Belauscht (Die Gartenlaube 1894/29)
[499] Belauscht. (Zu dem Bilde S. 489.) Sie war ein kleiner Naseweiß, Annchen mit dem dunklen Lockenhaar und den schwarzen Augenbrauen, die ihrem 17jährigen Gesichtchen ein so eigenartiges Gepräge gaben. Und Annchen witterte ein Geheimnis in der Luft: Lise, die Schwester, so zerstreut, die Mutter so feierlich, der Vater so aufgeräumt, und der schöne stattliche Rechtsanwalt ein so gar häufiger Gast im Hause! Da war etwas im Werk, und zwar etwas sehr Interessantes, geeignet, Schwester Annchens natürliche Anlage zur Neugier auf eine fieberhafte Höhe zu [500] steigern. Sie mußte dahinter kommen, es koste, was es wolle! Und sie kam dahinter! Eines Nachmittags, als wieder der besagte Rechtsanwalt zu Tisch da war und die Schwester gar so befangen an den Speisen geknabbert, am Glase genippt hatte, war die Gelegenheit günstig. Selbst einem weniger argwöhnischen Beobachter hätte es auffallen müssen, daß plötzlich die blonde Lise aus dem Eßzimmer verschwunden war, desgleichen der verdächtige Rechtsanwalt. Wo mochten sie stecken? Draußen auf der Veranda? – Nichts! – Im Wohnzimmer nebenan? Auch da alles leer! – Doch nein – hört man hier nicht eine murmelnde Männerstimme und leises Lispeln von Frauenlippen? Das müssen sie sein! Wie der Wind ist Annchen an dem halb zurückgezogenen Thürvorhang, der den Salon vom Wohnzimmer trennt, und da steht sie und lauscht, und vor lauter Aufregung versteht sie kein Wort von dem, was die da drinnen verhandeln. Aber das ist ja auch ganz gleichgültig, eins steht fest, und das genügt ihr: die zwei da drinnen sind einig, sie hat es herausgebracht, das große Geheimnis!
Nur eins trübte Annchens stolze Genugthuung: daß das Geheimnis noch am selben Nachmittage aufhörte, ein Geheimnis zu sein.