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Auch aus der „guten alten Zeit“

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Textdaten
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Autor: H. v. C.
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Titel: Auch aus der „guten alten Zeit“
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 3, S. 36–39
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1867
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Kritik an der Justiz der vergangenen Zeit
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Auch aus der „guten alten Zeit“.


In jener vielgerühmten „guten alten Zeit“, auf die noch Manche wie auf ein verlorenes Paradies zurückblicken, konnte man in mehr als einer Stadt wohl dem Ausspruch begegnen: „Unser Pranger ist unser Stolz!“ – Fragt man, wie ein solcher Ausspruch irgend einmal möglich geworden sei, so muß man leider antworten: nur dadurch, daß der einst bessere Sinn des Volks so weit heruntergebracht worden war, daß er in Schandbühnen und Hochgerichten auszeichnende Ortsvorrechte zu erkennen vermochte.

In der Heimath des sogenannten Schwabenspiegels kamen mit dem Eindringen des römischen Rechts in Deutschland die allgemeinen deutschen und Kaiserrechte, nach welchen bis dahin öffentlich des Rechts gepflegt worden war, ebenso in Verfall, wie im übrigen „Reiche“. Die ganze richterliche Gewalt, welche das Volk als ein Kleinod so lange als möglich fest gehalten hatte, wurde ihm durch die gelehrten Juristen entwunden und in die Hände der Fürsten gelegt. Von dem alten Volksgericht, für welches jede Gemeinde die Richter selbst wählte, blieb nichts übrig, als – die Heimlichkeit der Vehme. Die freien Gerichtsstätten unter den Eichen Westphalens und Niedersachsens, wie unter den Linden Frankens und Schwabens verödeten, und um so dichter füllten sich die der Oeffentlichkeit verschlossenen Amtsstuben mit kostspieligen Actenstößen. Denn das Volk, das einst sein gutes Recht umsonst hatte, mußte nun das schlechte bezahlen. Fürstliche Richter wurden die gestrengen Herren und Advocaten die Alleinpächter des Rechts; in Beider Hand war es gelegt, nach Gutdünken die Processe auszuspinnen und das Volk auszubeuten. Die traurigste Folge dieser undeutschen Wandelung war aber die, daß der alte Rechtsstolz, das Rechtsgefühl im Volke erlosch und einestheils einer entwürdigenden Furcht vor den allmögenden Gerichtsherren, anderntheils einem Haß gegen die Advocaten Platz machte, der in ohnmächtigen Ausbrüchen des Volkswitzes seine einzige Genugthuung

[37]

Die Schandbühne in Schwäbisch-Hall.
Originalzeichnung von Friedrich Ortlieb.

[38] fand. Nie hat das deutsche Volk sich mit diesem fremden, gelehrten Rechte versöhnt, und die Bestrebungen in vielen deutschen Ländern, durch die Errichtung von Friedens- und Schwurgerichten zu den besten der alten deutschen Rechtsformen zurückzukehren, sprechen es deutlich aus, daß man auch auf dem Rechtsgebiete sich in Deutschland nach Erlösung von Rom sehnt.

Die Hauptursache des Widerwillens der Deutschen gegen das fremde Recht lag aber in der Barbarei, welche dasselbe durch seine Strafen verübte. Gesetze, welche zum Theil in den gesunkensten Zeiten des römischen Lebens für Sclaven aufgestellt worden waren, verhängten diese deutsch-römischen Richter über freie Männer und Frauen; sogar die Folter entnahmen sie denselben und setzten damit der sogenannten „Carolina“, d. h. „Kaiser Carl’s des Fünften und des heiligen römischen Reichs peinlicher Gerichtsordnung“, die Krone „gesetzgebender Weisheit und Güte“ auf, wegen welcher ein berühmter Rechtsgelehrter sie heute noch „verehrungswürdig“ nennt.

Welche Summe von Justizmorden begann mit diesem Augenblick! Und keine Erfahrung, kein noch so offenkundiger Beweis von falschen, durch die Tortur erpreßten Geständnissen fand bei diesen gelehrten Richtern Beachtung. In Basel verließ ein böses Weib ihren Mann. Das Gerücht nannte ihn den Mörder seiner Frau und die Folter peinigte ihm das „Ja“ ab zu einer Unthat, die er nicht begangen hatte. Ein paar Tage nach der Hinrichtung desselben kehrte das Weib zurück, um sich mit ihrem Mann zu versöhnen. Der Justizmord war geschehen, aber die Tortur blieb. Um dieselbe Zeit, 1518, wurden in Stettin einhundert und achtzehn Menschen wegen Kirchendiebstahls hingerichtet, die alle auf der Folter ihre Schuld eingestanden hatten und die sämmtlich unschuldig waren, wie später vier eingefangene Diebe den Herren Richtern bewiesen. Aber die Tortur blieb. – Und welche Phantasie entfalteten die Criminalisten jener Zeit in der Erfindung steigend scheußlicher Martern und Hinrichtungsarten! Was die Despoten des Morgen- und Abendlandes und die wilden Völker jenseits der Meere Raffinirtes im Menschenhinschlachten ersonnen, ward von den deutsch-römischen Rechtstyrannen oft mit förmlichem Witz der Grausamkeit in ein System gebracht und mit kältester Ruhe decretirt und exercirt. Falschmünzer (so belehrt uns Wolfg. Menzel, Geschichte der Deutschen) wurden gesotten, weil sie selbst Kupfer in Silber gesotten hatten. Bigamie wurde in der Schweiz dadurch gestraft, daß der Schuldige mitten entzwei gehauen und jeder seiner beiden Frauen eine Hälfte überlassen wurde. Geistliche wurden in Augsburg in eiserne Käfige gesperrt und wie Singvögel an Thürme aufgehängt, wo sie verhungern mußten, weil man sie bei schweren Verbrechen nicht ungestraft lassen wollte und weltlicherseits geweihten Priestern doch nicht an den Leib konnte. Juden, die gestohlen hatten, wurden zwischen zwei Hunden an den Beinen aufgehängt. In Halle an der Saale hing 1462 ein Jude auf diese Art einen ganzen Tag lang, ohne zu sterben, und bat endlich, Christ werden zu dürfen. Die Mönche tauften ihn, wie er da hing, und suchten ihm nun das Leben zu erbitten. Der Stadtrath weigerte sich aber noch zwei Tage, während der Unglückliche immerfort hängen blieb. Erst am dritten Tage machte man ihn los und er starb erst zwanzig Tage später. Baumschändern riß man den Nabel aus, nagelte denselben an den verletzten Baum und trieb den Unglücklichen so lange um den Stamm herum, bis ihm alle Eingeweide aus dem Leibe gewunden waren. Wilddiebe wurden in Ketten auf Hirsche geschmiedet und in den Wald gejagt. Noch 1666 ließ sich zu Friedberg in der Wetterau ein Hirsch sehen, auf dem ein blutender Mann gefesselt war, der um Hülfe rief und aussagte, er komme aus Sachsen und werde schon drei Tage so umhergeschleift. Man konnte den geängstigten Hirsch nicht einfangen, fand ihn aber später bei Solms zusammengestürzt, Mann und Hirsch todt. Oft nähte man die Wilddiebe in Wildhäute und gab sie den Hunden preis. Im weißen Thurme zu Köln hing man hoch über den Verbrechern Brod auf, und sie mußten entweder darnach kletternd den Hals brechen, oder verhungern. Zu Schweidnitz in Schlesien zwang man einen alten Rathsherrn, zur Strafe den höchsten Thurm auswärts herunter zu klettern; er kam bis zu einem Absatz, wo er stehen blieb und erstarrte, bis ihn der Wind herabstürzte etc. Soweit Menzel, und damit genug der Proben, wie das römische Recht durch deutsche Hände gewüthet hat. Wie werthlos das Menschenleben dadurch geworden, wie ungeheuerlich die Zahl der Hinrichtungen war, möge die eine Notiz andeuten, daß Benedict Carpzow, der berühmteste Jurist des Schöppenstuhls zu Leipzig, von 1620 bis 1666 nicht weniger als zwanzigtausend Todesurtheile gefällt hat.

Derselbe „Witz der Grausamkeit“, wie bei den Todes-, machte sich bei den sogenannten Ehrenstrafen geltend. Nur er konnte jenes Eselslehen der Herren von Frankenstein zu Bissingen erfinden, die der Stadt Darmstadt den Esel zu liefern hatten, auf welchem böse Weiber durch die Stadt geführt wurden; ebenso jene beiden durch eine Kette verbundenen Steine in Dortmund, die von zwei Weibern, die sich gezankt hatten, umwechselnd durch die Stadt getragen werden mußten, wobei eine die andere mit einem Stachelstocke vorwärts trieb; ebenso die sogenannte Geige, ein Bret mit zwei Löchern, durch welche zwei zankende Weiber die Köpfe stecken und einander ansehen mußten; ebenso den Drillkäfig, in dem man Betrunkene und Unbändige herumdrehte, den hölzernen Esel, auf dem sitzend man Polizeistrafen erlitt, und endlich den Pranger, der den Bestraften dem Spott und Hohn der Menge öffentlich preisgab.

Wie nämlich mit der Einführung des römischen Rechts in Deutschland jedes Städtchen, das ein Gerichtssitz wurde, seine Folterkammer erhielt und sein Hochgericht aufbaute, so daß in gebirgigen Gegenden noch heute kaum eine solche Stadt zu finden ist, die nicht aus jener Zeit ihren „Galgenberg“ hätte, ebenso ward vor jedem Raths- oder Amtshause ein Prangerstein oder eine Schandbühne errichtet. Die Einrichtung derselben war sehr verschieden; man hatte stehende, aus Steinbau, aber auch transportable, als Holzgerüste, die man erst für den bestimmten Zweck aufstellte. Der Pranger in Stuttgart z. B. konnte nur mittels einer Leiter bestiegen werden, die der Delinquent selbst an Ort und Stelle tragen mußte; sobald er auf derselben seinen Standpunkt erreicht hatte, wurde sie weggenommen und ihm dadurch der beliebige Rückzug unmöglich gemacht. An der Wand oder Säule der Schandbühne war mittels einer Kette ein Halseisen befestigt, dessen Bestimmung sich selbst erklärt. Oft bot die Bühne auch Raum für mehrere Personen und Halseisen; immer aber befanden sie sich an dem besuchtesten Platz, in der Regel dem Markte der Stadt.

Unsere Illustration führt die Leser der Gartenlaube vor einen solchen Gesellschaftspranger, der aber noch in anderer Weise sich auszeichnet. Es gehört gewiß zu den liebenswürdigsten Eigenthümlichkeiten der Meister der Gothik, daß sie ihre verzierenden Formen überall anzubringen wußten, vom ehrwürdigsten Dome bis zum holzgeschnitzten Großvaterstuhl und zum eisengetriebenen Thürschloß; daß sie aber selbst den Pranger nicht ungeschmückt ließen, ist eine fast rührende Thatsache. Wie schmuck jedoch viele derselben auch gewesen sein mögen, schöner war keiner, als die gothische Schandbühne, welche in der würtembergischen Stadt Schwäbisch-Hall noch heute als ein architektonisches Zierwerk über dem Stadtbrunnen vor dem Rathhaus emporragt.

Das alte Hall in Schwaben kann selbst als ein mittelalterliches Cabinetsstück in der Sammlung deutscher Reichsstädte gelten, soweit es aus dem großen Brande von 1728 gerettet worden ist. Schon die Art des Ursprungs der Stadt läßt auf architektonische Absonderlichkeiten schließen. Bekanntlich hat die Natur dort eine ihrer besten Salzquellen erschlossen, und dieser Segen ist gar bald von den Menschen erkannt worden. Die Chronisten erzählen, daß die Grafen von Westheim und andere Edelleute, welche Herren dieser Gegend waren, seit dem neunten Jahrhundert nach und nach vierzig Schlösser und verschiedene geistliche Orden zugleich mehrere Klöster um die Soolquellen herum erbauten und daß diese vornehmen Steinpaläste den Kern gebildet, um und zwischen welche später der bürgerliche Fleiß seine Werkstätten gründete. Als freie Reichsstadt hatte Hall sogar über ein Gebiet von sechs Quadratmeilen zu verfügen. Um diese Zeit, ungefähr 1400, baute es sein Rathhaus und wohl nicht viel später die Spitzsäule seines Prangers. Den Brunnen darunter schmückt das Steinbild des Lindwurmtödters St. Georg. Der Act der dargestellten Prangerstrafe gehört dem Ende des fünfzehnten Jahrhunderts an, also der ersten Blüthezeit jenes Rechts, das es für uns sehr ungewiß läßt, ob der Mann am Schandpfahl schuldig oder unschuldig leidet.

Die Ausstellung am Pranger wurde zu derjenigen Classe von Ehrenstrafen gezählt, welche nur auf eine Kränkung des Ehrgefühls oder auf eine Beschämung abzielen sollten, ein Beweis, wie tief man sich das Ehr- und Rechtsgefühl im Volke [39] schon niedergedrückt dachte, als man zu einem solchen Mittel der „Beschämung“ greifen konnte. Ebenso häufig wurden aber wirkliche Verbrecher der öffentlichen Schandausstellung unterworfen, ehe man sie zur Verbüßung ihrer Freiheitsstrafen in die Zucht- oder Arbeitshäuser abführte. Der Delinquent wurde, je nach der Sitte der Zeit und der Schwere der Unthat, vom Henker oder vom Büttel (Gerichtsdiener) zur Schandstätte gebracht und ihm hier das Halseisen umgelegt. Man wählte dazu gern einen Wochenmarkttag, wo auch das Landvolk aus der Umgegend in der Stadt anwesend war. Nachdem eine Gerichtsperson dem versammelten Publicum die gefällte Strafe und ihre Ursache publicirt, hängte man dem Ausgestellten eine Tafel um den Hals, auf welcher in großen Buchstaben seine Schuld geschrieben stand. Die Gerichtspersonen zogen sich hierauf zurück und gaben dadurch dem Janhagel der Straße das Zeichen, daß nun seine Zeit gekommen sei, mit faulen Eiern, verfaultem Obst und selbst dem Koth der Straße an dem gefesselten Mann des Halseisens sein Müthchen zu kühlen, bis die hohe Obrigkeit es angezeigt fand, dem Scandal ein Ende zu machen.

Von allen fremdländischen Auswüchsen der Praxis einer hohen antinationalen Rechtsgelahrtheit hat die Prangerstrafe sich am längsten erhalten. Ich selbst entsinne mich noch eines Tages meiner Knabenzeit, wo unser Classenlehrer in der Rathsschule zu Koburg uns eine Stunde früher, als die Schulordnung bestimmte, entließ, weil ein Baumdieb mit der Schandtafel am Pranger ausgestellt werde. Der Lehrer, selbst ein eifriger Baum- und Gartenfreund, erfüllte durch eine beredte Schilderung der Häßlichkeit eines solchen Frevels, wie ein Baumdiebstahl es sei, unsere jungen Herzen mit mächtiger Erbitterung gegen den Verbrecher, und so rannten wir stürmisch dem Marktplatze zu. Ein großer Haufen Kinder anderer Classen und Schulen stand bereits um den Pranger herum; das erwachsene Geschlecht hatte sich nicht eben zahlreich eingestellt. Unter den Knaben tobte ein wahrer Wetteifer der Betheuerungen, wie man „den schlechten Kerl“ mit faulen Eiern und Koth „plätzen“ (d. i. werfen) wolle. Punkt halb zehn Uhr führte man den Gefesselten auf seinen traurigen Platz und hing ihm die Schandtafel mit der Aufschrift „Baumdieb“ um. Als der Unglückliche, ein schon ältlicher Mann, die Menge Kinder sah, fing er bitterlich zu weinen an. Damit hatte er es bei uns gewonnen; wollte auch ein Haufen wilder Vorstadtjungen mit dem „Plätzen“ beginnen, so blieb’s doch bei ein paar unschädlichen Versuchen. Die bessergearteten Knaben waren nun einmal vom Anblick der Mannesthränen ergriffen – und beschämten die „Carolina“. Nur „Baumdieb“ riefen viele Kinder, aber meist die Mädchen. Nach einer halben Stunde führte man den Verbrecher in’s Zuchthaus auf die Veste Koburg ab, wo seiner, nach der Hausregel jener Zeit, zum Willkommen fünfundzwanzig Stockprügel harrten. Das war am 4. Juni 1822.

Ja, die gute alte Zeit hat in dieser Beziehung lange genug gedauert, und leider giebt es sogar deutsche Gegenden, wo sie noch heute nicht zu Ende ist.
H. v. C.