Auf dem schwimmenden Hôtel
Unter den jungen Hamburgern und Bremern, die sich dem Kaufmannsstande widmen, giebt es auch Exemplare, welche nach vollendeter Lehrzeit nicht „über See gehen“; sie sind aber selten. Mein Freund Robert, Sohn der freien und Hansestadt Hamburg, machte keine Ausnahme von der Regel; er ging, als seine Eltern gestorben waren, nach Mexico, verdiente viel Geld kehrte kürzlich via New-York zurück, um einige Wochen in der Heimath zu verleben.
„Bei der ganzen Reise von New-York bis Hamburg war mir nur Eins unangenehm,“ erzählte Robert beim ersten Wiedersehen, „daß die Tour so schnell vorüberging. Die zehn Tage von New-York bis hier gehören zu meinen angenehmsten Erinnerungen.“
„Nur zehn Tage!“ rief ich. „Es ist unbegreiflich!“
„Ja, man reist ebenso schnell als genußreich heutzutage,“ bestätigte Robert. „Zur Reise nach Veracruz habe ich selbst per schnellsegelnden Schooner zehn Wochen gebraucht und dankte meinem Schöpfer, als ich an Land kam. Die Tour über den Ocean per Segelschiff ist selbst in der Kajüte Fegefeuer, im Zwischendeck Hölle. Aber die Passagiere eines der großen transatlantischen Dampfer der ‚Hamburg-Amerikanischen Paketfahrt-Actiengesellschaft‘ leben in der ersten Kajüte wie im Paradiese, in der zweiten wie Gott in Frankreich, und was die Zwischendecksgäste anbelangt, so sind sie während der Reise mit ihrem irdischen Loose sehr zufrieden. Apropos – Du hast doch schon einen der transatlantischen Steamer besichtigt?“
„Nein, noch nie.“
„Dann müssen wir hin,“ erklärte der Bürger Mexicos mit großer Bestimmtheit! „Die Paketfahrt-Gesellschaft hat nichts dagegen, wenn man eines ihrer schwimmenden Hôtels in Augenschein nimmt und zwar gegen vier Schillinge Entreé à Person zum Besten der Pensionscasse der Angestellten der Gesellschaft, um dem allzu großen Andrang zu wehren. Wenn wir übermorgen den Besuch abstatten, so kann uns vielleicht Herr Möller, einer der Gentlemen vom Bureau der Paketfahrt-Gesellschaft, ein ebenso liebenswürdiger Begleiter wie sachverständiger Führer sein.“
„Well, arrangire das,“ nickte ich. „Also übermorgen“ –
Achtundvierzig Stunden später standen wir vor dem Hafenthor, Vorstadt St. Pauli, zweihundert Schritte vor dem Anlegeplatze der großen transatlantischen Schraubendampfer.
Vor uns lag die „Thuringia“, ein schönes, stattliches großes Schiff, das, wie meine Begleiter versicherten, nicht weniger als tausend Menschen auf einmal beherbergen kann.
„Gegen tausend Menschen! Wie ist das möglich?“
Herr Möller öffnete auf einen verständnißinnigen Blick meines Freundes sein Notizbuch. „Erste Kajüte siebenzig Passagiere, zweite hundertzwanzig, Zwischendeck sechshundertfünfzig. Mannschaft: ein Capitain, vier Officiere, ein Arzt, ein Chirurg, ein Proviantmeister nebst einem Gehülfen, zwei Zimmerleute, zwei Bootsleute, vier Quartiermeister, ein Segelmacher, fünfzehn Matrosen, vier Leichtmatrosen, drei Schiffsjungen, ein Küper, ein Klempner, ein Schlachter, zwei Bäcker, ein Conditor, drei Köche nebst vier Gehülfen, zwei Oberstewards, neunzehn Stewards (Kellner), zwei Stewardesses (Kellnerinnen), vier Ingenieure nebst drei Assistenten, ein Kesselschmied, einundzwanzig Heizer, sechszehn Trimmer (Heizergehülfen), ein Ingenieurjunge, zusammen hundertzweiundzwanzig Personen; Summa-Summarum neunhundertzweiundsechszig Köpfe.“
„Nun ziehen wir noch in Betracht,“ fügte mein Freund hinzu, „daß ein bedeutender Theil des innern Schiffsraumes von den zu befördernden Waaren in Anspruch genommen wird. Dazu kommen die Maschinen, die Vorräthe an Kohlen, Proviant, Takelwerk, die Werkstätten, Küchen etc. Und dennoch bleibt für den einzelnen Passagier, wie Du Dich überzeugen wirst, noch hinreichend Raum.“
Wir durchwandelten den Thorweg, welcher zu den großen Speichern der Paketfahrt-Gesellschaft führt. Zwischen letzteren liegt ein mit Glas gedeckter breiter Gang, durch den man zu der Landungsbrücke kommt, welche die Dampfer mit dem Festlande verbindet. Ein flüchtiger Blick ward in die einfach meublirten Wartezimmer im Erdgeschoß der Speicher gethan, dann überschritten wir die Landungsbrücke, gaben dem dort postirten biedern Matrosen unsere Karten und wurden auf Deck von mehreren in elegante Seemannsuniform, blau mit Gold, gekleideten Officieren der Thuringia höflichst empfangen.
„Hier befinden wir uns,“ erklärte Herr Möller, „auf dem Spardeck. Die Thuringia hat dreitausend Tons (à zwanzig Centner) Gehalt und ist ein Vierdecker. Gehen wir eine Treppe tiefer, so kommen wir auf das Hauptdeck; das nächstfolgende Stockwerk ist das Zwischendeck, und auf dieses folgt das Lower- oder das untere Deck, dann [767] kommt der Raum. Die Bohlen des Spardecks, auf denen wir jetzt gehen, sind von dem besonders zähen Teakholz; Wände und Rippen des Schiffes sind von Eisen. Auf gewöhnlichen Schiffen ist nicht viel freier Platz auf dem Spardeck; hier aber sind fast alle sonst den Verkehr hindernden Gegenstände derart angebracht, daß fast der gesammte Raum des Decks, dreihunderteinundvierzig englische Fuß Länge und vierzig Fuß Breite, den Passagieren zur Benutzung bleibt. So sehen Sie die Brücke, auf welcher der commandirende Officier seinen Platz hat, über unseren Häuptern; von dort aus geht ein elektromagnetischer Telegraph nach dem Steuerhäuschen und nach dem Maschinenraum. Das Aufwinden des Ankers gehört auf anderen Schiffen zu den schwersten Arbeiten der Matrosen; hier ist der Dampf so freundlich, die Mühe des Drehens der Ankerwinde zu übernehmen.“
Auf Deck besahen wir ferner das mit nautischen Apparaten, Karten etc. ausgestattete Navigationszimmer der Officiere, die großen Ventilatoren, welche fortwährend frische Luft nach unten führen, anzusehen wie gigantische, oben gekrümmte Ofenröhren, die zu friedlichen Freuden- und Signalschüssen bestimmten Kanonen, die große Schiffsglocke, die Waschhäuser für die Zwischendeckspassagiere, die Dampffeuerspritzen, die Hebekrähne.
Der Schornstein war von einem Umfange, daß ihn wohl kaum fünf Männer hätten umspannen können. Da das Schiff durch Dampfkraft bewegt wird, so führt es die Masten und Segel hauptsächlich als Reserve, wenn die Maschine den Dienst versagte oder die Schraube bräche. Die Schraube befindet sich hinten am Schiff vor dem Steuer; sie wiegt die Kleinigkeit von dreihundert Centnern und hat siebenzehn Fuß sechs Zoll englisch im Durchmesser. Das Steuer ist, wie die meisten Einrichtungen der Thuringia, ein Patent-Apparat von ganz vorzüglicher Construction. Hier im Steuerhäuschen haben mit dem Compaß die beiden fast mannshohen Steuerräder ihren Platz, die, wie auf allen anderen Seeschiffen, von einem einfachen Matrosen gedreht werden, während die eigentlichen Steuerleute oder die Officiere, wie sie genannt werden, den Lauf des Schiffs berechnen und commandiren, wie gesteuert werden soll.
Wir passirten inzwischen das hinten auf dem Spardeck liegende Entréezimmer, etwa so elegant eingerichtet wie ein Waggon erster Classe auf deutschen Eisenbahnen, stiegen die teppichbelegte Treppe hinab und traten nunmehr in das Allerheiligste, den Salon der ersten Kajüte.
Der Anblick war wirklich überraschend und läßt sich kaum beschreiben. Alles, was geschehen konnte, um diesen etwa hundert Fuß langen, vierzig Fuß breiten und über acht Fuß hohen Raum luxuriös, kostbar, prächtig, reich und doch nicht überladen, sondern bis in die kleinsten Details geschmackvoll auszustatten, ist geschehen, und so ward der Salon zum wahren Schmuckkästchen, hübscher eingerichtet, als manches fürstliche Boudoir. Getäfel von polirtem Ahornholz mit Nußbaum-Füllung bedeckt die Wände; Leisten und Simse sind vergoldet; allerliebste Karyatiden, Meisterwerke der Bildschnitzkunst, tragen die Decke. Die in der Mitte der Füllungen angebrachten Oelgemälde, acht an der Zahl, Landschaften und Seestücke, weisen Namen von Meistern wie Kauffmann, Hünten, Mosengel, Nonnenkamp, Krüger auf; das von oben durch die „Skylights“ einfallende Licht ist ihnen freilich vortheilhafter, als die durch die örtlichen Verhältnisse gebotene Einrahmung unter Glas. Schwere Teppiche mit den Wappen Hamburgs und der Paketfahrt-Gesellschaft bedecken den Boden. Längs der Mitte des Salons erstrecken sich die Tische, an denen siebenzig Personen zu gleicher Zeit diniren können, nebst den mit rothem Sammet überzogenen Bänken mit beweglicher Lehne, die sich nach der Tischseite und nach der Wandseite hin aufklappen läßt, alles Patent, wie Herr Möller wiederum mit berechtigtem Stolze bemerkt. Bänke und Tische sind unverrückbar an den Boden befestigt. Von der Decke herab hängen prachtvolle Petroleumlampen, jede inmitten zweier massiver Messingringe, die ihnen gestatten, trotz aller Schwankungen des Schiffes im Gleichgewicht zu bleiben, ebenso eine Anzahl von Gläsergestellen, die auf freundschaftlichen Anstoß seitens des Herrn Möller lustig an der Decke schaukeln, ohne daß auch nur ein Römer oder ein Champagnerkelch das Gleichgewicht verlöre. Beim Eingang ist ein Meisterwerk der Kunsttischler-Arbeit, ein großer „Sideboard“ (Buffet) placirt, am andern Ende des Salons prangt ein kostbares Piano aus erster Fabrik, Nußbaum mit reicher Vergoldung. Kurzum, das gesammte Interieur ist mit blendender Pracht ausgestattet und bietet dem Beschauer immer neue Objecte der Bewunderung.
Endlich trennen wir uns von dem bezaubernden Salon, um die auf beiden Seiten des Saales liegenden einzelnen Schlafkajüten anzusehen. Hier aber endet die anscheinende Raumverschwendung und das Princip, keinen Quadratzoll unbenutzt zu lassen, tritt wieder in den Vordergrund; je zwei und zwei Betten liegen über einander, und um in das obere zu kommen, muß man eine kleine Mahagony-Treppe erklettern. Die Hôtels auf dem Festlande besitzen Betten von größerem Format, aber an Sauberkeit, Eleganz und Comfort lassen sich die hier gebotenen Ruhestätten nicht übertreffen. Die Schlafcabinen erhalten ihr Licht durch kleine Seitenfenster von gewaltig dickem Glase in höchst soliden Messingrahmen, denen auch der wildeste Wogenprall nichts anhaben kann. Die Wascheinrichtungen sind von Porcellan, die Sophas mit rothem Sammet überzogen; Teppiche fehlen auch hier nicht. Für sorgfältig temperirte Erwärmung dieser, wie aller Räume des Schiffes sorgt hie Dampfheizung. In die Schlafcabinen gehen telegraphische Drähte, durch welche man mittelst Glockensignal jeden der dienstbaren Geister des Schiffes herbeirufen kann. Badezimmer für Damen wie für Herren, sowie auch eine Bibliothek stehen den Passagieren zur Verfügung.
Nach Besichtigung des Damensalons und des Rauchzimmers, deren Ausstattung sich hinsichtlich Pracht und Eleganz gleichfalls des Salons würdig zeigte, begaben wir uns hinab zur zweiten Kajüte, wo man für die Ueberfahrt nach New-York nur hundert Thaler preuß. Courant zu zahlen hat, während der Platz oben hundertfünfundsechszig Thaler kostet (alle Preise inclusive voller Beköstigung, exclusive Wein). Indessen hat man unten, wie meine Begleiter bemerkten, eigentlich dasselbe wie oben, jedenfalls denselben Comfort; natürlich ist die Ausstattung etwas weniger luxuriös, und während man oben wahrhaft lucullisch speist, fallen hier die Delicatessen und theuren Leckereien weg. Immerhin jedoch ist die Tafel der zweiten Kajüte im Stande, auch einen verwöhnten Gaumen zu befriedigen.
Neben den Speisesälen liegen die Anrichtezimmer, woselbst Apparate, die mit der Dampfheizung in Verbindung stehen, zum Warmhalten der aufzutragenden Speisen dienen. Klein, aber niedlich sind die Kajüten des Capitains, der Officiere, des Arztes, des Proviantmeisters. Alle Räume, welche Mannschaft und Bedienung des Schiffes bewohnen, scheinen dem Auge der „Landratten“ natürlich eng, während der Seemann auf keinem andern Schiffe über so viel Platz verfügen dürfte, ganz gewiß, aber nicht über so hübsch eingerichtete Räume, die manchen für „Jan Maat“ ganz ungewohnten Luxus enthalten. Die Wohnungen der Mannschaft haben separate Aufgänge nach Deck und sind von den Räumen, welche die Passagiere inne haben, durchaus getrennt.
Das Zwischendeck war nach all der Pracht, die wir bisher gesehen hatten, fast geeignet, unsere Erwartungen zu täuschen; es enthielt nur Bettstellen (Matratzen etc. müssen sich, wie auf allen Auswandererschiffen üblich, die Zwischendeckspassagiere selbst mitbringen) und das einfachste Mobiliar, Tische und Bänke. Herr Möller gab indessen die nöthigen Erläuterungen. „Der Zwischendecks-Passagier,“ sagte er, „macht wenig Ansprüche; für die bezahlten fünfundfünfzig Thaler erhält er reichliche und gute Kost, was für die guten Leute die Hauptsache zu sein pflegt, abgesehen davon, daß das Essen hier um Vieles besser ist, als es die meisten von ihnen auf dem Lande gewohnt sind. Auch geht ja die Ueberfahrt rasch von Statten. Im Uebrigen bieten wir Vortheile, wie sie sonst nirgends zu finden sind, besonders die durch eine eigene Luftpumpe beschaffte gute Ventilation der Räume, dann die separate Abtheilung für einzeln reisende Frauen und Mädchen, die Fürsorge hinsichtlich etwaiger Krankheitsfälle, so daß unsere Einrichtungen seitens der Sachkenner aller Länder bereits als Muster für sämmtliche Auswandererschiffe hingestellt worden sind.“
„Wie viel befördern Sie Passagiere?“ fragte ich.
Herr Möller griff zum Notizbuch. „Wir haben innerhalb der fünf Jahre von Anfang 1865 bis Ende 1869 befördert: 136,306 Passagiere nach Amerika, 29,015 von Amerika, zusammen 166,221; der Waarentransport auf unseren Dampfern während jener Zeit belief sich auf circa sieben Millionen Centner.“
„Und wie viele Schiffe besitzt die Gesellschaft?“
„An Dampfern ersten Ranges, jeder circa fünfhundertfünfzigtausend [768] Thaler Preußisch Courant kostend, die Thuringia, Holfatia, Westphalia, Hammonia, Cimbria, Saxonia, Borussia, Bavaria, Teutonia, Allemannia, Silesia, Germania, Vandalia, Alsatia und Frisia. Mit dieser Flotte betreiben wir die directe Post-Dampfschifffahrt von hier aus auf drei Hauptlinien, nach New-York, New-Orleans und Westindien. Ferner besitzt die Gesellschaft zwei elegante Passagierdampfer, Cuxhaven und Helgoland, welche während der Badesaison die Linie Hamburg und Helgoland befahren, zwei Bugsirdampfer, Concurrent und Pilot, und eine aus dreizehn großen Fahrzeugen bestehende Leichterflotille, außerdem zwei schwimmende Dampfwinden und zwei schwimmende Kohlenlager, endlich ein eigenes großartiges Trockendock dort jenseits der Elbe am kleinen Grasbrook. – Die Gesellschaft arbeitet mit sechs Millionen Mark Banco Actiencapital, vier Millionen fünfhundertzwanzigtausend Thaler Prioritätsanleihe – also über zehn und eine halbe Million Mark Banco oder fünf und eine Viertel Million Thaler Preußisch Courant. – Hier,“ fuhr Herr Möller fort, das Buch mit den achtunggebietenden Ziffern wieder in die Tiefe seines Paletots versenkend, „können Sie einen Blick in den Maschinenraum werfen. Die Maschine hat nominell siebenhundertfünfzig, effectiv dreitausend Pferdekraft; es sind vier Kessel mit vierundzwanzig Feuern vorhanden, die täglich ungefähr sechszehnhundert Centner Kohlen verbrauchen. Die Kohlenmagazine des Schiffes fassen elfhundert Tons.“
Auf dem Wege zur ersten Kajüte zurück zeigte Herr Möller noch das Speisezimmer der Officiere, die Barbierstube, die Bäckerei, die Conditorei, das Eismagazin, die großartigen Küchen, die Hospitäler für Männer und Frauen, die Apotheke, sowie Vorrathskammern und Werkstätten verschiedenster Art.
Offenbar sollte nichts versäumt werden, uns auch von der Tüchtigkeit der Vorrathskammer den wünschenswerthen Begriff zu geben, denn wir waren kaum in den Salon getreten, als der Steward eisgekühlten Champagner excellenter Qualität brachte. Wir füllten die Gläser mit dem schäumenden perlenden Naß und stießen an auf glückliche nutzenbringende Fahrten aller Hamburger Schiffe und ihrer „Schwimmenden Hôtels“, und ganz besonders des guten Schiffes Thuringia.