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Auf der Glarner Landsgemeinde

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Textdaten
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Autor: F. Gengel
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Titel: Auf der Glarner Landsgemeinde
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 27, S. 425–428
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1864
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[425]
Auf der Glarner Landsgemeinde.
Ein Bild aus dem Schweizer Staatsleben.

Unsere Zeit ist mannigfachen Freiheitsdranges voll; mit steigendem Erfolge ringt sie nach Lösung der beengenden Fesseln des Mittelalters und nach Geltendmachung der nach Natur und Vernunft dem Menschen angestammten Rechte. Allein wie ein Zaubermärchen kommt es uns vor, wenn wir aus alter Vorzeit hören, wie die freien germanischen Volksstämme in offener Volksversammlung zusammentraten, um Rath und Gericht zu halten, wie sie Schild und Schwert zusammenschlugen, um ihren beifälligen Sinn zu offenbaren, wie sie unter Waffengetöse den selbstgewählten Herzog auf den Schild erhoben und in den Reihen umhertrugen. Das waren, so denkt man, noch urkräftige Zeiten, da galt der freie Mann noch etwas und der Name Volk hatte seine Bedeutung in Recht und That; allein diese Zeiten sind vorüber, kommen nie wieder und sind für uns auf immer unmöglich geworden.

Und doch treten noch heutzutage, wie je vor Alters, Nachkommen der Alemannen in sechs schweizerischen Cantonen zu offener Landsgemeinde zusammen, Rath und Beschluß über den Landeshaushalt zu fassen und ihren obersten Vorstand, den Landamman, sammt Regierung zu wählen. „Zwar die Ritter sind verschwunden, nimmer tönet Speer noch Schild“, aber doch tragen die Appenzeller noch ihr Seitengewehr mit zur Gemeinde, und in den übrigen Ländern stützt sich der Landamman auf das mächtige Landesschwert; noch schwören die versammelten Tausende zum freien Himmel den Landeseid, das Vaterland über Alles zu halten und zu schirmen. Und was die Hauptsache ist, der Wille des Volkes und seine Geltung sind geblieben; schlägt man nicht mehr die Waffen zusammen, so erheben sich doch, feierlich still in Appenzell, mit rauschendem Hoch in Glarus, die Hände, und ihre Mehrheit ist Gesetz.

Diese Landsgemeinde – der uralte Volksthing – ist keine veraltete Ruine, keine geborstene Säule, die über Nacht etwa stürzen kann – sie ist vielmehr ein lebensvolles Staats- und Volksinstitut, das durch seine Dauer bis auf den heutigen Tag seine Existenzfähigkeit bewiesen hat, das aber nicht alt geworden, sondern erst jetzt bestimmt ist, neu erkannt zu werden und, wenigstens in analogen Formen, um sich zu greifen und Eroberungen zu machen. Denn die Freiheit wird nicht alt, sondern nur die Menschen, welche sie nicht begreifen und ertragen, und wenn sich dieselbe im Hochgebirge, in kräftig geschirmtem und zugleich vom Schicksal begünstigtem Asyle, erhalten hat, unerkannt von den blöden Augen und unerspäht von ihren Feinden, so ist sie damit kein heiliger Rock von Trier geworden, sondern vielmehr einem classischen Kunstdenkmale zu vergleichen, das verdient, hervorgegraben zu werden und den Künftigen im Geiste und nicht im Aber- und Wunderglauben zum Beispiel und zur Lehre zu dienen.

Wie schon bemerkt, haben noch sechs Cantone der Schweiz das Institut der Landsgemeinde: Appenzell Außer-Rhoden und Inner-Rhoden, Glarus, Uri, Obwalden und Nidwalden. In dem kleinen Zug ist die Landsgemeinde abgeschafft, in Schwyz mit Bezirkslandsgemeinden vertauscht. Von den erstgenannten Cantonen sind Appenzell Inner-Rhoden, Uri, Obwalden und Nidwalden nicht in allen Stücken geeignet, uns als Vorbild zu dienen, denn in ihnen zeigt sich der demokratische Volksstaat mit starker katholisch-hierarchischer Beimischung versetzt, so daß nicht nur seine Reinheit darunter leidet, sondern daß er überhaupt einer uns hier ferner liegenden ganz besondern Darstellung und Würdigung bedürfte; dagegen sind Appenzell Außer-Rhoden und Glarus ungemischte und unverfälschte Beispiele auf die offene Landsgemeinde gegründeter Volksstaaten und um so mehr geeignet, ihre constitutionelle Organisation als lebensfähige und bemerkenswerthe Verfassungsformen zu vertreten, weil sie alle Errungenschaften der liberalen Schweiz theilen und in Bildung und Wohlstand keinem ihrer eidgenössischen Mitstände nachstehen. Von beiden aber ist wiederum die Glarner Landsgemeinde die lebendigere, dramatischere. Da dieselbe in diesem Jahre außerdem einen sehr interessanten Verlauf nahm, so wähle ich sie, um den Lesern der Gartenlaube ein möglichst anschauliches Bild eines zu Rath und Beschluß versammelten freien Volkes zu zeichnen.

Auf 22. Mai d. J. war das Glarner Volk zur diesjährigen Landsgemeinde entboten. Frühmorgens fuhren in rasch aufeinander folgenden Reihen die Wagen der Hinter- und Unterländer in die Straßen des im engen Alpenthale am Fuße des drohend hereinragenden Glärnisch gelegenen Hauptortes Glarus, und schon vor der angesetzten Zeit wimmelte derselbe von Landleuten, welche sich diesmal besonders zahlreich eingestellt hatten, weil die Tractandenliste der Landsgemeinde höchst wichtige Fragen aufwies. Der Versammlungsplatz in Mitte des Fleckens war zum Empfang der freien Landleute bestens hergerichtet. In weitem Halbkreise zeigten sich die amphitheatralisch angeordneten Bänke des „Ringes“, in dessen Mitte sich die Tribüne des Landammans erhob. Um zehn Uhr hatte sich der Ring schon bis zum Brechen gefüllt. Man zählte 5–6000 Stimmfähige. Nur die vorderste Bank harrte noch der Ankunft sämmtlicher Behörden, welche sie aufzunehmen bestimmt war. Versammlungsort der Behörden war diesmal das Gerichtshaus, weil das Rathhaus, im furchtbaren Brande des Jahres 1862 zerstört, noch seines innern Ausbaues entbehrt. Punkt zehn Uhr setzte sich von dort aus der feierliche Zug der Behörden nach dem Ring in Bewegung. An der Spitze bewegten sich unter den Klängen von Musik zwei Pelotons Scharfschützen und Infanterie in einem gravitätisch langsamen Parademarsch, welcher, dem reglementarischen Schritt der preußischen Regimenter nicht unähnlich, dennoch einen sehr verschiedenen, eigentlich staatsmäßig bürgerlichen Eindruck machte. Es folgten, in die Landesfarben, Roth und Weiß, gekleidet, die Weibel. Der Eine trug etwas vorwärtsgestreckt vor der Brust das Landesschwert, der Zweite das Landesscepter [426] Nun erschien schwarz, mit feierlichen Nebelspaltern, der Landamman und der Landstatthalter, und hinter ihnen der lange Zug der Behörden, Standescommissäre, Rath, Landrath, Gerichte, Geistlichkeit. Nach altem Brauch wird, so lange der Behördenzug sich auf dem Wege befindet, mit allen Glocken geläutet. Im Ring angelangt, nahmen die Behörden nach kurzem, stillem Gebet auf der ersten Bank des Amphitheaters Platz.

Den Beginn des Tages machte, wie immer, die Verlesung des Landsgemeindereglements, des sogen. „Dänibergerbriefes“, welcher den Landleuten bei Strafe einjährigen Verlustes von „Ehr und Gewehr“ Ruhe und Ordnung gebietet. Hierauf bestieg der Landamman, Dr. und Nationalrath Heer von Glarus, die Tribüne und sprach, indem er das Landesschwert ergriff, die feierliche Anrede an die „vertrauten lieben Herren Landleute“. Dann schwor er in die Hände des Landstatthalters den Landammaneid und, wieder auf das Schwert gestützt, sagte er den Landleuten den Landeseid vor. Langsam und feierlich schworen ihn stehend die 5–6000 Gesetzgeber nach: nach bestem Wissen und Gewissen und ohne alle böse Gefährde des Landes Wohl zu beschließen. Eine Handlung von hohem, ergreifendem Ernst und von unvergeßlicher Erinnerung, ein fast wunderbarer Anblick, ein Volk sich selbst Treue schwören zu sehen!

Nach diesem feierlichen Act begann die Tagesordnung. Die Grundlage derselben bildet das den einzelnen Staatsbürgern schon vorher behändigte sogenannte Landsgemeindememorial, welches in regelmäßiger Reihenfolge alle Gesetze und Beschlüsse des Landrathes, der Vollziehungsbehörde, die verfassungsgemäß der Landsgemeinde vorgelegt werden müssen, ferner alle von Gemeinden oder Landleuten an die Landsgemeinde gestellten Anträge enthält. Die Landsgemeinde übt als constitutionelle Attribute folgende Rechte: Sie entscheidet über Annahme, Verwerfung und Revision der Verfassung, sie sanctionirt sämmtliche Gesetze und Staatsverträge, sie verfügt über das Landeseigenthum, sie prüft und genehmigt die Landesrechnung, sie votirt die Steuern, sie creirt die Beamtungen, sie wählt die Regierung, die Beamten und Gerichte, sie ertheilt das Landrecht, d. h. das Staatsbürgerthum. Außer dem Landrath hat jede Behörde und jeder Landmann Initiative d. h. das Recht, an die Landsgemeinde Anträge zu stellen. Im Januar jedes Jahres werden Behörden und Landleute durch amtliche Publication aufgefordert, ihre allfälligen Anträge einzureichen. Die Anträge werden vom Landrath geprüft und, wenn zehn Stimmen sich für dieselben erklären, als erheblich in’s Landsgemeindememorial aufgenommen und mit einem Gutachten des Landrathes begleitet. Unerheblich erklärte Anträge müssen gleichwohl auf Verlangen im Anhang des Memorials an die Landsgemeinde gebracht und können von dieser als erheblich erklärt werden. Die Landsgemeinde debattirt über sämmtliche Tractanden des Memorials; sie kann dieselben abändern und entscheidet mit Stimmenmehrheit.

Das heurige Landsgemeindememorial enthielt nicht weniger als 28 Nummern und zwar Geschäfte aus allen Zweigen der Machtvollkommenheit des souveränen Volkes: Landessteuer, einen Staatsvertrag betreffend Verpfändung von Eisenbahnen, Gesetzesanträge über Wasserrechte, Erbrecht der Unehelichen, Ehesachen, Armenwesen, Veräußerungen von Staatsgut, Beschränkung des Jagdrechtes, Einführung von Hundetaxen, Fleischtaxen etc., kurz eine Geschäftsliste, welche einer großen parlamentarischen Kammer würdig gewesen wäre. Die wichtigsten, alle bisher genannten Fragen überragenden Geschäfte waren jedoch ein Antrag auf Verfassungsrevision und ein Fabrikpolizeigesetz. Also nichts Geringeres, als die Aenderung des konstitutionellen Grundgesetzes und die offene Wunde der Gesellschaft, ein wichtiges Stück Arbeiterfrage, sollte eine Versammlung von 5 – 6000 Männern aller Stände, von Beamten und Geistlichen, von Gelehrten und Ungelehrten, von Bauern und Handwerkern, von Fabrikanten und Arbeitern, endgültig entscheiden.

Sehen wir nun zu, wie sich dieses Heer von Gesetzgebern bei seiner schweren Aufgabe benahm. Der Reihenfolge nach setzte der Landamman die Tractanden des Memorials mit einer kurzen Erläuterung in Discussion. Die Versammlung zeigte sich über jede Frage merkwürdig orientirt. Je nach der Wichtigkeit werden die Geschäfte kürzer oder ausführlicher behandelt. Manche passirten ohne alle Debatte. Bei den meisten meldeten sich sofort die Redner, welche von der Tribüne oder aus dem Ringe „kurz und nervose“ ihre Gesichtspunkte erörterten. Es sprachen hochgebildete Männer, Bauern, Leute aus allen Classen der Gesellschaft; der doctrinäre Styl war vertreten, nicht minder der Volkstribunenstyl, im Ganzen aber herrschten eine Würde, ein parlamentarischer Takt, eine kernige und lichtvolle Faßlichkeit in den Reden, wie sie in keinem konstitutionellen Parlamente besser zu finden sind. Die Fragen wurden erschöpfend und vielseitig behandelt, aber nirgends schweifte man ab oder hielt man sich zu lange auf. Die Zuhörer blieben unermüdlich aufmerksam und lebendig. Wie in der französischen Legislative der Redner hier und da unterbrochen wird, so hörte man auch hier Rufe verschiedener Art: „Gut geredet!“ – „Er hat Recht!“ – „Nein, das wollen wir nicht!“ – Als ein Volksredner etwas zu bitter wurde, rief Einer: „Gut reden kann er, aber er soll auch ,nit wüest’ reden!“ Wurde die Lebendigkeit etwas zu groß, so ermahnte der Landamman zur Ruhe, die Weibel kreisten umher und erhoben besänftigend die Hände: „Ruhig, vertraute Herren Landleute, ruhig, es dauert nicht lang; den dürft Ihr schon hören, der sagt’s Euch, wie man’s nicht besser findet!“ und was der originellen Weibelhöflichkeiten mehr waren. War die Debatte erschöpft, so wurde „Scheiden“ (Abstimmen) verlangt und rasch und ohne Schwanken beschlossen. Es war klar, daß die Leute eine sichere eigene Meinung besaßen und daß sie das Memorial nicht blos in Empfang genommen, sondern auch gelesen hatten. Allein auch das genügt nicht zur Erklärung des bestimmten Urtheils dieser Gemeinde, dazu gehört die lange unentwegte Uebung dieses Volkes, sich selbst zu regieren. Ist doch vor der Tribüne den Knaben ein eigener Platz hergerichtet, wo dieselben unermüdet bis zum Ende sitzen und lauschen. Die Abstimmung geschieht durch das sogenannte Handmehr, und der Landamman giebt in fraglichen Fällen unter Zuziehung anderer Vertrauensmänner nach gewissenhaftem Ermessen, ohne Abzählung, das Mehr ab. Ist das Mehr entschieden und wäre es die wichtigste Frage, so schweigen meist Minderheit und Mehrheit; kein Triumph, keine Klage, ruhig wird fortgefahren in den weiteren Verhandlungen.

In erster Linie wurde die Landesrechnung und die Landessteuer genehmigt und zwar letztere im Betrage von 3‰ Vermögenssteuer und 1 Fr. 50 Cent. Kopfsteuer. Hierauf wurden Abänderungen des Landessteuerwesens, Bestimmungen über den Bezug des Wein- und Branntweinohmgeldes, Verkauf von Landesboden etc. behandelt. Die Jagdzeit wurde zur Schonung der Gemsen und Murmelthiere um einen vollen Monat beschränkt, was bei der Jagdliebhaberei der Aelpler eine starke Concession und Selbstbeschränkung ist. Ferner wurde das Halten von Jagdhunden ganz verboten und zur Verminderung des Ueberflusses von Hunden (die Behörde erklärte ausdrücklich, es geschehe nicht etwa zu Gunsten einer kleinlichen Finanzklauberei) eine Hundetaxe von 5 Fr. für das Thier eingeführt. Bei der Revision der Verordnung über die öffentlichen Tanzbelustigungen mußte abgebrochen werden, weil zum dritten Mal Regen einfiel, und die Erledigung der noch übrig gebliebenen zehn Tractanden wurde auf die Nachgemeinde des folgenden Sonntags verschoben.

Dies war der im Allgemeinen weniger erhebliche Geschäftskreis der Landsgemeinde; schon dieser allein wäre jedoch hinreichend, um die active Theilnahme des Volkes am gesammten Staatshaushalt, wie sie in Glarus stattfindet, zu einer höchst merkwürdigen Thatsache zu stempeln. Wären die Landsgemeinden nicht, so würde man eine solche Thätigkeit des Volkes für unmöglich halten und den Gedanken, ihm eine solche zu übertragen, lachend in das Reich des Absurden verweisen. So aber existirt sie, sie ist da, wirklich und nicht wegzuleugnen; und nicht nur das, sondern sie wird in Wahrheit zum Wohl des Landes ausgeübt. Man wird Niemanden in Glarus finden, der sich bei diesem Zustande nicht wohl befände, und ich kann aus dem Munde der höchstgestellten Glarner bestätigen, daß sie ihre rein demokratische Verfassung für die freieste und zugleich glücklichste der Schweiz halten und dieselbe um keinen Preis mit irgend einer andern vertauschen würden. Ist eine solche Verfassung einmal möglich, so ist sie in der That ein Kleinod, denn sie macht das große Geheimniß zur Wahrheit, daß das Volk politisch stets mündig und die Regierung stets volksthümlich bleibt.

Die Landsgemeinde hat jedoch noch zwei Fragen behandelt, welche sie über den Kreis selbst ihrer gewöhnlichen Thätigkeit erheben und dieses Jahr vorzugsweise würdig machen, daß von ihr auch die Außenwelt Kunde erhalte. Es sind dies die Frage der Verfassungsrevision und das Fabrikpolizeigesetz.

Nach den Zuständen der europäischen Monarchieen sind die [427] Kammern der großen Länder in der Regel froh, wenn es ihnen gelingt, ihre bestehenden Verfassungen zur Geltung zu bringen, und denken nicht so leicht an Revision derselben. Dies ist schon in sämmtlichen einzelnen Staaten der Schweiz anders, denn seit den dreißiger Jahren befinden sich die schweizerischen Cantone in einem so zu sagen permanenten Revisionsprocesse. Man würde sich jedoch sehr täuschen, wenn man glaubte, daß sie damit ihre Zustände einer gewaltsamen Unruhe aussetze; denn erstens brechen sich die Revisionsbewegungen in den kleinen Umfängen der Cantone und nehmen nie den Charakter großer, revolutionärer Stürme an, zweitens wird nicht, wie im alten Athen, die Verfassung bald in eine aristokratische, bald in eine demokratische, bald in eine tyrannische umgewandelt, sondern die demokratische Grundlage bleibt unangetastet und nur das Bewegliche wird der Zeit gemäß umgebildet und fortentwickelt. Auch in der Schweiz selbst aber ist es immer eine besondere Eigenheit, daß die Revisionsfrage, wie zu Glarus, in offener Landsgemeinde debattirt und entschieden wird.

Die Verfassung von Glarus ist eine rein demokratische und entspricht der in den schweizer Gebirgsdemokratien herrschenden Organisationsform. Die Regierung besteht in einer fächerförmig sich erweiternden Stufenleiter von Behörden. Regierungshaupt ist der Landamman, ein Einzelregent von großem moralischem Einfluß. Sein Einfluß darf aber eben nur ein moralischer bleiben, daher hat er selbst keine befehlende Gewalt, sondern er theilt die regierende Gewalt für die weniger wichtigen Geschäfte zunächst mit den zwei ersten Mitgliedern der Standescommission, dann mit allen acht Mitgliedern dieser Behörde, für die wichtigern mit dem Rath, welcher aus der Standescommission und 30 von den Gemeinden gewählten Vertretern gebildet ist. Landamman, Standescommission und Rath sind die eigentliche Regierungsbehörde. Zur Gesetzgebung und Landesrepräsentation erweitert sich dann dieser Rath wieder in den aus 117 Mitgliedern zusammengesetzten dreifachen Landrath, und über allen steht die Landsgemeinde. Die Verfassung besteht also nicht aus sich gegenüberstehenden Gewalten, sondern in einer nach oben aufsteigenden und sich stets vermindernden, nach unten wieder herabsteigenden und im Volke ruhenden Souverainetät. Die Gerichte sind in viele Gerichtsstäbe zersplittert. Glarus hat ein Civilgericht, Criminalgericht, Ehegericht, Augenscheingericht, Polizeigericht und Appellationsgericht.

Diese Verfassung sollte nun also revidirt werden, und zwar war es gerade die städtische Bildung des Hauptfleckens, welcher sie nicht mehr ganz behagte. Allein während anderwärts die Regierung allzumächtig ist und zu Gunsten des Volkes beschränkt werden muß, verfolgten unsere Glarner Revisionisten das umgekehrte Ziel. Es fiel ihnen nicht ein, die Souverainetät des Volkes anzutasten, vielmehr erklärten sie laut, die Landsgemeinde sei der Stolz jedes Glarners und Niemand denke sie in ihrer Machtvollkommenheit verringern zu wollen. Dagegen wünschten sie eine in weniger Einzelbehörden zersplitterte, eine concentrirtere Regierung und Landesvertretung. Ebenso beantragten sie eine Verminderung der verschiedenen Gerichtshöfe, um dadurch eine einfachere und bessere Justiz zu erzielen.

Offenbar hatten diese Ideen viel für sich und traten mit um so größerer Berechtigung auf, als über die Zersplitterung der Behörden, sowie über die Gerichte viele Klagen laut wurden. Allein das Volk verwarf die Revision mit großer Mehrheit, trotzdem daß die Revisionisten mit Feuer und Würde sprachen und alle Mittel der Beredtsamkeit, Satire, Dialektik und des Pathos erschöpften.

Warum aber verwarf das Volk eine Reform, der in so vieler Beziehung die Zweckmäßigkeit nicht abzustreiten war? Aus Mißtrauen, aus Furcht, es möchte seine alte Freiheit durch eine kräftigere, concentrirtere Regierung gefährdet sehen und sich mit einer solchen einheitlichern, straffern Regierungsform eine specifische Bureaukratie schaffen; aus dem gerechtfertigten Bedenken, etwas Gewisses, das sich lange bewährt, gegen etwas noch unerprobtes Ungewisses einzutauschen. Man kann nicht umhin, den politischen Blick des Volkes anzuerkennen, denn „Weniger Regierung!“ nicht „Mehr Regierung!“ ist die Losung der Zeit. Auch ist es ein schlagender Beweis, wie es seine Freiheit kennt, liebt und bewahrt, daß es sich sofort zur Wehr setzen zu müssen glaubt, wo auch nur der Schatten des Argwohns auftaucht, es könne in einem oder dem andern Stücke an seiner Freiheit gekürzt werden.

Nicht weniger gespannt, als auf die Verfassungsrevision, war ich auf das Fabrikpolizeigesetz. Daß Glarus die Nachtheile der Fabriken empfindet, wie alle andern Länder, daß die lange Arbeitszeit Erwachsene und besonders Kinder mit erschreckender Schnelligkeit consumirt und die Bevölkerung entartet, braucht nicht auseinandergesetzt zu werden. Auch daß der Glarner Landrath sich mit der Sache beschäftigte und ein Fabrikpolizeigesetz erließ, ist nichts Besonderes. Das Besondere liegt vielmehr darin, daß dieses Gesetz nun auch vor die Landsgemeinde kam. Wohl nirgends sonst in der Welt geschieht es, daß dergleichen sociale Fragen vom versammelten Volke selbst behandelt werden, und wenn es vorkäme, so würde es nur etwa in Gestalt einer communistischen Umwälzung der Fall sein, die mit einer Landsgemeinde nicht das Geringste gemein hat.

Der Verlauf in der Glarner Landsgemeinde war ein sehr rascher und regelmäßiger. Mit dem Gesetze des Landraths war man nicht zufrieden. Dasselbe reducirte die Arbeitszeit auf zwölf Stunden, aber nur für Kinder und Weiber, und enthielt auch sonst keine bedeutende Erleichterungen des Arbeiters. Es war daher Opposition zu erwarten, um so mehr, da die Arbeiter sich in Vereinen gesammelt hatten, um ihren Beschwerden Gewicht zu verschaffen. Ihr Auftreten und ihre Begehren waren aber, wie von allen Seiten anerkannt, mäßig und taktvoll gewesen. So verhielten sie sich nun auch in der Landsgemeinde. Freilich fühlte Alles, daß eine möglicherweise verhängnißvolle Frage herannahe, und als der Landamman die Debatte eröffnete, herrschte lange Zeit tiefe Stille. Da trat endlich der Gemeindepräsident von Glarus, Dr. med. Tschudi, auf und entwickelte in warmer, aber von keinerlei falschem Pathos angekränkelter Rede, daß noch mehr für die Fabrikarbeiter geschehen müsse, wenn nicht eine Degeneration der Bevölkerung eintreten solle, unter welcher Arbeiter, Industrie und Staat gleich zu leiden hätten. Das Volk sei eine Familie, und wenn ein Glied leide, so leiden die andern mit. Er beantragte daher, daß die Arbeitszeit auch für Erwachsene auf zwölf Stunden gekürzt, daß alle Nachtarbeit verboten und die Fabrikanten angehalten werden, ihre Maschinen mit möglichster Vorsorge gegen Unglücksfälle zu versehen. Freilich sei dies, so schloß der Redner, noch nicht Alles, was der Arbeiter wünschen, und hoffentlich auch nicht Alles, was noch für ihn geschehen könne, allein für jetzt sei es das Mögliche, und besser sei es, in Frieden das Erreichbare anzustreben, als dem Unerreichbaren mit gewaltsamen Kämpfen nachzujagen.

Dieser Ausspruch traf den Nagel auf den Kopf. Das gesammte Volk, die Arbeiter mit, begriff, daß dies die erreichbare Transaktion sei, welche sofort und beharrlich festgehalten werden müsse. Als daher nach Dr. Tschudi ein Industrieller auftrat, um über Benachtheiligung der Industrie zu wehklagen, schnitt ihm der allgemeine Ruf „Scheiden“ das Wort ab, nicht minder aber allen Andern, welche noch sprechen wollten. Die Abstimmung wurde durchgesetzt, und die Anträge Tschudi’s mit jubelndem Mehr zum Beschluß erhoben.

Das war eine schweizerische Landsgemeinde. Mancher Leser wird vielleicht sagen: „Wie mag man nach solchen Kleinigkeiten so viel nachfragen! Dieses Glarus ist ein Fleck Erde, den man kaum sieht; was interessirt es die großen Nationen draußen, wie da regiert und gerichtet wird! Wir können es doch diesem Zwerglein nicht nachmachen.“ Allein, mein Freund, begegnet es Dir nicht, daß Du zuweilen durch den Wald gehst und einen zierlich gebauten Ameisenhaufen entdeckst, oder emporblickst zu einer feinen duftigen Bienenwabe, oder die wunderbaren Pflanzenzellen zerlegst, und in allem ahnend das große Geheimniß der Natur erkennst? So ist es auch im Staatsleben, und so verhält sich das kleine Glarus zu ihm. Wie Du die Gestalten der Natur nicht nachahmen kannst, aber doch die köstlichen Lehren der Wissenschaft aus ihnen ziehst, so ist das kleine Glarus das Modell einer Volksfreiheit, wie sie noch kaum geahnt wird. In dieser Gestalt kann sie freilich nicht auf alle andern Völker überkommen, allein lernen können die Völker aus ihr, wie weit Freiheit und Ordnung friedlich zusammengehen; sie können ein Bild reiner, wirklicher Freiheit sehen, ein wahres lebendiges Gebilde des Volksgeistes, dessen Betrachtung sie lehren wird, was Freiheit ist, es ihnen überlassend, wie sie das Gelernte bei sich anwenden wollen. So untröstlich das dumpfe Brüten ist, das noch vielenorts auf den Menschen liegt, so tröstlich der weite Blick in die erreichbare Reife und Mündigkeit des Volkes, welchen uns die kleine Glarner Landsgemeinde eröffnet. Beseligend ist das Bewußtsein, daß die Menschheit noch viel vor sich hat.

[428] Und ohne alle Aussicht, so gar einsam ist die Glarner Landgemeinde nicht. Von der Landesversammlung zu Rendsburg ist ein verwandter Klang zu uns nach der Schweiz gedrungen, und wir geben die Hoffnung nicht auf, daß dereinst wieder einmal in West und Ost, in Nord und Süd freie Volksgemeinden, wenn auch nicht Speer und Schild zusammenschlagen, so doch mit erhobener Hand den nationalen Willen kundgeben und zur Geltung bringen werden.
F. Gengel.