Aus dem Papierkorbe eines Achtundvierzigers (1)

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Autor: Moritz Bonmot
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Titel: Aus dem Papierkorbe eines Achtundvierzigers. 1. Die letzten vom Regiment.
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 5, S. 82–84
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1878
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
siehe Teil 2. Spree - Piraten
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Aus dem Papierkorbe eines Achtundvierzigers.
1. Die Letzten vom Regiment.

Die Geschichte des Jahres 1848! Noch ist wohl der Mann mit dem weltüberschauenden Blicke nicht geboren worden, der alle Ereignisse, alle inneren Zusammenhänge dieser so wandelbaren und gewaltigen Epoche ohne jedes Vorurtheil und jede parteiische Befangenheit der Nachwelt vorzuführen vermöchte, und geleite er uns auch nur auf die hervorragendsten Schauplätze, wo ihre Schlachten geschlagen und ihre Entscheidungen bewirkt worden sind. Mehr und mehr aber tritt jetzt an die noch lebenden Augenzeugen jener Tage die Verpflichtung heran, dem zukünftigen Meister sein Werk zu erleichtern durch Aufzeichnung und Schilderung dessen, was sie damals im Strudel großer Bewegungen erlebt und mit ihren eigenen Augen gesehen haben. Die Uebertreibungen geräuschvollen und uneingeschränkten Lobes für alle revolutionären Vorgänge jener kurzen Sturmzeit sind allmählich verstummt. Statt dessen aber macht ein anderes Uebel, ein offenbares Unrecht sich breit.

Fort und fort und erst ganz neuerdings wieder bemächtigen sogenannte „conservative“ Federn sich dieses historischen Gebiets mit einer Manier vornehmen Absprechens, um die Ideen des Volksrechts und der Freiheit dafür verantwortlich zu machen, daß sie auch ihre Kinderjahre gehabt und nicht gleich im Zustande voller Reife zur Welt gekommen sind. Und doch liegt nun fast ein Menschenalter zwischen dem Heute und jener Periode. Ohne Haß und Parteileidenschaft kann jeder denkende Patriot vom gesicherten Boden aus auf jene März- und Sommertage zurückblicken, die einen so schweren und tiefen Ernst hinter vielfach unreif erscheinendem Spiele bargen, in denen neben noch unabgeklärt gährenden Bewegungen unzweifelhaft große Gedanken des Volksgeistes zu endlichem Durchbruch kamen, aus denen nicht mehr und nicht weniger als Alles entsprossen und zur Entfaltung gekommen ist, was unsere Nation seitdem auf mächtigem Leidens- und Siegeswege errungen hat.

Stehen sie denn nicht heute verwirklicht vor uns, die Hauptideale jener Märztage: ein einiges, im Innern freies, nach außen starkes Deutschland unter der schirmenden Führung eines preußischen Heldenkönigs? Flattert das deutsche Banner nicht auf dem Münster von Straßburg, schützt nicht die deutsche Flotte, ein eiserner Gürtel, die Gestade der Nord- und der Ostsee? Wahrlich, eine Zeit, welche die Saat gestreut und den Keim gepflanzt hat für so gewaltige Errungenschaften, die im harten Zusammenstoße mit früheren Mächten zuerst muthig den Kampf zur Verwirklichung des heute erreichten Zieles geführt, eine solche Zeit sollte wohl eines lebhaften Interesses bei dem jetzigen Geschlechte gewiß sein, dem die Früchte der heißen Arbeit von 1848 endlich in den Schooß gefallen sind. Und so mögen denn die nachfolgenden kleinen Skizzen sich an das Licht des Tages wagen, Niemandem zu Liebe und Niemandem zu Leide, nur ein Spiegelbild dessen, was der Schreiber gesehen. –

Durch die Märzunruhen war in Berlin der Würfel gefallen. Das Ungeheure ist gewagt worden. Zu den Waffen hat der von Natur und Beruf so friedliche deutsche Bürger gegriffen, zu den Waffen der Empörung, aber erst nach langen, langen Jahren des Harrens, der langathmigsten Geduld des „beschränkten Unterthanenverstandes“. Fast erschreckt blickt er nun auf die eigene That, deren weltgeschichtliche Bedeutung er ja in diesem Augenblicke fiebernder Erregung noch nicht zu überschauen vermag. Zu den Waffen hat er gegriffen gegen das verhaßte System politischer und religiöser Bevormundung, wie es in den sogenannten vormärzlichen Tagen, im Widerspruche mit den Forderungen der Zeit und der Bildung des Volkes, gewaltsam sich aufrecht erhalten hatte. Und lagen auch diese Motive nicht überall klar entwickelt vor dem Bewußtsein, sie wirkten instinctartig, mit der Nothwendigkeit und Folgerichtigkeit des „Unbewußten“. In Bezug auf das, was zunächst erreicht werden sollte, bewegte nur ein Gefühl und ein Gedanke die ungeheueren, sonst durch Bildungstufe und Lebensstellung weit getrennten Massen: Kampf auf Tod und Leben mit der bewaffneten Militärmacht, die zum Schutze des Staates gegen äußere Feinde von dem steuerzahlenden Bürger erhalten wurde und die nun, ihrem Berufe zuwider, als Träger und Stütze eines veralteten und erstarrten, allgemein verhaßten absolutistischen Regierungssystems sich zwischen Thron und Bürgerthum zu drängen schien.

Das war unzweifelhaft die Stimmung des neu anbrechenden Tages, wie sie seit den Märztagen für die nicht nach entlegenen Gründen forschende, sondern nur aus den unmittelbar vorliegenden Thatsachen schließende Logik des Volkes mit voller Bestimmtheit sich herausgebildet hatte. Standen nicht in der verhängnißvollen Mittagsstunde des 18. März die Truppen vor dem königlichen Schlosse, wie eine unnahbare und eisige Schranke, zwischen den Bürgern und ihrem König, eng als eiserner Gürtel um die Hohenzollernburg geschmiedet? Und als über diese Eisbarre hinweg vom Balcon des Schlosses herab den auf dem Schloßplatze versammelten Bürgermassen königliche Zusagen gemacht wurden für eine Neugestaltung der Dinge, vom Balcon herab aus hohem Munde vielverheißende Worte des Friedens und der Versöhnung erklangen, als nun die unendliche Freude in tausend und aber tausend Bürgerherzen zu stürmischem Jubelruf sich hingerissen sah, dieser Jubelruf in gewaltigen Wellen jenen weiten Raum von der Stechbahn bis zu dem ehernen Kurfürsten, von der ehrwürdigen Burg bis nach dem Petri-Platze hin durchwogte – war es Zufall, war es Verhängniß, war es „unseliges Mißverständniß“, daß gerade in diesem feierlich erhabenen Augenblick jene eiserne Mauer sich vorwärts schob mitten in die waffenlose, von Begeisterung, Liebe und Freude erglühende Volksmenge? Daß wiehernde Rosse vorwärts stampften, daß geschwungene Säbel zu wuchtigem Schlage ausholten, daß endlich jene ominösen „zwei Schüsse“ erdröhnten, der dunkle Punkt, das ungelöste Räthsel in dem Vorspiel der Märztragödie? – Unseliges Mißverständniß, verderbenschwangerer Zufall! Den [083] Boden Berlins hat er mit Blut getränkt, vielhundertfachen Tod gesäet, viel tausend Wunden geschlagen.

Höher und höher, von milden Frühlingswinden umfächelt, steigt die Sonne des 19. März am unbewölkten Himmel empor und beleuchtet grell den Schauplatz der Empörung und Zerstörung. Durch Waffenstillstand für den Augenblick im Zaum gehalten, jedoch zu neuem, wilderem Kampfe bereit, stehen die Söhne Eines Vaterlandes, Grimm und Haß im Busen, wie zwei feindliche Brüder sich gegenüber. Und die Zunge in der Wage von Preußens Geschick steht still: hier die blutgefüllte Schale, dort die Schale des Friedens. Mit banger Erwartung und fiebernder Ungeduld wenden sich Aller Blicke nach dem stolzen Königshause zu Köln an der Spree, wo die Entscheidung in den Händen eines Mannes liegt, dessen Rachen aus „der Schönheit und des Wissens stillem Schattenlande“, aus dem mondbeglänzten träumerischen See in das sturmgepeitschte wilde Meer des Lebens gerissen, halt- und steuerlos zu schwanken begann. Aller Augen sind nach dem Schlosse gerichtet - da schnellt die blutgefüllte Schale hoch empor, und blitzesschnell von Mund zu Mund bis in die entfernteste Hütte getragen, ertönt das Wort: Ich will Frieden haben mit meinem Volke.

Es war gegen neun Uhr Morgens, als die Truppen die Ordre zum Abzuge empfingen. Nicht als Sieger, doch unbesiegt, dem Befehle ihres Kriegsherrn gehorsam, scheiden sie von dem Schauplatze eines Kampfes, in dem für sie kein Lorbeer zu pflücken war. Und hätten die Krieger, wie es ja vielleicht in ihrer Macht lag, mit gewaltiger Faust den Aufstand niedergeschlagen, hätten sie über Blut und Leichen, über dem eingeäscherten Berlin ihr Banner aufgepflanzt - war hier Lorbeer zu ernten, war hier Ehre zu mehren?

In ernstem und düsterem Schweigen sehen wir die Colonnen sich ordnen und zum Brandenburger Thor hinausrücken hier links nach dem Potsdamer Thor abschwenkend. Manches Knie, mancher Arm zittert, doch nicht vor körperlicher Schwäche, krampfhaft umklammert die festgeschlossene Hand das Gewehr, fest drückt sich Lippe auf Lippe, und sogar Thränen, große Thränen rollen aus manchem gesenkten Soldatenauge. Dem Befehle ihres Kriegsherrn gehorsam, haben sie die schwere Schlacht geschlagen gegen die Brüder in der Hauptstadt, dem Befehle ihres Kriegsherrn gehorsam, kämpfen sie jetzt den schwereren Kampf, den Kampf der Selbstverleugnung. Gedemüthigter Stolz, gekränktes Ehrgefühl bäumen sich ohnmächtig auf gegen die höhere, die höchste Pflicht: die deutsche Mannestreue. Und die Weltgeschichte ist gerecht. Wie sie jede Ueberhebung, jeden Frevel endlich doch noch rächt, so sühnt sie endlich auch jede unverdiente Schmach. Die damals mit umwölktem Blicke dem gegen sie empörten Berlin den Rücken gewendet: die Garden, die Brandenburger, die Lausitzer und Pommern - noch ahnten sie nicht, daß aus jener Saat des Blutes und der Schmerzen ihnen dereinst eine Ernte des herrlichsten Ruhmes ersprießen würde. Noch leuchtete vor ihrem umflorten Auge nicht das Zukunftsbild, die Victoria, aus dem hohen Siegesdenkmal über den Eichen des Thiergartens schwebend. Dieselbe Straße, die sie damals so traurig gewandelt, sie schmückte sich später für sie wie eine Braut in frischer Blumenpracht mit unverwelklichen Kränzen, vom begeisterten Danke der Hauptstadt den Ueberwindern von Alsen, den Siegern von Sadowa, den Helden von Sedan gewunden - die damalige Marterstraße verwandelt zur stolzesten Triumphbahn die je eines preußischen, eines deutschen Kriegers Fuß durchschritten hat.

Ewig denkwürdig wird jedem Augenzeugen der Anblick Berlins nach jenem Abzuge der Truppen bleiben. Wie nach geöffnetem Wehre der gehemmte Gießbach donnernd und schäumend in das in die Felsen gegrabene Bett hinabstürzt, so wälzte sich nun in unbeschreiblichem Wogen und Tosen die Volksmenge über die Barricaden und brauste in neuen, immer neuen Massen aus allen Vierteln Berlins dem Schlosse zu. Von der Königsstraße her, vom Hake’schen Markte, vom Petri-Platze, aus der Friedrichs-, aus der Dorotheen-Stadt ziehen langgestreckte, ganz unübersehbare Reihen heran, Verwundete und Sterbende tragend, um sie im Souterrain und in den Prunksälen des Schlosses zu betten, wohin ein Frauenherz voll Sehnsucht nach Versöhnung sie ruft, wo liebevolle Pflege ihrer wartet. Doch voran, noch erhitzt von dem Kampfe, nicht gewöhnt an Selbstbeherrschung, an Zähmung der einmal zur Wildheit entfesselten Leidenschaften, trunken, zu jeder Gewaltthat, zu jeder Rohheit ohnehin stets allzu bereit - voran stürmt unter wildem Gejauchze, in chaotischem Getümmel der Pöbel, die Hefe jeder Hauptstadt, jene Hefe der Menschheit, die ja leider noch im Schooße aller dicht bevölkerten Orte unter äußerem Glanze und Firnisse pestaushauchend den unheimlich dunklen Untergrund der Gesellschaft bildet und bei jedem die Tiefen aufwühlenden Sturme auf die Oberfläche gespült wird. Mit Blut bespritzt, Mordwerkzeuge jeder Art, neben Feuerwaffen verschiedener Construction Aexte und andere Eisenwerkzeuge, riesige Stangen mit Bajonnet und Sense, mit Zinken und Haken, Rappiere und Säbel, kurz, das mannigfaltigste Gewaffe aus der Urväter Hausrath in schwieligen Händen schwingend, bekleidet mit verschlissener Joppe, mit zerrissener Blouse, mit erbeuteten Uniformstücken, gräßlich verstümmelte Leichen mit sich schleppend, so rückt näher und näher dieser entsetzliche Vortrab. Und schon hat der wirre und wüste Haufen das Schloß erreicht und umzingelt, schon ergießt er sich vom Lustgarten, vom Schloßplatze aus in die hochgewölbten Portale.

Warum aber stockt plötzlich die reißend schnelle Bewegung der Menge, warum staut sich der entfesselte Strom? Verstummt auf eine Secunde ist das ohrzerreißende grausige Getöse; Niemand will glauben, was er sieht, wie auf ein Trugbild starren die zweifelnden Blicke. Doch nur einen Augenblick - und vorwärts drängen die Massen, ein wildes Gekreisch aus tausend und aber tausend Kehlen, Wuth- und Hohngeschrei durchschrillt, von dem Gewölbe zurückgeworfen und in den inneren Höfen des Schlosses verhallend, unheilkündend die Lüfte.

In der Passage des Schlosses, nach dem Schloßplatze zu, vor der großen Treppe, die nach den Gemächern führt, in denen die königliche Familie weilte, stand, Gewehr bei Fuß, in zwei Reihen geordnet, die Schloßwache vom Kaiser Franz Grenadierregiment, von einem Premierlieutenant befehligt, einem „Jüngling, näher dem Manne“, der später und noch bis vor kurzer Zeit als General eine einflußreiche Stellung bekleidete. War bei der Ueberstürzung, der überwältigenden, schnellen Aufeinanderfolge der Ereignisse während des Abzuges der Truppen die Ablösung der Wache übersehen und vergessen worden? Oder verstieg sich die Verblendung, der Wahnwitz irgend eines subalternen Geistes bis zu dem Grabe, die verkehrteste aller Maßregeln anzuordnen, die in diesem Augenblicke denkbar war?

Mag dem sein, wie ihm wolle: die Thatsache bleibt dieselbe. Nicht abgelöst, ohne jegliche Ordre standen die letzten dreißig Mann der Berliner Garnison vor der Treppe, die zu den Gemächern des Königs führt, und in hochfluthender Brandung stieß nun auf diese kleine Schaar die leidenschaftentflammte, von blutigem Kampfe noch glühende, dem allerrohesten Haufen angehörende Masse. Ein Tropfen Blutes an dieser Stelle, in diesem Augenblicke vergossen - kaum auszudenken ist die Kette der ungeheueren Folgen, welche dann ganz nothwendig hätten eintreten müssen. Und das Bewußtsein der schweren Verantwortlichkeit, die ein fürchterliches Verhängniß auf seine Schultern gewälzt, prägte sich aus in der entschlossenen energischen Haltung, der gewaltsam erzwungenen Ruhe jenes commandirenden jungen Officiers. Regungslos wie eine Bildsäule stand er da, regungslos seine kleine Mannschaft. Auszuharren auf dem ihm anvertrauten Posten heischt das Gesetz, befiehlt ihm die Pflicht, gebietet ihm die Ehre, und auszuharren war er gewillt bis zum letzten und äußersten Moment. Die düster zusammengezogenen Brauen, das entschlossen blitzende Auge sprachen eine nicht mißzudeutende Sprache: nicht als Lebender wird er ohne Ordre seiner Vorgesetzten vom Platze weichen; nur über seine Leiche geht der Weg.

Einem gewaltig tragischen Loose scheint das Geschick den Pflichtgetreuen weihen zu wollen. Stürzte die drohend und durch den Nachschub immer drohender anschwellende und andrängende, von den edleren Elementen der Bürgerschaft wenig oder kaum durchsetzte, geschweige denn geleitete Rotte auf ihn und seine kleine Schaar, so durfte er diesem feindlichen Angriffe nicht tapfere Gegenwehr entgegen stemmen, nicht in männlichem Kampfe sein Leben theuer verkaufen - morden, ruhmlos hinschlachten mußte er sich lassen, ohne nur die Hand zum Widerstande regen zu dürfen, wenn er nicht die von Neuem entfesselte Furie zu sinnloser Wuth, zu den entsetzlichsten Thaten [084] reizen wollte. Stand er doch an den Stufen des Thrones – eine landläufige Phrase, die hier zur prägnantesten, inhaltsschwersten Wahrheit und Wirklichkeit ward in des Wortes verwegenster Bedeutung. An den Stufen des Thrones stand er im Vollbewußtsein der auf ihm lastenden Aufgabe, mit klarem Blicke die verhängnißvolle Situation überschauend. Doch wird das dem Vaterlande in einem schrecklichen Momente dargebrachte Opfer nicht vergebens gebracht sein? Wird die kleine ihm untergebene Schaar sein Beispiel zum Muster nehmen, sie, die ohne umfassenden Ueberblick über die furchtbar nahe Katastrophe nur dem natürlichen Instincte, dem von den Umständen ausgehenden Anstoße zu folgen bereit, nur allzu bereit erscheint? – Und näher, immer näher rückt der entscheidende Augenblick.

Mit Schimpf- und Schmähreden der rohesten Art, mit pantomimischen und handgreiflichen Insulten wird der Soldat überschüttet, gehöhnt und gereizt. Ein Kerl mit einer Drehorgel, confiscirten Gesichts, zerlumpter Kleidung und zerlappter Befilzung, pflanzt sich dicht vor den Lieutenant und intonirt mit kläglichem Gezeter: „Ach, du lieber Augustin – Alles ist weg – Alles ist weg.“ Dem stürmischen Ausbruch höllischen Gejodels und Gejubels folgen minder harmlose Herausforderungen: „Haut ihnen die Helme herunter! Hinaus mit den Tagedieben! Nieder mit den Mordgesellen!“ Und den Drohungen folgt endlich die That. Ein Mensch von athletischem Körperbau, mit rußigem Antlitz und blutender Armwunde, seines Zeichens ein Schlosser oder Schmied, springt aus dem immer enger, immer unentwirrbarer sich schürzenden Knäuel hervor und führt mit hochgeschwungener Eisenstange einen gewaltigen Schlag auf den Helm eines Grenadiers. Der Getroffene wankt, hält sich aber mannhaft aufrecht. Die Gewehrkolben rasseln auf den steinernen Quadern; ein unheilschweres Gemurmel pflanzt sich fort durch die Reihen der Soldaten – doch ein Blick auf den Officier, und vor eiserner Disciplin sich beugend, steht Gewehr bei Fuß, straff und stramm und lautlos die Schaar. Von diesem passiven, jedenfalls als Furcht gedeuteten Widerstande mehr und mehr zu Uebermuth, zu frecher Gewaltthat aufgestachelt, schreitet die hier ganz sich selber überlassene, jeder verständigen und humanen Führung entbehrende Pöbelrotte zu gemeinsamem Angriff. Doch nicht von den Waffen macht sie Gebrauch, die vielgestaltig in Aller Händen blitzen; es waltet doch ein dumpfes Gefühl in diesen Menschen von der ehrlosen That, nach Schluß des Friedens mit ungeheurer Uebermacht den ruhig dastehenden Gegner vergewaltigen zu wollen. Aber zu derjenigen Waffe greifen sie, die der Straßenbube zur Hand nimmt, um sich in Verlegenheiten Luft zu machen: Ein Hagel von Steinen, nicht gerade großen Calibers, prasselt auf die Soldaten. Er richtet nicht viel Unheil an. Doch ein gewaltiger Prellstein rollt über den Estrich und trifft und zerquetscht den Fuß des Officiers. Von grimmem Schmerze übermannt, taumelt er zurück; einer Ohnmacht nahe – die Natur ist stärker, als der heroische Wille – lehnt er sich, der Stütze bedürftig, an eine Sandsteinsäule, um nicht haltungslos zusammenzubrechen. Und die Grenadiere? Helllodernder Zorn zerbricht den Hemmschuh militärischen Ordreabwartens; ohne Commando, doch wie auf Commando avanciren, ihren Führer deckend, die Reihen. Es erheben sich die Flinten, es knacken die Hähnen an die Schulter fliegen die Kolben – noch ein Augenblick, und im Innern des Schlosses, an den Stufen des Thrones entzündet sich die wilde Gluth des gräßlichen Kampfes, dessen Ausgang kaum zweifelhaft war, dessen Folgen für Preußens Geschicke unübersehbar sein mußten.

Da – in dem Moment der höchsten, der äußersten Noth löste ein glücklicher Zufall friedlich den auf die Spitze getriebenen Conflict. Mit raschem, dröhnendem Schritte naht von der Kurfürstenbrücke her eine zahlreiche Colonne neu bewaffneter Bürger, schwenkt in das Portal und schiebt sich wie ein Keil zwischen die kampfbereiten Parteien. Es war dies die erste That der Berliner Bürgerwehr; der bürgerliche Liberalismus trat auf den Schauplatz und bewährte seinen unbeugsamen Ordnungs- und Edelsinn. Fast gleichzeitig mit diesen Rettern traf die Ordre ein zum Abzuge „der Letzten vom Regiment“. Die Geschichte jener Tage blieb mithin davor bewahrt, mit blutigem Griffel auch den Morgen des 19. März in ihren Annalen zu verzeichnen.

Mit dem Scheiden dieser „Letzten vom Regiment“ schloß sich das Grab über der alten Zeit; die Aera thatkräftigen Ringens, freier staatlicher Entwickelung begann. Mit neu erstarktem Selbstgefühl, mit stolzfreudigem Blicke in eine sonnenhelle Zukunft schaart sich, wachhaltend, um die Stufen des Thrones – die erste Bürgerwehr.

Moritz Bonmot.