Armenien und Europa. Eine Anklageschrift/Erster Teil/Sechstes Kapitel

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
<<< Erster Teil >>>
{{{UNTERTITEL}}}
aus: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift
Seite: {{{SEITE}}}
von: [[{{{AUTOR}}}]]
Zusammenfassung: {{{ZUSAMMENFASSUNG}}}
Anmerkung: {{{ANMERKUNG}}}
Bild
page
[[w:{{{WIKIPEDIA}}}|Artikel in der Wikipedia]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
[[Index:{{{INDEX}}}|Wikisource-Indexseite]]
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
6. Wer ist der Schuldige?

Wir fragen zuvor: Wer ist nicht der Schuldige?

Die Armenier sind nicht die Schuldigen. Es wäre allerdings kein Wunder, wenn das armenische Volk, das seit Jahren durch eine systematische Vernichtungspolitik von seiten der Hohen Pforte jeder Ungesetzlichkeit der türkischen Beamten, jeder Gewaltthat der kurdischen Herren, jeder Erpressung der Steuerbeamten und völliger Rechtlosigkeit vor den Gerichten wehrlos ausgeliefert war, die letzte Kraft zu einer verzweifelten Erhebung gegen das eiserne Joch der Tyrannei aufgeboten hätte. Aber thatsächlich war es gar nicht in der Lage, an einen nationalen Aufstand nur zu denken, denn erstens bilden die Armenier, wenn auch in großen Distrikten kompakt zusammenwohnend, in den in Frage kommenden Provinzen keineswegs überall die Majorität, und zweitens waren sie durch die Gesetze, welche den Christen das Waffentragen verbieten, den Muhammedanern aber erlauben, ein wehr- und waffenloses Volk. In der That hat auch niemand in Armenien selbst daran gedacht, etwas wie eine Autonomie zu erstreben. Was man erhoffte, war nur die endliche Durchführung von Reformen, die, seit 18 Jahren von den christlichen Großmächten garantiert, wenigstens ein erträgliches, noch menschenwürdiges Dasein in Aussicht zu stellen schienen. Auf dem ganzen Gebiet der Massacres ist es uns trotz unserer umfangreichen Informationen, abgesehen von Zeitun, nicht gelungen, irgend eine Bewegung, die auf die Absicht einer Revolte schließen läßt, zu entdecken. Auch der Botschafter-Bericht konnte nirgends auch nur Provokationen von seiten der Armenier feststellen, und wo immer solche von den türkischen Behörden vorgegeben wurden, hat sich die offizielle Berichterstattung als lügenhaft herausgestellt.

In Zeitun lag die Sache so. Als von allen Seiten die Nachrichten von Massacres in den benachbarten Provinzen die armenische Bergbevölkerung des Anti-Taurus in Schrecken versetzten, flüchteten sich Tausende von armenischen Landleuten in das durch den natürlichen Schutz der Berge befestigte Zeitun. In der Umgegend dieser Stadt sind mehr als hundert Dörfer ausschließlich von Armeniern bewohnt. Auch diese drängten nach Zeitun hinein. Nun befand sich nahe bei der Stadt eine türkische Citadelle mit etwa 600 Mann Besatzung. Die Armenier bekamen Nachricht, daß diese Besatzung bedeutend verstärkt werden solle und daß man einen Ueberfall über das in Zeitun versammelte wehrlose Volk im Schilde führe. Sie beschlossen, dem zuvorzukommen, bewaffneten sich, so gut sie konnten, cernierten die Citadelle und zwangen die Besatzung zur Uebergabe, ehe Verstärkung anlangte. Sodann verschanzten sie sich in Zeitun und hielten sich den ganzen Winter gegen eine Armee von 80 000 Mann, die nach und nach gegen sie aufgeboten wurde. Der Erfolg hat bewiesen, daß die Armenier von Zeitun, wenn anders man ein Recht der Notwehr überhaupt noch anerkennen will, gut gethan haben. Während in dem ganzen ungeheuren Gebiet die Armenier sich in Tausenden von Dörfern und Städten, ohne auch nur Widerstand zu leisten, hinschlachten ließen, sind allein die Tapferen von Zeitun, dank der Intervention der europäischen Konsuln, nicht nur mit einer Amnestie davongekommen, sondern haben sich sogar noch das Vorrecht einer Art von Autonomie für Zeitun und Umgegend erwirkt. Es ist wirklich eine Ironie des Schicksals. Die europäische Diplomatie entschuldigt die Zuschauerrolle, die sie gegenüber der Abschlachtung eines ihr schutzbefohlenen christlichen Volkes spielt, damit, daß dasselbe durch seine revolutionäre Haltung gegen die türkische Regierung den Schutz von seiten der Mächte verwirkt habe; aber an dem einzigen Punkte, wo die Armenier, wenn man will, wirklich revoltiert haben, finden sie den ernstlichen Beistand eben dieser Mächte und setzen noch mit Hilfe derselben bei der Pforte alle ihre Forderungen durch, während an den Tausenden von Plätzen, wo sie, an jeder Gegenwehr verzweifelnd, sich dem mörderischen Schwert der Feinde ausliefern, ihnen jeglicher Schutz verweigert und obendrein noch eine Moralpredigt gehalten wird, daß sie es nicht bester verdient hätten. Da möchte man wirklich wünschen, daß die Armenier überall in der Lage gewesen wären, das Beispiel der Bürger von Zeitun zu befolgen und eine allgemeine nationale Erhebung zu stande zu bringen. Sicherlich wäre von den christlichen Großmächten einem Volk mit den Waffen in der Hand die Hilfe zuteil geworden, die man einem wehrlosen Volk unter heuchlerischen Gründen verweigerte.

Die Armenier sind nicht die Schuldigen.

Oder sind es die Engländer? Es offenbart die ganze Verlegenheit der öffentlichen Meinung Europas, sich auf die armenischen Massacres einen Vers zu machen, daß man sogar auf den abgeschmackten Einfall gekommen ist, die „armenischen Revolten“ auf „englische Umtriebe“ zurückzuführen und die anglophobe Phantasie des kontinentalen Publikums mit „englischen Golde“, „englischem Waffenschmuggel und „englischen[WS 1] Hetzaposteln“ zu erhitzen. Wo waren denn die englischen Waffen? Wo war das englische Gold? Irgendwo auf dem ganzen Massacregebiet hätte es doch zum Vorschein kommen müssen. Man könnte einen Preis darauf setzen, die „englischen Umtriebe“ in Armenien nachzuweisen, und gewiß sein, daß kein glücklicher Finder ihn sich verdienen würde. Oder sind das schon „englische Umtriebe“, wenn die englischen Konsuln über die Zustände in Armenien Bericht erstatten? Sind das „englische Umtriebe“, wenn englische Diplomaten sich nach siebzehn Jahren gewisser Paragraphen des Berliner Vertrages und der Cyprischen Konvention erinnern und im Verein mit der französischen und russischen Diplomatie sich daran machen, die altbackenen Versprechungen von Reformen, die man einst einem unglücklichen Volke gegeben, wieder aufzuwärmen? Unterlassungssünden, nicht Thatsünden sind es, die das Gericht der Weltgeschichte England und mehr noch als England den andern Großmächten zum Vorwurf machen wird.

Wenn weder die Armenier, noch die Engländer die Schuldigen sind, wer bleibt noch? Ist es wirklich nur ein durch nichts motivierter Einfall der türkischen Behörden von acht großen Provinzen gewesen, ihren armenischen Unterthanen a tempo den Krieg bis aufs Messer zu erklären? Mehr als unwahrscheinlich, – unmöglich! Das türkische Reich ist absolut und centralistisch regiert. Suprema lex regis voluntas. Der Palast und nicht die Valis regieren das Reich.

Wer unsere bisherigen Ausführungen mit Aufmerksamkeit gelesen hat, wird schon längst zu dem Schluß gekommen sein, daß die armenischen Massacres nichts anderes gewesen sind als eine administrative Maßregel, welche im Namen des Sultans von seiten der Centralregierung angeordnet, mit nur allzu großer Bereitwilligkeit von den Provinzialbehörden angeführt wurde. Den zwingenden Beweis hierfür zu liefern, ist jedem mit den Thatsachen Vertrauten ein Leichtes.

Der Vernichtung des armenischen Volkes liegt ein einheitlicher, schon seit Jahren vorbereiteter Plan zu Grunde, der in den letzten Monaten des vergangenen Jahres infolge des Vorgehens der Mächte mit überstürzter Hast zur Ausführung gebracht wurde. Während schon seit Jahren die von der Regierung bestellten Werkzeuge der Zerstörung in aller Stille und mit möglichst wenig Aufsehen arbeiteten, sah sich die Hohe Pforte durch die drohenden armenischen Reformen genötigt, den Prozeß zu beschleunigen und, selbst auf die Gefahr hin, ganz Europa in Empörung zu setzen, mit einem Schlage das armenische Volk zu vernichten und dem verhaßten Christentum, welches immer wieder die Sympathie Europas erweckte, ein schnelles Ende zu bereiten. Ein einheitlicher Plan in Bezug auf Ort, Zeit, Nationalität der Opfer und sogar auf die Methode des Mordens und Plünderns, lag der Gesamtheit der Massacres zu Grunde.

In Bezug auf den Ort waren dieselben zunächst beschränkt auf das Territorium der sechs Provinzen, Erzerunm, Bitlis, Wan, Charput, Sivas, Diarbekir, in denen Reformen eingeführt werden sollten. Als eine Bande berittener Kurden und Tscherkessen, die auf 2–3000 geschätzt wurde, das Gebiet dieser Provinzen zu verlassen drohte, traten ihnen die Behörden der Provinz Angora entgegen und veranlaßten sie, umzukehren mit der Begründung, daß sie keine Vollmacht hätten, die Grenze der Provinz Sivas zu überschreiten. Allerdings haben die Massacres im Verlauf der Unruhen, abgesehen von einem völlig deplacierten Putsch in Ak-Hissar (Mutessariflik Ismidt), auch auf die Provinzen Aleppo, Adana und Angora übergegriffen, aber man muß bedenken, daß auch für diese Provinzen von den Mächten, soweit in bestimmten Distrikten derselben armenische Bevölkerung kompakter zusammenwohnte, Reformen gefordert wurden, denen vorzubeugen ebenso notwendig erschien. Uebrigens sind auch die Provinzen Angora (mit Ausnahme von Cäsarea und Umgebung) und Adana (mit Ausnahme der Landdistrikte von Paias und Tschok-Merzemen) ziemlich verschont geblieben. Daß in Trapezunt die Massacres ihren Anfang nahmen, scheint daher zu rühren, daß dort ein besonderer Zwischenfall, ein noch unaufgeklärtes Attentat auf zwei Paschas, eine besonders günstige Gelegenheit zum Losschlagen bot. In der Provinz Aleppo nahm der durch die Nachrichten aus anderen Vilajets aufgereizte muhammedanische Fanatismus die Bewegung in den Bergen von Zeitun zum Anlaß und für Marasch, Aintab, Biredjik und Urfa ist es nachgewiesen, daß Sendlinge und Briefe der muhammedanischen Glaubensgenossen die Bevölkerung aufreizten, auch dort ihre Pflicht als Moslems zu thun. Allerdings fehlte es auch hier auf seiten der Behörden nicht an Bereitwilligkeit, die ausgestreuten Funken zur furchtbaren Feuersbrunst anzufachen, wofür ihnen überdies, wie durch Konsularberichte nachgewiesen, die zweideutigen Instruktionen der Centralbehörde zur Richtschnur dienten.

2. Was die Zeit betrifft, so begannen die Massacres nicht von ungefähr unmittelbar bevor der Sultan nach monatelangem Widerstand jeder Art endlich durch England, Frankreich und Rußland gezwungen wurde, dem Reform-Entwurf beizustimmen, wie um die europäischen Mächte zu warnen, daß im Falle sie auf ihrem Willen beständen, die Mine für die Vernichtung des armenischen Volkes schon gelegt sei. Von Trapezunt aus flutete die Welle von Mord und Plünderung durch jede Stadt und jedes Dorf in den sechs Provinzen, in denen den Armeniern Hilfe zugesagt war.

Um einen Eindruck von der Schlagfertigkeit zu geben, mit der die Provinzialbehörden die Ordres der Centralbehörde befolgten, notieren wir die Daten der Massacres an den Hauptplätzen. 30. September: Konstantinopel. – Oktober 3.: Ak-Hissar. – 4.: Trapezunt. – 6.: Erzerum. – 14.: Kighi. – 16.: Hadjin. – 20.: Tschorum und Marasch. – 21.: Erzingjan. – 25–26.: Gumuschhane, Bitlis, Albistan. – 27.-29.: Baiburt, Schabin-Kara-Hissar, Pajas, Urfa. – 30.: Erzerum. – 31.: Mersina, Adana. – November 1.–9.: Malatia. – 2.–5.: Severek. – 3.: Marasch. – 1.–20.: Vilajet Wan. – 7.: Adiaman, Alexandrette. – 8.: Eghin. – 10.: Charput, Talori, Pajas. – 12.: Sivas, Gurun, Kharza. – 13.: Tschok-Merzemen. – 14.–17.: Aintab. – 15.: Tokat, Musch, Merfivan. – 16.: Amasia. – 17.: Denidje-Kale. – 18.: Marasch. – 19.: Seert. – 20.: Wan. – 27.: Passen, Ova. – 28.: Zileh. – 30.: Cäsarea. – Dezember 3.: Sivas. – 7.: Samsun. – 13.: Tarsus. – 14.–15.: Aghdja-Guney. – 24.; Akbes. – 28.-29.: Urfa. – Januar 1. (1896): Biredjik. – Hiermit schließt die erste Serie der Massacres ab.

Wir machen darauf aufmerksam, daß ein örtlicher Zusammenhang nur in engeren Grenzen nachzuweisen ist, im übrigen springen die Massacres über das ganze Gebiet der neun Provinzen willkürlich hin und her. Der Zeitpunkt des Ausbruchs hängt überall von der kürzeren oder längeren Frist ab, die die Vorbereitung in Anspruch nahm. Die Demonstration in Konstantinopel, die zu Ungunsten der Armenier ausgelegt werden konnte, gab einen guten Vorwand her und wurde von den türkischen Behörden im ganzen Lande weidlich aufgebauscht und ausgebeutet, um den muhammedanischen Fanatismus aufzureizen. Später wurde die Veröffentlichung des Reformplanes, der von den Behörden fälschlich und absichtlich im Sinne völliger Autonomie für die Armenier ausgelegt wurde, zur Aufreizung der muhammedanischen Bevölkerung gegen die Christen benutzt. Als die Nachricht von dem ersten Massacre Konstantinopel erreichte, sagte ein hoher türkischer Beamter zu einem der Botschafter: „Massacres sind wie die Windpocken, alle müssen sie haben; aber niemand bekommt sie zum zweiten Mal.“ Das war ein leiser, wenn nicht malitiöser Wink von dem, was man zu erwarten habe. Selbst der Sultan, als er der Zustimmung zum Reformentwurf zu entrinnen versuchte, sagte den Botschaftern, um sie einzuschüchtern, daß Unruhen daraus entstehen würden. Und der Erfolg lehrt, daß er wußte, wovon er sprach.

3. Auch in Bezug auf die Nationalität der Opfer waren strikte Ordres gegeben. Der Schlag sollte nur die Armenier treffen. In vielen Städten, die Massacres hatten, sind starke griechische Bevölkerungen. Niemand hat sie angerührt. Wenn trotz vorheriger Warnung seitens der Behörden doch etliche Griechen umkamen, war es ein Zufall. Noch während der Massacres trafen strengste Befehle ein, die Griechen zu schützen. Man wußte in Konstantinopel, daß man im Falle eines Angriffs auf die griechische Konfession es sofort mit Rußland zu thun bekommen würde. Solche Ordres allein schon, die den Schutz der Behörden auf eine Konfession beschränkten, erklärten die andere, die armenische, für vogelfrei. Uebrigens gelang es im Vilajet Aleppo und Diarbekir doch nicht, dem entfesselten muhammedanischen Fanatismus solche Schranken aufzuerlegen. Die Syrer, Jakobiten und Chaldäer wurden trotz der Befehle von oben mit den Armeniern über einen Kamm geschoren. Mit besonderer Sorgfalt hatte die Centralregierung eingeschärft, ja keinem Unterthan fremder Nationen, selbst den verhaßten Missionaren nicht, auch nur ein Haar zu krümmen. Man wußte, daß ein einziger Europäer der Pforte teurer zu stehen kommt als 20 000 Armenier, und war sehr darauf bedacht, auswärtige Verwickelungen und Zahlung von Entschädigungen zu vermeiden. Selbst da, wo man, wie in Charput, Marasch, Mersivan, Malatia, Yenidje-Kale protestantische oder katholische Missionshäuser plünderte und zerstörte, war man darauf bedacht, das Leben ihrer Insassen zu schonen. Der Pater Salvatore scheint der einzige Europäer gewesen zu sein, der dem armenischen Massenmord mit zum Opfer fiel. Wären die fanatischen Muhammedaner nicht durch strengste Befehle von oben her zurückgehalten worden, sie würden wahrscheinlich die protestantischen und katholischen Missionen zuerst überfallen und die Missionare und Priester totgeschlagen haben, denn gerade diesen wird, als den Hauptwerkzeugen der Bildung, von den Behörden die Schuld beigemessen, die Armenier durch Einpflanzung moralischer Begriffe über die Menschenunwürdigkeit der an ihnen verübten Gewaltthaten und Schändungen aufgeklärt zu haben, und europäische Diplomaten scheinen sich dieser Auffassung anzuschließen und darin einen guten Grund für ihre Abneigung gegen die christlichen Missionen zu erblicken. Viel bester, man läßt die Armenier in Unwissenheit und Sklaverei, und Europa bleibt in Ruhe.

4. Auch die Methode des Mordens und Plünderns war von oben her vorgeschrieben und wurde mit bewunderungswürdiger Gleichmäßigkeit und Präzision unter den so verschiedenartigen Verhältnissen der Provinzen gehandhabt. Mit geringen Ausnahmen war die Methode die: In möglichst kurzbegrenzter Zeit eine möglichst große Zahl von Armeniern totzuschlagen und ihnen möglichst alle ihre Habe abzunehmen und ihren Besitz zu vernichten. Hierbei wurde mit großer Sorgfalt darauf gesehen, daß von allen Männern von Einfluß, Bildung und Wohlstand (nämlich gerade denen, die bei der Durchführung der Reformen einen Anteil an der Verwaltung oder Justiz hätten nehmen können) möglichst keiner übrig blieb und ihre Familien an den Bettelstab gebracht wurden. Da man diese Auslese dem Pöbel nicht mit genügender Sicherheit anvertrauen konnte, wurden von den Valis selbst solche Listen ausgestellt und den Soldaten in die Hand gegeben. Um die armenischen Kaufleute, in deren Händen in den Städten fast 9/10 des Handels war, möglichst mit einem Schlag um alle ihre Waren zu bringen, fanden in allen größeren Plätzen die Massacres in den Geschäftsstunden statt, wenn die Läden und Magazine geöffnet waren und die Armenier gleich hinter dem Ladentisch totgeschlagen werden konnten. Wo diese ihre Läden und Magazine aus Furcht geschlossen hatten, wurden sie durch die Versprechungen oder Drohungen der Behörden veranlaßt, sie kurz vor den Massacres wieder zu öffnen. Die für die Mord- und Plünderungsfreiheit gewährte Frist wurde in der Regel durch Trompetensignale eingeleitet und geschlossen.

Wenn schon das konforme Vorgehen der Civilbehörden ohne gleichlautende Ordre von der Centralbehörde unerklärlich sein würde, so ist das überall den Maßregeln der Civilbehörden korrespondierende Eingreifen der Militärbehörden völlig undenkbar ohne die direkten Befehle aus dem Seraskierat (Kriegsministerium), noch dazu da für die Bewaffnung des Pöbels, der Kurden, Tscherkessen und Lazen, sowie der Redifs überall die Militärdepots in Anspruch genommen werden mußten.

Die einheitliche Vorbereitung und präzise Durchführung der Massacres nach einem vorbedachten und genau umgrenzten Plan läßt keine Möglichkeit offen, die Centralbehörde von der Schuld bewußter Anstiftung und alle Folgen berechnender Anordnung freiznsprechen. Es ist ein vollständiger Irrtum, anzunehmen, wie man es öfter hört, daß die Behörden, nicht imstande gewesen wären, den fanatischen türkischen Pöbel und die räuberischen Kurden zurückzuhalten. Thatsache ist, daß überall die Behörden wo sie nicht selbst mitwirkten, der Schlächterei und Plünderung zusahen, ohne auch nur die Hand aufzuheben, um Einhalt zu thun, und daß überall, wo Behörden eingriffen, wenn die zuvorbestimmte Zeit, ob Stunden oder Tage, abgelaufen war, das Massacre zum sofortigen Stillstand gebracht wurde. Es ist auch von Offizieren und Beamten ausgesprochen worden, daß sie imstande gewesen wären, sofort den Pöbel auseinander zu treiben, wenn sie nicht von ihren Vorgesetzten gehindert worden wären, und wo irgend einmal ein Regierungsbeamter, dem die Entscheidung zustand, nicht mitmachen wollte, oder, wie z. B. in Adana aus Furcht vor den Kriegsschiffen nicht vorzugehen wagte, sind die Massacres nicht zum Ausbruch gekommen.

Wären nicht die Behörden nach der festgesetzten Zeit von ein oder mehreren Tagen eingeschritten, die gesamte christliche Bevölkerung würde bis auf den letzten Mann ausgerottet worden sein. Dem blutigen Werk aber wurde Einhalt gethan, nicht weil die Muhammedaner nicht gewünscht hätten, reinen Tisch mit den Christen zu machen und allen ihren Besitz an sich zu reißen, sondern weil die Inspiratoren der Massacres dachten, daß ein, zwei oder drei Tage Morden so viel sei, als sich Europa auf einmal würde gefallen lassen. Auch diese Rücksichtnahme auf die Nerven der Diplomatie liegt gänzlich außerhalb des Gesichtskreises von Provinzialbehörden und weist direkt auf den feinen politischen Instinkt des Palastes hin.

Eins steht über allem Zweifel fest, daß die gesamte türkische Bevölkerung, und das Militär und die Kurden dazu, sich bewußt waren, nicht nur auf Anordnung untergeordneter Behörden, die ihnen Straflosigkeit zugesichert hatten, sondern auf Befehl und im Namen des Sultans zu handeln. „Das Eigentum der Giaurs ist zu plündern, und ihre Köpfe gehören der Regierung.“ Dies war die Losung, die überall ausgegeben war, auf den persönlichen Willen des Sultans zurückgeführt wurde und die formelle Erlaubnis zu allen Greuelthaten bedeutete. Ueberall hat sich die muhammedanische Bevölkerung in diesem Sinne ausgesprochen, und ihr Urteil fand nirgends eine Zurückweisung seitens der Behörden. Es kommt noch dazu, daß nachweislich die Muhammedaner in ihren Moscheen von den Mollahs in gleichem Sinne instruiert wurden, wo ihnen mitgeteilt wurde, daß das Vorgehen der Regierung gegen die Christen auch die Sanktion des Scheikh ül Islam, des unfehlbaren geistlichen Hauptes der muhammedanischen Welt, besitze, und daß das Religions-(Scheri)Gesetz des Islam die Ausrottung der Christen gebiete, weil diese die Intervention fremder Mächte angerufen und den Versuch gemacht hätten, sich aus der ihnen durch dasselbe Gesetz vorgeschriebenen Lage der Unterwürfigkeit und Sklaverei zu befreien und eine nicht zu duldende Gleichberechtigung mit den Muhammedanern anzustreben. Wie die Bevölkerung, so beriefen sich auch das Militär und die Kurden überall für alle ihre Schandthaten ganz offen auf die Befehle der Regierung, und selbst die höchsten Beamten machten weder unter sich noch gegenüber anderen einen Hehl daraus, daß sie nach übereinstimmendem Plane handelten und Instruktionen des Palastes besäßen. Wie sich der Marschall Zeki Pascha in Erzingjan ausgesprochen, haben wir bereits berichtet. Der Kaimakam von Gurun telegraphierte an den Vali von Sivas: „Du kannst sicher sein, daß nicht ein Armenier in Gurun übrig geblieben ist.“ In Arabkir gaben die Behörden folgende Befehle aus: „Alle die, welche Kinder Muhammeds sind, müssen jetzt ihre Pflicht thun, nämlich alle Armenier zu töten, ihre Häuser zu plündern und zu verbrennen. Nicht ein Armenier soll geschont werden. Das ist der Befehl des Palastes. Die, welche nicht gehorchen, sind als Armenier anzusehen und ebenfalls zu töten. Darum hat ein jeder Muhammedaner seinen Gehorsam gegen die Regierung dadurch zu beweisen, daß er zuerst die ihm befreundeten Christen umbringt.“

Wenn wir auch die Frage offen lassen, ob der Befehl zu den Massacres von der persönlichen Initiative des Sultans ausgegangen ist, oder ob er durch die verschlagene Kunst der Kamarilla des Palastes mittels gefälschter Berichte und von den Provinzialbehörden eingeholter Zwangsadressen dazu vermocht worden ist, Befehle zu geben, die dann mit den nötigen Verschärfungen und praktischen Anweisungen versehen, aus dem Palast in die Provinzen weitergegeben wurden, jedenfalls trägt ein autokratischer Monarch die volle Verantwortung für die Maßregeln seiner Regierung und unwiderrufen bezeichnet ihn die Stimme seines eigenen Volkes als den intellektuellen Urheber all der Tausende von Massenmorden, Plünderungen, Schändungen und Zwangskonversionen, begangen an einem wehrlosen christlichen Volk, das das Unglück hat, ihm unterthan zu sein.

Das Urteil der Geschichte wird auch kaum ein anderes sein können, denn durch zuviel Handlungen hat sich dieser Monarch als den ersten Repräsentanten des alttürkischen Fanatismus bewiesen. Durch die Uniformierung kurdischer Räuberbanden, welche als Hamidieh-Regimenter nach seinem Namen genannt wurden, hat er die vornehmlichsten Werkzeuge zur Vernichtung seiner christlichen Unterthanen geschaffen, durch die Dekorierung und Beförderung der am meisten in den Massacres kompromittierten Regierungsbeamten hat er die Urheber der größten Schandthaten als die auserwählten Rüstzeuge seiner Politik bezeichnet und durch die Straflosigkeit von allem und jedem, was in dieser Schreckenszeit geschehen, sein Kaiserliches Siegel unter ein Regiment des Mordes und des Vandalismus ohne gleichen und unter eine der größten Christenverfolgungen aller Zeiten gesetzt.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: englichen