Aus den Erlebnissen eines alten Sachwalters

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Titel: Aus den Erlebnissen eines alten Sachwalters
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aus: Die Gartenlaube, Heft 26, 29, S. 411–412, 458–459
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Erscheinungsdatum: 1861
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[411]
Aus den Erlebnissen eines alten Sachwalters.[1]
Nr. 1.

Es geschah vor einiger Zeit, daß die sächsische Staatsregierung eine Warnung ergehen ließ vor dem gefährlichen Treiben gewisser Agenten, welche namentlich arglose Bauersleute durch Gutskäufe und Täusche wiederholt betrogen, in manchen Fällen sogar um ihr ganzes Vermögen, an den Bettelstab und zur Verzweiflung gebracht hatten. Es wurde auch eine wohlmeinende, wenn schon auf dem dermaligen Landtage in ihrer formellen Berechtigung angezweifelte Verordnung erlassen, durch welche das ganze Agentenwesen der Controle der Behörden untergeordnet ward. Wir bezweifeln, daß damit dem Publicum irgend ein wesentlicher Nutzen bereitet worden ist, halten es vielmehr für unmöglich, das vielgestaltige Geschäftsleben so, wie beabsichtigt, zu überwachen, und erblicken das einzige Schutzmittel nicht nur gegen das Treiben gewissenloser Agenten, sondern überhaupt gegen Vermögensverluste und Verwirrungen aller Art in dem Rathe, daß man sich bei jedem wichtigeren Rechtsgeschäfte des Beistandes eines redlichen und geschickten Sachwalters bediene. Wir können unparteiisch diesen Rath geben, denn nach einem vielbewegten Leben in der advocatorischen Praxis haben wir uns aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen. Wir weisen darauf hin, daß es bei der großen Mannigfaltigkeit, Feinheit und Verwickelung unseres Verkehrs selbst für den Gebildeten ganz unmöglich ist, die daraus sich ergebenden Rechtsverhältnisse klar zu erfassen; nur bei der Theilung der Arbeit, dem Princip, auf dem die heutige Gesellschaft ruht, ist es möglich, daß in einer Wissenschaft oder Kunst Etwas geleistet werde, und die Behandlung der Rechtsgeschäfte läßt sich nicht nebenbei erlernen; sie erfordert eben so viel Studium, als Erfahrung. Zur Erläuterung mögen einige aus dem Leben gegriffene Beispiele dienen, bei denen nur die Namen verändert sind.

1. Die unrichtige Firma.

In einer kleinen Stadt des Voigtlandes etablirte sich vor länger als 20 Jahren der Klempnermeister Ohnerast. Er hatte sich auf der Wanderschaft in der Welt umgesehen, und man sah es seinem ganzen rüstigen Wesen, dem klugen Ausdrucke seiner Augen wohl an, daß er sich nicht auf das Ruhebänkchen des Zunftzwangs niederlassen, sondern sich auf seine eigene Kraft verlassen werde. Seine Mittel waren sehr bescheiden, aber sein Fleiß mühte sich unverdrossen, von Tagesanbruch bis in die späte Nacht, in der im Hofe gelegenen Werkstatt ab, während seine sorgsame Hausfrau den Verkauf im Laden besorgte. Hier waren einige Lampen neuester Construction ausgestellt, während seine Zunftgenossen sich noch nicht über die primitive Lampe von Weißblech erhoben hatten, deren wulstigem Dochte der Qualm wie aus einer Esse entsteigt. Obschon der Zunftneid über ihn spottete, so kam doch Ohnerast zunächst bei den Honoratioren der Stadt, dann bei den nächsten Rittergütern in Kundschaft; er konnte sich erst einen Lehrling, dann einen, später mehrere Gesellen halten, und mit seinen Fabrikaten die Leipziger Messe beziehen. Er sah ein, daß sein bisheriger Wohnort zur flotten Betreibung seines Geschäftes zu klein, und namentlich zu abgelegen von den großen Verkehrsstraßen war. Er siedelte in eine größere Stadt über. Das Geschäft war in stetem Wachsen; wo er sonst allein in der Hinterstube gehämmert, da arbeiteten später gegen hundert Leute, nicht blos Klempner, auch Dreher, Gießer und Tagelöhner. Der Handwerksbetrieb hatte sich zur Fabrik ausgedehnt. Es war nöthig geworden einen kaufmännisch gebildeten Buchhalter anzustellen. Meister Ohnerast wurde allmählich ein reicher Mann und war in der Stadt hochgeachtet; trotz seiner durch Geschäftsreisen häufig herbeigeführten Abwesenheit wurde er mit städtischen Ehrenämtern betraut. Dabei blieb er immer der einfache, schlichte Mann; nur ein Mangel entwickelte sich bei ihm stärker und stärker; es war die Meinung, die aus seinem gewiß berechtigten Selbstgefühl entstand, daß er, der bis dahin Alles allein mit dem besten Erfolge ersonnen, geleitet und ausgeführt hatte, überhaupt des Rathes anderer Leute nicht bedürfe, und daß namentlich, so vielfacher Art seine Beschäftigungen auch waren, der Rath eines Sachwalters dabei völlig überflüssig sei. Bestärkt wurde er in dieser Meinung noch durch die Erfahrung, daß er einmal in einen Proceß verwickelt worden, in welchem nach seiner ehrlichen Ueberzeugung das Recht auf seiner Seite war, der ihm aber durch eine Eidesleistung seines Gegnern verloren ging. – Er pflegte seitdem immer zu sagen, der grundehrliche Mann: „Bei mir gilt das Recht; ich brauche keinen Advocaten.“

So entschloß er sich denn, ohne irgend einen vorgängigen juristischen Beirath, eines Tages einen Compagnon anzunehmen. Seine häufigen Geschäftsreisen erforderten auch, daß während seiner Abwesenheit ein Stellvertreter die Aufsicht über das umfängliche Geschäft führe. Er fand das, was er suchte, in einem seiner Arbeiter, Namens Beimann, der fleißig und geschickt immer von ihm bevorzugt und schon längere Zeit mit der Stellung eines Factors von ihm betraut worden war. Es erschien plötzlich die Firma „Ohnerast und Beimann“ am kaufmännischen Horizonte, und es hieß in der Stadt allgemein, Beimann, welcher in der Lotterie gewonnen oder auch eine Erbschaft gemacht habe, sei namentlich seines Geldes wegen zum Theilhaber des Geschäftes emporgestiegen, namentlich da unmittelbar nach Anzeige der neuen Firma die Fabrik durch Ankauf eines Nachbarhauses wiederum vergrößert ward. – Beimann leitete nun vorzugsweise den technischen und Ohnerast den kaufmännischen Theil des Geschäftes, das sich eines steten Fortschreitens erfreute. – Beimann, obwohl im Geschäfte thätig, war Junggesell, hatte für Niemanden zu sorgen, und pflegte des Abends als Ersatz für die Freuden des häuslichen Heerdes dem Bacchus, wenn nicht unmäßig, so doch reichlich zu opfern, so daß sich sein Gesicht allmählich mit einer helleren Röthe überzog, das auf der Nase sich bis zum Dunkelroth steigerte, im Ganzen aber nur dazu diente, den Ausdruck von Behaglichkeit und Wohlhäbigkeit zu vollenden, der dem wohlgenährten Compagnon eines so geachteten Geschäftes nur wohl anstand, zumal Ohnerast immer schmächtig blieb, jedenfalls in Folge sowohl seines Temperamentes, als seines einfachen Lebens. – Diesen erwünschten Verhältnissen wurde Beimann plötzlich durch ein tragisches Geschick entrissen. An einem feuchten und nebligen Herbstabende des Jahres 1851 mochte er wohl ein Glas mehr als gewöhnlich genossen, oder der dichte Nebel ihn getäuscht haben; er fiel beim Heimwege in den Mühlgraben, wurde zwar auf seinen Hülferuf vom Nachtwächter bald herausgezogen; inzwischen war er vom Schlage getroffen worden, gänzlich gelähmt und starb bald darauf.

Einige Wochen darauf kam Ohnerast eines Morgens zu mir mit sorgenvollem, fast vergrämten Gesichte; er theilte mir mit, daß ein Advocat für die armen Verwandten seines verstorbenen Compagnons zu ihm gekommen sei und von ihm die Darlegung seiner Geschäftsverhältnisse und seines Compagnons Antheil am Geschäfte herausverlangt habe; er bat um meinen Beistand. Ich erwiderte ihm, daß er ja dazu eines Advocaten gar nicht bedürfe; denn es gelte ja bei ihm das Recht, und als rechtlicher Mann könne er sich ja nicht weigern, den Erben seines Compagnons das Ihrige herauszuzahlen. Er entgegnete: Jemandem das Seine vorzuenthalten, wäre er weit entfernt, aber Beimann habe in seinem Geschäfte auch nicht einen Pfifferling stehen gehabt; bei Annahme der neuen Firma wäre nicht Beimann’s Vermögen, das er nie besessen, sondern lediglich seine vorzügliche technische Befähigung maßgebend gewesen, und um des Respectes willen den Leuten gegenüber habe er ihn als Compagnon vor den Leuten figuriren und ihm außer seinem festen Gehalte einen Gewinnantheil zukommen lassen. Aufgeschrieben sei über das ganze Verhältniß gar Nichts. Er überzeugte mich aus den Geschäftsbüchern von der Wahrheit seines Anführens; ich schlug also den Gegnern ihr Verlangen ab und erwartete, ob sie ihre Ansprüche im Proceßwege ausführen würden, was denn auch geschah.

Mit dessen näherer Beschreibung will ich den Leser nicht ermüden; nur so viel sagen, daß ich es mit einem hartnäckigen Gegner zu thun hatte. Zu einem Vergleiche war Ohnerast [412] durchaus nicht geneigt, obwohl er vielleicht angenommen worden wäre; er hätte nach seiner Ansicht damit ein Unrecht seinerseits zugegeben und das Recht der Gegner anerkannt. Das Publicum nahm vielfach für die armen Verwandten Partei, und Ohnerast ward nicht selten mit Mißtrauen betrachtet. Diese Wahrnehmung und die Sorge um den Proceß überhaupt übte auf die Stimmung des ehrliebenden, vielleicht auch durch seine rastlose Thätigkeit geistig angegriffenen Mannes den schlimmsten Einfluß aus. Er ward erst still und einsylbig, konnte sein Geschäft nicht mehr hinlänglich verwalten, und indem er dies fühlte, steigerte sich seine Schwermuth mehr und mehr bis zu gänzlicher Willenlosigkeit, stundenlang saß er vor seinen Geschäftsbüchern, sah starr auf einen Fleck und seufzte. Der Zustand ward endlich so bedenklich, daß ein Irrenarzt zu Rathe gezogen werden mußte, welcher erklärte, daß eine schleunige Beendigung des Processes den Kranken am besten heilen werde. Obwohl unsere Sache günstig stand, so war dies doch nicht sobald möglich, denn es war Taktik des Gegners, der die Lage der Sache wohl sah, uns durch fortwährendes Appelliren, wo möglich, zu ermüden und dadurch zur Anbietung einer Vergleichssumme zu bestimmen. Ein Vergleich würde aber nur von den schlimmsten Folgen auf Ohnerast gewesen sein. So blieb nur noch übrig, ihn aus seiner Umgebung weg und in eine Privatirrenanstalt zu bringen, wo es zwar den Bemühungen des menschenfreundlichen und geschickten Arztes gelang, zuweilen den Kranken zu zerstreuen und wenigstens den Fortschritt der Geisteslähmung zu hemmen, allein eine Heilung nicht erzielt wurde.

Es gelang mir zwar mit Hülfe einiger Geschäftsfreunde, sowie des etwa sechzehnjährigen Sohnes Ohnerast’s, welcher ganz den Geist seines Vaters geerbt hatte, den Fortgang des Geschäftes zu sichern, allein nur mit schweren Opfern. So vergingen beinahe zwei Jahre, ehe der Proceß und zwar völlig zu Gunsten des armen Ohnerast entschieden wurde. Ich eilte mit seiner Frau und dem ältesten Sohne in die Anstalt, um ihm diese Mittheilung in Anwesenheit des Arztes, der ihn schon vorbereitet, zu machen. Wie fand ich den rüstigen Mann, der kaum 50 Jahre zählte, verändert! Sein Haar war schneeweiß geworden, die Gestalt gebückt, das Auge erloschen, und tiefe Furchen durchzogen sein gelbes Antlitz. Fast nicht minder hatte der Kummer an seiner Frau gezehrt; zwei Jahre ihres Lebens hatten die sonst so glücklichen Menschen in Kummer verloren, ihre Ehre war angezweifelt worden, und die bedeutenden Vermögensluste erschienen noch als das Mildeste bei diesen, herben Geschick. Ein einfacher schriftlicher Nachweis über das wahre Verhältniß, in welchem Beimann zum Geschäfte stand, hätte all das Unglück erspart! und jeder Advocat würde Ohnerast auf die Nothwendigkeit eines solchen aufmerksam gemacht haben.

Nur allmählich und schwer gelang es, den Unglücklichen zu seiner früheren geistigen Energie und Lebendigkeit zurückzuführen; am günstigsten wirkten auf ihn ein die Bemühungen seiner ältesten Tochter, eines gebildeten, sanften Mädchens, welches auf die schmiegsamste Weise sich ihm anzupassen verstand. Sie führte ihm bald einen braven Schwiegersohn als Compagnon zu; und so sehr er Ohnerast’s volles Vertrauen besaß, so unterließ letzterer doch nicht, einen ganz genauen, nach allen Seiten hin erwogenen Societätsvertrag durch meine Vermittelung mit ihm abzuschließen.



[458]

Nr 2.

Das unterlassene Testament.

Mein Nachbar in X. war ein pensionirter Beamter mit einem hübschen Vermögen; er lebte mit seiner Ehehälfte, da er kinderlos war, sorgenlos und mit behaglichem Genuß des Lebens; denn wenn schon die Jahres- und Tagesordnung mit einer für jeden Dritten höchst peinlichen Genauigkeit und Gleichförmigkeit inne gehalten wurde, so war doch diese Regelmäßigkeit so eng mit der Natur des in der Handhabung eines strengen und pünktlichen Dienstes ergrauten Mannes verwachsen, daß ohne sie ein Lebensgenuß für ihn nicht möglich war. Es fehlte meinem Nachbar auch nicht die höhere Weihe des Lebens; denn unter einem trockenen und etwas kurz angebundenen Aeußern trug er ein warmes und fühlendes Herz in seiner Brust, und war der unverschuldeten Armuth im Stillen ein trostreicher Berather und Helfer; namentlich erstreckte sich seine Fürsorge auf Waisenkinder, die er in seiner Eigenschaft als Mitglied des Armenvereins des Orts mit großem Takt in braven Familien unterzubringen wußte. Die Unterbringung in einem Waisenhause mit seiner äußerlichen Ordnung und Regelmäßigkeit wäre ihm vielleicht noch erwünschter gewesen; zum Glück gab es aber ein solches in der Stadt nicht.

Oft pflegte ihm ein Freund zu rathen, die Armenbehörde wohl auch an’s Herz zu legen, daß er, der kinderlose und wohlhabende Mann, sich doch selbst ein Kind annehmen möge; das lehnte er aber stets ab. Er sah wohl ein, daß seine Frau hierzu nicht tauge; denn obwohl gutherzig, war sie doch kränklich, alternd und eigensinnig, daher zu Kindererziehung durchaus ungeeignet; so blieb also unser Ehepaar im altgewohnten, einsamen Gleise.

Dieses harmlose Leben sollte durch ein schlimmes Mißgeschick unterbrochen werden. Es brach ein bösartiger Typhus in der Stadt aus und raffte auch meines Nachbars Frau weg. Zugleich mit andern Opfern wurde der Seuche auch eine ganze Familie zur Beute; es war dies meines Nachbars Amtsnachfolger mit Weib und drei Kindern. Verschont von dieser Familie blieb nur ein vierzehnjähriges Mädchen, ein frisches, munteres, sanftes Wesen, Namens Clara. Dessen nahm sich eine wohlhabende Familie an, während mein Nachbar die Stelle seiner Hausfrau durch eine alte Wirthschafterin zu ersetzen suchte. Es erwies sich aber bald, daß sie sich in die starren Eigenthümlichkeiten des alten Herrn nicht finden konnte; sie ward entlassen, eine andere angenommen, und diese mußte einer dritten weichen, welche ebenfalls nicht einschlug. Mein Nachbar, durch den Tod der Gattin ohnehin tief gebeugt, gerieth dadurch in die allerbedenklichste Stimmung und ward, obwohl sonst trotz seiner Sechszig ein noch rüstiger Mann, völlig lebensmüde. In solcher Lage hielt ich es für meine Pflicht, dem Armen mit Rath und That beizustehen; ich begriff wohl, daß eine alte Person mit ihren eingewurzelten Gewohnheiten sich in die Eigenheiten des Nachbars nie finden werde, wußte aber auch, daß eine junge ihm in keiner Weise bequem war, und ich lenkte daher seine Aufmerksamkeit auf die ihm von seinem Umgange mit ihrer Familie her wohlbekannte und lieb gewordene Clara, welche in der Familie, die sich ihrer angenommen, eine mehr dienende Stellung einnahm und nicht eine solche Thätigkeit entfalten konnte, als sie ihrer Bildung entsprach. Ich schlug ihm vor, sie als Pflegetochter in sein Haus zu nehmen und damit nicht nur die Leere seines Herzens auszufüllen, sondern sich auch zugleich eine Sorgerin für sein Hauswesen zu schaffen. Er ging auf diesen Plan ein, auch Clara, die schon als Kind viel in seinem Hause verkehrte und manch Liebes und Gutes da genossen hatte, folgte gern seinem Rufe; sie nannte ihn Vater, er sie Tochter; er sorgte aber auch für sie als ein Vater und ließ es an Nichts fehlen, was zur Weiterbildung ihres Geistes und Herzens dienen konnte; sie liebte ihn wie eine Tochter und wußte sich ihm anzuschmiegen und in seine Eigenheiten zu schicken, daß daraus ein Verhältniß erwuchs, wie es reiner und schöner nicht gedacht werden konnte. Um seiner Tochter eine unschuldige Freude nicht zu verderben, geschah nicht selten das früher Unerhörte, daß er die seit einem Menschenalter mit der größten Pünktlichkeit innegehaltene Speise-, Spazier- oder Ruhestunde verrückte. Wenn er sich dabei ertappte, pflegte er selbst darüber zu lächeln und kopfschüttelnd zu sagen: „Ich hätte doch nimmer geglaubt, daß ich auf meine alten Tage noch so ein lüderlicher Kerl werden würde.“

Es konnte sich über den glänzenden Erfolg, den mein Rath gehabt hatte, Niemand mehr freuen als ich, wenn mein Nachbar mir oft mit Dank und Stolz von seiner Tochter erzählte. Bei einer solchen Gelegenheit lenkte ich denn auch das Gespräch auf das künftige Schicksal Clara’s, was ja doch größtentheils in seiner Hand liege, und welches möglichst sicher zu stellen seine Pflicht, dazu aber eine förmliche Adoption der beste Weg sei.

„Nein,“ sagte er, „von Adoption will ich nichts wissen, das ist mir wie eine Spielerei, das kann uns nicht näher bringen, als wir uns schon sind; seinen ehrlichen Namen mag das Kind behalten, so lange sie Jungfrau bleibt, denn sie hat ihn von einem würdigen Vater geerbt; wenn sie heirathet, verliert sie ihren wahren und meinen Namen; beerben soll sie mich ohnehin.“

Ich erwiderte, daß es aber dann eines Testamentes bedürfe, und daß es gut wäre, daran bei Zeiten zu denken.

Er sagte: „ei, bin ich denn plötzlich so alt und schwach geworden, daß ich schon mein Testament machen muß?“ in so bestimmtem Tone, daß ich abbrechen mußte; auch später, so oft ich auch davon anfing, konnte ich ihn nicht bewegen, mit mir über diesen Gegenstand zu verhandeln; denn kurz, fast finster ging er auf etwas Anderes über. Clara selbst hatte einen viel zu feinen Takt und zartes Gemüth, als daß sie je hätte diese Saite berühren können.

Der Grund zu diesem Eigensinne des Alten war vielleicht [459] weniger die Todesfurcht, welche Viele bei dem Gedanken an testamentarische Verfügungen beschleicht und sie davon abhält; es schien vielmehr ein anderes Gefühl die Triebfeder zu sein: das war die Sorge, es könnten sich etwa in die Liebe und Anhänglichkeit seiner Tochter, die sie ihm frei und uneigennützig entgegentrug, eigennützige Motive mischen und so seine reine Freude an ihr trüben, denn er fürchtete, eine Testamentserrichtung bleibe nicht verschwiegen; er hatte auch bisher seiner Clara sorgfältigst verheimlicht, daß er außer seiner Pension noch ansehnliche Zinsen einnahm. So mußte ich denn die Sache gehen lassen und zunehmender Altersschwäche oder eintretendem Siechthum anheimgeben, eine Sinnesänderung meines Nachbars herbeizuführen.

Inzwischen war Clara zur stattlichen Jungfrau erblüht, und es konnte nicht fehlen, daß manche junge Männer sich zu ihr hingezogen fühlten und ihr auf Bällen oder sonst Aufmerksamkeiten erwiesen. So oft solches geschah, war unschwer zu bemerken, daß düstre Wolken meines Nachbars Stirn umzogen, und, wie wir denn in offenem und vertrautem Verkehre mit einander standen, so unterließ ich nicht, ihm meine Verwunderung hierüber zu erkennen zu geben. Er räumte ein, daß diese Mißstimmung eine Schwäche von ihm sei, und entschuldigte sich damit, daß es ihm zu schwer auf’s Herz falle, wenn er denke, Clara werde ihn verlassen und in eines andern Mannes, ihres künftigen Gatten, Haus folgen; er werde sich aber nöthigenfalls darein fügen und sei weit entfernt, seiner Clara irgend welchen Zwang anzuthun. Diese war indeß zu feinfühlend, als daß ihr der Seelenzustand ihres Pflegevaters bei solchen Gelegenheiten hätte entgehen können, und sie nahm daher, um ihn nicht zu kränken, alle Huldigungen mit Gleichgültigkeit, ja mit Kälte auf. Dies wurde ihr so lange auch nicht schwer, als ihr Herz frei blieb.

Da tauchte am geselligen Horizonte unserer Stadt ein junger Mann, Namens Adolf, auf, der Sohn eines Fabrikherrn, von angenehmem Aeußern, der seit seinem Austritte aus der Schule in der Ferne gelebt, viele Länder bereist hatte und durch dies Alles, sowie durch das seiner Erscheinung anhängende Fremdartige die junge Mädchenwelt mehr oder weniger bezauberte. Obwohl fast gegen Jede freundlich und artig, gab er doch Keiner einen Vorzug, so sehr man ihm auch entgegen kam. Was mich hierbei interessirte, war die nicht zu verkennende Thatsache, daß Clara nicht gleichgültig gegen ihn war.

Gerade in dieser Zeit hatte mein Nachbar unerwartet um meinen Rath darüber gefragt, wie man auf möglichst verborgene Weise sein Testament machen und wie es namentlich seiner Clara verheimlicht werden könne; denn er werde doch immer älter, und er wünsche Clara’n sein Vermögen nach seinem Tode zuzuwenden, da er nur ganz entfernte, dazu noch sehr reiche Verwandte habe. Ich zeigte ihm hierzu den schicklichsten Weg, da er aber, während ich doch in allen Rechtsgeschäften sein Beistand war, wieder eine ziemliche Zeit verfließen ließ, ohne auf die Testamentserrichtung zurückzukommen, so lenkte ich das Gespräch darauf. Er erwiderte: „Sie haben doch wohl bemerkt, wie der junge Adolf meiner Clara in die Augen gestochen hat? Ich habe auch nichts gegen ihn einzuwenden, aber wie gleichgültig ist er gegen sie! Er wird gewiß erfahren, daß ich jetzt mein Testament gemacht habe, und denken, daß ich ihn damit ködern will, meine Clara zu heirathen; denn er ist Kaufmann und speculativ; so würde ich meinen unschätzbaren Schatz verhandeln, wie eine Waare.“ Von dieser Idee war er auch nicht abzubringen. Inzwischen hatten sich Adolf und Clara zwar auf verborgene, mir jedoch bekannt gewordene Weise genähert. Es war zwischen ihnen zu Erklärungen gekommen; Clara konnte sich jedoch, theils aus Zärtlichkeit für ihren Pflegevater, theils weil dieser ja dem Gespräche über Adolf geflissentlich auswich, nicht entschließen, sich ihrem Pflegevater zu entdecken, und verschob dadurch die Entscheidung von einer Zeit zur andern, während Adolf, bei dem abgemessenen Wesen, das mein Nachbar gerade gegen ihn beobachtete, ohne vorgängige Sondirung Seiten Clara’s in Bezug auf ihres Pflegevaters Gesinnungen sich nicht vorwärts wagte.

So verging zwischen Schwanken und Hoffen wohl ein halbes Jahr, als plötzlich Adolf abbrach und, weniger seiner Neigung folgend, als dem Drängen seines Vaters nachgebend, sich mir einem reichen Mädchen verlobte. Adolf’s Vater hatte gewünscht, daß sein Geschäft einst auf seinen Sohn übergehen möchte; da er aber noch mehrere jüngere Kinder hatte, so war dies nicht wohl möglich, wenn Adolf nicht eine reiche Partie machte. Gegen Clara’s Person hatte er nicht das Geringste einzuwenden, auch auf sofortige Mitgift wollte er verzichten, nur das sollte sicher sein, daß sie ihren Pflegevater einst beerbe; diese Garantie sei aber nicht da.

Bei Clara’s sanftem Wesen äußerte diese Wendung ihres Schicksals sich zwar nicht in leidenschaftlicher Weise; aber ein innerer Gram zehrte sichtlich an ihr, und sie zog sich von aller Welt zurück. Auch ihr Pflegevater war selten sichtbar. Was damals zwischen ihnen Beiden vorgegangen sein mochte, habe ich nie erfahren können. Plötzlich eines Morgens kam athemlos und in voller Hast meines Nachbars alter Diener mit der Botschaft zu mir, sein Herr sei plötzlich bewußtlos umgefallen, zwar wieder zu sich gekommen, aber ganz schwach; er verlange nach mir. Ich eilte hinüber und fand ihn mit verstellten Zügen im Bette liegend; mit der einen Hand hatte er krampfhaft die seiner Pflegetochter gefaßt, welche schluchzend an seinem Bette stand, die andere drückte er gegen die Brust, als wolle er einen tiefen Schmerz niederkämpfen. Die Sprache war fast verschwunden. Doch lispelte er mir zu: „Testament machen, Testament machen, Alles meiner Clara.“ Ich sendete sofort nach dem Gerichte, während ich in kürzester Form diese seine Willensmeinung zu Papier brachte. Ich las ihm dieses vor und fragte nochmals, ob das so sein letzter Wille sei, den er auch nachher vor der Deputation des Gerichts anerkennen wolle. Er antwortete hastig: „Ja, ja, ja,“ darauf ließ ich ihn das Papier unterschreiben; es gelang, zwar in ungewöhnlich großen, zitterigen Zügen, aber doch deutlich war sein Name zu lesen. Es fehlte nur noch, daß das Testament dem Gerichte übergeben werde. Ich stand in der gespanntesten Erwartung am Fenster und schaute auf die fast noch menschenleere Straße, um nach den Gerichtspersonen zu sehen; jede Minute, die verging, erschien mir wie eine Stunde; der Kranke stöhnte ängstlich und preßte wiederholt zwischen seinen bleichen Lippen die Frage hervor: „kommt denn Niemand?“ und drückte die Hand seiner Tochter an Mund und Herz. Ich sah, daß wir einen Sterbenden vor uns hatten, auch der inzwischen erschienene Arzt bestätigte dies, aber keine Gerichtsperson erschien. Endlich, endlich unten am Ende der Straße erscheint der Richter mit einem Actuar; sie gehen rasch, aber rascher noch breitet der Tod seine Schatten über das Gesicht des Sterbenden; doch sein Auge drückt noch Bewußtsein aus; mich bald ängstlich fragend, bald seine Tochter anblickend. Wenn er nur noch so lange lebte, daß er die Frage des Richters, ob dies sein letzter Wille sei, was er vor sich liegen hatte, zu beantworten vermochte! so dachte ich um der armen Clara willen in meinem Inneren. Ja, es ist Hoffnung dazu! Die Gerichtspersonen erscheinen am Hause, sie treten ein, man hört sie deutlich die Treppe herauf eilen; die Thüre öffnet sich, der Kranke hört’s, er will sein Haupt erheben, da zuckt es noch einmal über sein Antlitz, er stirbt, ehe das Gericht in’s Zimmer tritt. Das Testament war nicht gemacht!

Clara war wieder eine arme Waise; verwaist von dem, dem sie ihr Lebensglück geopfert hatte. In tiefstem Schmerze noch verloren saß sie, als ihr Pflegevater kaum begraben war, in ihrem einsamen Zimmer, da erschien der unbekannte, theilnahmlose Vetter des Verstorbenen, welcher mit kaum verhehlter Freude das ziemlich bedeutende Vermögen in Empfang nahm. Ich suchte ihn unter Eröffnung alles dessen, was vorgefallen war, zu bewegen, der armen Clara wenigstens so viel auszusetzen, daß sie nothdürftig leben könne. Er bot ihr darauf ein Geschenk von hundert Thalern an, womit er nach seiner Meinung etwas Besonderes zu thun glaubte. Sie lehnte dies aber in gerechtem Stolze ab, verließ Stadt und Haus und ward Diakonissin.

Es existirt ein alter Aberglaube, daß der Tod nahe vor der Thüre stehe, sobald man sein Testament mache. Wie viel Beeinträchtigungen, Streit und Unglück diese von Vielen geglaubte Albernheit schon zur Folge gehabt, davon wissen am besten die Gerichte und Sachwalter zu erzählen. Wenn nun mein Nachbar auch nicht zu diesen Abergläubischen gehörte, so lag doch der tiefeingewurzelte Widerwille gegen das „Testamentmachen“ auch bei ihm vor und vernichtete schließlich seinen Lieblingswunsch, die treue Pflegerin seines Alters vor Sorge und Noth zu schützen. Tausend ähnliche Fälle lassen sich noch anführen, und nicht dringend genug kann es jedem Besitzenden an das Herz gelegt werden, in Zeiten der Gesundheit und des Wohlbefindens über die Verwendung seines Eigenthums zu bestimmen, d. h. sein Testament zu machen.



  1. Unter diesem Titel werden wir eine Reihe Thatsachen und Erfahrungen aus dem Leben eines Sachwalters mittheilen, deren Zwecke kein unterhaltender, sondern lediglich ein belehrender sein soll. Der Leichtsinn, mit dem so viele Menschen die wichtigsten Vorkommnisse ihrer bürgerlichen und geschäftlichen Existenz behandeln, hat so oft schon die traurigsten Folgen nach sich gezogen, daß wir uns durch diese Mittheilungen, die sämmtlich wirkliche Erlebnisse und praktische Lebensfragen behandeln, unsern Lesern gegenüber ein kleines Verdienst zu erwerben hoffen.
    D. Redact.