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Bühnen-Erinnerungen/1. Bogumil Dawison

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Textdaten
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Autor: Arno Hempel
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Titel: Bühnen-Erinnerungen
1. Bogumil Dawison
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 43, S. 709–711
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1872
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Bogumil Dawison bei Wikisource
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Bühnen-Erinnerungen.


1. Bogumil Dawison.


„Das Virtuosenthum schadet der wahren Kunst!“ ist eines der modernen Schlagworte. In gewissem Sinne ist das richtig. Die Einheit der Darstellung geht unter Mitwirkung berühmter Virtuosen fast immer in die Brüche. Solche gastirende Koryphäen legen sich den Dichter und sein Stück je nach Bedarf zurecht. Die Bedeutung der übrigen Rollen aber wird sehr gern, wenn irgend möglich, auf ein Minimum reducirt, damit nichts die Wirksamkeit der Leistung des betreffenden Souverains im Reiche der Kunst schwäche. Der Schauspieler, dem eine so zusammengestrichene und der besten Pointen beraubte Rolle zu Theil wird, geht mit Unlust an dieselbe, was man ihm nicht verargen kann. Wir können natürlich nicht Alle Matadore sein, aber es giebt, Gott sei Dank, außer den landläufigen Grüßen noch eine recht respectable Zahl wahrer Künstler im lieben Vaterlande, die jedenfalls bessere Repertoireschauspieler sind und nicht nur auf zehn bis zwölf Paradepferden reiten, wie unsere Ehrenpassagiere. Wer verrichtet aber gern Handlangerdienste, wenn er das Zeug in sich fühlt, einen Bau selbstständig leiten zu können?

In diesem Sinne, in dem Zerstückeln des Werkes und der Wirkung ist das obige Schlagwort richtig. Das Virtuosenthum ist aber in Etwas – und darin liegt seine Stärke – dennoch berechtigt, denn es wurzelt im Geiste der Zeit. Unsere ganze materielle und realistische Richtung begünstigt es und macht es lebensfähig. Hätte der große Ludwig Devrient zum Beispiel zur Zeit der Eisenbahnen und Dampferlinien gelebt, ich bin überzeugt, auch er würde einen ausgiebigen Gebrauch dieser großartigen Verkehrserleichterungen zu Gastspielzwecken gemacht haben. Das Publicum findet sich am zahlreichsten beim Auftreten berühmter Größen ein, und die Theorien der Leute vom Fach lassen dem Unternehmer die Casse leer. Grund genug, das Virtuosenthum fortwährend [709] neu erstarken zu lassen. Und dann, wenn man das Eine nicht will, muß man das Andere lassen!

Zu einem Nationaltheater im Sinne der Griechen bringen wir’s, trotz Richard Wagner, sicher nicht mehr; alle Grundbedingungen dazu fehlen. Man klagt über den Verfall des deutschen Theaters, man fühlt den Mangel einer Nationalbühne, und es war ein seltsames, ungeheuerliches Mittel, dem deutschen Theater dadurch aufhelfen zu wollen, daß man es als Gewerbe der freien Speculation preisgab. Ich will nicht gern den Satz unterschreiben: „Die Zukunft des deutschen Theaters, namentlich in Mittelstädten, ist das Café chantant!“ Aber es sieht schon jetzt beinahe so aus. Man kann für Alles, was Fortschritt heißt, sehr eingenommen sein, ohne doch die Weisheit der gesetzgeberischen Maßregel, welche das Theater ohne jeden Schutz der freien Speculation preisgab, fassen zu können. Wenn ihr das Theater systematisch ruinirt, so klagt nicht mehr über seinen Verfall und unterwerft die Auswüchse des kranken Stammes, zu denen auch das Virtuosenthum gehört, in aller Gemüthsruhe einer culturhistorischen Ocularinspection! Wem das Herz voll ist, dem geht der Mund über. Man verzeihe mir die kleine Abschweifung.

Dawison kommt gastiren!“ Mit diesen Worten stürzte eines Tages der Theaterdiener in mein Zimmer. Dieser Theaterdiener, allgemein Fritze genannt, war ein Original. Ein wahres Perpetuum mobile, sah man ihn früh und spät auf den Straßen und auf der Bühne „umherflitzen“. Seine krummen Beine machten seine stete Eilfertigkeit nur noch komischer, und seine höchst liebenswürdige Unverschämtheit ward allseitig gern gelitten. Eine berechtigte Eigenthümlichkeit seiner werthen Person war es, Direction, Regie, Mitglieder und sich selbst in das stolze „Wir“ zusammenzufassen.

„Dawison kommt gastiren!“ rief also Fritze. Aber nicht so bald hatte er es gerufen, als er auch schon eine meiner guten Cigarren erblickt und a tempo annectirt hatte. Dieselbe mit Wohlbehagen in Brand setzend, fügte er hinzu:

„Wir sind sehr neugierig, was er ist und was er machen wird!“

„Gastirt er hier zum ersten Male?“ fragte ich.

Oui. Wir sind, wie gesagt, sehr neugierig. Wir werden wieder ’ne Masse Scheererei haben. Kennen das, mit die Gäste. Uns können sie eigentlich gestohlen werden. Aerger und Arbeit – und wenn’s daran geht, das Abschiedsdouceur zu zahlen, sind sie fast alle die höheren Knicker. Voriges Jahr, die Seebach, denken Sie sich, sechsmal hat sie gespielt und dann einen Thaler Abschiedshonorar! Fauler Zauber mit die Gäste!“ Damit war Fritze schon wieder zur Thür hinaus.

Also „Dawison kommt gastiren!“ Ich war gespannt darauf. Ich hatte ihn vor drei Jahren gesehen, als ich noch nicht zu Thaliens Jüngern zählte, und war in jeder Weise begierig, mein Urtheil über ihn zu erweitern und festzustellen. Das Gastspiel so berühmter Großen ist für das Publicum und die Schauspieler immerhin ein gewisses Ereigniß. Ich fand mich eine Viertelstunde vor Beginn der Probe auf der Bühne ein. Es überraschte mich nicht, das ganze Personal mit einer gewissen Feierlichkeit in der Haltung bereits versammelt zu finden. Namentlich die Damen schienen den letzten „Bazar“ und die Toiletten-Chemie des Dr. Ruß zu ihrem Vortheile ganz besonders ernst studirt zu haben.

Der Erwartete kam pünktlich und die sauersüße Amtspflicht des Regisseurs, das „Vorstellen“ begann. Es ist wirklich lohnend einer solchen Ceremonie beizuwohnen, unwillkürlich wird man heiter gestimmt. Zwanzig, dreißig Menschen stehen im feierlichen Halbkreise. An der Seite des Regisseurs tritt der zu Folternde in die Oeffnung dieses Halbkreises.

„Herr Dawison!“ begann der Regisseur mit allem ihm zu Gebote stehenden heiligen Ernste.

Allgemeine Verbeugung – die Damen nach unten, die Herren vornüber.

„Herr Schulze!“

Verbeugung des Genannten und des Gastes.

Und so ging es zwanzig- bis dreißigmal, von Schulze zu Meier etc., fort. Man kann aber regelmäßig die Bemerkung machen, daß beim sechsten bis zehnten Namen schon die Verbeugungen des berühmten Opfers weniger kunstgerecht ausfallen. Ein allgemeines „Ah“ der Befriedigung ertönt, wenn die der Göttin Convenienz dargebrachte Huldigung vorüber ist. Gewöhnlich war sie von so gutem Erfolge, daß der Gast in der nächsten Minute schon um den Namen dessen bitten muß, der mit ihm die erste Scene spielt.

In rein äußerlicher Beziehung hatte die Persönlichkeit Dawison’s wohl nichts eigentlich Bedeutendes. Die mittelgroße Figur hatte an und für sich nichts Imponirendes, nichts den großen Tragöden Kennzeichnendes, und auch die Haltung des Körpers verhalf dazu nicht. Fremdartig berührte der eigenthümliche, nasale Ton der Sprechweise. Bei einer ersten Probe mit ihm zum großen Theile unbekannten Collegen hielt Dawison an sich und seine sonst so oft über die Stränge schlagende nervöse Reizbarkeit hatte noch kein Terrain. Der aufmerksame Beobachter aber sah es in seinem nur anscheinend ruhigen Auge zucken und blitzen und fühlte, daß er einen Organismus vor sich habe, dem es Bedürfniß war, sich ziemlich oft in elektrisch-magnetischen Gewittern zu entladen.

Dawison sollte zuerst als Franz von Moor in den Schiller’schen Räubern spielen. Mir war darin die Rolle des Hermann zugetheilt. Die Probe begann. Dawison konnte, wenn er wollte, hinreißend liebenswürdig sein und schien heute seinen guten Tag zu haben. Bekanntlich hat Hermann eine längere Scene mit Franz von Moor, die mit des Ersteren Worten schließt: „Das Geheimniß liegt im Papier und meine Erben brechen es auf.“

Eine auf Tradition beruhende Nüance ist es nun, daß Hermann, dem hinterlistigen Franz mißtrauend, langsam und rückwärts nach der mittlern Eingangsthür schreitet, seinen Gegner fest im Auge behaltend. Im Moment, wo er die Thür zu öffnen sucht, ergreift Franz blitzschnell ein Pistol und schlägt auf Hermann an. Dieser aber, der seinen Spiegelberg kennt, hat ebenfalls blitzschnell ein Pistol aus dem Wamms gerissen, und Beide stehen sich einen Augenblick im Anschlage gegenüber. Franz, der sich erkannt sieht, läßt nun sein Pistol sinken und winkt Hermann mit abgewandtem Gesicht, ihn zu verlassen. Wie gesagt, es ist das eine Traditionsnüance. Sie ist dankbar für beide Darsteller und giebt der Scene einen charakteristischen Abschluß. Aus diesem Grunde markirte ich sie auch in der Probe.

„Nein, nein!“ fuhr Dawison plötzlich los, „das geht nicht, das müssen Sie unterlassen!“

„Was muß ich unterlassen?“ fragte ich ruhig.

Sehen Sie, ich will Ihren Abgang so haben: Sie gehen langsam, aber nicht rückwärts zur Thür und gehen ruhig durch dieselbe ab. Sie bekümmern sich dabei gar nicht um mich, das Spiel mit dem Pistol habe ich allein.“

„Erlauben Sie mir darauf nur eine Bemerkung. Ein Charakter wie Hermann wird sicher nicht durch diesen sorglos ruhigen Abgang seinem Gegner die Gelegenheit bieten, ihn durch einen wohlgezielten Schuß hinterrücks wegzuputzen.“

Dawison’s Auge blitzte, sein Mund zuckte nervös.

„Sie haben wohl Lust, mir eine dramaturgische Vorlesung zu halten?“ höhnte er.

„Nichts weniger als das, aber –“

„Genug! Ich ersuche Sie, diese Nüance zu unterlassen. Sie stört mich. Ich wünsche es,“ fügte er etwas ruhiger hinzu.

„Ihrem Wunsche füge ich mich!“

Dieser kleine Wortwechsel hatte natürlich ringsum die größte Aufregung erzeugt. Der hohen Regie schien ihr wohlgepolsterter Stuhl zu einem Rost à la Peter Arbues geworden zu sein, so unruhige Actionen ließ sie auf demselben stattfinden. Aus jeder Coulissengasse beleuchteten staunende, hämische und neugierige Augen dies kurze Intermezzo.

Die Probe war zu Ende. Eine Anzahl Collegen vereinigte sich allmittäglich um die Table d’hôte unseres Theaterrestaurants. Mein Rencontre mit „Bogumil“ bildete hauptsächlich den Unterhaltungsstoff. Die Sache wurde in der verschiedensten Art erläutert. Mir war das unangenehm.

„Ich glaube, ich war im Recht,“ sagte ich.

„Gewiß,“ meinte unser Charakterspieler. „Aber wozu sich einer Demüthigung aussetzen, wenn man vorher wissen muß, daß Einem nur ein pater peccavi übrig bleibt.“

„Im Unrecht war Dawison jedenfalls,“ mischte sich ein anderer College in’s Gespräch; „er wünscht diesen saft- und kraftlosen Abgang des Hermann nur, damit Jener nicht Gelegenheit habe, besondere Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen oder gar Beifall zu erringen.“

[710] „Das ist richtig. So machen’s alle großen Künstler.“

„Und wie ist in seinem Buch der Karl von Moor zusammengestrichen! Es ist schändlich,“ machte sich ferner unser erster Held mit seinem geliebten falschen Pathos in die Unterhaltung.

„Mir hätte es nicht passiren sollen. Ich würde die Nüance heute Abend doch bringen.“

„Dazu hat er ja die Courage nicht.“

Meine ohnehin nicht brillante Laune wurde durch diese Hetzerei noch verschlimmert, und ein Ausfluß dieser üblen Laune war es, als ich plötzlich rief: „Oho! Der Muth fehlt mir nicht. Ich bringe die Nüance heute Abend!“

Ein allgemeines „Bravo“ beglückwünschte meinen heroischen Entschluß.

Der Abend kam. Die Aufführung schritt vor, und bald fiel das Stichwort zur fragwürdigen Scene. Hinter den Coulissen herrschte eine gespannte Erwartung.

„– – – und meine Erben brechen es auf.“

Langsam und rückwärts schreite ich nach der Thür. Fest halte ich Franz im Auge. An der Thür angelangt, wende ich einen Moment das Auge ab, des Oeffnens wegen. Blitzschnell schlägt Dawison-Franz auf mich an – aber ebenso blitzschnell ist mein Pistol heraus, und Dawison, unvorbereitet nach der Uebereinkunft vom Morgen, zuckt um so überraschter in sich zusammen!

Die Nüance war brillant gelungen. Er winkt zum Abgehen. Kaum habe ich die Thür hinter mir, so erschallt donnernder Applaus. Derselbe ist so anhaltender Natur, daß ich zur Thür zurückkehre und – richtig, Dawison öffnet sie, herrscht mir zu: „Kommen Sie!“ und wir verbeugen uns vor dem hochgeehrten Publicum.

Als Dawison abgegangen war, kam er sofort funkelnden Auges auf mich zu. Alles fürchtete eine Scene. Ich blieb ruhig und ließ ihn dicht heran. Er sah mich an. Es arbeitete in ihm. Alles drängte sich um uns.

„Die Scene ging gut,“ sagte er plötzlich und wandte mir den Rücken.

Während des Abends sprach er kein Wort mehr mit mir. Am folgenden Morgen war er wieder bei bestem Humor und es wurde mit unserem Regisseur, der ihm von früherer Zeit bekannt war, ein Spaziergang nach einem eine Viertelstunde von der Stadt entfernten Vergnügungsorte verabredet. Herrliches Wetter begünstigte das Vorhaben, und Dawison würzte unser Flaniren durch seinen sprudelnden Witz.

„Sehen Sie,“ sprach er plötzlich zu mir, den er schon mehrmals wieder des Wortes gewürdigt hatte, „sehen Sie dort vor uns das reizende Kindermädchen und das Kind im Wagen?“

„Gewiß.“

„Bemerken Sie auch das Elternpaar, anscheinend der haute volée angehörig, welches dem Wagen folgt?“

„Ebenfalls.“

„Geben Sie Acht, meine Herren! jetzt werde ich Ihnen zeigen, wie man sich populär macht.“

Wir[WS 1] waren ziemlich in der Nähe des Wagens und der muthmaßlichen Eltern des darin befindlichen Kindes.

„Ach, meine Herren,“ begann Dawison uns voraneilend, „sehen Sie doch dieses reizende Kind! Welch bildschöner Knabe! Haben Sie je ein so liebes Kind gesehen?“

Und schnell hatte er, ehe das erstaunte Mädchen es hindern konnte, den kleinen Staatsbürger aus dem Wagen genommen und präsentirte ihn uns unter fortgesetzten enthusiastischen Exclamationen von allen Seiten.

Indessen waren die Eltern in ziemlicher Verwunderung nahe herangekommen.

„Ich täusche mich sicher nicht, Sie sind die Eltern dieses lieben Engels! Gewiß, ich täusche mich nicht! Von Ihnen“ – zum selbstgefällig lächelnden Vater – „hat der Knabe das Auge, von Ihnen, Madame, den Mund und das Kinn – o wie glücklich müssen Sie sein im Besitze eines so schönen Kindes!“ Da der Junge zu schreien begann, so übergab ihn Dawison mit wahrer Ammensorgfalt seiner Wärterin und wir trennten uns von der Familie nach einigen landläufigen Formeln.

„Sehen Sie, meine Herren,“ sagte Dawison, als wir eine Strecke entfernt waren, „so wird man populär! Morgen spricht die ganze Stadt vom Kinderfreunde Dawison!“

Dawison war ohne Frage ein großartig angelegtes Talent. Ein besonderer Reiz seiner Rollen lag in der nervösen Energie, mit welcher er dieselben verkörperte. Besonders ist mir aber eins an ihm aufgefallen. Ich habe ihn verschiedene Male gesehen, natürlich fast immer in denselben Rollen. Ich erstaunte darüber, wie wenig eigentlich Feststehendes Dawison brachte. Nicht blos in Kleinigkeiten, auch in großen Zügen änderte er fortwährend an seinen Repertoirepartieen. Gewiß ist sein Riesenfleiß, der ihn zwang, sich auch in dem beschränkten Rollenkreise, den ihm das Virtuosenthum aufgenöthigt hatte, noch schaffend und bessernd zu zeigen, der maßgebende Factor gewesen. – Daneben scheint es mir aber ziemlich gewiß zu sein, daß der Virtuose doch mehr und mehr den eigentlichen Künstler in ihm lahm legte. Die größeren Städte Deutschlands besuchte er sehr regelmäßig aller zwei, drei Jahre und führte – mit sehr wenigen Ausnahmen – fast immer dieselben Rollen vor. Um in diesen Gestalten nun wieder neu zu sein, mußte er ihnen neue Seiten abgewinnen. –

Ein eigentlicher Verstandesschauspieler à la Seydelmann war Dawison nicht, und trotz seines großen Fleißes möchte ich ihn, seiner ganzen Art nach, zu den sogenannten Inspirationsschauspielern zählen. Für die Inspiration war er das passendste Medium; der Reflexion hat er jedenfalls nie einen durchaus dominirenden Einfluß gestattet, denn wenn man ihm überhaupt einen Vorwurf zu machen hatte, so war es der: nicht überall Maß halten zu können! Ein Beispiel mag dies illustriren.

Im zweiten Acte des Gutzkow’schen „Königslieutenant“ tritt bekanntlich der junge Wolfgang Goethe in das Zimmer Thorane’s, macht seine ehrerbietige Verbeugung, nimmt ein Gemälde von der Wand und will sich nach einer abermaligen Verbeugung ruhig entfernen. Thorane, der dem Vorgange bis dahin ruhig zugesehen, ruft dem Sergeantmajor Mack zu: „Au voleur!“ was dieser mit „Halt den Dieb!“ übersetzt und Wolfgang am Hinausgehen verhindert. Hieraus und hierauf entspinnt sich die große Scene zwischen Thorane und Wolfgang.

Nimmt man nun an, daß Thorane ein hoher Vierziger ist, Wolfgang ein halbschüriger Junge von fünfzehn Jahren, der außerdem stets von einer Dame gespielt wird; nimmt man ferner an, daß Thorane nur im Quartier bei Rath Goethe liegt und daß er Cavalier und Aristokrat ist, dessen erste cavaliere und aristokratische Sorge es sein muß, sich seiner ruhigen Würde nur im Affect der höchsten Leidenschaft zu begeben; nimmt man ferner an, daß Thorane durch Mack weiß, er hat es mit dem Sohne seines Quartiergebers zu thun: so kann man logischer Weise die Worte „au voleur!“ nicht sehr schwer nehmen. Eine gewisse Verwunderung mag sich in ihnen aussprechen, in Flammen aber wird sich Thorane durch den geschilderten Vorgang sicher nicht setzen lassen.

Nun wird mir aber der Ausdruck der Wuth, mit dem Dawison dieses „au voleur!“ herausstieß, unvergeßlich bleiben. Die Wirkung war um so eclatanter, als die vorhergehende Scene sehr ruhig gehalten ist, und die nachfolgende, gefühlsselige mit Wolfgang ist es erst recht. Dieser einzelne Wuthausbruch steht also ganz unvermittelt da und ich habe vergebens nach Gründen dafür gesucht, wenn ich nicht den etwas pessimistischen gelten lassen will: dieser Wuthausbruch frappirt ungeheuer und das Publicum fühlt sich als Folge des Gegensatzes um so angenehmer von den weichen Gefühlsergießungen der folgenden Scene berührt.

Ich nenne den Grund pessimistisch, denn ich verehre Dawison zu hoch, als daß ich glauben könnte, er habe auf so wenig künstlerische Weise Effect gesucht. Oder waren so unvermittelte und widersinnige Nüancen schon Vorboten seiner entsetzlichen Krankheit?

Die letzte Rolle Dawison’s bei seinem diesmaligen Gastspiel war „Hamlet“. Das Stück beansprucht ein sehr starkes Personal, und die Herren der Oper wurden zu einzelnen Rollen herangezogen. Gewöhnlich ist das nun gar nicht nach dem Geschmack unserer Opernsänger, und nur ein gutes Spielhonorar versüßt die bittere Pille. So ging es auch unserem serieusen Baß. Dem war – Organ und Gestalt waren factisch hünenhaft – der Geist von Hamlet’s Vater aufgenöthigt worden, und unser Bassist hatte ihn mit einer gewissen Bärengemüthlichkeit entgegengenommen. Während der Probe entwickelte sich zwischen Dawison und dem ehrenwerthen Grundsänger folgender Dialog:

[711] „Ich bitte Herr Sch., nicht so, sondern so an mir vorüberzuschreiten, wobei ich diese Stellung nehme.“

Es versteht sich von selbst, daß erklärende Bewegungen seitens Dawison’s diese Rede unterstützten.

„Schön, Herr Dawison,“ dröhnte ehrerbietig der Vertreter des Contra-C.

„Also ich verlasse mich darauf.“

Der Vorhang hob sich, und unser tiefes „Doch“ hatte bei einigen Seideln Bier das gegebene Versprechen vollständig vergessen. Oder hatte er aus dem Lethe getrunken? Genug, er schreitet zu Dawison’s Entsetzen „ganz anders“ vorüber.

Nach dem ersten Act stürzt Dawison auf den Unglücklichen zu.

„Herr, schämen sollten Sie sich –“

„Wie so?“ haucht der Geist von Hamlet’s Vater.

„Sie – Sie – haben mir gar nicht gefallen!“

Drauf antwortetest Du, ehrwürdiger Sänger der Tiefen, mit trockener Ruhe, wie sie nur Eigenthum eines serieusen Basses sein kann:

„Ja, glauben Sie denn, Herr Dawison, Sie haben mir gefallen?“

Sprach’s und kehrte sich ab.

Wir aber weinten nicht dazu, sondern lachten unbändig über die trockene Ruhe des Schuldigen. Dawison selbst lachte herzlich mit uns.

Am andern Morgen reiste er ab. Er hatte dem obenerwähnten Fritze ein sehr anständiges Honorar überreichen lassen. Fritze versicherte daher:

„Er war ein sehr excentrischer Mensch, der Dawison, aber nobel war er auch gegen uns!“

Arno Hempel.



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Wie