Aus den letzten Tagen von Kars

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: unbekannt
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Aus den letzten Tagen von Kars
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 2, S. 28–30
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1856
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[28]
Aus den letzten Tagen von Kars.

„Wir hatten all’ unser Geld zusammengethan, um uns womöglich ein Stück Fleisch zu kaufen. Mir ward der Auftrag, auf die Jagd danach auszugehen, da man behauptete, ich verstehe am Meisten Armenisch. So machte ich mich auf den Weg über Ruinen von Häusern und Holzhütten, zwischen denen Kugeln, Todte, Gerippe, jammernde Weiber und Kinder und still und lautlos verhungernde Leute kauerten und lagen. Ich verschaffte mir Zutritt in verschiedene Hütten und Höhlen, aus denen der größte Theil von Kars besteht, so prächtig es auch von Außen auf seinem Berge aussieht, fand aber entweder keine lebende Seele oder zusammengesunkene Personen und Familien, denen der leibhaftige Tod des Verhungerns aus den matten, schwarzen Augen sah. Merkwürdig, wie viel Ruhe, wie viel kalte, schmerzlose Ergebenheit in vielen solcher Gesichter lag!

„Endlich fand ich in einem Hause verkäufliches Fleisch - eine lebendige, freilich auch sehr abgemagerte Katze. Der Hausherr, eine athletische, braune Armenierfigur, sprach lebhaft und leidenschaftlich, doch verstand ich nur im Allgemeinen den Sinn seiner Worte, über Kurz oder Lang müsse doch die Erlösung von Rußland kommen, da Gott und der Sultan und die alliirten Franken dazu uns offenbar absichtlich ohne Hülfe und Beistand gelassen, und daß nur „Geld haben“ das Einzige sei, wonach er strebe. Deshalb solle ich die Katze für zweihundert Piaster haben. Meine gesammelte Kasse bestand aber nur in einigen Münzen über hundert Piaster. Ich bot ihm also hundert, Aber er schüttelte entschieden den Kopf und erklärte bestimmt, daß der Preis feststehe und er sie schon für 150 Piaster lieber selber essen werde. Ausgehungert und übermüdet, als Bote und Bevollmächtigter von Freunden, die seit drei Tagen ebenfalls nichts gekaut als Stückchen Holz und an ihrem Lederzeug, blieb mir keine Wahl. Ich bot also hundert Piaster und meine Uhr, Onkel wird mir vergeben, daß ich auf diese Weise sein Geschenk opferte. Es galt nicht

[29]

Ansicht von Kars.

[30] blos mein, sondern auch das Leben lieber Freunde. Wir bekommen zwar regelmäßig bis zum letzten Augenblicke unsere Drittelrationen, nicht weniger, als sich unser General Williams ebenfalls blos erlaubte, aber wir hatten sie während der drei letzten Tage an Kinder verschenkt, die wir ziemlich verhungert fanden, und die so rührend und schön aussahen in ihrem letzten Kampfe um ihr unschuldiges Leben. Dabei waren die kleinen Stückchen Pferdefleisch, die wir früher bekamen, während der letzten zehn oder vierzehn Tage auch ausgeblieben. Das Fleisch gefallener und verhungerter Pferde war zum Privilegium der Hospitäler und auch hier nur der schwer Verwundeten und Kranken geworden.

„Also ich gab meine Uhr und meine hundert Piaster für die abgemagerte Katze, die sich ganz ruhig auf dem Arme von mir forttragen ließ. Unterwegs ward ich von einigen Türken attaquirt, welche mir meinen Schuh abnehmen wollten, aber ich schimpfte und drohte so verzweifelt, daß ich mich glücklich durchschlug und von meinen Freunden mit Jubel (der aber sehr dünn und schwach klang) empfangen ward. Die Katze ward sofort in fünf Theile zerhauen, von denen Jeder sofort ein Stück gierig zermalmte und als größte Erquickung verschluckte. Ja, liebe Aeltern, so ekelhaft dies auch klingen mag, so war es. Wollte Gott, es wäre nichts Schlimmeres verzehrt worden und geschehen. Ich könnte Euch haarsträubende, herzzerreißende Geschichten mittheilen. Nur eine, die lächerlich-schauderhaft ist, aber doch auch zugleich wieder Respect vor der menschlichen Natur einflößt. Auf meiner Jagd nach Fleisch trat ich in eine Hütte, deren Patriarch mir seine linke Hand mit nur drei Fingern zeigte. Wo waren die beiden andern hingekommen? Er hatte sie sich abgehackt, gekocht und mit seiner Frau und den Kindern gegessen. So erzählte er mir, und zum Beweise zeigte er mir noch die abgenagten Knochen davon.“

Diese wörtlich übersetzte Stelle aus dem Privatbriefe eines Engländers an seine Aeltern bei Leeds giebt in einzelnen kleinen Zügen doch ein ziemlich getreues, volles Bild der Zustände während der letzten Tage von Kars. Aus einer andern Stelle seines Briefes geht hervor, daß er die Katze am 23. November kaufte. Am Tage darauf schon sandte General Williams seinen Adjutanten Mayer Teesdale an den Kommandanten der russischen Belagerungsarmee, General Murawieff, um eine Audienz bittend. Diese ward ihm bewilligt. Am 27. erschien General Williams im russischen Lager vor dessen Kommandanten und unterzeichnete die Bedingungen der Uebergabe. Der Schreiber obigen Briefes, der einen untergeordneten Posten im Stabe des General Williams bekleidete, war bei dieser Gelegenheit mit ihm, doch giebt er davon weiter keine Einzelnheiten, wahrscheinlich weil er den Brief schrieb, als er schon russischer Kriegsgefangener war.

Am 28. November überlieferte sich die Festung Kars mit seiner Heldenarmee (Helden des tragischsten, höchsten Ruhmes in diesem Momente) dem Sieger. Letzterer hatte ihnen gestattet, mit ihren Waffen, mit fliegenden Fahnen und klingendem Spiel den Ort ihrer heldenmüthigen Thaten und heldenmüthigeren Leiden zu verlassen, aber in Folge des Gesuchs der Kommandeurs zogen sie still ab mit Hinterlassung ihrer Waffen und aller ihrer Munition, die von Türken bewacht ward, bis Russen sie ablös’ten. Sechstausend der ältesten und schwächsten Redifs und Baschiboschuks wurden in ihre Heimath entlassen, gegen 8000 Mann reguläre Truppen, General Williams mit seinem ganzen Stabe und neun Pascha’s überlieferten sich dem Feinde als Kriegsgefangene.

Vor der hohen Festung draußen schlängelt sich ein Flüßchen, Karstschai, an dessen linkem Ufer der Feind für die ausgehungerten Besiegten ein vollständiges Mahl hatte bereiten lassen. So rettete diesen letzten Rest der anatolischen Armee, im Juni noch 3,000 Mann stark, der Feind vor dem Hungertode. Die mächtigen Freunde hatten Woche für Woche, Monat für Monat zugesehen, wie diese Heldenarmee allmälig zusammenhungerte, den Augenblick sicher und ohne Gegenwehr heranschleichen lassen, in welchem sie aus der Hand des Feindes wieder die erste Mahlzeit genossen, nicht blos zugesehen, nicht blos diesen Augenblick heranschleichen lassen, sondern auch ein Bischen mit geholfen und Hülfe verhindert, Omer Pascha verhindert, umhergetrieben, aufgehalten, bis es zu spät war.

Omer Pascha, der einzige wirkliche Held von Talent, Ehrlichkeit, Ernst und Pathos für die Türkei, und deshalb gegen die officiellen Türkenfreunde, hat nun, nachdem man ihn zu spät aus den Fesseln seiner Wirksamkeit auf der Krim entließ, eine Stellung in Kleinasien, die seinen Untergang nach weiser Berechnung nur zu wahrscheinlich macht. Die anatolische Armee verhungerte und zerfiel durch den Fall von Kars. Sechstausend Mann davon wurden russische Kriegsgefangene. Mit ihnen gingen 12 Standarten, 130 Kanonen und 30,000 Gewehre in die Hände des Feindes über.

Kars wäre von Seiten der Alliirten Wochen und Monate vorher von einem Hafen im schwarzen Meere leicht zu erreichen und zu retten gewesen, aber man überließ es seinem Schicksale, wie früher den Omer Pascha an der Donau, der ganz gegen alle Erwartung siegreich blieb, während man die alliirten Freunde thatenlos in den Sümpfen bei Varna von Cholera und Langeweile aufreiben ließ.

Mit welcher Zuversicht man in Kars auf Hülfe rechnete, da das Gegentheil ganz unglaublich, ganz selbstmörderisch erschien, davon werden mit der Zeit überraschende Beweise bekannt werden, überraschende, weil der Glaube so ganz natürlich und naheliegend erschien und doch betrogen ward.

Nach dem glücklichen Ausfalle der Belagerten am 29. September, nahmen Hoffnung und Muth die freudigste Gestalt an. Man erwartete Bely Pascha von Trebisond aus und von andern Seiten Omer Pascha. Beide waren aber wegen Vernachlässigung von Zufuhren an Geld und Lebensmitteln aufgehalten worden, und ersterer erwies sich zu schwach gegen die russische Abtheilung des General Souloff, der ihn an der ganzen Länge seiner Marschlinie fortwährend beunruhigte und aufhielt. Die Belagerung ward strenger, runder, abgeschlossener, Muth und Hoffnung und Lebensmittel innerhalb der fest umzingelten Stadt schmolzen zusammen, obgleich letztere bald bis auf ein Drittel dessen, was der Mensch zu seiner täglichen Nahrung braucht, eingeschränkt wurden und die einbrechende Kälte und herabfallender Schnee dieses Drittel zu einem Fünftel des Nothwendigen herabdrückten. Mit zunehmender Kälte tritt das Bedürfniß einer größern Masse von Nahrung, d. h. von Wärme und Respirationsmitteln ein, wie wir aus frühern Artikeln wissen. Die Soldaten und die Bewohner sanken erst moralisch, dann materiell zusammen. Hungertodesfälle wurden immer alltäglicher. Viele desertirten, um diesem Tode zu entgehen. Düstere Verzweiflung, brutale Raubgier und Speculation mit Lebensmitteln steigen zu entsetzlicher Größe und Willdheit. Das verächtlichste, ekelhafteste Fleisch bekam den Preis des edelsten Metalles. Ratten, Mäuse und Katzen wurden mit Gold aufgewogen. Hier und da kochte man Heu und Stroh und aß die Suppe davon, ehe man das so ausgekochte Futter den Pferden gab. Wir vernahmen von einem Beispiele, daß ein Familienvater die Seinigen direkt von seinem eigenen Fleische und Blute vor dem Hungertode zu retten versuchte. Später werden noch manche tragische und entsetzliche Einzelnheiten bekannt werden.

Am 14. November forderte Murawioff die unglückselige Stadt zur Uebergabe auf. General Williams berief einen Kriegsrath, der sich in dem Beschlusse vereinigte, die Flagge des Waffenstillstandes zu erheben und um Sendung eines Couriers nach Erzerum, zu Selim Pascha zu bitten. Dies ward gestattet. Der Courier fand die Russen bis dicht vor Erzerum vorgerückt, und Selim Pascha ohne Absicht und Willen, Kars zu helfen. Für letztern, räthselhaften Umstand giebt’s noch keine officielle Aufklärung. – Am 22. kehrte der Courier zurück. Zwei Tage später war General Williams in der Lage, den Rest seiner Armee entweder von Hunger vollends aufreiben zu lassen oder die Uebergabe der Stadt selbst zu beantragen. Er wählte das Letztere, als das allein noch Vernünftige und Menschliche.

So endete traurig und tragisch die Vertheidigung von Kars, eine der nobelsten und heroischsten Episoden dieses ganzen Krieges, vor deren Helden selbst die Feinde an den ihnen Anheimgefallenen die größte, allgemeinste Achtung bewiesen. Warum man die belagerte Stadt und ihre heroischen Vertheidiger so tragisch untergehen ließ, warum sich Premiers, Sultans, Pascha’s, alliirte Türkeiretter stets in so ehrerbietiger Entfernung von diesem Heroismus hielten, mag darin seinen Grund haben, daß ihnen dieser Heroismus überhaupt zu fern lag, daß er nicht zu näher liegenden Plänen und Interessen paßte, und der Fall von Kars, wie es in einigen englischen Zeitungen feststehende Phrase geworden, ein beabsichtigter war.'