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Aus den Sprechstunden eines Arztes

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Textdaten
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Autor: Carl Ernst Bock
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Titel: Aus den Sprechstunden eines Arztes
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 19, S. 264–267
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1857
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[264]
Aus den Sprechstunden eines Arztes.


Den freundlichen Leser ladet hiermit der Unterzeichnete zum unbemerkten Zuschauer und Zuhörer bei einigen seiner ärztlichen Consultationen ein. Doch bevor er die Patienten einführt, sich aussprechen und ausklagen läßt, sei es auch ihm gestattet, sich einmal zu expectoriren, d. h. sein ärztliches Herz auszuschütten, und zwar über den wahrlich nicht beneidenswerthen Stand eines Arztes. Man wolle nur, um diesen Stand richtig beurtheilen zu können, auf das innere und nicht auf die äußeren Verhältnisse des Arztes achten. Denn selbst, wenn auch bisweilen durch Titel, Orden oder Gold ärztliche Leistungen belohnt werden, so kann dies, obschon sehr viele Menschen nach derartigen irdischen – Dingen streben, doch auf einen Arzt, der wahren Beruf zum Heilen in sich fühlt und der nicht aus Ehrgeiz oder blos des lieben Brodes wegen handwerksmäßig kurirt, weder besondere Anziehung ausüben, noch ihm innere Befriedigung gewähren.

[265] Vor Allem muß es jeden gebildeten Arzt tief schmerzen, wenn man ihm, wie dies so oft, und geldsüchtigen Charlatanen auch ganz mit Recht, geschieht, Herz und Gemüth abspricht, wenn man ihn als unempfindlich für Anderer Leiden und Schmerzen, als abgehärtet gegen den Kummer seines Nächsten, als gefühllos bei den Klagen Kranker bezeichnet. Es muß dies gerade den Arzt um so tiefer schmerzen, weil dieser mehr als jeder Andere durch seinen Beruf darauf hingewiesen ist, Menschenfreund zu sein und seinen Mitmenschen Trost und Hülfe im Leiden zu schaffen. Es reicht deshalb durchaus nicht hin, um ein wirklich tüchtiger und berufener Arzt zu sein, die Höhe der Wissenschaft erstiegen zu haben, auch das Herz muß bei ihm auf dem rechten Flecke sitzen und vermöge der Menschenliebe und Menschenkenntniß muß er jedem Leidenden (leider nicht selten auf Kosten seiner Wahrheitsliebe) den passendsten Zuspruch zu gewähren nicht blos verstehen, sondern dazu auch jeder Zeit bereit sein, selbst wenn er dafür keinen Dank und Lohn zu erwarten hat. Mit Trauer erfüllt es mich deshalb, sehen zu müssen, wie heutzutage so oft schon ein gewöhnliches Savoir-faire und vivre bei eleganter oder origineller Kleidung und krummrückiger Artigkeit, selbst einen herzlosen Hohlkopf, mit und ohne Doctorhut, der aber die Schwächen seiner Patienten gut zu benutzen weiß, zum gesuchten und wohlhabenden Heilkünstler macht, während gebildete, menschenfreundliche, sich aufopfernde Aerzte am Hungertuche nagen.

Wüßten nur die Menschen, wie es im Innern eines gebildeten und gewissenhaften Arztes oft aussieht; wie er gar nicht so selten an seiner Kunst, an der Menschheit und dem Menschenverstande, an den unglückseligsten und doch unabänderlichen Verhältnissen vieler Patienten verzweifeln möchte; wie er sich über den immer mehr um sich greifenden, aller Vernunft Hohn sprechenden, ganz gemeinen Charlatanismus, sowie über den Aberglauben sonst gebildeter Kranken selbst krank ärgern könnte, und wie man ihm gar nicht so selten bei Behandlung selbst unheilbarer Kranken zu guter Letzt noch den Tod des Behandelten Schuld gibt, zumal wenn ein schließlich noch herbeigeholter Herr College die nicht ungewöhnliche Aeußerung thut: ja wäre ich nur früher geholt, wäre nur dieses oder jenes Mittel angewendet worden. Auch ist es für ihn sehr niederschlagend, wenn Patienten oder deren Angehörige hinter seinem Rücken oder nachdem die Krankheit schon ihre Höhe überstiegen hat und der Genesung zugeht, noch Heilkünstler niedern Ranges zu Rathe ziehen und diesen dann die Heilung zuschreiben. – Wie oft ist nicht der wissenschaftlich gebildete Arzt in Verlegenheit, sich und seinem Kranken eingestehen zu müssen, daß er die Ursachen vieler Beschwerden nicht zu ergründen im Stande sei. Um wie viel öfter noch steht er ohnmächtig vor dem erkannten Uebel und muß es von Tag zu Tag zum Verderben, vielleicht theurer Personen, wachsen sehen. Wendet sich eine schwere Krankheit zur Gesundheit, dann kann ein solcher Arzt höchstens die innerhalb unseres Körpers wirkenden Naturheilungsprocesse bewundern, sich nicht aber, wie dies gewöhnlich unwissende und eingebildete Heilkünstler, vorzugsweise aber Homöopathen thun, als rettender Engel mit seiner Heilmacht brüsten. Dagegen möchte er gar nicht so selten verzweifeln, wenn er Processe im kranken Körper, die gewöhnlich zum Heile auslaufen, durch unglückliche Umstände großes Unheil anrichten sieht, ohne daß er demselben wehren kann. – Wie schneidet es in das Herz des Arztes, wenn er der Eltern liebste Kinder durch Unvorsichtigkeit und Unwissenheit der Angehörigen gefährlich erkranken oder verkrüppeln oder gar dem Tode verfallen sieht, und wie lange tönt nicht das Wehklagen einer armen Familie in seinem Innern nach, welcher der einzige Ernährer, nicht selten in Folge zu spät gewordener passender Hülfe starb. Wie es aber einem Arzte zu Muthe ist, wenn er Stunden lang immer und immer wieder dieselben, zum größten Theile ganz ungegründeten Klagen über erkünstelte Beschwerden von hysterischen Frauen und hypochondrischen Männern ruhig und anscheinend theilnehmend anhören muß, das läßt sich nur fühlen, nicht mit Worten beschreiben. Wenn er ferner die Menschheit ihrer Unmenschlichkeit und Hartherzigkeit wegen verachten lernt, so findet er triftige Gründe dazu nicht etwa blos auf dem Schlachtfelde, in Zucht-, Kranken- und Irrenhäusern, sondern auch an der Wiege von kranken Kindern herzloser Mütter, am Sterbebette reicher, von lachenden Erben umgebener oder testamentloser Personen, am einsamen Krankenlager hülfloser Dienstleute u. s. f.

Daß der Arzt, eingedrungen in die tiefsten Familiengeheimnisse und Herzensangelegenheiten, oft nicht blos als Heilkünstler, sondern auch als Freund mit Rath und That bei der Hand sein soll, erschwert nicht selten seinen Beruf ganz entsetzlich. Wie viele bittere Stunden bereitet ferner manchem Arzte nicht die Eifersucht und zwar ebenso die von kränklichen Männern gesunder Frauen, wie die seiner eigenen Frau. Kurz der Arzt ist nach allen Richtungen hin ein armes geplagtes Menschenkind und es gehört sehr viel leichter Sinn, Eitelkeit oder Arroganz mit Ignoranz gepaart dazu, wenn er sich in seinem Berufe recht glücklich fühlen soll. Könnte er sich nicht zuweilen an dem Glücke, welches die Genesung um ihn verbreitet, erfrischen und aufrichten, er würde ohne Zweifel noch zeitiger zu Grabe getragen werden, als dies so schon der Fall ist. Von den oft rücksichtslosesten Ansprüchen der Patienten an den Arzt, sowie von dem Undanke Geheilter will ich ganz schweigen. – Jetzt zu unseren Kranken.

1. Die Wahnschwindsüchtige.

Mit abgehärmtem, bleichem Gesichte und ängstlicher Miene schleicht, einer armen Sünderin gleich, unter lauten und kurzen Athemzügen eine blonde magere Dreißigerin in’s Zimmer und wankend zum Sessel. Unter Thränen entringen sich ihrer Brust die Worte: für meine armen Kinder möchte ich noch eine Weile leben, geben Sie mir Trost und rauben Sie mir doch ja nicht alle Hoffnung, indem Sie mir geradezu in’s Gesicht sagen, wenn ich sterben muß.

Auf diese letzte Aeußerung hin erkläre ich: es gibt keine unsinnigere Idee als die, daß ein Arzt bei einem Kranken, zumal bei einem Brustkranken, die Zeit genau angeben könne, wenn der Tod eintreten wird. Und könnte er es wirklich, dann wäre es ja eine Inhumanität sonder Gleichen, wenn er dies den Kranken in’s Gesicht sagte und überhaupt denselben die Hoffnung auf Genesung raubte. Wohl kann aber ein wissenschaftlich gebildeter Arzt von manchen Uebeln genau wissen, daß sie unheilbar sind oder daß sie, jedoch nur allmählich und auch blos manchmal durch die Naturheilungsprocesse (bei richtigem diätetischen Verhalten), ganz oder teilweise wieder verschwinden. Die Natur hat schon viele Kranke geheilt, denen Aerzte das Leben oder die Rückkehr der Gesundheit abgesprochen haben.

Unsere Patientin berichtet weiter: ich bin brustkrank und vermuthe nach dem, was ich von meinen Aerzten gehört habe und was ich in Ems, Salzbrunn und Soden sah, daß die Lungenschwindsucht bei mir schon einen sehr hohen Grad erreicht haben muß. Denn ich huste viel und werfe zu Zeiten einen dicklichen Eiter aus, bin kurzathmig und leide an Brustbeklemmung, an Herzklopfen, fliegender Hitze und Nachtschweiß, kurz, ich finde Alles an mir, was in den Büchern über Lungenschwindsucht aufgeführt ist. Die Angst, meinen Angehörigen so bald schon entrissen zu werden, läßt mich keine Nacht ruhig schlafen und verscheucht allen Appetit zum Essen; natürlich fühle ich mich sehr matt und bin in letzter Zeit bleich und mager geworden.

Wollte man doch endlich einmal einsehen lernen, daß Brustkranke in ein Bad zu schicken, wo sie nur Schwindsüchtige um sich sehen und fortwährend deren Beschwerden hören müssen, sehr grauam ist und gewöhnlich mehr schadet als nützt, abgesehen davon, daß das Salzwasser, welches die Patienten dort trinken, gar keine besondere Heilkraft auf das Lungenleiden ausübt. Das, was der Brustkranke eigentlich braucht, nämlich: Ruhe, reine warme Luft (bei Tag und Nacht), Sonne und Milch, findet er auch wo anders als in den Schwindsuchtsbädern, von denen der Verfasser Salzbrunn am meisten haßt, weil hier der arme Kranke in der Frühe, anstatt hübsch im warmen Bette zu bleiben, in die kühle, der leidenden Lunge stets nachtheilige Morgenluft hinaus gejagt wird, um das unschuldige Mineralwasser zu trinken.

Alle von unserer Kranken geklagte Beschwerden (s. Gartenl. Jahrg. 1855. Nr. 15.) rechtfertigen die Befürchtung noch durchaus nicht, daß hier Lungenschwindsucht vorhanden sei; nur daß im Athmungsapparate eine Ungehörigkeit vorhanden, läßt sich daraus folgern. Denn alle die genannten Symptome können auch noch mehreren ganz andern Lungenleiden, ja sogar Uebeln, durch welche die Lunge nur beiläufig afficirt wird, zukommen. Ja ein großer Theil von den obigen Beschwerden könnte recht wohl nur die Folge der Angst vor der Schwindsucht, vielleicht auch des Medicinirens sein. Erst die Untersuchung des Brustkastens mittels Beklopfens und Behorchens macht das Erkennen dieser oder überhaupt einer Brustkrankheit möglich. – Bei genauer Untersuchung unserer Kranken fand sich denn auch wirklich gerade das Gegentheil von Lungenschwindsucht, [266] nämlich anstatt einer Verringerung und Verkleinerung (Zerstörung) des Lungengewebes, wie dies bei der Lungenschwindsucht (Lungentuberculose) der Fall ist, eine mäßige Erweiterung der Luftbläschen mit chronischem Katarrh, welche sogar vor Lungenschwindsucht zu schützen scheint.

Man staune ja nicht über das Verkennen des Lungenleidens unserer Patientin. Die Lungenerweiterung und Lungentuberkulose können, so lange beide Uebel noch keinen sehr auffälligen Grad erreicht haben, recht leicht, selbst von sonst gebildeten Aerzten verwechselt werden, weil bei Lungenerweiterung außer den ziemlich gleichen Erscheinungen von Störung im Athmungsapparate auch der Ton, welchen man durch Beklopfen des Brustkastens dicht unter dem Schlüsselbeine erhält, matt (gedämpft) erscheint. Nur die Fülle des Tones, sowie die Deutlichkeit der Sprache innerhalb der Lungenspitzen schützen dann vor einer Verwechselung.

Nachdem unsere Patientin mit großer Mühe von der Grundlosigkeit ihrer Todesangst überzeugt worden war (denn Frauen von einem falschen Glauben selbst durch die triftigsten Gründe zu befreien, gehört fast zu den Unmöglichkeiten) und als sie nach der Rückkehr ihrer Gemüthsruhe alles Curiren und Mediciniren bei Seite setzte, dafür aber Ruhe, Luft, Licht, Speise und Trank in passender Weise in Anwendung brachte, ist das Wohlsein bis auf geringe, zeitweilig eintretende Athembeschwerden mit Hustenanfällen (die der Lungenerweiterung wegen nie ganz verschwinden werden) vollständig zurückgekehrt. – Das war doch gewiß eine gute erfolgreiche Cur und doch wurde dabei nichts verschrieben.

2. Der Spleenist, Grillensüchtige oder Hypochonder.

Haben Sie ein Weilchen Zeit, Herr Doctor, mich anzuhören? denn mir fehlt es überall. So sprach ein ziemlich dicker, im Lebensalter des Embonpoint (zwischen dem 45. und 50. Jahre) stehender, frühzeitig Pensionirter aus dem Altjunggesellenstande mit etwas fahlem Teint und schlaffen, mürrischen, mißtrauischen, lebensmüden Gesichtszügen, holte dabei einen langen Zettel, auf welchem alle seine Beschwerden haarklein verzeichnet waren, aus der Tasche und setzte mit Behaglichkeit sich und seine Brille zum Vorlesen zurecht. – Klug kann ich eigentlich aus meinem Leiden noch nicht recht werden, so seufzte er hervor, auch sind die Aerzte sehr verschiedener Ansicht darüber. Mir scheint’s bisweilen mehr rheumatischer, vielleicht sogar mehr gichtischer, als hämorrhoidalischer und nervöser Natur zu sein, auch bin ich schon auf die Vermuthung gekommen, daß sich die ersten Anfänge aus meiner Jugend herschreiben, wo ich scrophulös gewesen sein und sehr an Schärfe gelitten haben soll. Daß übrigens die Leber bei mir mit im Spiele ist, sehen Sie gewiß schon aus meiner Gesichtsfarbe; nebenbei bin ich sehr verschleimt, wie das auch meine belegte Zunge zeigt, und leicht werde ich von Katarrhen ergriffen. Am meisten peinigt mich übrigens bei meiner Nervosität der Gedanke an einen Nervenschlag oder gar an die Rückenmarksauszehrung. Jetzt wissen Sie Alles. – Im Gegentheile, jetzt weiß ich erst recht gar Nichts. Denn die ganze Krankheitsgeschichte bestand nur aus hohlen, nichtssagenden, medicinischen Ausdrücken, welche durchaus nicht auf das eigentliche Leiden schließen lassen. Man kann hier, wie so oft in der Medicin, sagen: denn eben wo Begriffe fehlen, da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein. Wollten doch die Patienten, anstatt mit ärztlichen Floskeln um sich zu werfen, nur ganz einfach ihre Beschwerden dem Arzte erzählen, dieser wird dann das zur Erkennung der Krankheit Nöthige aus dem Kranken schon noch herausfragen, herausklopfen und heraushorchen u. s. f., wenn’s nämlich überhaupt möglich ist.

Welche Beschwerden hat denn nun eigentlich unser Patient? Es wird ihm schwer werden, uns diese ohne öftere Einflechtung unverständlicher medicinischer Redensarten zu beschreiben, obschon er dieselben bereits sehr oft und mit einer Art Wohlbehagen einer Menge Menschen erzählt hat. Wehe Dem, der diese seine vielen körperlichen Leiden für eingebildete hält. – Was zuvörderst seine Empfindungen und seinen Gemüthszustand betrifft, so klagt Patient: über herumziehende Schmerzen in fast allen Theilen des Körpers, über öfteres Frösteln mit fliegender Hitze abwechselnd, Eingenommenheit[WS 1] des Kopfes, Schwindel, Ohrensausen, Rückenschmerzen, Drücken in der Oberbauchgegend und über das Gefühl von Vollsein in der Herzgrube, Abspannung, Mattigkeit und leichter Ermüdung der Beine. Die Gemüthsstimmung ist eine trübe, ärgerliche, sehr reizbare, mißtrauische, grübelnde, grillenfangende, verbunden mit Unlust zu den gewohnten Arbeiten und Hang zur Einsamkeit. Von wichtigeren Veränderungen und Störungen in der Thätigkeit irgend eines edlen Organs ist aber, wie die physikalische Untersuchung des Kranken lehrt, trotz der geklagten vielen und mannichfachen Beschwerden keine Rede, nur der Verdauungsproceß zeigt sich insofern etwas gestört, als Appetit und Stuhlgang nicht immer so wie wünschenswerth sind.

Dem Leser sei nun vertraut, daß der Arzt den eben beschriebenen Krankheitszustand, von welchem übrigens das männliche Geschlecht vorzugsweise heimgesucht wird, während das weibliche die Hysterie dafür hat, Hypochondrie, Milzsucht, Spleen getauft hat. Er sucht den Grund davon in einer krankhaft vermehrten Empfindlichkeit der Empfindungsnerven (oder des Empfindungsorgans, des Gehirns) gegen Körpergefühle, mit steter krankhafter Aufmerksamkeit auf den eigenen Gesundheitszustand. Man hat deshalb die Hypochondrie auch bezeichnet: als Virtuosität auf dem Empfindungsnerven-Instrumente; als krankhafte Zärtlichkeit gegen sich selbst, die gleich geheilt wäre, wenn der Zärtliche zu sich selbst einmal recht hart sagte: „Du bist ein Narr!“ Man erklärte sie ferner aus einer übermäßigen Liebe zum Leben und als Schwäche, sich seinen krankhaften Gefühlen ohne ein bestimmtes Object zu überlassen. Kurz sie besteht in einer Störung des Empfindungsprocesses in Folge krankhafter Reizbarkeit des Gehirns oder der Empfindungsnerven oder beider, ist also eine Art Geisteskrankheit, und charakterisirt sich hauptsächlich durch die Selbstsucht, wobei der Kranke alle Aufmerksamkeit nur auf den eigenen Zustand richtet, über den er anhaltend nachgrübelt, ärztliche Bücher studirt und oft komische Ansichten zu dessen Erklärung ausspinnt, gegen welche er keinen Widerspruch, verträgt, und die verschiedensten Curarten probirt. Trotz aller Klagen, Hoffnungslosigkeit und Lebensmüdigkeit liebt der Hypochondrist sein Leben doch sehr, ja er findet in der Erzählung seiner vielen körperlichen Beschwerden eine ganz erwünschte und angenehme Unterhaltung. – Die Quelle dieses Leidens, welches selbst bei den glücklichsten Außenverhältnissen alle Lebensfreuden stört und den unglücklichen Kranken zu einem Selbstquäler und einer Plage seiner Umgebung macht, scheint in den allermeisten (natürlich nicht in allen) Fällen eine gestörte Circulation und Reinigung des Unterleibsblutes, vorzüglich wohl in der Leber (aber ohne eigentliche Leberkrankheit) zu sein, so daß alsdann, nach dem Uebertritt dieses unreinen Blutes in die gesammte Blutmasse, die Nerven- und Gehirnubstanz nicht ordentlich mehr ernährt und gekräftigt werden kann. Ueber die Ursachen dieser Störung s. Gartenlaube 1854. S. 210. (Nr. 18.).

Wollen wir nun unseren Grillenfänger curiren, so muß dies ebensowohl körperlich, wie geistig geschehen. In ersterer Beziehung ist der Unterleibszustand, also der Pfortader-Leberblutlauf und der Verdauungsproceß in Ordnung zu bringen und dies ist, wie in Gartenl. Jahrg. 1854. Nr. 18. weiter auseinander gesetzt wurde, hauptsächlich zu erreichen: durch den reichlichen Genuß von Wasser (besonders von heißem Wasser), durch zweckmäßige Bewegungen (vorzüglich geregelte Turnübungen, bei welchen sich der Bauch strafft, durch Kegeln, Holzhacken und Sägen, Gartenarbeiten, Fußreisen, Reiten, Schwimmen, Jagen, Schlittschuhlaufen u. s. f.) durch tiefes kräftiges Athmen (zur Unterstützung der Blutcirculation), am liebsten im Freien, durch öfteres Kneten, Drücken, Reiben oder Pochen des Bauches, Beförderung des Stuhlganges durch Klystiere (nicht durch Abführmittel), durch Mäßigkeit und Einfachheit im Essen und Trinken (also leicht verdauliche, reizlose, aber nahrhafte, vorzugsweise animalische Kost). – In Bezug auf die psychische Behandlung, so muß zuvörderst das Selbstvertrauen und Ehrgefühl beim Hypochondristen geweckt werden, damit er sich seiner Schwäche schämt und willenskräftiger an eine nützliche Beschäftigung geht. Auch nützen Zerstreuungen, Reisen, Veränderungen des Wohnortes und der Umgebung, sowie Beschränkung oder Aufgebung der bisherigen Lebensweise (z. B. des vielen Sitzens, der Büchergelehrsamkeit, des unehelichen Lebens, des Salonlebens, der größeren Gesellschaften, der Nachtwachen, der übermäßigen Geistesanstrengungen u. s. f.). Ausschweifungen aller Art sind zu vermeiden, ebenso das lange Schlafen, besonders in den Morgen hinein.

Schließlich glaube der Leser nun aber ja nicht etwa, daß er aus dieser Beschreibung der Hypochondrie diese Krankheit und ihre Ursachen zu erkennen im Stande ist, denn häufig hängen alle die erwähnten Krankheitserscheinungen von wirklichen krankhaften Veränderungen innerer Organe ab, welche nur der gebildete Arzt durch genaue Untersuchung des kranken Körpers zu ergründen vermag.

(Wird fortgesetzt.)
Bock.



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Eingenomheit