Armenien und Europa. Eine Anklageschrift/Erster Teil/Erstes Kapitel

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I.
Die Wahrheit über Armenien.

1. Trockene Zahlen.

Es ist notwendig, daß die Wahrheit über Armenien endlich an den Tag kommt. Seit dreiviertel Jahren wird die deutsche Presse mit Nachrichten überschwemmt aus einer Quelle, die nicht nur durch Einseitigkeit des Urteils getrübt ist, sondern wie wir nachweisen werden, durch die unerhörtesten Fälschungen den Zweck verfolgt hat, Europa zu täuschen. Es ist daher kein Wunder, daß bisher in Deutschland Thatsachen über den Ursprung, den Verlauf und die Folgen der Massenabschlachtung, Ausplünderung und Zwangskonvertierung eines großen christlichen Volkes so gut wie gar nicht bekannt geworden sind, während dafür gesorgt wurde, daß in der deutschen Presse, mit vereinzelten Ausnahmen, die Schuld der „rebellischen“ Armenier, als der Anstifter alles Unheils, in bengalische Beleuchtung gesetzt wurde.

Als am 26. Januar 1895 die türkische Kommission zur Untersuchung des Massacres von Sassun (Herbst 1894) in Musch ihre zweite Sitzung hielt, machten die ihr zur Seite gestellten Delegierten der englischen, französischen und russischen Konsulate den für europäische Begriffe von Justiz selbstverständlichen Vorschlag, zunächst nur die Thatsache des Massacres, in welchem unter Beteiligung türkischen Militärs 27 christliche Dörfer zerstört und Tausende von Christen umgebracht sein sollten, festzustellen und sodann erst an die Untersuchung der Schuldfrage zu gehen. Die türkische Kommission jedoch, welche die Thatsache eines Massacres a priori in Abrede stellte und nach einem vorher publizierten Communiqué der Pforte nur die Aufgabe hatte, „die verbrecherischen Handlungen armenischer Briganten zu untersuchen“, lehnte diesen Vorschlag rundweg ab, tagte vom 24. Januar bis zum 21. Juli in Musch, fünf bis zehn Stunden vom Schauplatz des Massacres entfernt und begnügte sich in weiser Beschränkung damit, unter Zurückweisung der von den Delegierten präsentierten christlicher Zeugen, in hundert und acht Sitzungen türkische Zeugen, die zuvor über die Aussagen instruiert waren, zu verhören und auf solche Weise die Schuld der „armenischen Briganten“ zu erhärten. Zeugen, die etwas Gegenteiliges aussagten, büßten ihre Unvorsichtigkeit mit sofortiger Ueberführung ins Gefängnis. Die Konsular-Delegierten verzichteten endlich darauf, dieser Farce noch weiter zu assistieren, begaben sich in das Sassungebiet und stellten auf eigene Faust die genugsam bekannten entsetzlichen Thatsachen und die Schuldlosigkeit der friedlichen armenischen Bevölkerung fest.

Wir sind im Begriff, in die Untersuchung nicht eines, sondern hunderter von Massacres, die seit Oktober vorigen Jahres ununterbrochen bis zu diesem Tage in Armenien stattgefunden, einzutreten. Wir ziehen es aber vor, nicht das löbliche Beispiel der türkischen Kommission zu befolgen, sondern uns europäischer Gepflogenheit anzuschließen. Wir begeben uns daher zuerst auf den Boden der Thatsachen und werden in die quaestio juris erst eintreten, wenn unsern Leser in der Lage sind, sich über die quaestio facti ein Urteil zu bilden. Also die Thatsachen.

Nach monatelangem Drängen der christlichen Großmächte, insbesondere Englands, Frankreichs und Rußlands, die seit siebzehn Jahren den armenischen Provinzen versprochenen Reformen endlich in Ausführung zu bringen, entschloß sich der Sultan im Herbst vorigen Jahres, seinen Widerstand gegen den vereinten Druck der Mächte aufzugeben und den ihm von den Mächten aufoktroyierten Reformplan für die sechs armenischen Provinzen Erzerum, Bitlis, Wan, Mamuret-ul-Aziz (Charput), Diarbekir und Sivas anzunehmen. Um die drohende Sprache Englands zu beschwichtigen, gab der Sultan überdies in einem Schreiben an Lord Salisbury sein Wort darauf, daß die Reformen buchstäblich und unverzüglich ausgeführt werden würden.

Am 30. September 1895 wünschten die Armenier der Hauptstadt Konstantinopel dem Drängen der Mächte auf Einlösung der Versprechungen des Berliner Vertrages dadurch Nachdruck zu geben, daß sie dem Großvezier eine Petition überreichten, in der die Klagen und Forderungen des armenischen Volkes niedergelegt waren. Ein Zug von 2000 Armeniern bewegte sich durch die Straßen von Stambul auf die Hohe Pforte zu. Die Polizei war beauftragt, die Uebergabe der Petition zu verhindern, und die Behörden hatten dafür gesorgt, daß durch eine ungewöhnliche Zahl von mit Stöcken bewaffneten Softas und Türken eine Gegendemonstration arrangiert wurde. Es kam zu einer Schlägerei, Schüsse wurden gewechselt und die Polizei jagte die Armenier auseinander. Etliche, vom Pöbel niedergeworfen, wurden von Gendarmen erschossen, Arrestanten im Polizeigebäude mit Bajonetten erstochen und armenische Khans in der Nacht erstürmt. 500 Armenier wurden nachträglich arretiert, und eine allgemeine Panik trieb die armenische Bevölkerung in die Zufluchtsstätte ihrer Kirchen.

Dieses unheilvolle Ereignis war das Signal für Hunderte von Massacres, die Schlag auf Schlag, mit Trompetengeschmetter eingeleitet und beschlossen, in allen sechs Provinzen, die mit Reformen beglückt werden sollten und über diese hinaus in weiteren vier Provinzen die christliche Bevölkerung aufs furchtbarste dezimierten und die Ueberlebenden dem Hungertode oder der zwangsweisen Apostasie überlieferten. Ueber die fruchtbarsten Provinzen des osmanischen Reiches, über ein Land von der Ausdehnung Deutschlands ergoß sich ein Strom von Blut und Verwüstung, bestimmt, ein ganzes christliches Volk in seinem Strudel zu begraben.

Das statistische Material des folgenden Berichtes, das noch nicht einmal auf absolute Vollständigkeit Anspruch erheben kann, ist in erster Linie dem Botschafterbericht entnommen, welchen die sechs Großmächte am 4. Februar 1896 Sr. Majestät dem Sultan zur Kenntnisnahme unterbreiteten, und wurde vervollständigt durch eine große Zahl uns vorliegender Berichte europäischer Augenzeugen, Konsuln, Reisender, Kaufleute u. s. w.

Blutbäder im Vilajet Trapezunt.

8. Oktober. Nachdem bereits am 4. und 5. Oktober 3000 bewaffnete Muhammedaner aus der Stadt und den Dörfern das Christenviertel der Stadt Trapezunt überfallen hatten, wurde am 8. Oktober ein Blutbad veranstaltet, bei dem ca. 600 Armenier getötet wurden. Die Zahl der gefallenen Muhammedaner beträgt 20. Das Massacre wurde mittags mit einem Trompetensignal begonnen und um 3 Uhr mit einem Trompetensignal beschlossen. Der Bazar und das armenische Viertel wurden geplündert. Verlust ca. 4 Millionen Mark. Die Konsuln stellten fest, „daß keinerlei Provokation von seiten der Armenier vorlag“, während klare Beweise vorhanden sind, daß unter der Konnivenz der Behörden die Sache von den Muhammedanern, die über Tag bedeutende Waffeneinkäufe im Bazar machten und sich eines Waffendepots zu bemächtigen suchten, vorbereitet war. Die Plünderung wurde bis zum Abend von den Behörden geduldet. In Trapezunt und Umgegend allein beträgt die Zahl der Notleidenden, die aller Subsistenzmittel beraubt sind, 3–4000.

In den Landbezirken von Trapezunt, von Gumusch-Hane (25. und 26. Oktober), Samsun (7. Dezember) und Aghdja-Guney (14. und 15. Dezember) wurden, soweit bekannt, 34 Dörfer zerstört und ca. 2100 Christen ermordet.

Blutbäder im Vilajet Erzerum.

Nach ganz offenkundigen Vorbereitungen von seiten der muhammedanischen Bevölkerung, die trotz der Bemühungen der Konsuln von den Behörden nicht gehindert wurden, überfiel am 30. Oktober der bewaffnete Pöbel unter Beteiligung der Offiziere und Soldaten, wie von den Konsuln festgestellt worden ist, das armenische Viertel und den Bazar der Stadt Erzerum. 1500 Läden und einige Hundert Häuser wurden geplündert. In der Stadt und Umgegend wurden während des Massacres 1200 Christen und 12 Türken getötet. Die Behörden schritten nicht ein, bis die Läden vollständig geplündert und ihre Besitzer ermordet waren. Das Massacre und die Plünderung wurde in der Nacht fortgesetzt, in den isolierten Quartieren auch in der nächsten Nacht.

Im Distrikt Terdjan wurden 40 Dörfer geplündert und zerstört und zahllose Christen umgebracht. Im Distrikt Passen wurden 14 Dörfer geplündert und 140 Armenier getötet, im Distrikt Ova 23 Dörfer zerstört und geplündert, im Distrikt Kighi 9 Dörfer geplündert. Ueberall zahlreiche Tote.

In der Stadt Erzingjan wurden bei dem Massacre am 21. Oktober 700 Christen getötet, 400 verwundet, während gleichzeitig 7 Türken auf dem Platze blieben.

In der Stadt Baiburt wurden am 27. Oktober alle armenischen Männer bis auf zwanzig entweder getötet oder eingekerkert. Die Zahl der Toten erreicht 1060. In der Umgegend von Baiburt wurden 165 Dörfer vollständig geplündert und zerstört.

In Narzahan wurden 100, in Ksanta 400, in Bajazid 500 Armenier getötet; die Türken hatten nirgends Verluste an Menschenleben.

In Baiburt, um wenigstens etwas ins Detail zu gehen, wurden 14 Frauen mit ihren Säuglingen verbrannt, 100 Frauen zerstückelt, und 50 junge Frauen töteten sich selbst, um der Schande zu entgehen.

Darauf, daß bei allen Massacres zahllose Frauen und Mädchen geschändet wurden, wollen wir hier nicht näher eingehen, da wir aus dieses Kapitel noch zurückkommen werden. Einige Dörfer sind verschont geblieben, nachdem sie hohe Lösegelder bis zu 120 türk. Pfd. (2400 M.) gezahlt hatten. Im übrigen wurden alle armenischen Dörfer der Provinz entweder geplündert oder zerstört. Die Behörden ließen überall die Meuterer gewähren. Das Militär beteiligte sich an den Massacres und der Plünderung, und allerorten wurden die Ueberlebenden gezwungen, en masse den Islam anzunehmen.

Blutbäder im Vilajet Bitlis.

Am 25. Oktober greifen beim Verlassen der Moschee die Türken die Armenier an und zwar, wie der Botschafter-Bericht feststellt, ohne irgend eine Provokation von seiten der letzteren. Das Massacre begann und wurde beschlossen mit einem Hornsignal. Die Zahl der Toten betrug 900; nach den Angaben der türkischen Behörden sind dabei 39 Muhammedaner umgekommen.

In den Distrikten von Sassun, Talori, Musch, Seert, Yerum, Chirvan, Guzel Dere, Seghjerd, Gindj und Djabagh Fagur wurden zahllose Dörfer, nicht nur von Armeniern, sondern auch von Syrern, Chaldäern und Jakobiten bewohnt, durch bewaffnete muhammedanische Banden geplündert und die Einwohner massacriert. Die Verantwortlichkeit für die Massacres trifft die Behörden.

Blutbäder im Vilajet Wan.

In 25 Distrikten wurden 543 Dörfer, über die uns umfangreiche Listen mit Namen der Dörfer und Zahl der zerstörten Häuser, Kirchen und Klöster vorliegen, vollständig ausgeplündert und zum großen Teil zerstört. Im Vilajet Wan zählen die Getöteten im Unterschied von anderen Vilajets nur nach Hunderten, dank dessen, daß dort überwiegend Kurden und nicht Türken die Werkzeuge der Vernichtung waren, welche gegen den Wunsch der Behörden nur plünderten, während die letzteren (und das gilt für alle Provinzen) mehr aufs Morden bedacht waren. Das Versäumnis wurde in den neuesten großen Massacres nachgeholt. Bei diesen wurden nach dem neuesten Bericht in der Frankfurter Zeitung vom 15. August (siehe Nr. II.) in den Tagen vom 14. bis 22. Juni dieses Jahres in Wan selbst über 1000 umgebracht. In den Landdistrikten werden die Erschlagenen auf mindestens 20 000 berechnet.

Die Zahl der Hilfsbedürftigen, die ohne Unterstützung dem Hungertode verfallen, betrug im Mai in der Stadt Wan 13 000, in den Landdistrikten 70 000. Wir bemerken noch beiläufig, daß im Vilajet Wan und zwei Distrikten von Bitlis 236 Kirchen und 53 Klöster geplündert und zum großen Teil völlig zerstört wurden, während 245 Dörfer zwangsweise zum Islam bekehrt und 116 Kirchen in Moscheen verwandelt wurden. Die uns vorliegenden Listen mit Namen sämtlicher Dörfer und Kirchen erstrecken sich aber nicht einmal auf alle Distrikte des Vilajets. Daß sich an den Plünderungen im Vilajet die neugeschaffenen Hamidijeh-Regimenter (irreguläre kurdische Reiterei) in erster Linie beteiligten, braucht kaum erwähnt zu werden.

Blutbäder im Vilajet Mamuret-ul-Aziz.

In Charput griffen am 10. und 11. November, ohne irgend welche Provokation von seiten der friedlichen Armenier, die Türken das armenische Quartier an und töteten die Einwohner. Durch den Botschafter-Bericht wird die Beteiligung der Offiziere und Soldaten an der Plünderung festgestellt, aber auch an dem Massacre selbst beteiligte sich das Militär mit Gewehrsalven und Kanonenschüssen. Eine Granate platzte in einem der Häuser der protestantischen Mission, der ihr ganzes Eigentum, sechs Missionshäuser und Schulen, zerstört wurde. Bei dem Massacre in Charput wurden 900 Armenier getötet, während nach dem Bericht des Vali von Erzerum nur 12 Muhammedaner dabei umkamen. Die Zahl der Verwundeten ist eine enorme. Die Kurden behaupten, wie der Botschafter-Bericht feststellt, im Einvernehmen mit den Behörden gehandelt zu haben.

Mehr als 60 Dörfer in der Umgegend von Charput wurden verwüstet. Die Zahl der Verluste an Menschenleben ist, da die christliche Bevölkerung in dieser Gegend sehr zahlreich ist, unberechenbar. Eine Karawane von 200 Armeniern, die von Adana nach ihrer Heimat Charput zurückgeschickt war, wurde von Kurden angegriffen, welche 193 davon töteten, die sie eskortierenden Gendarmen, statt sie zu schützen, nahmen an der Plünderung teil. In den 60 Dörfern um Charput existiert keine christliche Kirche und Schule mehr. Nur ein christlicher Priester ist übrig geblieben, alle übrigen sind getötet oder konvertiert. In Charput selbst wurden 200 Familien gezwungen, den Islam anzunehmen.

In Arabkir warfen sich die Kurden und Türken bewaffnet auf die Christen und plünderten die Stadt. Nach den Konsularberichten dauerte das Plündern und Brandstiften zehn Tage. Ungefähr 3700 Häuser und 500 Läden wurden ausgeleert und 4000 Armenier getötet. An Muhammedanern kamen nach der offiziellen türkischen Statistik 60 um. Nach Beendigung der Brandstiftungen stellte die Polizei „Nachforschungen an, und alle Männer, die dem Massacre entronnen waren, wurden ins Gefängnis geworfen“ (Botschafterbericht).

Die Not der überlebenden Frauen und Kinder ist eine entsetzliche. Die Behörden teilten „einige Tage lang“ Brot aus, dann hörte die Hilfe auf.

Die Stadt Eghin wurde verschont, nachdem sie 1500 türk. Pfd. (ca. 30 000 M.) Lösegeld bezahlt hatte. Das Versäumte wurde in dem Massacre des Septembers 1896, über das noch nähere Nachrichten fehlen, nachgeholt.

In der Stadt Malatia griffen am 4. November die bewaffneten Kurden und Türken das Quartier der Christen an, die schon seit einer Panik am 29. Oktober ihre Häuser nicht verlassen hatten. „24 Stunden lang läßt der Mutessarif (Gouverneur) den Massacres und der Plünderung freien Lauf“, auch dann schützte er nur die in ihre Kirche geflüchteten katholischen Armenier; das Massacre unter den gregorianischen Armeniern dagegen wird ohne Einschreiten der Behörden sechs Tage lang fortgesetzt, bis 5000 Armenier, worunter viele Frauen und Kinder, ermordet und alle (ca. 1000) armenischen Häuser niedergebrannt waren.

In allen Landdistrikten des Vilajets wurden die Dörfer geplündert und ungezählte Armenier umgebracht. Eine uns vorliegende Liste giebt Nachricht von 176 zerstörten Dörfern und Städten des Vilajets, in denen 7542 Häuser zerstört und 512 Läden geplündert wurden. Die Gesamtzahl der im Vilajet getöteten Christen wird, soweit Nachrichten vorhanden sind, auf 15 845 berechnet. Die Zahl der Notleidenden, die ohne Unterstützung dem furchtbarsten Elende und zum größten Teil dem Hungertode preisgegeben sind, wird nicht zu hoch auf 100 000 veranschlagt. Bis März dieses Jahres wurden von europäischen Hilfskomitees 60 000 Personen mit Lebensmitteln versorgt, 11 000 türk. Pfd. (220 000 M.) wurden bis zum März verteilt. Mindestens 100 000 türk. Pfd. sind bis zum Winter erforderlich, um die gänzlich ausgeplünderte Bevölkerung am Leben zu erhalten. Es erübrigt noch zu sagen, daß in diesem Vilajet der größte Teil der überlebenden Bevölkerung, um von weiteren Massacres verschont zu bleiben, den Islam annehmen mußte.

Blutbäder im Vilajet Diarbekir.

„Die Kurden kommen am Morgen des 1. November vom Lande in die Stadt, plündern vereint mit den Muhammedanern den Bazar, zünden ihn an und ermorden alsdann die Christen aller Konfessionen. Die Soldaten, die Zaptiehs und die Kurden vereinigen sich, um auf die Christen zu schießen. Die Metzelei dauert drei Tage, obwohl der Vali (Generalgouverneur) vor dem Massacre dem französischen Konsul erklärte, daß er für die Ruhe einstehe.“ (Botschafterbericht.) Die Behauptung, daß die Christen das Massacre provoziert hätten, wurde von den Konsuln als falsch erwiesen, dagegen die sorgfältige Vorbereitung des Massacres vonseiten der Muhammedaner festgestellt. Sogar das Konsulatsgebäude wurde fünfmal, aber erfolglos, von den Kurden angegriffen. Um die Ordnung wieder herzustellen, entwaffnete der Vali die Christen und ließ die Muhammedaner in Waffen. In Diarbekir selbst wurden 2000 Christen getötet, 1701 Häuser geplündert und 2448 Läden verbrannt. Der materielle Verlust wird auf 2 Millionen türk. Pfd. (40 Millionen Mark) veranschlagt. Alle umliegenden Distrikte wurden von den Kurden verwüstet, die Zahl derer, welche ihre Familien dezimiert und ihre Dörfer zerstört sahen, wird auf 30 000 geschätzt. Außer den nachweislich Ermordeten sind weitere 1000 Christen der Stadt und 1000 Dorfbewohner, die in der Stadt arbeiteten, verschwunden. 119 Dörfer des Sandjak wurden geplündert und angezündet. Dasselbe Schicksal betraf die übrigen Distrikte des Vilajets. Im Distrikt Severek allein wurden 176 Dörfer zerstört. Im Kloster Magapayetzotz wurden 300 Flüchtlinge erschlagen. In den Distrikten Selivan, Hyne und der Nachbarschaft 105 Kirchen geplündert und in Moscheen verwandelt, wie überhaupt im ganzen Vilajet die überlebende Bevölkerung der gregorianischen Dörfer und auch eines griechisch-orthodoxen zwangsweise konvertiert wurden; auch das große armenisch-katholische Dorf Telarmen wurde vollkommen ausgeplündert. Die Stadt Mardin, obwohl in großer Gefahr, blieb bis jetzt verschont. Unter den Notleidenden brach die Cholera aus.

Blutbäder im Vilajet Sivas.

Im Vilajet Sivas durchstreifen seit Anfang November bewaffnete Kurdenbanden das Land und sengen und brennen vereint mit den Muhammedanern. „Der Vali kann von der Pforte nicht die Autorisation zu wirksamen Maßregeln erlangen.“ (Botschafter-Bericht.) Das Massacre in der Stadt Sivas beginnt am 12. November mittags und dauert 3 Stunden, wird aber am 14. fortgesetzt. Alle den Armeniern gehörenden Läden sind ausgeplündert und der Kleinhandel vernichtet. Die Zahl der Opfer erreicht 2000. Am Abend des Massacres riefen die Muezzins von der Höhe der Minarets den Segen Allahs auf die Metzelei herab. Im Umkreis von 10 Kilometer um die Stadt sind alle armenischen Dörfer verwüstet. – Die Stadt Gurun wird am 12. November von 2000 Kurden oder, wie man behauptet, verkleideten Redifs (Reserven) belagert, nach 4tägigem Widerstand genommen und in einen Schutthaufen verwandelt. Tausend armenische Häuser wurden verbrannt; Zahl der Opfer über 2000. „Am 28. November, also 14 Tage nach dem Massacre, lagen noch 1200 Leichen unbeerdigt auf den Straßen.“ (Botschafter-Bericht.) Daß 150 Frauen und junge Mädchen von den Kurden weggeschleppt wurden, gehört zu dem Zubehör aller Massacres. 5075 Personen entbehren in Gurun des täglichen Brotes.

In Schabin-Kara-Hissar-Scharki fanden vom 27. bis 29. Oktober Massacres und Plünderungen statt. Am 1. November wurden 2000 Personen, zum großen Teil Frauen und Kinder, die sich in die armenische Kirche geflüchtet hatten, getötet. Die Zahl der Opfer übersteigt in der Umgegend der Stadt mehr als 3000. An 30 Dörfer wurden geplündert und 40–50 Prozent der Bevölkerung wurden getötet. An Städten sind weiter zu nennen Amasia mit 1000 Toten (alle Läden und Geschäfte geplündert), Marsivan, 500 Tote (400 Häuser und Läden geplündert), Vezir-Keupru, 200 Tote (300 Häuser geplündert), Zileh, 200 Tote (300 Häuser und 200 Läden geplündert). Alle Landdistrikte des Vilajets wurden verwüstet, die Ueberlebenden en masse gezwungen, den Islam anzunehmen, z. B. in Gasma 655 Personen. Die Zahl der Notleidenden im Vilajet wird nach zuverlässigen Nachrichten auf 180 000 geschätzt. Es ist keine Rede davon, daß von den Hilfskomitees die Not bewältigt werden kann.

Die vorhergehenden 6 Vilajets waren diejenigen, für die der Sultan vor den Massacres die Durchführung der Reformen mit seinem Ehrenwort versprochen hatte. Die Massacres haben aber auch auf die benachbarten Vilajets von Aleppo, Adana und Angora übergegriffen. Im Vilajet Jsmidt, gegenüber von Konstantinopel, hat schon am 3. Oktober ein Massacre unter der armenischen Bevölkerung von Ak-Hissar stattgefunden (50 Tote, Schaden im Wert von 15 000 türk. Pfd. [300 000 Mark]).

Blutbäder im Vilajet Aleppo.

Das Vilajet Aleppo gehört infolge der Massenmorde von Aintab, Ursa, Biredjik, Marasch u. a. Städten zu denen, die die größten Verluste an Menschenleben erlitten haben. Wir registrieren nur nach der Zahl der Opfer: Biredjik, 96 Tote; Killis, 216 Tote; El-Oghlu, 250 Tote; Albistan, 300 Tote; Yenidje-Kale, 600 Tote; Aintab, 1000 Tote; Marasch, 1390 Tote; Urfa mit 10 000 ermordeten Christen. Zeitun ist die einzige Stadt auf dem ganzen Gebiet der armenischen Massacres, die den ganzen Winter hindurch einen verzweifelten und endlich sieggekrönten Widerstand leistete. 20 000 Menschen hatten sich in die Stadt geflüchtet, und eine ungeheure Zahl türkischer Truppen, die nach und nach herangezogen wurden, vermochten sie nicht einzunehmen. Endlich intervenierten die europäischen Konsuln, und die Armenier von Zeitun erhielten Amnestie. Gleichwohl starben während der Belagerung, in den Kämpfen um die Stadt und vor Hunger 6000 Menschen, ungerechnet Hunderte, die in den Bergen umkamen. Eine besondere Schandthat wird noch von den Truppen berichtet, die eine flüchtende Karawane von 4000 Armeniern zwischen Zeitun und Marasch umzingelten und 3720 Männer, Frauen und Kinder erschlugen.

In Ursa, Biredjik, Severek und Adiaman sind nach den Feststellungen der Konsuln 5900 Personen zwangsweise zum Islam konvertiert worden. In Biredjik giebt es keine Christen mehr. Die Zahl der Notleidenden, welche von den europäischen Hilfskomitees vor dem Hungertode bewahrt werden müssen, beträgt in diesem Vilajet 47 000. Von den Landdistrikten ist jedoch noch verhältnismäßig wenig bekannt. Der Hergang bei den Massacres ist überall der gleiche, entweder werden die Christen ahnungslos von bewaffneten Banden unter Mitwirkung des Militärs überfallen oder auf die perfideste Weise von den Behörden aller Waffen und jedes Schutzes beraubt und dann wie eine Herde Schafe abgeschlachtet. Die Schritte der Konsuln, welche den Massacres Vorbeugen wollen, scheitern an dem Widerstand der Regierungsbehörden. Die Soldaten, Redifs und Hamidichs nehmen auch nach dem Botschafter-Bericht an den Massacres und Plünderungen den lebhaftesten Anteil und werden von ihren Offizieren bei den Angriffen auf die Christen geführt.

Blutbäder im Vilarjet Adana.

Im Vilajet Adana blieben infolge der Anwesenheit amerikanischer und französischer Kriegsschiffe die Städte Mersina, Tarsus und Adana von Massacres verschont. Zwar waren solche dreimal angesagt, doch wagte der Vali infolge des persönlichen Einschreitens der Kommandeure der Schiffe nicht, die Erlaubnis zum Ausbruch derselben zu erteilen. Dagegen wurden die Landdistrikte von Adana mit 20 geplünderten Dörfern und Gehöften und Pajas mit 16 Dörfern und 1809 zerstörten Häusern und Gehöften um so gründlicher verwüstet. Der Vali machte eine Rundreise durch das Vilajet, und sobald er die Dörfer verlassen, fanden die Plünderungen statt. Gleichwohl versicherte er dem Kommandanten des französischen Kreuzers „Le Linois“, daß im Vilajet nirgends die Ordnung gestört sei. Ueberall wurden die Christen entwaffnet, während die Muhammedaner ihre Waffen behalten durften. Die materiellen Verluste im Distrikt Pajas werden auf 50 000 türk. Pfd. (1 000 000 M.) berechnet. Im Taurus wurden viele (engl.) Quadratmeilen Weinberge von den Muhammedaner ausgerodet. Die Zahl der Notleidenden, darunter 7000 Flüchtling aus andern Distrikten, wird auf 17 000 angegeben.

Blutbäder im Vilajet Angora.

Im Vilajet Angora fand am 30. November ohne irgendwelche Provokation von seiten der Armenier ein großes Massacre statt, bei dem 1000 Armenier erschlagen und 600 verwundet wurden 200 Läden des Bazars wurden völlig ausgeplündert; auch auf das Frauenbad wurde ein Angriff unternommen. In Yuzgat, Tschorur und Hadji-Köi fanden Massacres statt, in Yuzgat wurden alle Einwohner, in Hadji-Köi 90 ermordet. 45 Dörfer des Vilajets wurden geplündert. Die Dörfer Ekrek mit 800 Häusern und Mundjursun mit 1000 Häusern wurden nach Ermordung aller Einwohner von Erdboden vertilgt. Irgend eine ernstliche Ueberwachung der sengenden und brennenden Tscherkessen von seiten der Behörden wurde nicht aus geübt, im Gegenteil, ihre Anwesenheit geduldet. Von 12 mobilisierte Bataillonen meutern 8 und die Soldaten desertieren. Ein höhere Offizier der Garnison in Cäsarca erklärte, daß, wenn die Behörde ihm nicht hindernd entgegen getreten wären, er im Augenblick den Aufstand erstickt und das Massacre verhindert haben würde. Ein anderer bedauerte das spätere Einschreiten der Behörden und erklärt, daß wenn man sie nicht gehindert hätte, sie die Armenier bis auf den letzten Mann ausgerottet haben würden. Die in allen Vilajets nach gewiesene Teilnahme des Militärs unter dem Kommando auch der höchsten Chargen wirft das grellste Licht auf den Ursprung der Massacre umsomehr, da die Konsularberichte aus allen Vilajets feststellen, daß von seiten der Armenier keinerlei Provokationen, geschweige denn Revolten und revolutionäre Erhebungen stattgefunde haben. Nur in Zeitun liegt ein besonderer Fall vor, der näher geprüft aber auch das Verhalten der Armenier entschuldigt.

Das Facit unserer statistischen Aufstellung, die ausschließlich auf verbürgten Quellen ruht und noch keineswegs einen endgiltigen Abschluß gestattet, da aus zahlreichen Landdistrikten im Innern ziffernmäßige Angaben fehlen, ist folgendes: In den Massacres erschlagen etwa 88 000. Städte und Dörfer verwüstet: etwa 2500. Kirchen und Klöster zerstört: 645. Zwangsweise zum Islam bekehrt: 559 Dörfer, mit allen überlebenden Einwohnern und hunderte von Familien in den Städten. In Moscheen verwandelte Kirchen: 328. Zahl der Notleidenden: etwa 546 000. Diese Zahlen bezeichnen nur den Umfang unserer statistischen Informationen, nicht den der Thatsachen selbst, die sich also bei weitem schrecklicher herausstellen werden.

Mit Hinzurechnung all der Tausende, die in den noch nicht registrierten Dörfern erschlagen, an ihren Wunden erlegen, auf der Flucht verschollen, an Hunger gestorben sind, Seuchen erlagen und unter dem Schnee des Winters in den Bergen begraben wurden, wird man die Zahl der Opfer der armenischen Massacres mit 100 000 noch zu niedrig berechnen.