Aus den Erinnerungen eines Gefängnißinspectors (4)

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: E.
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: In den Augen mußt Du lesen!
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 7, S. 104–107
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Schilderung eines Gefängnisaufsehers und dessen Umgang mit einem ihn betreffenden Verbrechen
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[104]

Aus den Erinnerungen eines Gefängnißinspectors.

Nr. 4. In den Augen mußt Du lesen!

Die Gefangenenaufseher werden ausschließlich aus versorgungsberechtigten Militärpersonen recrutirt, d. h. aus Soldaten, welche eine gewisse Anzahl Jahre gedient haben, in Folge des Dienstes zum weiteren Dienen untauglich geworden sind und deshalb auf Grund ärztlicher Zeugnisse als Ganz- oder Halb-Invaliden entlassen werden mit der Berechtigung, im Civildienst bis an ihr Lebensende fortzudienen. In der Regel sind diese Leute den Anforderungen nicht gewachsen, die an sie gestellt werden. Es fehlt ihnen meist die geistige Befähigung, welche der Verkehr mit Gefangenen unerläßlich macht, oder es kleben ihnen aus ihrer früheren dienstlichen Stellung Gewohnheiten an, die nicht in das Gefangenenhaus passen.

Eine Ausnahme von dieser Regel machte der Gefangenenaufseher Schilberg. Ich will dem Manne keine Lobrede halten, seine Eigenschaften nicht einzeln herzählen, um ihn als Musterbeamten darzustellen, ich muß aber bemerken, daß er nicht allein die ihm in seiner Stellung obliegenden Pflichten mit der peinlichsten Genauigkeit erfüllte, sondern daß er noch viel mehr that, daß er die Gefangenen ohne Ausnahme für seine Kinder ansah und denselben noch weit größere Sorge und Theilnahme zu Theil werden ließ, als sich sein eigenes Kind von ihm zu erfreuen hatte. Und doch hatte er dies Kind so unendlich lieb!

Schilberg wohnte nicht in dem Gefangenenhause. Er verließ dasselbe aber nur selten, eigentlich nur während der Nacht, wenn er vom Dienste frei war. Seine Bedürfnisse, die höchst einfach waren, wurden ihm entweder von seiner Frau oder seiner Tochter zugetragen. Mit seiner Frau machte er bei diesen Gelegenheiten wenig Umstände. „Hinstellen!“ war in der Regel Alles, was sie von ihm zu hören bekam. Dagegen verabsäumte er niemals, ihr die Hand zu reichen, diese kräftig zu schütteln und ihr dabei scharf, aber freundlich in die Augen zu sehen.

Ganz anders war Schilberg, wenn die Tochter sich einfand. Als er seinen Dienst als Gefangenenaufseher antrat, war diese etwa elf Jahre alt, ziemlich groß, aber schwach, und fast fortwährend kränklich. Mit den Jahren verlor sich die Schwäche, der Körper wurde kräftig, die Formen rundeten sich, das Gesicht erhielt eine lebhafte Färbung, es wurde blühend; die großen, dunklen Augen bekamen Glanz, der Ausdruck wurde sorglos, heiter, lachend, mit einem Worte: im neunzehnten Jahre war aus dem siechen Kinde ein bildhübsches Mädchen geworden.

Kam Fränzchen – mit diesem Namen wurde das Mädchen gerufen – in das Gefangenenhaus, so suchte sie stets den Vater auf, und wenn sie ihn traf, so schloß sie ihn in ihre Arme und, indem sie lachend grüßte, küßte sie wiederholt den von einem kurzen struppigen Bart eingefaßten Mund.

Schilberg verhielt sich hierbei passiv, er ließ sich dies Alles ruhig gefallen, dankte nicht für den Gruß, erwiderte auch weder die Umarmung, noch den Kuß. Aber wenn dieser gegeben war, so faßte er den Kopf seines Kindes mit beiden Händen, hielt ihn fest wie in einem Schraubstocke und blickte dann kurze Zeit prüfend in das lachende Gesicht. In diesem Blick offenbarte sich die namenlose Liebe des Vaters.

„Fränzchen,“ fragte er dann ernst, „bist doch gesund?“

„Ja, Vater!“

„Fränzchen, überall?“

„Ja, ja, Vater, überall!“

„Fränzchen, auch im Herzen?“

„Da erst recht, Vater!“

„Na, Fränzchen, bleib’ gesund und brav!“

„Das will ich, Vater!“

Schilberg behielt hierbei den Kopf seines Kindes fest in den Händen, er wendete, so lange er sprach, den Blick nicht einen Moment von ihm ab, es war als ob er durch das Auge bis tief in die Brust des Mädchens hinabsehen und dort nachlesen wolle, was der Mund aussprach. Dann zog er den Kopf sich näher, doch langsam, um den Anblick möglichst lange zu genießen, hielt ihn vor der Berührung noch einen Moment fest, und dann erst küßte er den kleinen, rosigen Mund, hörte auf dessen Reden und gab kurze, aber freundliche Antworten.

Ich habe unzählige Male derartige Scenen beobachtet und die Gelegenheit dazu nicht selten aufgesucht. –

An einem Sonntage brachte Fränzchen das Frühstück früher als gewöhnlich. Ich traf mit ihr zufällig vor der Wachstube zusammen, als sie in dieselbe eintreten wollte.

„Ach, Herr Inspector,“ redete sie mich an, „wollen Sie wohl die Güte haben, dem Vater zu sagen, daß ich das Frühstück abgegeben habe?“

„Wollen Sie denn heute den Vater nicht aufsuchen?“ fragte ich überrascht.

„Ich weiß nicht,“ entgegnete sie stammelnd, „ich komme zu nicht gelegener Zeit, der Vater möchte es nicht gern sehen, er möchte böse werden, und dann möchte ich mich auch nicht aufhalten, ich möchte gern wieder fort.“

Es kam mir vor, als ob sie dem Vater aus dem Wege gehen, die Begegnung mit ihm vermeiden wolle; auch fiel mir in ihren Reden eine gewisse Hast und in ihren Bewegungen eine Eilfertigkeit auf, die ihr sonst gänzlich fremd war.

„Ich habe dem Vater eine Ueberraschung bereitet,“ sagte sie, während sie das Körbchen ausleerte, „ich bringe ihm heute eine Tasse Chocolade. Er mag diese gern, viel lieber als Kaffee, – er soll heute einmal rechte Freude haben.“

Sie war mit dem Auspacken und dem Ordnen des Frühstücktisches schnell fertig geworden, hatte das Körbchen bereits wieder in die Hand genommen und war eben im Begriff, die Stube zu verlassen, als ganz unerwartet ihr Vater in dieselbe eintrat.

Fränzchen schreckte sichtbar zusammen und blieb betroffen und verlegen stehen. Schilberg hatte seine Tochter sogleich erkannt; er blieb innerhalb der Thür und schien hier zu erwarten, daß Fränzchen ihm entgegenkommen und ihn wie gewöhnlich begrüßen werde. Als dies nicht geschah, als Fränzchen unbeweglich in ihrer Stellung verharrte, da legte es sich wie ein Schatten auf sein Gesicht. Es war, als ob plötzlich eine Angst über ihn komme, als ob er Furcht empfinde. Er schüttelte den Kopf, brummte vor sich hin und schritt dann hastig auf Fränzchen zu. Der feste Tritt des alten Soldaten schreckte diese aus ihrem Sinnen auf, sie machte einige Schritte vorwärts, hob die Arme in die Höhe und schien damit den Vater umfassen zu wollen. Schilberg wehrte aber die Arme mit einer raschen Bewegung ab, nahm Fränzchens Kopf in seine Hände und hielt diesen dicht vor sich. An diesem Tage wohl zum ersten Male wollte sich der Kopf nicht festhalten lassen, er machte alle nur möglichen Versuche, sich zu befreien, und als diese sämmtlich ohne Erfolg blieben, da senkten sich die Lider über die Augen herab, die Röthe schwand von den Wangen, das Gesicht wurde kalt, es war ohne Ausdruck, ohne Leben. Lange Zeit, viel länger als er dies sonst zu thun pflegte, starrte der alte Mann auf dasselbe nieder. Seine Augen wurden trübe, sein Athem stockte, ein tiefer Schmerz füllte seine Brust. Es war vielleicht der erste – der letzte war es nicht.

„Fränzchen!“ sagte er endlich mit unsicherer Stimme, „Du bist krank!“

„Nein, Vater!“ erwiderte diese leise und stammelnd, ohne den Blick in die Höhe zu heben.

„Du bist krank, Fränzchen!“ versetzte Schilberg kräftiger und bestimmter, „sag’, Mädchen, wo’s fehlt!“

„Mir fehlt wirklich nichts, Vater!“ antwortete Fränzchen klar und fest, „Du hast mich nur erschreckt,“ fügte sie rasch hinzu, „ich wollte Dich überraschen. Sieh’, Vater, ich habe Dir zum Frühstück Chocolade gebracht, Du –“

„Du lügst!“ schrie der alte Mann. „In Deiner Brust ist etwas, was ich nicht sehen soll, was Du vor mir verbirgst. Sag’, was ist’s?“

Fränzchen antwortete nicht, sie schien keines Wortes mächtig zu sein, oder mit einem Entschlusse zu kämpfen. Hatte sie wirklich etwas zu verheimlichen? und wollte sie ihr Geheimniß nur dem Vater offenbaren?

Ich mußte das Letztere annehmen, meine Gegenwart konnte die Befangenheit des Mädchens nur vergrößern. Ich ging still, [105] fast unhörbar nach der Thür. Vater und Tochter schienen dies aber nicht zu beachten.

„Fränzchen!“ fuhr Schilberg fort, „Du machst mir große Sorge. Zum ersten Male ertappe ich Dich auf einem Unrecht. Sprich, Mädchen! Sieh’ meine Angst! Sei offen, sei wahr – nur keine Lüge, wenn ich –“

„Vater! lieber, guter Vater!“ schrie Fränzchen laut auf, „jetzt nicht, ich darf, ich kann nicht! Ja, Vater, ich habe Dir etwas zu verbergen, Du hast mir’s angesehen, aber ich versichere, es ist nichts Böses, es ist nichts, dessen ich mich zu schämen brauchte. Du wirst es erfahren, Vater, Du mußt es wissen, nur jetzt kann ich nicht reden, später –“

„Was? – Später?“ fiel Schilberg heftig ein. Und als auf diese Frage keine Antwort gegeben wurde, ließ der alte Mann den Kopf seines Kindes, den er bis dahin festgehalten hatte, rasch frei.

„Geh’,“ sagte er sich fortwendend, „nimm mit, was Du dort hingestellt hast, ich mag nichts, ich bedarf heute nichts, am wenigsten von Dir.“

Dies hörte ich ihn noch sagen, als ich die Thür hinter mir schloß. Ich hatte mich kaum einige Schritte von derselben entfernt, so kam Schilberg mir eilig nach. Fränzchen blieb allein in der Wachstube zurück. Wie lange sie sich noch darinnen aufgehalten hat, konnte später nicht ermittelt werden, es hatte kein Mensch sie fortgehen sehen.

Das Frühstück war stehen, auch das Körbchen zurückgeblieben. Gegen Mittag kam die Mutter zu mir.

„Ach, Herr Inspector,“ sagte sie, wie es schien, in großer Angst, „ist denn unser Fränzchen noch da?“

„Nein!“

„Sie ist heute Morgen von Hause fortgegangen und noch nicht zurückgekommen.“

„Nun, sie wird irgendwo eingekehrt und aufgehalten sein. Weshalb ängstigen Sie sich?“

„Ich weiß nicht, das Mädchen kam mir heute ganz anders vor; sie mußte etwas auf dem Herzen haben. Ich bin recht in Sorge um sie.“

Ich beruhigte die Frau und schickte sie nach Hause, ohne sie zu ihrem Manne zu lassen. Es mochte kaum eine Stunde verflossen sein, da kehrte sie zurück. Fränzchen hatte sich noch immer nicht eingefunden. Die Mittagszeit war vorüber. Freundinnen und Bekannte wollten das Mädchen nicht gesehen haben. Alle Nachforschungen waren erfolglos gewesen. Die alte Frau lamentirte und weinte und befand sich in der größten Aufregung. Wie sollte ich sie trösten? Das Ausbleiben über die Mittagszeit hinaus ohne jegliche Nachricht war so ungewöhnlich, daß die Besorgniß auch mir vollkommen begründet erschien. Und dann der Auftritt am Morgen! Ich erzählte diesen der Frau in allen Einzelnheiten; ich erinnerte mich dabei, daß Fränzchen dem Vater nicht hatte begegnen wollen, daß sie eingestanden hatte, ein Geheimniß zu haben und daß sie schließlich die Mittheilung für eine spätere Zeit zusagte. Statt aber zu beruhigen, vermehrte diese Mittheilung die Aufregung der alten Frau. Ich mußte Alles aufbieten, sie von einer Besprechung mit ihrem Manne zurückzuhalten und zum Nachhausegehen zu bewegen. Sie hatte mich kaum verlassen, so trat der Gefangenen-Arzt, der zugleich Physicus war, bei mir ein. Der Arzt mußte der Frau noch auf dem Flur begegnet sein und ihre Betrübniß und die verweinten Augen bemerkt haben.

„War das nicht die Frau unseres alten Schilberg?“ fragte er hastig.

„Sie ist eben von mir fortgegangen.“

„Die armen, alten Eltern!“ versetzte er ernst und theilnehmend.

Dieser Ausruf erschreckte mich. Ich wußte für den Augenblick nicht, was ich sagen und denken sollte. Der Arzt war an das Fenster getreten und starrte schweigend auf den Gefangenen-Hof, auf dem es nichts zu sehen gab, was ihm nicht schon vollständig bekannt gewesen wäre. Die Stille wurde unheimlich, beängstigend. Der Arzt wollte nicht sprechen, ich mußte ihn dazu veranlassen.

„Die Frau macht sich am Ende ganz vergebliche Sorge,“ sagte ich, um nur einen Anknüpfungspunkt zu haben. „Fränzchen wird sich schon wieder einstellen, sie kann –“

„Sie wissen nicht?“ fiel der Arzt mir in’s Wort.

„Nein! was denn?“

„Sie wissen wirklich noch nicht, daß Fränzchen bereits gefunden ist?“

„Wahrhaftig, nein!“

„Da wissen Sie auch nicht, wie und wo das Mädchen gefunden ist?“

„Nein, nein!“

„Fränzchen ist – todt!“

„Mein Gott! ist das möglich?“

„Ja, es ist traurig, daß es so ist! Unter solchen Umständen den Tod zu finden! Bei so vieler Berechtigung für das Leben so urplötzlich vernichtet zu werden! Das ist grauenhaft.“

„Aber wie denn?“ fragte ich, da ich den Arzt nicht verstand.

„Das Mädchen ist ertränkt!“

„Wie?“

„Verstehen Sie wohl,“ versetzte der Arzt mit ungewöhnlicher Heftigkeit, „das Mädchen hat den Tod durch die Hand eines Andern gefunden es ist gewaltsam in das Wasser gestürzt, es ist ermordet worden!“

„Das ist entsetzlich!“

„Ja, das ist es. Ich weiß nicht,“ fuhr der Arzt mehr im Selbstgespräch fort, „ob es ein Trost für die alten Leute sein wird, daß der Mörder bereits entdeckt und festgenommen ist und daß an seiner Ueberführung kaum gezweifelt werden kann. Nein, nein, das kann nicht trösten; für den alten Gefangenen-Aufseher muß ja gerade dies eine unversiechbare Quelle des Schmerzes sein. Dem alten Manne war das Kind in das Herz hineingewachsen; es war sein Leben, sein Alles. Und nun den Mörder dieses Kindes täglich vor Augen haben zu müssen, mit ihm zu verkehren! Herr Gott! das ist unmöglich, das ist mehr, als ein Mensch ertragen kann. Wir müssen einen Ausweg suchen und werden ihn finden. Hat denn Gottes Auge nicht sichtbar über diese verruchte That gewacht? Sie kennen doch die alte Gulke?“ wendete er fragend sich mir zu.

„Nein!“

„Es ist ein Wasserloch von unergründlicher Tiefe und einigen tausend Schritten Umfang, eingefaßt von einem vielleicht zwanzig Fuß hohen Ufer, das äußerst steil ist. Auf der Krone dieses Ufers, dicht an dem Rande desselben, zieht sich ein ungeschützter Fußweg hin. Dieser Weg wird von Spaziergängern häufig benutzt. Heute Morgen zwischen neun und zehn Uhr ist Fränzchen dort gesehen worden. Sie ist nicht allein gewesen; ein junger Mann hat sie am Arm geführt. Man muß hieraus schließen, daß zwischen Beiden ein intimes Verhältniß bestanden hat. Anfangs sollen Beide in ernster, aber ruhiger Unterhaltung begriffen gewesen sein, nach und nach diese jedoch einen leidenschaftlichen Charakter angenommen haben. Es hat den Anschein gehabt, als ob auf der einen Seite bestimmt und entschieden gefordert, auf der andern Seite dagegen beharrlich abgelehnt werde. Der Wortwechsel ist bald darauf lebhaft und erregt geworden. Fränzchen hat hierbei dem jungen Manne den Arm entzogen. Beide sind dann neben einander noch einige Schritte vorwärts gegangen. Plötzlich ist Fränzchen stehen geblieben und hat laut, weithin hörbar gerufen: ‚Was wolltest Du thun?‘ Die Erwiderung des jungen Mannes ist nicht verstanden worden. Darauf kann aber nichts ankommen, denn die That giebt dafür unwiderlegbar das Verständnlß. Fast unmittelbar nach jener Frage hat Fränzchen sich zurück-, der Stadt zugewendet, anscheinend um allein hierher zurückzukehren. Kaum ist dies geschehen, so ist der junge Mann ihr nachgeeilt, hat sie mit der einen Hand an den Hals, mit der andern an die Hüfte gefaßt und so den steilen Abhang hinunter, in das unermeßlich tiefe Wasser gestürzt. Ist das nicht teuflisch?“

„Aber woher wissen Sie das Alles?“

„Der Anfang und das Ende dieses entsetzlichen Verbrechens ist von zwei verschiedenen Seiten beobachtet worden, ohne daß die That hat gehindert werden können. Meine Wissenschaft stützt sich auf diese Beobachtungen, die vollkommen glaubwürdig sind. Ich bin zu Ihnen geeilt, nur um zu verhindern, daß Schilberg mit dem Ungeheuer zusammentrifft. Wie werden wir das anfangen?“

Unsere Berathungen führten zu dem Resultate, daß der Arzt zunächst mit Schilberg reden und ihn dann mit fortnehmen sollte. An diesem Tage bekam ich den alten Mann nicht wieder zu Gesicht.

In den vielen Jahren meiner Amtsthätigkeit sind mir Verbrecher [106] aller Gattungen, die ich nach Tausenden zählen kann, zugeführt worden. Unter diesen haben sich Menschen befunden, welche diesen Namen gar nicht verdienten, in deren Brust kein menschliches Gefühl Raum hatte, deren Leben ein fortgesetztes Verhöhnen aller göttlichen und menschlichen Satzungen, eine ununterbrochene Kette empörender, verabscheuungswürdiger Handlungen war, die, wenn ich so sagen darf, professionsweise die rohesten Verbrechen verübt hatten. Allein nicht ein einziges von diesen unglücklichen Geschöpfen hatte mir Widerwillen in dem Maße eingeflößt, wie jener junge Mann, den ich zu erwarten hatte. Konnte denn das aber auch anders sein?

Das Mädchen hatte mir nahe gestanden, die Eltern waren mir durch jahrelange engeren Verkehr Freunde und als solche lieb geworden. Ich hatte die tiefe Wunde, die der Verbrecher ihnen geschlagen und die sich nie wieder schließen konnte, vor Augen; ich fühlte das bittere Wehe, den tiefen, brennenden Schmerz der Elternherzen; ich sah die Hoffnungen auf ein sorgenloses, auf ein freudenreiches Alter mit einem Schlage vernichtet; ach, ich sah noch mehr! ich sah, daß der Gram über so schmerzlichen Verlust zwei treue Herzen brechen, zwei Menschen vor der Zeit dem Grabe überliefern werde.

War da die Bitterkeit, der Widerwille nicht begründet, mit welchen ich der Einlieferung des Verbrechers entgegensah? Und war es nicht so ganz natürlich, daß diese Bitterkeit später, als der Verbrecher mir entgegentrat, als ich mit ihm ein Zimmer theilen, mit ihm dieselbe Luft einathmen mußte, sich bis zu einem Grade steigerte, der an tödtlichen Haß grenzte? Es war für mich eine ungeheuer ernste Stunde, die ich zu durchleben hatte. Ich fühlte die Nothwendigkeit, die Entrüstung, die Bitterkeit, den Widerwillen zu verleugnen, die innere Stimme zu unterdrücken, alles Böse mit seinen Folgen zu vergessen und ruhig, leidenschaftslos mit dem Verbrecher zu verkehren. Und doch vermochte ich anfangs nicht, dies zu thun. Ich hätte den Menschen mit meinen Händen erdrücken oder unter die Füße werfen und zertreten mögen, und Gott weiß, was geschehen wäre, wenn der Verbrecher mich gereizt, wenn er durch Wort oder Geberden meinem Gefühle Nahrung gegeben hätte!

Die Mittheilungen des Arztes hatten meine Erwartungen auf das Höchste gespannt. Diese Erwartungen blieben unerfüllt. Die schauerliche That, vielleicht aber auch das Ergreifen unmittelbar nach Verübung derselben, also der Verlust der persönlichen Freiheit hatte dem Verbrecher jeden Halt fortgenommen. Er befand sich bei der Einlieferung in einem Zustande fast vollständiger Betäubung. Seine Sprache war matt, tonlos, seine Bewegungen müde, schlaff, sein Handeln willenlos, mechanisch. Er that, was von ihm verlangt wurde, allem Anscheine nach aber ohne klares Bewußtsein.

Unter anderen Verhältnissen würde ein solcher Zustand mir Theilnahme abgenöthigt und das Mitleiden bei mir rege gemacht haben; in diesem Falle blieb ich kalt und ungerührt. Ich überschritt nicht meine Berechtigung, aber ich that auch nichts, um die Härte zu mildern, welche die Ausübung meines Rechtes für den Gefangenen haben mußte. Ich hielt mich streng an die Worte der mir zur Richtschnur gegebenen Verordnungen, ersparte ihm keine, auch nicht die peinlichste Belästigung, und verließ ihn erst, nachdem er durch die Kette an die Gefängniß-Mauer gefesselt war. Die Thür vor seiner Zelle verwahrte ich noch durch ein besonderes Vorlegeschloß, um jedem Anderen den Zutritt unmöglich zu machen. –

Es vergingen Tage, Wochen und Monate. Der Verbrecher hatte sich schon am Tage nach seiner Einlieferung wieder ermannt. Er behauptete vollständig unschuldig zu sein.

„Fränzchen,“ so sagte er, „kam, als sie sich von mir wegwendete, um nach der Stadt zurückzukehren, in der Aufregung dem Rande des Ufers nahe, glitt aus, verlor das Gleichgewicht und stürzte in die Tiefe hinab. Ich sprang hinzu, um sie zurückzuziehen, die Last des fallenden Körpers war aber für meine Kräfte zu schwer, ich vermochte denselben nicht zurück-, den Sturz nicht aufzuhalten; ich konnte auch keine andere Hülfe leisten, der Schreck hatte mir die Besinnung genommen, mich völlig betäubt.“

Es mußte der Untersuchung vorbehalten bleiben, festzustellen, ob diese Behauptungen in Wahrheit beruheten, oder ob dieselben, den erbrachten Beweisen gegenüber, auch nur für wahrscheinlich erachtet werden konnten. Meine Voraussicht in Bezug auf Schilberg war in Erfüllung gegangen. Der Schreck und der Gram hatten den alten Mann darnieder geworfen, seine Kräfte gebrochen. Er war lange Zeit an das Bett gefesselt und später noch an seine Wohnung, die er nicht verlassen durfte, auch nicht verlassen konnte. Der Verkehr mit dem Gefangenen war ihm dadurch unmöglich gemacht. Er beschäftigte sich aber ausschließlich mit der Untersuchung und schien für nichts Anderes Interesse zu haben; jede Gelegenheit, die sich ihm darbot, um über die Sache Nachricht zu erhalten, ergriff er mit beiden Händen.

Die Untersuchung war endlich abgeschlossen und der Tag zur öffentlichen Rechtsprechung bestimmt. Von da ab zeigte Schilberg eine auffallende Unruhe; er aß und trank hastig und unregelmäßig, er schlief weder während der Nacht, noch am Tage, und lief in seiner Wohnung von einem Orte zum anderen, als ob er von einer unsichtbaren Macht verfolgt werde. Je näher der entscheidende Tag heranrückte, desto mehr traten diese krankhaften Erscheinungen hervor. Am Abend vor demselben trat Schilberg ganz unerwartet in mein Arbeitszimmer. Er hatte sich mühsam bis dahin geschleppt und schien nicht weiter zu können, alle Kräfte zugesetzt zu haben. Sein Zustand machte mich besorgt.

„Ja, ja!“ stieß er nach kurzer Rast keuchend heraus, „ich bin nicht mehr der, der ich früher war. Du mein Gott, was ist aus mir geworden! Wenn ich nur Ruhe finden könnte! Herr Inspector, Sie müssen mir dazu verhelfen. Ich alter Mann habe ja so viel verloren: Kind, Amt und Gesundheit! Haben Sie Mitleid mit mir, helfen Sie mir zur Ruhe, erbarmen Sie sich meiner Angst!“

„Aber was wollen Sie denn?“ fragte ich tief bewegt.

„Ich muß dem Kerl in die Augen sehen, ich muß wissen, ob er wahr redet!“

Das namenlose Elend des alten Mannes jammerte mich; ich wollte ihm die Ruhe geben, die er suchte, und führte ihn zu dem Verbrecher. Auf dem Wege nach dem Gefängnisse zeigte Schilberg sich vollkommen ruhig, aber tief bewegt. Von Zeit zu Zeit stöhnte er laut, um der gepreßten Brust Erleichterung zu verschaffen. Kein Wort kam über seine Lippen. Im Gefängniß setzte er sich auf die einzige Bank, stützte den Kopf mit beiden Händen und verharrte regungslos in tiefem Schweigen. Der Verbrecher lag vor ihm auf dem Strohsacke, eingewickelt in die Decke, nur der Kopf war sichtbar. Das Licht, das ich mitgenommen und auf den Tisch gestellt hatte, warf seinen Schein voll auf diesen Kopf. Die Augen waren geschlossen, der Verbrecher schien fest zu schlafen, er rührte sich nicht. Schilberg hatte sich bald erholt; er richtete sich in seiner ganzen Höhe auf und blickte starr in das Gesicht des Verbrechers. Die monatelange Haft hatte dies Gesicht bis zur Unkenntlichkeit verändert. Die Farbe war verschwunden, die vollen Wangen fehlten, von dem runden Kinn war nur der spitz hervorstehende Knochen übrig geblieben, die geschlossenen Augen lagen tief in ihren Höhlen. Der Anblick dieses entstellten Kopfes schien auf Schilberg keinen Eindruck zu machen, er blieb kalt, keine Muskel an ihm zuckte.

„Du da,“ sagte er nach einer Weile halblaut, doch fest, „steh’ auf. Ich weiß, daß Du nicht schläfst. Im Schlafe ruht das Auge wie im Tode. Deine Augen sind lebendig; sie springen unter den Lidern aus einem Winkel in den andern. – Du schläfst nicht!“ wiederholte er mit stärkerer, aber dumpfer Stimme, „mich kannst Du nicht täuschen. Steh’ auf!“

Ich hatte noch nie so reden hören. Der tiefe Ernst des alten Mannes und seine dumpfe, hohle Stimme, die wie aus einem geschlossenen Grabe herauftönte, waren schauerlich ergreifend. Die Wirkung blieb nicht aus. Der Verbrecher öffnete die Augen und richtete diese voller Angst auf den alten Mann.

„Was wollen Sie?“ stammelte er.

„Du hast nicht geschlafen, Du hast mich täuschen wollen. – Ich komme zu Dir, um nur eine Frage an Dich zu richten; ich komme aber nicht allein, mein Kind, mein Fränzchen ist mit mir. Wenn Du sie auch nicht siehst, sie ist doch bei mir. Und über uns ist der liebe Gott! Bedenke das, ehe Du mir antwortest.“

Schilberg näherte sich dem Lager, blieb dicht vor demselben stehen und blickte stier und starr auf den Verbrecher herab. Dieser hatte sich in halber Höhe erhoben, seine Augen hatten sich vergrößert, der Mund war halb geöffnet, auf den linken Arm stützte sich der Körper, den rechten hielt er wie abwehrend oder schützend vor sich.

[107] „Ich sehe auch, daß Du Dich fürchtest,“ sagte endlich der alte Mann noch viel feierlicher als vorher. „Die Unschuld kennt keine Furcht, sie hat Vertrauen bis zur letzten Stunde. Ich werde Dich jetzt nicht fragen, ich weiß, was ich wissen wollte, Deine Augen haben mir es gesagt. Ich will nicht Veranlassung geben, daß Dein Mund anders spricht als Dein Herz.“

Schilberg schwieg, wendete sich rasch von dem Verbrecher ab, ergriff meine Hand und führte mich aus dem Gefängniß. Er war wunderbar gekräftigt, sein Gang war fest, seine Haltung soldatisch, straff, nichts verrieth Schwäche, nichts Niedergeschlagenheit oder Erregtsein. Und doch mußte es in seiner Brust gewaltig arbeiten, er kam ja von dem Mörder seines Kindes. Vor der Thür ergriff er meine Hand, und indem er sie kräftig drückte, sagte er: „Der Kerl lügt! Ich hab’s in seinen Augen gelesen. Nun weiß ich, was ich zu thun habe; ich werde nun auch Ruhe finden.“

Die Einzelnheiten der Verhandlung vor den Geschworenen boten dem Juristen, dem Mediciner und auch dem Psychologen reiches Interesse; sie gehören indeß nicht hierher. Der Verbrecher behauptete beharrlich seine Unschuld und kämpfte für sein Leben mit einem Muthe, einer Ausdauer und einer Zähigkeit, die allseitiges Erstaunen erregten und unter anderen Verhältnissen nicht ohne Anerkennung geblieben sein würden. Die Scene am Abend vorher schien bei ihm keinen Eindruck hinterlassen zu haben, er schien sich ihrer gar nicht zu erinnern.

Schilberg befand sich unter den Zuhörern und hatte auf der dem Verbrecher zunächst stehenden Bank in der vordersten Reihe Platz genommen. Er folgte der Verhandlung mit ungetheilter Aufmerksamkeit, ohne auch nur [e]in einziges Mal seinen Platz zu verlassen. Der Wahrspruch der Geschworenen lautete: „Schuldig des Mordes!“ Kaum war dies durch den Vorsteher verkündet, so kam Schilberg zu mir.

„Wissen Sie, Herr Inspector,“ sagte er leise, „was ich gethan hätte, wenn der Kerl freigesprochen worden wäre?“

„Nun?“

„Ich hätte ihn auf der schwarzen Bank erschossen! Er ist schuldig, ich habe das in seinen Augen gelesen.“

Schilberg wies mir den Schaft eines Terzerols, und ich zweifle nicht, daß er sein Vorhaben ausgeführt haben würde, wenn der Wahrspruch „Nichtschuldig“ gelautet hätte. –

Dem Verbrecher ist die Todesstrafe erlassen, er befindet sich auf Lebenszeit in einer Strafanstalt. Der alte Gefängnißaufseher lebt nicht mehr; er kann hier nicht mehr in den Augen lesen.

E.