert entronnen war, wie es die Hohe Pforte wünschte, dem Hungertod erlag.

Aber auch Deutschland hat etwas für Armenien gethan. In den sogenannten Pietistenkreisen Nord- und Süddeutschlands sind durch christliche Blätter, von denen die politische Presse ebenfalls nichts weiß, von kleinen Leuten 100 000 M. zusammengebracht worden. Die evangelische Allianz hat in christlichen Kreisen durch ihren Aufruf auch 60 000 M. gesammelt. Einige Tageszeitungen, wie der Reichsbote, haben sich daran beteiligt, und die Kreise der „Christlichen Welt“, durch die mannhafte Wahrheitsliebe ihres Herausgebers aufs beste über Armenien unterrichtet, haben hervorragend dazu beigetragen. Auch Kaiserswerth hat für armenische Waisenkinder etwa 80 000 M. erhalten. Das ist ungefähr alles, was Deutschland für Armenien gethan hat. Also nur in den Kreisen entschiedensten Christentums hat sich das Mitleid mit den Opfern der europäischen Politik durch eben diese Politik nicht zum Schweigen bringen lassen. Es ist ein merkwürdiger Zufall, daß Frankfurt a. M. nahezu die einzige Stadt in Deutschland gewesen ist, welche durch ihre politische und christliche Presse sich des armenischen Volkes wahrhaft angenommen hat. Es sei der Frankfurter Zeitung zur Ehre gesagt, daß sie die besten und unparteilichsten Berichte über Armenien gebracht hat und noch bringt. Unabhängig von ihr sind D. Rades „Christliche Welt“ und das in 90 000 Exemplaren verbreitete Erweckungs-Blättchen „Für Alle“ des Pfarrer Lohmann, beide schon seit Anfang des Jahres unentwegt für Armenien eingetreten. Pfarrer Lohmann hat allein etwa ½ aller in Deutschland aufgebrachten Beiträge für Armenien gesammelt. Neuerdings hat sich die „Deutsche Hilfsaktion zur Linderung des Notstandes in Armenien“ gebildet, mit einem Central-Komitee in Berlin und Zweig-Komitees in allen Teilen Deutschlands, und hat ein umfassendes Hilfswerk für den Notstand in Armenien organisirt.

Warum aber weiß das offizielle Deutschland nichts von der Hungersnot in Armenien? Vielleicht findet die Thatsache, daß 100 000 Erschlagene etwa 400 000 Waisen und Witwen zurücklassen mußten, und daß ein völlig ausgeplündertes Volk, dem man sogar die Kleider vom Leibe gestohlen, die Betten geraubt, die Vorräte verbrannt und die Wohnstätten zerstört hat, in der täglichen Gefahr des Hungertodes schwebt, immer noch keinen Glauben. Aber man sollte denken, daß die Hilfskomitees, die dieses arme, nackte, obdachlose und hungernde Volk durch zehn Monate durchgefüttert haben, wissen müßten, wie es um dasselbe steht. Vielleicht wendet sich einmal ein eifriger Reporter unserer großen Tagesblätter, die doch sonst so gern alle Welt interviewen, an den Vorsitzenden des Internationalen Hilfskomitees, in dem nur Deutschland nicht vertreten ist, und bittet ihn um Auskunft darüber.

Inzwischen aber wollen wir mit einigen Zahlen aufwarten. Vor kurzem wurde in den zwanzig über Armenien verteilten europäischen Hilfsstationen Umfrage gehalten, wie viel Menschen Hungers sterben würden, wenn die Unterstützungen aufhören würden. Aus 8 Stationen waren die Nachrichten eingetroffen. Die Zahlen, die sie nach genauen Listen aller unterstützten Distrikte und Dörfer aufgestellt, ergaben zusammen 270 000 Menschen. Im ganzen betrügt die Zahl der Notleidenden, soweit wir bestimmtere Angaben haben, im

Vilajet Trapezunt    ca.  4 000 
  "     Erzerum       "  40 000 
  "     Bitlis           20 000
  "     Wan              97 000
  "     Charput         100 000
  "     Sivas           180 000
  "     Diarbekir        30 000
  "     Aleppo           50 000
  "     Adana            17 000
  "     Angora            8 000
                       ---------
                        540 000

Es giebt aber in allen Vilajets zahllose abgelegene Distrikte, in die noch kein Mensch gekommen ist, um Nachforschungen anzustellen.

Wir lassen, um einen persönlicheren Eindruck des entsetzlichen Elendes zu erwecken, einige beliebig herausgegriffene Berichte aus dem Notstandsgebiet folgen.

Charput. Wenige Armenier sind imstande gewesen die Frühlingssaat auszusäen; und die Bevölkerung ist ohne Ernte geblieben. Bei der Regierung ist sogar von den Lokalbehörden sofortige Hilfe nachgesucht worden, um eine allgemeine Hungersnot für den nächsten Winter abzuwenden.

In der Stadt Urfa allein sind 12 000 Notleidende, worunter 10 000 Witwen und Waisen, ihrer Ernährer beraubt, dem bittersten Mangel ausgesetzt sind.

Malatia. In den Tagen nach dem Massacre flohen alle Armenier aus ihren brennenden Häusern, nur um ihr Leben zu retten und behielten nichts, außer den oft ärmlichsten Kleidern, die sie anhatten, so daß viele die blutigen Kleider der Ermordeten anziehen mußten. Von 2000 geplünderten Familien mit 8000 Seelen giebt es nur 50 Familien, die nicht in der äußersten Verzweiflung sind. Zarte Frauen, deren Männer und erwachsene Söhne ermordet wurden, deren Häuser verbrannt, die aller Habe beraubt sind, leben in Hütten, dumpfen Kellern; früher Wohlhabende jetzt in Lumpen gekleidet, haben nicht Brot zu essen. Viele von ihnen gehen bettelnd von Thür zu Thür oder stehen Almosen heischend auf dem Markt. Da sitzen in ihren Läden, die welche sie zu Witwen gemacht und ihnen alle irdische Habe geraubt haben, werfen ihnen eine Handvoll Kupfermünzen hin und spotten der armen Frauen, daß sie wie die Hunde einige Brosamen zu erwischen suchen. 2750 Betten sind erforderlich, denn seit dem Massacre schlafen die armen Leute auf Stroh und Lumpen; ganze Familien schlafen der Wärme wegen auf einem Haufen, indem die älteren oft die kleineren als Kopfkissen gebrauchen; 2000 Kleidungsstücke sind erforderlich, wenn jede Familie nur eins erhalten soll, denn nur sehr wenige haben mehr als ein Kleidungsstück und von 7500 völlig mittellosen Personen braucht jeder 40 Para (18 Pfennig) allein täglich für Brot. Viele sterben vor Hunger und Kälte. Wenn diese Tausende von Witwen und Waisen in diesem Zustande gelassen werden, müssen sie im Jammer zu Grunde gehen und vor Verzweiflung sterben. Kein Brot, keine Kleidung, keine Betten, keine Arbeit, aber Krankheit fast in jeder Familie. Dieser Zustand ist schlimmer als der Tod.

Arabkir. Von mehr als 400 christlichen Häusern sind nur noch 30 Familien übrig, die keine Erschlagenen zu beklagen haben, aber alles leidet Hunger und Blässe. Es giebt kein Mittel, sich ein Stück Brot zu verschaffen. Die kleinen Kinder irren ganz nackt und ohne etwas zu essen zu haben herum und schreien: „Hatz, Hatz!“ „Brot, Brot!“

Sivas. Die Berichte aus den Dörfern sind ziemlich überall die gleichen. Ein großer Teil der Häuser sind verbrannt, alle Kleidungsstücke, Betten u. s. w. fortgetragen. die Ueberlebenden vergraben sich in Stroh, Kinder sterben vor Kälte und Hunger. Viele Leute verwundet und ohne Pflege.

Ein Offizier sagt, er habe Frauen gekannt, die nach einem türkischen Dorfe gegangen wären, um ein wenig Brot zu erbetteln und die vor Hunger und Kälte auf dem Wege gestorben wären.

In der Provinz Erzerum wird jetzt über 50 000 Personen Unterstützung gewährt. Es wird kein Versuch gemacht, die Armut zu beseitigen; der einzige Gedanke ist, die Leute am Leben zu erhalten.

Ein junger Mann, der 90 Meilen durch gefährliche Gegenden zu Fuß zurückgelegt hatte, bat um Unterstützung. Sein Bericht war wie folgt: Es sind 85 armenische Häuser in dem Dorfe, in das er gehört. Jedes Haus wurde geplündert, und viele Personen wurden getötet. Das Gemetzel fand statt, als das Korn auf den Feldern reif war. Niemand wagte es, aus dem Dorfe hinauszugehen, um es zu ernten. Die Kurden kamen, teilten die Felder unter sich, schnitten das Korn und trugen es fort. Das jetzige Elend ist unbeschreiblich. Mehrere Personen sind vor Hunger gestorben. Der Vater und Bruder des jungen Mannes wurden getötet, und er hat seine Frau und mehrere kleine Kinder im tiefsten Elend zurückgelassen, um zu kommen und von der Not seines Dorfes und dreier ebenso bedürftiger Dörfer zu berichten.

In der Provinz Charput wurden 60 000 Menschen in 300 Dörfern unterstützt. Wir geben aus einem Brief über den dortigen Notstand folgendes wieder:

Ich möchte einige Worte über die Lage sagen. Ich habe versucht, die Zukunft hoffnungsvoll anzusehen und zu glauben, daß die Leute sich wiederaufrichten würden; und ich habe die eingehendsten Berechnungen gemacht über die Hülfe, die notwendig sein wird, um das Volk vor Hungersnot zu schützen, aber ich sehe, daß die Frage wächst, je weiter wir kommen, und die Not nimmt eine immer schrecklichere Gestalt an.

Vor zwei Wochen besuchte ich einige der Dörfer mit Dr. Hubbell und Herrn Fontana, dem englischen Vice-Konsul.

Das erste Dorf war Sorseri, eine halbe Meile von Mezreh, einem vormals großen und wohlhabenden Dorfe. Von 160 Häusern sind 155 verbrannt worden, aber das Dorf liegt dem Regierungssitz so nah, daß hier weniger zu fürchten ist als an entfernteren Orten. Sie haben auch Bäume, und in vielen Höfen sahen wir Bauholz, was auf die Absicht schließen läßt, ihre Häuser wieder zu bauen. Dies freute uns, und wir kamen zu der Ueberzeugung, daß dieses Dorf sich mit wenig oder gar keiner Hülfe erholen würde. Wir gingen an Sorseri vorüber und an Bank, wo das Kloster, die Kirche und alle Häuser in Trümmer liegen, und kamen nach Tadem. Hier ritten wir auf einen hohen Hügel, der das Dorf beherrscht, und die ganze Verwüstung war uns sichtbar. Das Dorf enthielt früher 250 Häuser, von denen jetzt 200 schwarze Trümmerhaufen sind. Das einzige Bauholz, das wir sahen, lag neben den Häusern der Aghas, die mit Zwangsarbeit einen prachtvollen Konak bauten.

Nicht ein Christ hat versucht, ein Obdach für sich zu bauen. Sie leben in den Trümmern ihrer Häuser, und der Typhus hat beinah in jeder Familie ein Opfer gefordert.

Von da ritten wir nach Huelu. Dies war früher das größeste und reichste Dorf auf der Ebene von Charput. Hier bemerkten wir wieder die Mühe, die man sich gegeben hatte, die Häuser zu zertrümmern. Sie sind mit Lehm beworfen und haben Lehmdächer, so daß sie von außen nicht leicht anzuzünden sind; aber die Angreifer brachten Petroleum, womit sie die Häuser eins nach dem ändern von innen in Brand steckten. So gründlich wurde das Werk verrichtet, daß die Leute nur noch Ställe, Keller und Ecken ihrer verbrannten Häuser zum Bewohnen haben.

Wir suchten die Leute dazu zu bewegen, ihre Häuser wiederzubauen; aber sie antworteten uns mit dem Worte, das man mehr wie jedes andere im Lande hört: Furcht! „Furcht und Hoffnungslosigkeit“ bezeichnen die Lage. Sie sagen: „Wir fürchten uns, irgend etwas zu unternehmen, denn wir könnten wieder angegriffen werden.“ Ein türkischer Knabe hat zu den Christen gesagt: „Ich sagte euch vorigen Herbst, was geschehen würde, und ihr glaubtet mir nicht. Jetzt fangt ihr an, eure Felder zu bestellen, aber ich sage euch, eure Arbeit wird vergeblich sein.“

Von allen Seiten kommen dieselben Berichte. Aus der Gegend von Palu hört man Gerüchte von neuem, wachsendem Schrecken. In den Dörfern von Aghun bedrohen die Türken wieder die Einwohner. Die Christen fühlen, daß es keine Sicherheit für sie giebt, und sie haben keinen Mut, die Hände ans Werk zu legen. Ich fragte: „Was werdet ihr im Winter anfangen, wenn ihr euch kein Obdach während des Sommers errichtet?“ Sie antworteten: „Wir werden sterben. Wir haben Alles verkauft, was uns geblieben war. Unsere Hilfsmittel sind erschöpft. Wenn uns nicht geholfen wird, werden wir sterben.“ Sogar in den Dörfern bei Charput, in Keserik, Morenik und andern wird nichts gebaut. Die Leute sagen: „Wenn uns keine Hilfe wird, so werden wir versuchen, aus dem Lande zu entfliehen.“

Wir suchen sie zum Bauen zu ermuntern, aber wir können ihnen kein Geld für Bauholz anbieten; wir dringen in sie, ihre Felder zu bestellen, aber wir können ihnen kein Vieh geben. Die Herbstsaaten gingen unbeachtet auf, und die Frühlingssaat ist nicht gesäet worden. Soweit Menschen sehen können, ist es wahrscheinlich, daß diejenigen, die im vorigen Winter dem Tode entronnen sind, im nächsten Winter sterben müssen, wenn ihnen keine dauernde Hülfe gebracht wird.

Unsere Unterstützungen haben einfach das Volk am Leben erhalten. Wie nah sie dem Verhungern gekommen sind, können Sie aus einem andern Dorf erfahren, was ich heute besucht habe, aus Korpey.

Es bestand früher aus 150 Häusern, von denen vielleicht 15 stehen geblieben sind; die andern sind gänzlich zerstört. Nur die Mauern zeigen, welch schönes Dorf es früher war. Die Leute gehen in Lumpen; es sind keine Betten da, außer in 12 Häusern. Den ganzen Winter haben sie ohne Decken auf dem Fußboden geschlafen. Die Spitzen aller Bäume um das Dorf sind abgehauen worden, so daß nur die bloßen Stämme geblieben sind. Die Dorfbewohner haben im Winter die Aeste abgehauen, um sie in der Stadt gegen Lebensmittel zu verhandeln. Weder Schafe, noch Vieh ist vorhanden, nur zwei Hunde sind noch da. In den Häusern fand ich weder Korn, noch andere Lebensmittel. In einigen Häusern war ein wenig Brod, in allen lagen kleine Bündel Gras, was jetzt ihre Hauptnahrung ist. Die Gesichter der Frauen und Kinder waren abgezehrt und gelb. Ich fragte einen kleinen Jungen, ob er heute Brod gegessen hätte, und er antwortete: „Nein“ – er hatte nur Gras gegessen. Andere Kinder sagten, sie hätten ein Stück Brod so groß wie meine Hand gegessen. Als wir uns auf den Erdboden setzten, von den meisten Dorfbewohnern umgeben, rauften einige Kinder fortwährend Gras aus, das sie samt den Wurzeln aufaßen. Soweit ich es beurteilen kann, liegen nur wenige Tage zwischen diesen Leuten und dem Hungertode. Ich hoffe ihnen noch vorher helfen zu können. Ich kaufe Korn, um es ihnen zu bringen. Aber was mich erschreckt, ist die Zukunft. Hier kann man sich einen Begriff von der Hoffnungslosigkeit machen. Sie sagen uns auch, daß die Beiträge geringer werden. Das scheint darauf hinzudeuten, daß dem Volk nichts bevorsteht, als ein langsamer Tod. Ich spare an den Gaben, trotz des beständig zunehmenden Druckes, und mache eine Liste der Dörfer, denen, im Sommer wenigstens, keine Unterstützung gewährt werden soll, ich verweigere Betten und Kleider, so sehr sie auch gebraucht werden – aber trotz allem wird unser Geld alle werden und was dann?

Können Sie uns keine Hoffnung geben? Die Leute sehen uns bittend an und fragen: „Ist keine Hoffnung für uns?“ Ich gebe diese Frage weiter. Vielleicht wird es licht werden; aber jetzt ist es sehr dunkel, außer wenn wir aufwärts blicken. … Die Bitten aus Arabkir, Palu und Peri sind dringend. Wir brauchen 100 000 Pfund für diese Gegend, haben aber nicht gewagt, darum zu bitten. Ja, wir selber können die Lage nicht vollständig übersehen. Nur wenn die furchtbare Not uns umlagert, so begreifen wir sie. Hören Sie nicht auf, zu suchen uns Hilfe zu schaffen.

Gestern besuchte ich noch ein anderes Dorf, Aschwan. Ich war 13 Stunden lang im Sattel, außer der Zeit, die ich brauchte, um in jedes einzelne Dorf zu gehen. Dieses Dorf hatte 75 Häuser, von denen die Hälfte verbrannt ist. Die besten Häuser sind verbrannt worden. Dies geschah durch benachbarte Türken und Kurden etwa acht Tage nach der Plünderung des Dorfes durch Kurden aus Dersim.

Die Leute haben noch mehr bewohnbare Zimmer als in Huelu oder Korpey. Es ist sehr schmerzlich, von Haus zu Haus zu gehen und keine Betten, keine Küchengeräte zu finden – an einer Stelle sah ich, daß eine alte Petroleumkanne zum Kochen gebraucht wurde – die Häuser waren leer. In Aschwan fand ich fast in jedem Hause ein wenig Speisevorrat, einige Handvoll Mehl oder Mais, aber nur so viel, um höchstens zwei Tage davon zu leben.

Wir haben sie während des Winters am Leben erhalten. Wenn Sie uns keine Hilfe geschickt hätten, so müßten Tausende umgekommen sein. Aber was mich tiefer bewegt als die thatsächliche Not, ist die Hoffnungslosigkeit ihrer Lage, wenn keine dauernde Hilfe gebracht wird. Besonders ist Vieh nötig. Das Pflügen für die Herbstsaat muß jetzt vorgenommen werden, so lange noch Feuchtigkeit im Boden ist. Wenn der Boden ausgetrocknet und hart ist, können sie nicht pflügen. Wenn sie nicht pflügen, so werden sie im nächsten Jahr keine Ernte haben, und in vielen Dörfern wird das Land den Christen genommen werden. Im Dorfe Aschwan sah ich, daß Türken und Kurden aus den Nachbardörfern kamen und die Felder pflügten. Einige nahmen das Land mit Gewalt, andere haben es von den Besitzern, die es denjenigen überlassen, die Vieh haben, um es zu bebauen. Wenn die Christen ihre Güter verlieren, so ist es nur eine Frage der Zeit, wenn sie den Türken und Kurden auch ihre Häuser geben müssen, um in die Stadt zu ziehen, wo sie von Almosen leben, oder sterben müssen.

In dem Gebiet von Charsandjak werden die Christen in Scharen von den Landeigentümern ausgewiesen. Um Gottes willen bringen Sie das Komitee dazu, dies zu bedenken, und uns, wenn es möglich ist, Hülfe zu schicken!

Manchmal bin ich versucht, alles liegen zu lassen und nach Konstantinopel und von dort nach Europa zu gehen, um es den Leuten klar zu machen, wie verzweifelt die Lage ist. Ich habe acht Dörfer besucht, und die Augen sind mir geöffnet worden, aber wie können Leute das verstehen, die tausend Meilen von uns entfernt sind? Sollte man diese Sache nicht endlich ernstlich erwägen? Mein Herz ist schwer und ich kann den Druck des Mangels und des Elends, dem ich keine Abhilfe schaffen kann, kaum ertragen. Als ich neulich durch ein Dorf kam, kamen alle Einwohner auf die Straße, und riefen weinend: „Wir sind hungrig, hungrig, hungrig“, als wir weiterritten. Dieser Ruf verfolgt mich. Ich habe ihnen etwas Hilfe geschickt, um den Tag des Verhungerns weiter hinauszuschieben, aber ihre Felder liegen brach, ihre Häuser sind zertrümmert, und keine Hand ist ausgestreckt, um sie emporzuheben und aufzurichten. Was soll das Ende sein?

Heut Morgen kamen Dorfleute von Terjan, dem Mittelpunkt einer Gruppe von Dörfern, hierher, um Hilfe zu suchen. Ihr Aussehen war ein beredter Apell an das Mitleid. Sie hatten eine Entfernung von 18 Stunden zurückgelegt, über zwei schneebedeckte Bergrücken. Ein Mann, welcher wohlhabend genug gewesen war, um 18 oder 20 Gäste bequem in seinem Haus zu beherbergen, war jetzt in Lumpen gehüllt – und zwar so spärlich, daß sie kaum für den Sommer genug Schutz gewährt hätten. Einem andern, einem Riesen von Gestalt, waren beide Arme verkrüppelt durch die grausamen Hiebe der Soldaten. Die Dorfleute, von welchen diese Abgesandten kamen, hatten Mangel an allem, was ein menschliches Wesen gebraucht; kein Unterbett oder Decke war ihnen geblieben und während der Wintermonate haben sie alle in Stroh und Heu geschlafen. Auf folgende Weise haben sie sich für die Nacht eingerichtet; erst warfen sie Stroh auf die Erde und dann legten sich alle bis auf einen so nah als möglich nebeneinander; dieser deckte sie mit Heu zu und kroch dann selbst, so gut er konnte, unter das Heu. Einige dieser Dörfer wurden mit Unterbrechungen 40 Tage lang von den Kurden geplündert.

Aus einem Dorfe entflohen alle, welche dem Schwert entronnen waren, in die Berge, wo sie 3 Wochen blieben, ohne zu wagen, in ihre Häuser zurückzukehren. Während dieser Zeit hatten sie keine anderen Kleider als die, welche sie gerade anhatten, als der Ueberfall stattfand. Das Wetter war bitterkalt. 20 Kinder wurden diesen Dorfleuten in den Bergen geboren, aber nicht eins dieser Kinder überlebte diese Tage der Flucht. Von diesen Dörfern wurden 10 Mädchen geraubt, und nicht eine von ihnen ließ man zurückkehren. Die Türken und Kurden sind besonders hinter den Jungfrauen her. Bräute sind etwas weniger ihren Vergewaltigungen ausgesetzt; so machten sich die Dorfleute daran und verheirateten alle ihre Mädchen vom 8. Jahre ab – als ein Schutzmittel gegen die teuflischen Bestien. In den 32 Dörfern, welche die Terjan-Gruppe ausmachen, ist nicht ein unverheiratetes Mädchen älter als acht Jahre zu finden. – Wenn nur die Schreckenszeit ein Ende nehmen wollte, so würde dieses arme geduldige Volk den zerrissenen Faden wieder aufnehmen und das Leben von neuem beginnen; aber sie leben noch unter der Angst und dem Schrecken eines täglichen Todes. Sie legen sich niemals nieder mit der Gewißheit, bis zum Morgen sicher zu sein und stehen niemals auf mit der Zuversicht, daß sie die nächste Nacht sehen werden. Sie wagen nicht von einem Dorf in das andere zu gehen; ihre Frauen wagen kaum aus der Thür zu gehen; sie sind in der traurigsten Gefangenschaft. Trotz aller Bemühungen, ihre Frauen zu beschützen, wagt doch kein Mann, seine Frau sein eigen zu nennen oder seine Tochter zu beschützen, wenn die straflos ausgehenden Schurken von Soldaten kommen. Die Kurden und die regulären Soldaten Seiner Majestät kommen in ein Dorf und lassen sich dort tagelang nieder, sie verlangen, was sie nur wollen und es muß zur Stelle geschafft werden. So verarmen oft Dorfleute, welche nicht in der üblichen Weise ausgeplündert wurden.

Die Art, wie diese armen Leute einem ins Gesicht sehen und fragen, was wird noch aus uns werden, genügt, um ein Herz von Stein zu zerschmelzen. Das Flehen, welches sich in ihren Zügen malt, wenn sie einen anblicken, um einen geringsten Schatten von Hoffnung auf Hilfe zu entdecken, ist so ergreifend, daß man oft davonlaufen möchte, um seine Gefühle in Thränen zu erleichtern. Die Nervenanspannung beim Anhören der Erzählungen dieser armen Dorfleute ist oft so stark, daß man sich ganz erschöpft von solcher Unterredung zurückziehen muß. Es ist nur eins, was hilft diese Anspannung zu erleichtern, und das ist die offenbar aufrichtige Dankbarkeit dieser Leute für das geringste Mitleid. Der Segen Gottes komme auf alle, die auch nur einen Becher kalten Wassers zu ihrer Erquickung gaben.

Besuch in Gurun. Ich besuchte den Ort vor kurzem. Die Lage des Volkes dort ist nicht zu beschreiben. Da, wo zuvor ein entzückender und blühender Ort lag, ist jetzt, soweit das Auge reicht, nichts als eine wüste, tintenschwarze Masse zu sehen, ein Bild von dem, was ein furchtbares Kriegsfeuer ausrichten kann. Die umgestürzten Wände von 15–1600 Häusern, die zuvor mitten in wohlgepflegten Fruchtgärten traulich eingenistet waren, legen nur noch Zeugnis ab von vernichtetem Glück und Wohlstand. Als ich von einem zerstörten Haus ins andere ging, hörte ich nur den durchdringenden Schrei der Angst von den Lippen der Frauen oder der Mütter, welchen man alles genommen hatte. Das überlebende Volk war in Rudeln zusammengepfercht in vereinzelten Ställen, hie und da in einem einzelnen Raum, der von einem einst wohnlichen Haus übrig geblieben war. Das elende Volk war in Lumpen gekleidet, die nur mit einem Strick um die Lenden festgebunden waren, das war alle ihre Kleidung, kaum genug, ihre Blöße zu bedecken. Mütter baten mich um eine Hilfe zur Wiedererlangung ihrer gefangenen Töchter. Es ist, wenn man alles zusammennimmt, schwer, ein herzzerreißenderes Bild zu denken als das, was ich sah. Nach genauer Berechnung sind 5075 Personen in Gurun, die täglicher Unterstützung bedürfen, wenn sie nicht verhungern sollen. Seit 2½, Monat haben sie keine Unterstützung von der Regierung erhalten, nicht ein Weizenkorn, und was von Gurun gilt, gilt auch von vielen ändern Dörfern, wo überdies viel Krankheit und besonders Typhus herrschen soll.

Das Dorf Gighi bei Cäsarea hatte nur 35 Häuser und 250 Seelen. Als die Plünderer nahten, flohen die Leute und retteten auf diese Weise die Kleider, die sie anhatten. Als sie zurückkehrten, fanden sie kaum mehr als die leeren Wände wieder. Alles Tragbare war fortgeschafft worden, sogar die Webstühle. Ich ging in jedes Haus, öffnete Mehlkästen, und leuchtete mit einem Licht in alle dunkeln Ecken. Zwei Stunden genügten für diese Besichtigung. Die meisten Häuser bestanden aus nur zwei Zimmern. Das erste Zimmer wies nur vier Lehmwände und einen Lehmfußboden auf, in dessen Mitte ein Loch war. In diesem Loch war ein Feuer, um das sich fünf bis zehn Kinder oder Erwachsene gelagert hatten, die ihre Zeit damit zubrachten, sich zu wärmen. In vielen Häusern waren die Mehlkästen zerschmettert worden, und es gab nichts zu untersuchen. Wenn ich fragte, was sie morgen essen würden, antworteten sie: „Gott weiß es, wir haben heute geborgt, vielleicht können wir morgen wieder etwas borgen.“ Im ganzen Dorfe war nicht ein einziges Bett, kaum etwas, was man eine Decke hätte nennen können, nichts als kleine Haufen von Lumpen, die sie sorgfältig aufbewahrten, als das Einzige, womit sie sich Nachts bedecken konnten. Wir wollen ihnen Unterstützungen senden, um sie am Leben zu erhalten.

Aus der Gegend von Gemarck haben wir Boten, die von der beginnenden Hungersnot berichten, und wir müssen sofort das Korn verteilen, das wir hier gekauft haben.

Bericht aus Hulakesch: Die Leute fristen ihr Leben, indem sie die junge Saat ausreißen, um die Saatkörner zu nehmen, Gras essen u. s. w. Die Regierung gab ihnen etwas Getreide, das ihnen die Kurden wieder abnahmen.

Die schreckliche Plünderung des Distrikts Wan im Herbst – inzwischen hat eine zweite im Juni stattgefunden – hat die Bevölkerung von allem entblößt. Man sieht überall Leute, die ihre Blöße mit Krautbüscheln bedecken und von dem leben, was sie irgend auf den Feldern finden. Tausende von Ausgehungerten kommen in einem unbeschreiblichen Zustande täglich in die Stadt und bitten um Brot und Kleidungsstücke. Tausende von Frauen und Mädchen wandern in den schneebedeckten Straßen obdachlos und hungrig umher. Sie sind von ihren Räubern aller Kleidungsstücke bis auf ein Hemd beraubt worden, und mitunter ist ihnen nur ein Flick gelassen worden, um ihre Blöße zu verhüllen. Die Hilfskomitees sind weit nicht imstande, die Not zu lindern. Der Preis des Mehls ist fast doppelt so hoch, als früher und das Volk hat weder Samen noch Vieh, um die Landarbeit wieder aufzunehmen.

Eine der größten Schwierigkeiten bereitete von Anfang an die Sorge für die Kranken. Die Tausende, die infolge der Metzeleien und Plünderungen im Herbst aus den Dörfern in die Stadt flüchteten, fanden eine Art Unterkunft in den Häusern der Stadt, aber die benutzten Quartiere waren meistens Ställe, oder dunkle feuchte Vorratsräume, deren Fußboden die bloße Erde war. In solchen Wohnungen ist es sehr schwer, gesund zu bleiben, und der Zustand der Kranken ist im höchsten Grade elend. Den in solcher Lage befindlichen Kranken Arzneien zu verschaffen war einfach ein Hohn. Die Wahrscheinlichkeit, daß sie gebraucht, oder richtig gebraucht werden würden, wäre sehr gering gewesen. Selbst dann aber auch, würden die richtig angewendeten Arzneien ohne Nahrung und ohne Pflege wenig ausrichten. Einige Besuche bei solchen Kranken überzeugten mich davon, daß ganz andere Verhältnisse geschafft werden müßten, besonders da diese Verhältnisse viel Typhus erzeugen, der weiter um sich greift.

Aleppo ist von Flüchtigen überschwemmt, die nichts, rein gar nichts mehr haben, als ihren siechen Körper voller Wunden und Verstümmelungen. In den Morddistrikten ist natürlich nichts gesäet und daher auch nichts zu ernten, die Not ist dort gräßlich. Was die türkischen Soldaten an Nahrungsmitteln u. s. w. fanden, nahmen sie mit, was sie nicht mitnehmen konnten, wurde der Zerstörung und dem Feuer überliefert, auch die Häuser. Das Land ist eine Einöde. Die Leichen liegen noch jetzt größtenteils unbeerdigt da und verbreiten pestilenzialischen Geruch, daß die Folge Epidemien sein müssen, die schon aufzutreten beginnen. Ein Wagen nach dem andern kommt mit blutigen Kleidungsstücken an, welche den Christen geraubt sind, Frauen und Kinder werden nackt ausgezogen, wenn man sie in die Gefangenschaft zu schleppen keine Lust hat, nicht das geringste Kleidungsstück wird ihnen belassen.

In Zeitun sind Typhus und schwarze Pocken ausgebrochen und drohen epidemisch zu werden.

In dem Kloster Mar Kriarkos, etwas links von der Straße die von Diarbekir nach Sert führt, brach die Cholera aus, so daß täglich 50 Todesfälle vorkamen. In dieses Kloster und den Ort hatten sich nämlich 1500 Familien aus der Umgegend geflüchtet, von denen 2–3000 Personen in den Klostergebäuden selbst eingepfercht waren. Auch in Sert brach die Cholera aus. Infolge der Verarmung der Gegend und der allgemeinen Unsicherheit fängt auch die arabische und kurdische Stadtbevölkerung, besonders die kleinen Handwerker und Arbeiter, an, Mangel zu leiden, da sie keine Beschäftigung finden.

Ein von 29 Witwen unterschriebener Brief, mit Bitten um Hilfe, ist aus einem Dorf bei A... erhalten worden. Diese Witwen sagen: „Unsere Männer waren vor den Metzeleien gestorben, und wir waren arm, aber wir hatten Arbeit, und unsere reichen Nachbarn halfen uns mitunter. Die Kurden kamen, sie achteten weder Reich noch Arm, und nahmen alles, was sie fanden. Jetzt ist uns nichts geblieben, und wir können weder Arbeit noch Almosen im Dorfe erhalten. Einige von uns haben erwachsene Söhne, aber auch diese haben weder Arbeit noch Handwerkszeug.“ Diese armen Frauen schließen ihren Brief mit Ausdrücken der Dankbarkeit für die geringe, ihnen gewährte Hilfe. Sie sagen: „Möge der Geber alles Guten Sie mit allen himmlischen Gaben erfüllen und Sie jetzt und ewig glücklich machen.“

Gott sei Dank hat, den Winter und Sommer über, durch das internationale Hilfskomitee ein großartiges Unterstützungswerk geschehen können. Das Komitee in Konstantinopel, unter dem Vorsitz des englischen Botschafters, hat die Gelder, die von England und den vereinigten Staaten und in geringem Maße von ändern Ländern kommen, auch beträchtliche Summen, die dem armenischen Patriarchen zur Verfügung gestellt werden, zur Organisation einer umfassenden Hilfeleistung verwendet. Die Verteilung geschieht durch die von den amerikanischen Missionen, im Verein mit den armenischen Bischöfen geleiteten 22 Centralstationen, die ein Netz von Hilfsstationen über ihre Distrikte ausgebreitet haben. Es werden überall Listen von den Allerbedürftigsten aufgestellt und sorgfältig durch Komitees von Protestanten und Gregorianern geprüft. Jede Person, von der man annimmt, daß sie fortkommen kann, ohne Hungers zu sterben, wird gestrichen. Das Geld wird mit der größten Sorgfalt verteilt und in kleinen Beträgen den einzelnen übergeben, nur gerade genug, um sie am Leben zu erhalten. Gegen 300 000 Menschen wurden bisher unterstützt und vom Hungertod gerettet.

Aber die Gaben aus England und Amerika haben im Laufe des Sommers in erschreckender Weise nachgelassen. Die Folgen der europäischen Politik, für die es eine Hungersnot in Armenien nicht geben darf, haben sich auch hier geltend gemacht. Obwohl die Hilfskomitees mit der allergrößten Sorge dem kommenden Winter entgegensehen – für die Verteilung von Kleidern und Betten hat bei der Größe der Hungersnot noch wenig, für den Aufbau der Hunderttausende von zerstörten Häusern nichts geschehen können – obwohl sie der ungeheuren Größe der Not ratlos und verzweifelnd gegenüberstehen, so erlahmt doch auch in dem christlichen England und Amerika die bisherige Opferfreudigkeit.

Es ist an der Zeit, daß das evangelische Deutschland seine Pflicht thut und in die Lücke einspringt. Die Gerechtigkeit gebietet es zu sagen, daß die katholische Kirche und das katholische Volk in Frankreich, Italien, Oesterreich und auch Deutschland, dank der Haltung der katholischen Presse, es an Unterstützung der katholischen Armenier und der stark geschädigten katholischen Missionen in Armenien nicht hat fehlen lassen. Der Papst hat 50 000 Lira gespendet, in Frankreich hat der Generaldirektor des „Oeuvre d’Orient“ P. Felix Charmetant, schon im März des Jahres durch die Publikation „Martyrologe Armenien“ die französischen Katholiken aufgerufen. In Oesterreich haben die armenischen Mechitaristen-Brüder unter den Auspicien des Kaisers Franz Josef einen Aufruf erlassen. Auch die evangelischen Kirchen in andern Ländern, wie in Holland und der Schweiz haben sich gerührt. Die französische Schweiz wurde durch Professor Godet, Neuchâtel, die deutsche Schweiz durch ein Berner Komitee in Bewegung gesetzt. Vereinzelte Kirchen, wie die von Frankfurt und Basel haben ihre Gemeinden von der Kanzel an ihre Christenpflicht erinnern lassen. Wir fragen darum, und es ist schmerzlich, daß diese Frage ausgesprochen werden muß: Was haben die großen evangelischen Landeskirchen in Deutschland, was hat die Preußische Landeskirche gethan? Ist es ihnen infolge der Haltung der deutschen Presse unbekannt geblieben, daß es ein Land wie Armenien giebt? Wissen sie nichts davon, daß diese unsere Zeit eine der größten Christenverfolgungen aller Jahrhunderte erlebt? Oder sind nicht auch in ihre Hände christliche Blätter gekommen, die etwas davon zu erzählen wußten? Und wenn das, wie bringen es die Männer, die an der Spitze der evangelischen Kirchen Deutschlands stehen, übers Herz, die furchtbaren Leiden der Christenheit im Morgenlande mitanzusehen, ohne auch nur ein Wort des Erbarmens über die Lippen zu bringen? Gebietet auch ihnen die hohe Politik Schweigen? Und wissen sie nichts von der höheren Politik des Reiches Gottes, die über den selbstsüchtigen Interessen der Reiche dieser Welt stehen? Ohne Zweifel, die Kirchenbehörden erwarten, daß jeder Pfarrer im stande ist, mit bewegtem Herzen und eindrucksvoller Rede über die Christenverfolgungen in den ersten Jahrhunderten zu predigen. Soll der einzige Text, über den ihnen jetzt noch zusteht, zu predigen, der sein: „Wären wir zu unsrer Väter Zeiten gewesen, so wollten wir nicht teilhaftig sein mit ihnen an der Propheten Blut?“ Sollen sie auch nur der Propheten Gräber bauen und der Gerechten Gräber schmücken und nichts fragen nach dem, was in unsern Tagen geschieht? Nun wir glauben, daß Unkenntnis ihnen zur Entschuldigung dient und daß die evangelische Kirche, wenn auch spät, so doch endlich, sich aufmachen wird, um auch ihrerseits an der unter die Räuber gefallenen Christenheit des Morgenlandes ihre Pflicht zu thun. Die letzten Monate haben bewiesen, daß, nachdem die Wahrheit über Armenien an den Tag gekommen ist, die Evangelische Kirche in Deutschland einmütig für die Not des armenischen Volkes einzutreten gewillt ist. Vgl. die Kundgebungen im Anhang.


10. Was soll daraus werden?

Wir sagen zunächst: Was ist daraus geworden? Eine Verwüstung von acht großen Provinzen und ein Massenraubmord, dem 100 000 Menschen zum Opfer fallen, kann nicht ohne unmittelbare Folgen sein.

Die erste Folge ergiebt sich von selbst: Der vollständige wirtschaftliche Ruin des ganzen östlichen Kleinasiens und des nördlichen Mesopotamiens, durch den naturgemäß auch das vordere Kleinasien und Syrien in Mitleidenschaft gezogen werden.

Mindestens einige Jahrzehnte sind notwendig, bis sich diese weiten Landesteile, die die eigentliche Substanz des türkischen Reiches ausmachen, wieder erholen werden. In den Städten aller betroffenen Provinzen sind fast überall noch 9/10 der Bazare geschlossen. Der Export- und Importhandel, der fast ganz in den Händen der Christen lag, was schon die den Türken abgehende Kenntnis fremder Sprachen mit sich bringt, ist vollkommen lahm gelegt. Die Bebauung des Landes war der allgemeinen Unsicherheit und der Wandlung der Besitzverhältnisse wegen, da die Türken überall den Versuch machen, sich den Landbesitz der Christen anzueignen, eine höchst ungenügende. Schon die Herbstsaat ist zum großen Teil nicht eingeerntet, sondern entweder schon auf den Feldern verwüstet, oder von den Kurden eingeheimst worden. Die Frühlingssaat ist großenteils, da niemand die Dörfer und Städte zu verlassen wagte, überhaupt nicht ausgesät worden. Der Wert des zerstörten und geraubten Gutes beziffert sich auf Milliarden. Aber auch auf dem geraubten Gut, das sich in den Händen der Türken und Kurden befindet, ruht kein Segen. Wer sollte die Fütterung der großen Schaf- und Ziegenheerden besorgen, die den wertvollsten Besitz des Landvolks ausmachen, und die im Winter fast ausschließlich den armenischen Bauern oblag, bei denen auch die kurdischen Aghas ihre ungeheuren Herden für den Winter einzustellen pflegten, um sie im Frühjahr ohne Entgelt für Mühe und Unkosten wieder abzuholen? Kein Wunder, daß der strenge Winter die Herden ungeheuer dezimiert hat. Mancher Kurde oder Türke, der vielleicht für seine 2000 Schafe Weide hatte, schätzte sich glücklich nach dem Raub dieselben auf 8000 oder 10 000 vermehrt zu haben. Seine 2000 hätte er durchbringen können, aber die 8000 oder 10 000 krepierten ihm alle miteinander. Die Läden und Magazine der Türken in den Städten sind mit den Waren der Armenier vollgestopft, aber wer wird für gestohlenes Gut den vollen Wert zahlen? Man bietet den fünften oder zehnten Teil, und der Türke ist noch froh, wenn er etwas los wird von dem Gut, an dem noch das Blut der Erschlagenen klebt. Aber wer kauft überhaupt etwas? Denn wer noch Geld hat, zieht es vor, es nicht zu zeigen. Der Christ, um es vor der Beutegier der Türken, der Türke, um es vor den Luchsaugen der Steuerbeamten zu verbergen. Die Verluste europäischer Firmen, die nach Armenien hinein gearbeitet haben, beziffern sich auf Millionen, und die Zahlungs-Rückstände vom letzten Jahr müssen einfach verloren gegeben werden, da die Christen nichts mehr haben, und die Türken an der allgemeinen Kalamität einen guten Vorwand haben, nichts zu geben. Auch die Verluste deutscher Firmen im nördlichen Kleinasien und in Syrien, die einen großen Teil des Waren-Importes in der Hand haben, sind, wie mir von allen Seiten versichert wird, enorm. Wenn aber die Geschädigten zu den Konsuln kommen, zuckt man die Achseln. Wer will jetzt bei der Pforte Schadenersatzklagen durchsetzen? Auch die deutsch-anatolische Bahn wird den wirtschaftlichen Ruin von Kleinasien auf Jahre hinaus aufs empfindlichste zu spüren haben.

Kein Wunder, daß jetzt die Pforte die verzweifeltsten Anstrengungen macht, neue Anleihen aufzunehmen. Die Steuerkraft des Landes ist trotz des rigorosen Erpressungssystemes der Steuerverwaltung aufs äußerste erschöpft. Wer wird ein solcher Narr sein, der Hohen Pforte, so lange der Bürgerkrieg in allen Teilen des Reiches tobt, aus der Geldklemme zu helfen? Der wirtschaftliche Bankrott allein genügt, um den Zusammenbruch der Türkei unvermeidlich zu machen.

Aber viele andere Faktoren wirken schon jetzt zu diesem Ziele mit. Zunächst leidet keineswegs nur die christliche Bevölkerung, sondern in hohem Maße auch die türkische unter dem allgemeinen wirtschaftlichen Niedergang. Von verständigen Türken, die nicht einfach durch den Fanatismus und die Beutegier sich hinreißen ließen, wird dies ganz offen ausgesprochen und sie tadeln aufs schärfste das Vorgehen ihrer eigenen Regierung, indem sie den kommenden Bankrott vor Augen sehen. Die türkische und christliche Bevölkerung war auch in allen wirtschaftlichen Verhältnissen so sehr aus einander angewiesen, daß die Türken den Schaden der Christen am eigenen Fleische empfinden müssen. Die Stockung des Handels trifft die besseren Klassen und die Ruinierung des Landbesitzes der Christen das zahlreiche türkische Proletariat. In den Dörfern klagen überall die Landleute, daß sie die Waren, die sie früher billig von den armenischen Händlern, die das Land bereisten, kaufen konnten, jetzt sich mit Mühe beschaffen und überdies vier-, fünfmal so teuer als früher bezahlen müssen.

Es ist eine naturgemäße Folge der Mißwirtschaft und des allgemeinen Ruins, daß die jungtürkische Partei, welche sich bis jetzt hauptsächlich aus den jüngeren und schon europäisch gebildeten Elementen der oberen Schicht der türkischen Bevölkerung zusammensetzte, auch aus den alttürkischen Kreisen beständigen Zuwachs erhält. Diese jungtürkische Partei ist keineswegs, wie es offiziell dargestellt wird, eine im gewöhnlichen Sinne revolutionäre. Sie würde in einem verfassungsmäßigen Staate eine gesunde Reformpartei bilden und auf die Besserung der Verhältnisse einen mächtigen Einfluß haben können, da sie sich aus den besten Elementen der neueren türkischen Bildung zusammensetzt. Gleichwohl sind auch auf die Jungtürken keine Hoffnungen zu setzen, denn ihre Ideale sind so sehr europäischen Ursprungs, daß sie bei einem Versuch der Durchführung das ganze geschichtliche System des türkischen Staatswesens zerstören und von vornherein an dem muhammedanischen Fanatismus scheitern müßten. So sind sie nur ein neues Element der Zersetzung. Die Pforte weiß, welche Gefahr ihr von dieser Seite droht, und den Befürchtungen des Sultans in dieser Hinsicht ist es wohl zuzuschreiben, daß er erst kürzlich, obwohl sein Palast, rings von riesigen Kasernen blockiert, schon mehr einem Kasernenhof gleicht, sich aus dem wilden Kurdistan zwei seiner geliebten Hamidieh-(irreguläre Kurden-)Regimenter zu seinem persönlichen Schutze verschrieb, deren Ausschiffung in Konstantinopel unter der europäischen Bevölkerung der Hauptstadt nicht gelinde Beunruhigung hervorrief. Wenn von offizieller Seite geltend gemacht wurde, daß die Scheikhs dieser Regimenter als eine Art von Geiseln für das Wohlverhalten der Kurdenstämme im Inneren Kleinasiens dienen sollten, so ist das nur einer von den beliebten Späßen, mit denen die Hohe Pforte die europäische Diplomatie dann und wann zum besten hat. Im Gegenteil, die Kurden, die wohl wissen, wie ihnen das Herz des Beherrschers der Gläubigen gewogen ist, werden in dieser Auszeichnung ihrer Kameraden nur eine Belohnung ihrer in den letzten Monaten geleisteten Dienste und eine Ermunterung zur Fortsetzung ihrer Schandthaten erblicken.

Daß es aber in Armenien nicht zur Ruhe kommt, dafür werden die Kurden so wie so schon sorgen. Nur wird, da bei der christlichen Bevölkerung nichts mehr zu holen ist, die türkische an die Reihe kommen. Es giebt eine hübsche Aesop’sche Fabel: Ein Schafhirt fand einst das Junge eines Wolfes, zog es auf und lehrte es nach einer Weile Lämmer benachbarter Herden zu stehlen. Der Wolf bewies sich als ein gelehriger Schüler und sagte zu dem Hirten: Seit du mich stehlen gelehrt hast, mußt du ein scharfes Auge darauf haben, daß nicht von deiner eigenen Herde etwas fortkommt. Die türkische Regierung mag immerhin ein Auge haben auf die Kurden, die sie angestellt hat die Christen zu plündern. Da aber diese gelehrigen Wölfe noch obendrein so klug sind, sich mit den Schäferhunden, den türkischen Soldaten und Gendarmen unter eine Decke zu stecken, wird sie wohl das Nachsehen haben.

Das schlimmste Resultat der Vernichtungspolitik der Pforte ist aber die Aufstachelung des muhammedanischen Fanatismus, der aus den Ereignissen der letzten Monate gelernt hat, daß er sich straflos in Christenblut baden darf, und daß das christliche Europa von einer Christenverfolgung im Morgenland ungefähr soviel Notiz nimmt wie von einem Mondwechsel. Auch der Türke weiß nun, daß die Zeitalter der Kreuzzüge tempi passati sind, und daß die Herzen der Diplomaten von keinerlei romantischen Empfindungen mehr beseelt werden. „Wir Muhammedaner“, sagte ein Moslem, „sind Sand in die Augen der Welt. Der Sultan läßt alle Armenier abschlachten und Europa wagt nicht den Finger aufzuheben.“ Wer in den letzten Monaten den Orient bereist hat, wird sich, wenn anders er einen Einblick in die Stimmung der muhammedanischen Bevölkerung gewonnen hat, davon überzeugt haben, daß her Hochmut der Moslems keine Grenzen mehr kennt und davon träumt, sich nächstens aller Christen, die unter muhammedanischer Herrschaft sind, zu entledigen. „Wann wird der Sultan die Engländer aus Aegypten herauswerfen?“ ist eine Frage, die man oft von Muhammedanern zu hören bekommt. Spöttische Scherze, wie der daß die englische Flotte aus dem Mittelmeer geflohen sei und die Russen den Islam angenommen hätten, sind nur ein harmloser Auswuchs des Sicherheitsgefühles, in dem sich die Türken wiegen.

Um so ernster ist das Gefühl der Unsicherheit zu nehmen, das sich der christlichen Bevölkerung und der christlichen Missionen aller Konfessionen in allen Teilen des türkischen Reiches bemächtigt hat. Die beliebten muhammedanischen Schimpfworte gegen die Christenhunde, die schon in Abgang gekommen waren, werden wieder auf den Straßen gehört. Einzelne Ueberfälle und Mordanschläge gegen Christen vonseiten der Moslems gehören wieder zur Tagesordnung, und die Repressalien und Scherereien, mit denen schon seit Jahren unter dem fanatischen Regiment des gegenwärtigen Sultans die christlichen Missionen behelligt wurden, nehmen eine schärfere Tonart an. Man kann sich auch nicht darüber wundern, daß die christliche Bevölkerung den gegenwärtigen Zuständen mit der größten Besorgnis für die Zukunft entgegensieht. Ist doch der Beweis geliefert worden, daß binnen wenigen Wochen die systematische Abschlachtung der Christen großer Provinzen in Szene gesetzt werden konnte, ohne daß die christlichen Großmächte dem vorbeugen oder auch nur Einhalt gebieten konnten, ja, daß Dank der Fälschungen der öffentlichen Meinung durch die türkische Preßbeeinflußung die Thatsachen erst nach Monaten bekannt wurden. Wer steht dafür, daß nachdem das Experiment der Christenabschlachtung im östlichen Kleinasien gelungen, nicht auch das westliche Kleinasien, Syrien und Palästina an die Reihe kommt? Die Veranlassung dazu mag heute oder morgen nicht vorliegen, aber das Verhalten der Mächte gegenüber Armenien und Kreta steht dafür, daß wenn die Stunde geschlagen hat, das Einschreiten der Mächte unter allen Umständen zu spät kommen wird. Man kann aus dem Munde von Muhammedanern hören: „Wir wissen wohl, daß die Europäer unser Land haben wollen. Sie werden es bekommen, aber wir werden dafür sorgen, daß sie keinen Christen mehr darin vorfinden.“

Die Frage liegt freilich für diejenigen Landesteile der Türkei, wie Makedonien und Kreta, wo die Christen in starker Majorität sind, günstiger; aber steht nicht die Revolutionierung der christlichen Bevölkerung in diesen Gebieten, die auch schon seit Jahrzehnten auf die von den Mächten garantierten Reformen warten müssen, in einem inneren Kausalzusammenhang mit der Aufrollung der armenischen Frage? Werden, nach allem was vorgekommen ist und noch geschieht, die Großmächte ihre Vogel-Strauß-Diplomatie und England insbesondere seine dog-in-manger Politik aufrecht erhalten können? Harmlose Gemüter sind zwar der Meinung, daß wenn erst die klugen Paschas am goldenen Horn, die eben so ängstlich um die Aufrechterhaltung des Weltfriedens besorgt zu sein scheinen, als die europäische Diplomatie, es fertig gebracht haben, die christlichen Großmächte als Polizeimannschaft zur Herstellung der Ordnung auf Kreta anzustellen, binnen kurzem die orientalische Frage, um einige papierene Verträge bereichert, wieder ad acta gelegt werden wird, und die offiziöse Presse sorgt dafür, daß die Harmlosigkeit in der Beurteilung der Dinge, die im Orient geschehen, nicht ausstirbt.

Man hat nur eins vergessen, daß in Armenien, trotz der Blutabzapfung von reichlich 1/8 alles Christenblutes immer noch ein armenisches Volk von ca. 700 000 Seelen existiert. Was soll aus diesem Volk werden? Vielleicht empfindet es die europäische Diplomatie als eine Erleichterung, daß 500 000 von diesen am Hungertuche nagen und dadurch die Gefahr einer revolutionären Erhebung der Armenier und einer Bedrohung des Weltfriedens im Vergleich mit den Zuständen vor den Massacres bedeutend abgeschwächt ist. In der That, wenn nicht andere Eventualitäten eintreten, ist von dem ausgeplünderten Bettlervolk, dem ja auch Europa, wie es schon die Türken thun, eine Handvoll Kupfermünzen hinwerfen kann, nichts mehr für den Weltfrieden zu fürchten. Aber warum soll dieses Volk zu einem Akt der Verzweiflung, denn zum Tode ist es ja doch verurteilt, nicht mehr fähig sein? Wahrlich, an dem Willen, noch mit letzter Anstrengung an ihren grausamen Schlächtern Rache zu nehmen, würde es vielleicht nicht fehlen. Bevor die europäische Politik eine „armenische Frage“ schuf, gab es in Armenien selbst eine solche nicht, und selbst in den letzten Jahren bis zu dem Ausbruch der Massacres wußte die große Masse der Bevölkerung, wenn sie auch von den versprochenen Formen etwas hatte lauten hören, nichts von einem Streben nach Abschüttelung des türkischen Joches. Aber die türkische Regierung hat durch ihre letzten Maßregeln endlich selbst dafür gesorgt, daß man jetzt auch in Armenien, bis in das letzte Dorf weiß, was die armenische Frage ist. Sie hat es ihr ja durch Anschauungsunterricht beigebracht, daß für die Türkei und auch Europa „armenische Frage“ nichts anders als Ausrottung des armenischen Volkes bedeutet. Wir fragen noch einmal: Giebt es ein Recht der Notwehr? Und wenn das, will man die Armenier, wenn sie jetzt an eine nationale Erhebung denken könnten, immer noch als eine verworfene Bande von Briganten ansehen? Aber, Gott sei Dank! sagt der Diplomat, wir haben ja eben gehört, daß die Armenier dazu nicht mehr imstande sind; denn um einen Kampf zu führen, ist zweierlei nötig: Erstens muß man etwas zu essen haben, und zweitens muß man Waffen haben, und beides haben sie ja glücklicherweise nicht. Wie aber, wenn jemand, der beides, Geld und Waffen hat, auf den Gedanken käme, den Armeniern zu geben, was ihnen fehlt? Das Dritte, was noch nötig wäre: einen verzweifelten Mut, würden sie schon aufbringen. Denn ob sie mit der letzten Rinde Brot oder mit den Waffen in der Hand sterben, das wird ihnen schließlich gleichgültig sein.

Es scheint uns dringend notwendig, daß sich Europa mit dem Gedanken an einen baldigen Wiederausbruch der armenischen Unruhen ernstlich beschäftigt, denn diesmal wird es wahrscheinlich so sein, wie es die Türkei das erste Mal hat glauben machen wollen, daß es sich um eine armenische Revolution handele. Denn der „Jemand mit Geld und Waffen“ wird nicht mehr lange auf sich warten lassen, ja wenn man den neuesten Nachrichten glauben darf, ist er schon auf dem Platze. Wir sind weit entfernt, es Rußland zu verargen, wenn es sich entschließt, den Schutz der armenischen Christen, den ihm England auf dem Berliner Kongreß abgejagt hat und zuguterletzt ebensowenig als die andern Garantiemächte hat leisten wollen, nun seinerseits in die Hand nimmt. Ein grausames Spiel ist es allerdings gewesen, daß Rußland trieb, als es in den letzten Monaten an der englischen Politik Vergeltung übte und sie ihre Ohnmacht fühlen ließ; grausam darum, weil nicht England, sondern Armenien den Preis für den diplomatischen Sieg bezahlen mußte.

Es ist ein regelrechtes Stiergefecht, welches von den diplomatischen Toreros ausgeführt wird. Mit dem roten Tuch der Reformen wurde zuerst der türkische Stier von dem Pikador England, der sich auf das armenische Roß geschwungen, gereizt. Die anderen Mächte spielten die Banderillos und Capeadores, die ihre diplomatischen Widerhaken nach dem Stiere zu werfen und ihn mit den Bändern und Schärpen der flatternden Verträge scheu zu machen hatten. Was Wunder, daß der Stier in Wut geriet, das Roß mit seinen Hörnern aufspießte und den englischen Reiter aus dem Sattel warf. Aber das alles rührt den russischen Matador nicht. Er wartet nur, bis der Pikador im Sande liegt, um den Stier unversehens mit dem Schwerte zu durchbohren. Während man den Leichnam des edlen Rosses, das bei dem Kampfe drauf ging, aus der Arena schleift, werden sich die Toreros, den Matador an der Spitze, vor dem beifallklatschenden Amphitheater Europas verneigen.

Es war freilich kein abgekartetes Spiel, das die Mächte so aufführten. Aber die Rollen verteilten sich von selbst, und das Ende wird ungefähr das beschriebene sein. Rußland hatte Gründe genug, eine zuwartende Haltung einzunehmen, bis es in Armenien freie Hand gegenüber der englischen Einmischung erhalten. Es ging in seiner diplomatischen Ruhe soweit, daß es zeitweise sogar die Rolle des türkischen Erbfeindes mit der eines Hausfreundes des Sultans zu vertauschen schien. Aber die entente cordiale hat bereits wieder ihr Ende erreicht, und es ist wirklich des grausamen Spieles genug. Je eher es zum Ende kommt, um so besser, damit nicht noch andere edle Rosse bei dem Stiergefecht draufgehen.

Wir thun gut, die Frage „Was soll daraus werden?“ in die andere „Was gedenken die Mächte zu thun?“ zu verwandeln. Wir glauben, daß das christliche Europa ein dringendes Recht hat, eine Antwort auf diese Frage zu erhalten. Die Zahl derer ist in der Christenheit groß genug, die an barbarischen Kampfspielen keine Freude haben und glauben, daß solche rohe Sitten im 19. Jahrhundert abgeschafft werden sollten. Was gedenken die Mächte zu thun? Die Ehre der Christenheit ist bei dieser Frage beteiligt.

Zuerst: Soll die Pforte den Triumph behalten, sechs Großmächte in der Sache der armenischen Reformen düpiert zu haben? Denn darüber wenigstens sollte unter den Kabinetten Europas keine Meinungsverschiedenheit mehr sein, daß jeder diplomatische Schriftwechsel und jeder Federstrich in der Frage der armenischen Reformen, nachdem die Maßregeln der Pforte die Ausführung derselben de facto unmöglich gemacht haben, eine unwürdige Farce ist. Oder meint man wirklich noch, daß die Pforte, was sie auf dem Papier bewilligt, in Armenien durchzuführen gedenkt? Wie soll sie das machen? Sollen dieselben Beamten, unter deren Mitwirkung die Besten des armenischen Volkes totgeschlagen wurden, die überlebenden Bettler dazu einladen, neben ihnen in den Verwaltungsräten der Vilajets und Sandjaks und den Gemeinderäten der Nahies Platz zu nehmen? Sollen die Vorsitzenden der Gerichtshöfe, die in einem summarischen Verfahren Tausende von Armeniern in die Gefängnisse geworfen und zum Tode verurteilt haben, den „armenischen Briganten,“ wie sie die Pforte zu nennen liebt, in den Richterkollegien Sitz und Stimme geben? Sollen die Zaptiejs, die dazu angestellt wurden, die friedliche Bevölkerung armenischer Dörfer wie Diebsnester auszuheben und ihre Habe wie gestohlenes Gut an sich zu nehmen, nun dieselben Armenier als ihre Kollegen willkommen heißen und sie die Pflichten der Wächter der Ordnung lehren? Will man die kurdischen Wölfe, wie unlängst mit der Uniform der Hamidieh-Truppen, so jetzt mit Schafpelzen bekleiden und sie lehren, mit den armenischen Schafen in einem Stall zu wohnen? Da wird man besser thun, solange wenigstens die türkischen Paschas im kaiserlichen Serail und in den Provinzen regieren, die Zeit abzuwarten, wo die Löwen Stroh fressen werden wie die Ochsen, und Kühe und Bären miteinander auf die Weide gehen werden. Nein, solange das gegenwärtige Régime besteht, ist es mit den armenischen Reformen ein für allemal aus, und darum noch einmal die Frage: Soll die Pforte den Triumph behalten, sechs Großmächte auf einmal düpiert zu haben?

Zweitens: Was gedenken die Mächte zu thun, damit das Opfer ihrer Politik, das arme ausgeplünderte Armenien, wieder zu seinem Hab und Gut, und zu einem menschenwürdigen Dasein kommt? Sie könnten es ja so machen wie im vorigen Jahre nach dem Massacre von Sassum: Kommissionen einsetzen, Protokolle aufnehmen und diplomatische Noten schreiben. Es würde allerdings notwendig sein, für die Botschaften und auswärtigen Aemter neue Aktenschränke zu beschaffen. Es würde auch mit einer Kommission wie bei dem Massacre von Sassum nicht gethan sein, sondern mindestens zweihundert dazu nötig sein. Statt 108 Protokollen, wie bei dem genannten Präzedenzfall, würden 21.600 Protokolle erforderlich sein, und die diplomatische Korrespondenz, die in dem englischen Blaubuch über Sassum für eine Großmacht allein 267 Nummern aufwies, würde für sechs Großmächte, das Schreibwerk der Pforte noch garnicht gerechnet, auf 320.400 Schriftstücke anschwellen müssen. Warum soll die gewissenhafte Gründlichkeit, die man für die Untersuchung eines Massacres erforderlich erachtete, bei einigen hundert von Massacres nicht angebracht sein? Oder gedenken die Großmächte, nachdem sie die Mücke von Sassum geseiht haben, die Kameelkarawane der armenischen Massacres zu verschlucken? – Also, was gedenken die Mächte für die Opfer ihrer Politik zu thun?

Drittens: Was soll aus den sechshundert bis tausend Dörfern werden, die zwangsweise zum Islam bekehrt wurden? Was aus den Hunderten von christlichen Kirchen, die gegenwärtig als Moscheen dienen? Wollen die Mächte, wie sie einst die Pforte in das Konzert der europäischen Großmächte aufnahmen, nun auch den Islam als eine neue christliche Religionsgemeinschaft anerkennen? Dann brauchte von erzwungener Apostasie nicht mehr die Rede zu sein, und man könnte die Sache auf sich beruhen lassen. Es ist aber anzunehmen, daß die christliche Kirche dagegen protestieren würde. Was aber dann? Glaubt man wirklich, daß die muhammedanische Bevölkerung von Armenien etwa einem von den Diplomaten erwirkten Befehle Gehorsam leisten und den mit dem unaustilgbaren Zeichen der Beschneidung behafteten neuen Glaubensbrüdern wieder die öffentliche Ausübung des christlichen Kultus gestatten würde? Da sollten Diplomaten lieber erst bei einem Mollah in die Schule gehen und sich über die Vorschriften des Koran eine Vorlesung halten lassen. Es wäre der kürzeste Weg, noch weitere hunderttausend Armenier dem Tode auszuliefern, wenn man den Versuch machen wollte, ohne die Garantie einer europäischen Ueberwachung solcher Maßregeln die Rückkehr der zwangsweise konvertierten Bevölkerung zum christlichen Glauben und die Uebergabe der in Moscheen verwandelten Kirchen an den christlichen Kultus zu erzwingen. Also, was gedenken die Mächte in dieser Sache zu thun, um die Ehre der Christenheit gegenüber dem Triumph des Islam in retten?

Auf diese Frage eine Antwort zu geben, ist nicht unsere Sache, sondern wir appellieren an Herz und Gewissen christlicher Kaiser und Könige, die das ihnen von Gott anvertraute Schwert nicht umsonst tragen und als die Stellvertreter der göttlichen Gerechtigkeit auf Erden Rechenschaft dafür schuldig sind, ob sie die Ehre Gottes und das Reich Christi bei der schweren Ausübung ihres Amtes im Auge behalten haben. Wir wissen wohl, daß nicht die christlichen Großmächte, sondern ein Höherer die Geschicke der Welt regiert, aber es hat ihm gefallen, menschliche Werkzeuge zur Erfüllung seines Willens auf Erden zu erwählen. Mögen sie nicht als unbrauchbar erfunden werden!


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: ausgespochen
  2. Vorlage: fünzig
  3. Vorlage: anwortete
  4. Vorlage: im
  5. Vorlage: englichen
  6. Vorlage: gehoben