Armenien und Europa. Eine Anklageschrift/Erster Teil/Viertes Kapitel

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4. Die Inszenierung der Massacres durch die Civil- und Militär-Behörden.

Die Inszenesetzung eines über acht große Provinzen sich erstreckenden Massacres, die Durchführung einer fast völligen Ausplünderung und nebenbei noch Zwangskonvertierung eines ganzen christlichen Volkes ist, wenn man bedenkt, daß es sich dabei ja nicht um offene Kriegführung handelt, sondern um einen im tiefsten Frieden ausgeführten Massen-Raubmord, dessen Anschlag verborgen bleiben sollte, und dessen Spuren möglichst schnell wieder von der Bildfläche verschwinden mußten, eine Sache, die, wenn sie gelingen soll, ein höheres Maß von Berechnung, Umsicht und Organisationstalent erfordert, als selbst eine Mobilmachung zu einem Kriege. Man muß es zugestehen, daß die Inspiratoren und Regisseure der armenischen Mastacres einen geradezu glänzenden Beweis ihrer Fähigkeiten abgelegt und ein in der Geschichte selbst des türkischen Reiches selten erreichtes „génie du mal“ bethätigt haben.

Wer waren die Inspiratoren? – Die Frage ist im gegenwärtigen Stadium dieser unserer Untersuchung noch nicht spruchreif. – Wer waren die Regisseure? – Die Frage wird sich nach Vorführung des Thatsachen-Materials unserer ersten Kapitel der Leser schon selbst beantwortet haben. Daß die Civil- und Militärbehörden bei der Vorbereitung, dem Ausbruch und der Durchführung der Massacres alle Fäden in der Hand hatten und nichts von der ungeheuren Masse von Schandthaten und Verbrechen ohne ihre Konnivenz, Ordre, Mitwissenschaft oder nachträgliche Sanktion geschah, ist eine Sache von so absoluter Evidenz für jeden, der einen Einblick in die Thatsachen gewonnen hat, daß es hieße, den Wald vor Bäumen nicht sehen zu wollen, wenn man sie zu bestreiten versuchte. Es ist eine dreiste Spekulation auf die Unkenntnis ihrer Leser oder ein Beweis völlig ungenügender Information, wenn angesehene Blätter der europäischen Presse sich anstellen, als ob das Märchen von der Revolution der Armenier oder die Fabeln von armenischen Provokationen in dem Massacre-Gebiet noch aufrecht erhalten werden könnten, und als ob man sich gegen die Thatsache der planmäßigen Vorbereitung und Durchführung der Massacres durch die Behörden noch länger die Augen verschließen dürfte.

Es ist bedauerlich, daß die deutsche Presse von den schon recht umfangreichen Erhebungen und Aufschlüssen des Botschafter-Berichtes, der doch schon Februar dieses Jahres im englischen Blaubuch (Turkey Nr. 2, 1896) vorlag, eine eingehendere Kenntnis nicht genommen hat. Ein aufmerksames Studium derselben hätte schon längst die Widersprüche des Urteils über den Ursprung der armenischen Massacres hinwegräumen können.

Die Aufgabe der Civil- und Militär-Behörden bei der Regie der Massacres war eine verschiedene. Die der Militär-Behörden war einfach. Sie hatten zunächst nur im Geheimen den Pöbel, die einberufenen Reserven, die Kurden- und Tscherkessen-Banden, soweit dieselben nicht schon versehen waren, mit Waffen zu versorgen, eine gewisse Einmütigkeit im Vorgehen der irregulären Truppen, der kurdischen Hamidieh-Regimenter und der Gendarmerie mit der bewaffneten türkischen Bevölkerung durch vorgehende Instruktionen zu bewirken, und mit den regulären Truppen nur einzugreifen, wo entweder ein Widerstand vonseiten der Armenier zu befürchten war, oder das Massacre wegen der anfänglichen Scheu des Pöbels nicht in Fluß kommen wollte oder wegen der Schwäche der Angreifer und der Uebermacht der sich verteidigenden Armenier zurückgeschlagen wurde. Wo irgend die Armenier durch Verbarrikadierung ihrer Dörfer oder Quartiere sich zur Defensive entschlossen, was nur in verschwindendem Maße der Fall und wegen der Plötzlichkeit der Ueberfälle selten möglich war, ist es ihnen hernach, wie in Gurun und Diarbekir, um so schlimmer ergangen. In einzelnen Fällen, wo man fürchtete, daß das Militär schon zu sehr mit der christlichen Bevölkerung fraternisiert hätte, wurden unmittelbar vor den Massacres Truppen-Dislokationen vorgenommen, oder, wo die Besatzung zu schwach war, Verstärkungen herangezogen. Beim Ausbruch der Massacres selbst gab die Notwendigkeit, die Ordnung wieder herzustellen, die besten Vorwände, die armenischen Quartiere zu besetzen, Einquartierungen in die Dörfer zu legen, Reserven (Redifs) auszuheben und die irregulären Truppen hierhin und dorthin zu lancieren, um dann im gegebenen Moment die Ordre zum Ueberfall zu erteilen. Die Zwischenzeit von ihrer Stationierung an irgend einem Platz, scheinbar zum Schutz der Bevölkerung, bis zum definitiven Ueberfall, pflegte das Militär, die Redifs und die Zaptiehs zu den einträglichsten Erpressungen und fortgesetzten Entehrungen ihrer Schutzbefohlenen zu benutzen. Nach Beendigung der Verwüstungen und Bergung der Beute wurde dann das Militär nur noch hier und da für die Aufräumungsarbeiten herangezogen.

Die Aufgabe der Civilbehörden war ungleich komplizierter, da sie mit einer doppelten Front zu agieren hatten. Der muhammedanischen Bevölkerung gegenüber mußten sie die Aufreizung zu den Massacres, die Vorbereitung des Ausbruchs und die Garantie für die Straflosigkeit aller Schandthaten übernehmen, während sie der christlichen Bevölkerung und insbesondere den Konsulaten gegenüber, soweit sie es über sich zu gewinnen vermochten, die Arglosigkeit selbst spielten, durch betrügerische Versprechungen ihres Schutzes die Opfer bis zu dem zuvor fixierten Schlachttage hinzuhalten und durch perfide Maßregeln in einer Lage zu überraschen suchten, in der sie der Schlag möglichst plötzlich, sicher und furchtbar traf. Die durch die offizielle türkische Statistik sicher bezeugte Thatsache, daß den Hekatomben von hingeschlachteten Armeniern nur ganz verschwindende Verluste von wenigen Toten auf seiten der Türken gegenüberstehen, – eine Thatsache, über die schon der Botschafterbericht keinen Zweifel ließ – wäre ein absolutes Rätsel, wenn nicht die Lösung so verwünscht einfach wäre.

Auf dem ganzen Gebiet der Massacres wurde, wo etwa ein Widerstand vonseiten der Armenier zu befürchten war, von den Behörden das sehr einfache Rezept befolgt, die Armenier, unter Androhung der Entziehung jeglichen Schutzes vonseiten der Obrigkeit, vollständig zu entwaffnen. Durch Staatsgesetz ist zwar so wie so schon den Christen, und zwar nur den Christen, verboten, Waffen zu tragen. Aber in einem Lande, wo die Regierung ihren christlichen Unterthanen keinerlei Sicherheit gewährt und die Wächter der Ordnung oft genug mit den Räubern und Banditen unter einer Decke stecken, mußte gleichwohl von den Behörden der Besitz von Waffen (mit Ausnahme von gezogenen Gewehren) geduldet werden. Wollte man für die angreifende muhammedanische Bevölkerung Blutvergießen vermeiden, – was die Behörden mit großer Gewissenhaftigkeit bei allen ihren Maßregeln im Auge behielten – so mußte auf der einen Seite die christliche Bevölkerung entwaffnet, auf der anderen Seite für eine ausreichende Bewaffnung der muhammedanischen Bevölkerung Sorge getragen werden. Beides geschah auf eine systematische und gründliche Weise. Durch die Hände der Behörden gingen die Waffen der Armenier in den Besitz der Türken über; wo das nicht ausreichte, wurden die Militär-Depots für die Bewaffnung der Bevölkerung in Anspruch genommen; unter Umständen einfach bekannt gemacht, daß jeder Muhammedaner, der eine Waffe bei einem Christen fände, dieselbe in Besitz nehmen dürfe. Durchgängig leisteten die Armenier schon aus Furcht den Befehlen der Obrigkeit unverzüglich Gehorsam und lieferten ihre Waffen aus; in der Regel machten sie zwar zur Bedingung, daß auch die Muhammedaner entwaffnet werden müßten, was ihnen zwar meist versprochen, aber in keinem einzigen Falle gehalten wurde. Wir wissen nur von einem Ort, dessen Bewohner sich weigerten, ihre Waffen abzuliefern, nämlich Germusch, wo sie es vorzogen, der Obrigkeit lieber gleich ihre Köpfe zum Abschneiden zu Füßen zu legen.

Nachdem so durch die weisen Maßregeln der Behörden die Chancen für die bevorstehenden Massacres derartig verteilt waren, daß bei einem Minimum von Risiko auf seiten der angreifenden Muhammedaner ein Maximum von Wehrlosigkeit auf seiten der angegriffenen Armenier vorhanden war, lag den Regierungsbeamten des weiteren die Pflicht ob, den günstigsten Moment für den Ausbruch der Massacres zu fixieren. Nachdem zu Anfang der Unruhen, die Behörden sich viele Mühe gegeben hatten, ihre Teilnahme an den Vorbereitungen der Massacres, besonders gegenüber den Konsuln zu verschleiern – dem es auch zu danken ist, daß einigen schwer belasteten Beamten im Botschafterbericht noch ein gutes Zeugnis ausgestellt wird – traten sie später ganz ungeniert hervor und nahmen die Leitung der Massacres selbst in die Hand. Man hat es in den seltensten Fällen, wie etwa in Sivas, wo man einigen vornehmen Türken die Fenster einwerfen ließ, für nötig gehalten, da keinerlei Provokationen vonseiten der Armenier Vorlagen, solche herbeizuführen. Man begnügte sich, falsche Gerüchte auszusprengen, die zwar durch ihre stereotype Wiederholung und lächerliche Unwahrscheinlichkeit keinen Glauben finden konnten, aber einen Vorwand hergaben, gegen die Armenier scharf vorzugehen, Arretierungen von Leuten vorzunehmen, die man zuvor aus dem Wege schaffen wollte, und die Entwaffnung der Christen durch kategorische Maßregeln zu bewirken. Die geradezu tolle Behauptung, die in verschiedenen Städten ausgesprengt wurde, die Armenier hätten während des Freitagsgebetes in die Moscheen geschossen, erklärt sich auf sehr einfache Weise dadurch, daß von den Muhammedanern selbst in den Moscheen, wo sie von den Mollahs aufgereizt wurden, Schüsse gelöst worden sind, um solchen Gerüchten einen Anhalt zu geben. In der Regel fand auch der Ausbruch des Massacres unmittelbar nach dem Freitagsgebet statt, wenn die Armenier ruhig und keines Ueberfalls gewärtig in ihren Läden im Bazar saßen. Das Maß von List und Perfidie, welches von den Behörden angewendet wurde, um die Armenier, welche sich meist nach der ersten Panik in ihre Quartiere zurückgezogen und ihre Läden und Magazine geschlossen hatten, zur Wiederaufnahme der Geschäfte und Oeffnung ihrer Läden zu bewegen, übersteigt an Niedertracht oft noch den brutalen Mord. Erst wenn man absolut sicher war, die Armenier völlig unvorbereitet und wehrlos überfallen zu können, wurde das längst erwartete Signal zum Angriff gegeben, oft unmittelbar nachdem die Armenier durch das Drängen und die heuchlerischen Vorspiegelungen der Regierungs-Beamten überlistet, das Geschäft wieder aufgenommen hatten. Zum Tag für das Massacre wurde gern ein Markttag gewählt, damit das hereingekommene türkische Landvolk sich an der Plünderung beteiligen konnte; im übrigen waren die umwohnenden Kurden- und Tscherkessen-Stämme rechtzeitig instruiert worden.

Um die Gleichzeitigkeit des Angriffs an verschiedenen Punkten des Bazars und der Christen-Quartiere zu ermöglichen, wurde in einer Reihe von Städten, so in Trapezunt, Bitlis, Gumuschhane, Erzerum, Charput und anderen durch einen Trompetenstoß, in Urfa durch das Schwenken einer grünen Fahne vom Minaret das Zeichen zur Attacke gegeben.

Die Beteiligung der regulären Truppen an den Massacres und der Plünderung ist nachgewiesen in Trapezunt, Erzerum, Baiburt, Charput, Malatia, Arabkir, Erzingjan, Segherd, Konkhuli, Mezraa, Sivas, Tokat, Marsivan, Amasia, Diarbekir, Urfa, Marasch, Yenidje-Kale, Biredjik und zahlreichen Landdistrikten. In den meisten Fällen hatte das Militär die Führung. Auch die von der Regierung zur Aufrechterhaltung der Ordnung (?) einberufenen Redifs (Reserven) nahmen überall an der Plünderung und den Massacres lebhaften Anteil. Die Zaptiehs (Gendarmen) verfehlten nicht, ihrem Beispiel zu folgen. Aber nicht etwa nur die Gemeinen, auch die Offiziere selbst der höchsten Chargen, beteiligten sich an der Aufreizung der Bevölkerung und vor allem an der Plünderung und Bergung der Beute, wie schon durch den Botschafter-Bericht festgestellt wurde.

Zum Beweis für die von uns gekennzeichnete Haltung der Behörden wurde schon in unsern ersten Kapiteln viel Material beigebracht. Wir müßten, um das Belastungsmaterial in extenso vorzulegen, die ausführliche Geschichte aller hauptsächlichen Massacres erzählen, was aber wenig Zweck hätte, da dieselben nach einer stereotypen Methode durchgeführt wurden und sich wie ein Ei dem andern gleichen.

Wir begnügen uns daher, noch eine Reihe markanter Illustrationen zu unsern obigen Ausführungen beizufügen. Anführungen aus dem Botschafter-Bericht geben wir in Anführungsstrichen.

In Trapezunt sandte der armenische Metropolitan vor dem Ausbruch der Massacres an den Vali Kadri Bey Abgeordnete, um Schutz zu erbitten. Dieser verschwor sich, daß niemand es wagen würde, die Armenier anzugreifen: Wer euch angreifen wollte, müßte erst über meinen Leib hinweg. Gleichwohl duldete derselbe, daß die Muhammedaner drei Tage lang bedeutende Waffeneinkäufe machten, während die Polizei die Armenier daran hinderte. Auf wiederholte Vorstellungen beruhigte der Vali die Armenier aufs neue, erklärte ihnen aber dann, kurz vor dem Ausbruch des Massacres, wenn sie nicht zwei, eines Angriffs auf zwei Paschas verdächtige Individuen, ausfindig machen würden, gäbe es keine Sicherheit für sie. Bei dem Massacre selbst gab der Vali Instruktionen, indem er einzelne hervorragende Armenier bezeichnete, die in erster Linie zu töten seien. Nach Beendigung des Massacres gab er Befehl, die Läden und Häuser der Armenier auszuleeren, indem er rief: Wohlan, meine Krieger, nun beginnt die große Plünderung!

Während sich die türkische Bevölkerung in Erzerum ganz offen auf das Massacre vorbereitete, „beschäftigte sich die Behörde trotz der Bemühungen der Konsuln, sie zu Maßregeln zu veranlassen, ausschließlich damit, Armenier zu arretieren.“

Der Marschall Zekhi Pascha in Erzingjan ermutigte den Pöbel zu den größten Schandthaten, indem er den armenischen Notabeln ganz offen erklärte: Rußland allein könnte euch Armenier schützen, aber es ist im Augenblick Freund der Türkei; die übrigen Mächte vereint mit England können euch keine wirkliche Hilfe bringen. Dank der Freundschaft Rußlands können wir euch ohne Besorgnis vernichten, und ihr könnt gewiß sein, daß wir nicht verfehlen werden, es zu thun.

Die Behörden in derselben Stadt bewogen kurz vor dem Beginn des Massacres die Armenier, ihre Läden wieder zu öffnen. Der Tag war vorher fixiert, der Sturm brach los unter Führung hoher Beamter, welche die Menge anfeuerten: Schlagt die Giaurs tot und fürchtet nichts!

In Charput und Umgegend organisierte der Vali Mustafa Pascha und der Militär-Kommandant Raghib Pascha das Massacre, indem er Waffen an die Türken verteilen ließ. Unter seinen Augen beteiligte sich die Besatzung von Charput mit einer Kanonade von Granatschüssen und Gewehrsalven an der Einäscherung des armenischen Viertels.

Der Vali Aniz Pascha“ von Diarbekir zeigte „offene Feindschaft gegen die Christen und erklärte dem französischen Konsul gegenüber, der ihn auf die beunruhigende Aufregung unter den Muhammedanern aufmerksam machte, daß er nichts von ihrer Seite fürchte und daß er für die Ordnung einstehe.“

„Der Vali“ von Sivas konnte bei Ausbruch der Unruhen im Vilajet „von der Pforte nicht die Autorisation zu wirksamen Maßregeln erlangen.“

In Aleppo „wurden die Vorstellungen der Konsuln bei den Behörden mit offener Gleichgiltigkeit aufgenommen, sie scheiterten an der Entschlossenheit des Vali Hassan Pascha, die Dinge so optimistisch als möglich anzusehen.“

In Urfa leitete der Mutessarif Hassan Pascha die Vorbereitungen zu dem großen Massacre vom 28. Dezember und der Militär-Kommandant Nazif Pascha gab persönlich das Zeichen zum Angriff auf das armenische Viertel, derselbe, der erklärte, er wisse, da er in Bulgarien gewesen, wie man rebellische Rayahs zu behandeln habe.

Der Vali von Adana, Faïk Pascha, anstatt die Maßnahmen, die geeignet sind, die Ordnung aufrecht zu erhalten, zu leiten, machte eine Rundreise durch das Vilajet und stellte sich, als wisse er nichts von dem, was vor sich ging. Der Defterdar Mehemed Idad, sein Stellvertreter, vermehrte die Aufregung durch ungerechtfertigte Maßregeln gegen die schuldlosen Christen.“ Obwohl überall, wo der Vali auf seiner Rundreise durchgekommen ist, das Plünderungswerk begann, erklärte er doch dem Kommandanten des französischen Kriegsschiffes, daß in seinem Vilajet die Ordnung nirgends gestört sei. Ebenderselbe ließ den Priester von Messis einkerkern, weil er sich bei ihm telegraphisch wegen der Plünderung der Kirche beschwerte.

In Amasia war der Vali, ein Tscherkesse, abgeneigt, die Ordre zum Massacre zu erteilen. Der türkische Militärkommandant und die Offiziere hätten ihn beinahe deswegen umgebracht und erzwangen die Ausführung. Ein angesehener Türke sagte einer hochstehenden christlichen Dame: der Befehl für das Gemetzel ist noch früher angekommen, aber die hiesigen Türken wagten nicht, die nach ihrer Meinung wohlbewaffneten Armenier anzugreifen. Deshalb hat man zuerst das Militär vermehrt, unter dessen Beistand dann die türkische Bevölkerung loszuschlagen sich entschloß.

Der Mutessarif von Jsmidt begab sich an den Schauplatz des Massacres von Ak Hissar und erklärte sodann in einem offiziellen Bericht, daß das Vorkommnis ohne Bedeutung sei.

Der mit einer Enquete in der armenischen Reformsache betraute Kommissär der Hohen Pforte Schakir Pascha bereiste das Vilajet Trapezunt, und wo er durchkam, brachen die Massacres aus.

Das letzte Massacre in Wan, 14.–22. Juni 1896, wurde durch den Spezialabgesandten des Sultan, den Kommissär der Hohen Pforte Saadeddin Pascha inszeniert. Er beschuldigte den Vali Nazim Pascha der Lauheit und Unthätigkeit und setzte sich mit dem berüchtigten Kurden-Scheikh Schekir in Verbindung, der das Massacre in den Landdistrikten organisieren mußte. Der Major Halim Effendi, berühmt durch seine Greuelthaten in Sassun, wurde an der Spitze einer starken Truppenabteilung beauftragt, das armenische Quartier Aigestan zu stürmen, wobei er durch eine Kanonade von einem die Stadt überragenden Hügel unterstützt wurde. Die Pöbel-Haufen feuerte er an, indem er ihnen zurief: Wohlan, meine Kinder! Macht nur erst alles nieder, hernach könnt ihr in aller Ruhe rauben und plündern.

Als die Unruhen in Malatia anfingen, eilten zwei hervorragende Männer der protestantischen Gemeinde, Mitglieder des Gerichtshofes, mit ihren beiden Söhnen, zum Mutessarif der Stadt und baten um Schutz. Er erwiderte: Ich kann euch nicht schützen. Sie baten um Schutz für ihre Söhne; er antwortete: Schickt sie in die Kaserne! Die Männer entfernten sich; darauf gab der Mutessarif dem dienstthuenden Zaptieh ein Zeichen, und beide wurden im Hof des Regierungsgebäudes erschossen. Die beiden Jünglinge baten um ihr Leben. Der eine wurde, als er davonlief, niedergeschossen, der andere begegnete einem Kurden, der Geld von ihm verlangte. Er gab 65 Piaster und wurde dann auch niedergeschossen.

In Konkhuli ließ der Militärkommandant zum Anzünden der Häuser Petroleum kommen. Im Distrikt von Yenidje-Kale überfielen die Truppen unter Führung der Offiziere das Hospiz von Mudjuk Deressi, töteten den Pater Salvatore und brannten in Yenidje-Kale alle Häuser und das Franziskaner-Kloster nieder. Der Pater Salvatore war am Abend noch mit einem türkischen Offizier zusammen, dem Führer der ihm von der Regierung gesandten Eskorte, den er bei sich bewirtete; am Morgen mußte er mit den Ordensleuten herunter kommen und wurde vor die Frage gestellt: Muhammedaner zu werden oder zu sterben. Er wollte seinen Glauben nicht abschwören und wurde mit Bajonetten erstochen, zerstückelt und verbrannt.

„Die nach einigem Zögern dem französischen Vizekonsul zu Sivas als Wache gesandten Soldaten murrten laut, daß sie dadurch verhindert seien, am Massacre und der Plünderung teilzunehmen.“

„Die den Hafen von Alexandrette postierenden Soldaten rühmten sich laut, an den Massacres teilgenommen zu haben.“

„Die in Erzerum einberufenen Redifs erklärten, wenn sie ausziehen sollten, um den Befehlen des Sultans zu gehorchen, sie erst das Land von allen Christen reinigen müßten.“

Auch in Aleppo sagten sie offen, „daß, wenn man sie veranlaßt hätte, ihr Heim zu verlassen, man ihnen auch Freiheit geben müsse, die Christen zu plündern und auszurotten.“

In Trapezunt sah man, wie höhere Offiziere geraubte Sachen, auf Wagen geladen, in ihre Wohnungen bringen ließen. Den Kommandanten der Gendarmerie sah man mit Pferden Säcke voll Silbers wegbringen.

In Charput sicherte sich sogar der Vali Mustafa Pascha einen Teil der Beute, indem er einen Kordon von Tscherkessen um die Stadt legte und besonders wertvolle Sachen, die man wegschleppen wollte, für sich mit Beschlag belegen ließ.

All diese Beweise für die Schuld der Militär- und Civil-Behörden ließen sich noch ins Endlose vermehren. Wir glauben aber, daß es eines weiteren Verhörs nicht bedarf, um unsere Leser zu überzeugen und fassen deshalb die Beschuldigungen gegen die türkischen Behörden der armenischen Provinzen in folgende Punkte zusammen:

I. Die Civil- und Militärbehörden sind der Vorbereitung der Massacres von seiten der mohammedanischen Bevölkerung in keiner Weise, weder von selbst, noch auf Ansuchen der Häupter der armenischen Gemeinden, noch auf Ansuchen der Konsuln entgegengetreten.

II. Die Civil- und Militärbehörden haben die Vorbereitung der Massacres selbst in die Hand genommen, indem sie vor Ausbruch derselben folgende Maßregeln trafen: 1) Sie erzwangen in einer gründlichen und systematischen Weise die Entwaffnung der armenischen Bevölkerung. 2) Die muhammedanische Bevölkerung ließen sie im Besitz ihrer Waffen. 3) Sie versorgten noch überdies die türkische und kurdische Bevölkerung in reichlicher Weise mit Waffen, zum Teil aus den Militärdepots. 4) Einige Valis und Militärkommandanten machten Rundreisen in den Vilajets, um die Bevölkerung zur Plünderung aufzureizen, Waffen zu verteilen und die Kurden- und Tscherkessen-Stämme zum Ueberfall der armenischen Dörfer und Stadtquartiere einzuladen und zu instruieren. 5) Sie täuschten die christliche Bevölkerung durch die Versicherung ihres Schutzes, durch Einquartierung von Militär und Aushebung von Redifs, welche scheinbar zur Aufrechterhaltung der Ordnung bestellt waren, in Wahrheit aber angewiesen wurden, an den Massacres und der Plünderung teilzunehmen. 6) Sie ermöglichten den Ueberfall und die Ausplünderung der Bazars, indem sie die armenische Stadtbevölkerung, wenn sie aus Furcht vor den drohenden Massacres ihre Läden geschlossen und sich in ihre Häuser zurückgezogen hatte, entweder durch falsche Vorspiegelungen der wiederhergestellten Ruhe oder durch kategorische Befehle und Zwangsmaßregeln nötigten, ihre Läden und Magazine wieder zu öffnen und das Geschäft wieder aufzunehmen.

III. Die Civil- und Militärbehörden beteiligten sich vielfach unter persönlicher Mitwirkung der höchsten Beamten an den Massacres, der Plünderung und der Zwangskonvertierung, indem sie 1) den Ausbruch des Massacres auf einen bestimmten Tag und eine bestimmte Stunde fixierten, 2) eine bestimmte Zeit von Stunden oder Tagen festsetzten, während welcher dem Pöbel, den Kurden und dem Militär straflose Freiheit zum Morden und Plündern gewährt wurde, 3) die Massacres durch Trompetensignale oder andere Zeichen einleiten und beschließen ließen, 4) Hilfegesuche von seiten der christlichen Bevölkerung abwiesen oder die Supplikanten arretierten, 5) Hilfegesuche und telegraphische Petitionen an höhere Behörden, insbesondere an den Sultan, verhinderten, 6) vor, während und nach den Massacres zahllose Arretierungen von Armeniern Vornahmen, die ohne Einleitung eines Rechtsverfahrens zum größten Teil jetzt noch in den Gefängnissen schmachten und meist den entsetzlichsten Torturen ausgesetzt wurden, 7) das Militär, die Redifs, Kurden und Tscherkessen zur Teilnahme an den Massacres kommandierten, 8) sich durch die ihnen unterstellten Truppen oder Gendarmen einen Anteil an der Beute sicherten.

IV. Die Civilbehörden versuchten nach den Ereignissen die Thatsache der Massacres und der Plünderung zu verschleiern oder zu entschuldigen, indem sie 1) die Armenier fälschlicherweise der Anstiftung beschuldigten, 2) von armenischen Notablen durch Gefängnisstrafen, Androhung des Todes oder neuer Massacres Erklärungen erpreßten des Inhalts, daß die Armenier an dem Ausbruch der Unruhen schuld seien und dank der Maßregeln der Behörden die Ordnung wieder hergestellt sei, 3) die Bestattung der Leichen anordneten und die Spuren der Verwüstung soweit thunlich hinwegräumen suchten, 4) eine Berichterstattung über die Lage der Dinge zu verhindern wußten, indem sie die Briefe der Betroffenen abfingen, Reisen von Armeniern ins Ausland verhinderten und das Eindringen fremder Berichterstatter nicht zuließen, 5) hier und da eine scheinbare Zurückerstattung des geraubten Eigentums anordneten, bei der nur das wertloseste Zeug, kaum ein Hundertstel der Verluste, abgeliefert wurde, 6) Befehle, welche die Sistierung von Massacres, Plünderungen und Zwangskonvertierungen bekannt machten, ohne die Ausführung derselben zu bewirken.

V. Die Behörden thaten nichts, um die, für die völlig ausgeplünderte Bevölkerung verhängnisvollen Folgen der Massacres abzuwenden. 1) Die Unterstützungen der Notleidenden, von seiten der Regierung waren nicht allein lächerlich unzureichend, sondern hörten auch in der Regel nach wenigen Tagen wieder auf. 2) Bemühungen der europäischen Hilfskomitees, den Notstand zu lindern, wurden auf alle nur erdenkliche Weise gehindert oder erschwert und nur dem energischen Vorgehen des englischen Botschafters, als des Vorsitzenden des Internationalen Hilfskomitees, gelang es, in dieser Beziehung Wandel zu schaffen. 3) Für den Wiederaufbau der Häuser, für die Bestellung der Saaten, für den Schutz der Notleidenden gegen den hereinbrechenden Winter geschah nichts. 4) Die Auswanderung der Notleidenden wurde gehindert. 5) Für die Hunderttausende von Witwen, Waisen, Kranken und Hilflosen wurde in keiner Weise gesorgt. 6) Den Notleidenden wurde häufig der letzte Rest ihrer Habe durch rigorose Steuereintreibungen genommen, ja sogar auf dieselbe Weise die erhaltenen Unterstützungsgelder wieder abgejagt.

VI. Einer Wiederholung der Massacres oder einem Ausbruch derselben in den noch nicht betroffenen Distriten wird auch jetzt noch nicht von seiten der Behörden vorgebeugt; im Gegenteil, wie die neuesten Massacres Juni 1896 in Vilajet Wan, Eghin und Niksar und die letzten Unruhen in Trapzunt im August und die ununterbrochenen Zwangskonvertierungen in[WS 1] allen Landdistrikten beweisen, wird die Vernichtung des armeninischen Volkes ungehindert zum Ziel geführt.

VII. Die Urheber und Mitschuldigen der Massenmorde, Plünderungen und Zwangskonvertierungen blieben straflos.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: im