Benutzer:Jowinix/Tucholsky

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Kurt Tucholsky Texte aus Simplicissimus, Prager Tagblatt, Ulk und Schaubühne

Simplicissimus[Bearbeiten]

Politik und Wirtschaft[Bearbeiten]

Politik und Wirtschaft Jg. 35 Heft 34 HAAB

Politik und Wirtschaft / Von Peter Panter

[405] „Und wissen Sie, wer an der ganzen Sache schuld ist? Das wer ich Ihnen sagen: die Beamten sind schuld. Oder glauben Sie vielleicht. die Kaufleute sind schuId?“

„Nein.“

„Die Beamten sind schuld. Nur die Beamten. Sehn Sie sich mal diese Verwaltung an – sehn Sie sich das mal an! Sehn Sie da noch was von Treu und Glauben? von Verantwortung? von Rücksichtnahme …? Es ist reine, als ob wir ihretwegen da sind und die nicht unsretwegen. Oder sind wir vielleicht ihretwegen da?“

„Nein.“

„Sag ich auch. Die Leute … ich meine … die Leute müßten … man müßte jeden einzelnen … ich meine … verstehn Sie mich … jeden einzelnen … oder glauben Sie vielleicht, da sollte einer ’ne Extrawurst haben?“

„Nein.“

„Sehn Se – das ist mein Programm, und de geh ich nicht einen Buchstaben von ab. Nicht einen Buchstaben, Bevor wir das nicht durchgesetzt haben, was ich ihnen hier eben kurz skizziert habe, vorher wird das nicht besser. Vorher nicht. Glauben Sie vieIIeicht, daß es vorher besser wird?“

„Nein.“

„Sehn Se mal zum Beispiel in meinem Betrieb. Da reden die Angestellten immer so dicke Töne – die sollten erst mal … ich meine … die sollten mal erst unsere Verantwortung tragen. Meinen Sie, es ist einfach? Ich habe erst jetzt wieder acht Mann entlassen. Die Kündigung ist glatt durchgegangen: ich kann mir die Arbeit auch nicht aus dem Boden stampfen. Was? Nein, kann ich nicht. Da hab’ ich sie eben rausgesetzt.“

„Ja.“

„Sie haben gut reden. Natürlich … da waren welche dabei, die waren schon jahrelang bei mir … darauf kann man [406] keine Rücksicht nehmen. Kann man nicht. Kann man heute einfach nicht! Jeder ist sich selbst der Nächste, wie?“

„Ja.“

„Das verstehn Sie nicht. Ich meine … Jetzt ist da eine faule Sache … der eine war jahrelang in der Buchhalterei, der hat wohl die Steueraufstellungen zu sehen bekommen … also für die Steuer … und da hat er neulich eine Andeutung gemacht …“

„Ja.“

„Was wollen Sie damit sagen. Herr? Was wollen Sie damit sagen? Meine Steueraufstellungen sind prima, verstehn Sie mich, primissima, die kann jeder sehen, jeder. Die Steuer kann sie sehen, und ich kann sie sehen, jeder kann sie sehen. Nur eben der Buchhalter – das war nu faul. Wir haben uns aber verständigt: ich hab’n wieder eingestellt. Trotzdem ich das gar nicht nötig hatte.“

„Ja.“

„Hörn Se mal – Sie sind aber ‘n komischer Mensch! Sie ham aber komische Prinzipien … In der heutigen Zeit? Na, hörn Sie mal an! Sie sind doch nicht etwa unter die Bolschewisten gegangen! Sie – – –“

„Nein.“

„Sie widersprechen sich in einem fort. Vorhin haben Sie ja gesagt …! Ich kann Ihnen nur das eine sagen: Bevor es nicht besser wird, wird es nicht besser – das ist meine Meinung von der Sache! Und schuld sind die Beamten, die können von uns Kaufleuten noch alle Tage lernen, das sag ich Ihnen, und das ist meine Meinung. Denn wissen Sie, was uns fehlt? Uns fehlt eine Verwaltung, die so ehrlich ist wie wir Kaufleute, und eine Wirtschaft, die so organisiert ist wie die gute alte Verwaltung – und dann sollen Sie mal sehen. Ich bin ein friedfertiger Mensch, aber wenn’s dann losgeht, da nehm ich die Knarre noch mal auf den Buckel. Ich bin ja Gott sei Dank schon über das Alter raus … aber ich nehm sie auf den Buckel. Und dann holen wir uns unsere Kolonien wieder! Und da machen wir unsere Geschäfte, und was übrig bleibt, des wird verwaltet, und wissen Sie, wer schuld ist an der ganzen Sache? Die Beamten. Und in diesem Sinne habe ich auch gewählt. Denn ich weiß, was ich will – das wissen wir alle, alle – – –“

Warum mein Kontoauszug neulich einen Fehler hatte[Bearbeiten]

Warum mein Kontoauszug neulich einen Fehler hatte Jg. 35 Heft 11 HAAB

Warum mein Kontoauszug neulich einen Fehler hatte / Von Peter Panter

[130] Damit einer liebe, ist es nicht nötig, daß viel Zeit verstreiche, daß er Überlegung anstelle und eine Wahl treffe, sondern nur, daß bei jenem ersten und alleinigen Anblick eine gewisse Übereinstimmung gegenseitig zusammentreffe oder das, was mir hier im gemeinen Leben eine Sympathie des Blutes zu nennen pflegen … Demgemäß ist auch der Verlust der Geliebten durch einen Nebenbuhler für den leidenschaftlich Liebenden ein Schmerz, der jeden andern übersteigt.

Schopenhauer


„… bei der Sortenkasse anfragen, ob er da noch was hat … Nein, da hat er ja nichts … Paske, Parmel, Panter … 2645, dann gehen die 500 ab, aha! da ist ja noch ein Eingang, dann schuldet er uns also gar nichts. Doch: 78 Mark – die stehn noch offen. 78 … 78 … 78 … Siebzig, siebzig, siebzig … was sich neckt, das liebt sich … Formular! Also:

Ihnen anliegend den Auszug Ihrer werten Rechnung bei uns zu überreichen, abschließend mit einem Saldo von – Es widerspricht ihrer Moral. sagt sie. Na, so ein Zimt! Moral! Moral! Als ob Liebe was mit Moral zu tun hat! Himmelherrgottdonnerwetter – das wär’ mal eine Frau gewesen! Gibt’s des alle Tage? Nein, das gibt’s nicht alle Tage. Eine wirklich vernünftige Person und lustig und frisch wie ein junges Mädchen und in puncto puncti … na, lassen wir das. Wie die hier alle stehn und rechnen – also von den Kollegen versteht ja das Mädel keiner. Keiner. Saldo von … Gleich das erstemal, wie ich sie gesehen habe … also das war wie ein Blitz. Ich hab’s ihr auch gesagt. Doch, man muß das sagen. Und was sagt sie da? Ihre Moral –! Wirklich, ich habe ein Pech … Kommt schon mal ’ne leere Droschke, dann sitzt einer drin! Und das wäre ja alles noch zu ertragen, aber das Gemeinste an der Sache ist: sie liebt ja. Sie ist ja gar nicht so. Sie liebt. Aber verdammt noch mal: einen andern.

Und das hat sie mir auch noch erzählt! Mit allem Komfort hat sie mir das erzählt! Nein! Fragen Sie oben in der Registratur! Ich hab’ ihn nicht, Affe! Ja … alles hat sie erzählt. Raffinement? Glaub’ ich nicht. Nö, raffiniert ist die nicht. dazu ist sie wohl zu raffiniert. Aber … sie liebt. Doch – ja. Ich habe ganz frech gefragt: Wo denn? Ich sage: Wo denn? Wenn Mama so aufpaßt? Sie sagt: Gottes Natur ist groß. So, sage ich. Na, kurz und klein: ich habe dann manches aus ihr rausgekriegt. Saldo von … der Teufel soll diesen Panter holen und das ganze Kontokorrent! Ich hab’ es alles rausgekriegt. Und jetzt bin ich seit drei Tagen reine wie besoffen – ich werde das Bild nicht los, ich … werde das nicht mehr los.

Ich seh sie immerzu, mit dem. Ein schöner Kerl wird das sein – wahrscheinlich irgend so ein Sportfatzke, Blond, groß … oder klein, vermiekert … hähä … nein, das liebt sie nicht … das kann nicht sein. Blond, groß … Wo hab’ ich denn meinen Spiegel? Ich seh heute gar nicht gut aus … sonst seh ich ganz gut aus … aber heute … kein Wunder. Das Mädel geht mir nicht aus dem Kopf. Und immerzu das, immerzu das [131] Bild. Die gehen Hand in Hand zusammen in den Wald … dann schlenkern sie so mit den Armen dabei. tralala – verflucht, verflucht … und diese Tannen, ganz dunkelgrün, ganz dicht … und sie –

Ich glaube das nicht. Ich glaube das einfach nicht. Das tut sie nicht. Doch, das tut sie doch. Der Kerl ist ja gar nicht da – im Augenblick ist er mal nicht da – also daran ist kein Zweifel, vorläufig bin ich mal da! Aber das nützt mir nichts … das nützt mir gar nichts. Er ist nicht da! Aber er wird da sein. März, April … Mai … noch zwei Monate. Nein, ich fahre weg. Nein, also dann will ich nicht hier sein! Nee – ich nehme dann meinen Urlaub. Dann könnt’ ich ja gar nicht arbeiten, wenn der da ist … Gehen in den Wald und lachen und –. Der Bursche wird ja gar nicht richtig küssen können. Kann er ja gar nicht. Und überhaupt: bei ihm empfindet sie bestimmt nichts. Sicher nichts, Sicher nicht. Das ist unmöglich. Was ist schon dabei … laß sie doch …! Das ist eine leere Formalität. Sie wird ihn über kriegen, und dann komme ich. Dann komme ich. Und dann wird sie sagen: Vor dir habe ich nicht gewußt, was Liebe ist. Sicher. Und dann bleiben wir zusammen. Das Telephon? Vielleicht ruft sie an? … Ist gar nicht für mich … äh – Und immer wieder die beiden … Das ist, glaube ich. Psychoanalyse, ich habe da neulich einen Vortrag drüber gehört … Das wird ja eine fixe Idee, wenn es so weitergeht … Donnerschlag, ich bin doch sonst nicht so, aber diesmal hat’s getroffen. Saldo … zu seinen Gunsten? Nein, zu unseren Gunsten … muß noch mal nachsehen … Aber das ist mal sicher:

Von der nichts zu bekommen, ist immer noch hübscher als mit einer andern zu schlafen!

Mit einem Saldo von

RM 780.- zu unsern Gunsten, welcher auf neue rechnung vorgetragen worden ist.“

*

„Hat angeklingelt und noch einen Brief geschrieben und sich beschwert … Stornieren Sie das! 780 Mark zu unseren Gunsten! Es ist ein Skandal! Das ist jetzt schon des zweitemal! Wie kommt denn das? Was machen Sie denn?“

„Ich weiß es nicht, Herr Direktor. Ich kann es mir nicht erklären. Ich weiß es nicht –.“


Die Sonne, hoch zwei[Bearbeiten]

Simplicissimus, Jg. 34 15.07.1929, Nr. 16, Seite 194. HAAB

Die Sonne, hoch zwei
Von Peter Panter
„Du mußt es dreimal sagen!“
Goethe (später: Brecht)

Am 28. Juli jenes Jahres saßen Friedchen Bönheim und Alfred Kaktus auf zwei Sitzplätzen einer Bank des Treptower Parks zu Berlin und lasen gemeinsam die deutsche Verfassung. Gibt es doch für arbeitsreiche Liebesleute in den Mußestunden nichts Schöneres, als sich an Märchengeschichten zu erbauen! Die Sonne war fast untergegangen, und das kleine Buch, das der liebende Bräutigam in Händen hielt, wurde gerade noch sanft bestrahlt. Sie lasen von der Freiheit der Person und davon, daß die Wissenschaft und ihre Lehre frei sei; sie lasen von der Zensur, die es in jenem märchenhaften Land nicht gäbe, und als Alfred mit lauter Stimme ansagte: „Alle Herrschaft geht vom Volke aus!“ da lachte das harmlose Friedchen und klatschte in die Händchen. A. Kaktus war nun gerade im Zuge, den Artikel 48 anzuschneiden, mit dem die großen Politiker am liebsten regieren, wenn ihnen nichts mehr einfällt, also immer – – – da wurde er durch einen kleinen Aufschrei seines Friedchens aufgeschreckt. „Da – da!“ rief sie und deutete mit dem Finger ins Geäst.

A. Kaktus drehte sich um und sah in den Treptower Bäumen einen roten Schein. An eine Feuersbrunst glaubend, erhob er sich und zog sein Mädchen mit sich fort; sie schritten auf den roten Schein zu … und sahen zu ihrer grenzenlosen Überraschung, wie sich hinter dem Bahnviadukt eine neue Sonne erhob. Friedchen, nachmalige Kakta, blickte zurück – die alte Original-Sonne vergoldete mit ihren letzten Strahlen die abendlichen Wipfel der Bäume – und die neue Sonne versilberte mit ihren aufgehenden Strahlen die aufgerührte Welt.

Es war halb acht Uhr abends; nun hatten auch andere Leute die zweite Sonne bemerkt; ein Schrei stieg auf, und von allen Seiten kamen die Menschen angelaufen – es war kein Zweifel mehr –: es gab zwei Sonnen.

Die neue erhob sich, nachdem die andere untergegangen war – und nach einer schlaflos verbrachten, durchaus hellen Nacht konnte das fiebernde Deutschland feststellen, daß die zweite Sonne unterging und am Horizont die alte Sonne wieder auftauchte. Es gab keine Nacht mehr –! Die Folgen waren katastrophal.

*

Hatten die Deutschen bisher an jedem Achtstundentag zwölf Stunden gearbeitet, so mußte nun Rats geschaffen werden, was man in der Nacht … also, was man in jener Zeit zu tun hätte, in der es früher einmal Nacht gewesen war. Eine Kabinettssitzung entschied sofort: es muß doppelt gearbeitet werden.

Weil man aber kaum verlangen konnte, daß dieselben Leute, die den ersten Sonnentag über bereits tätig gewesen waren, nun wiederum schufteten, beschloß man, alle Stellen und überhaupt alles, was in Deutschland auf den Beinen war, zu verdoppeln. Die Frage der Arbeitslosen war gelöst:

Da gab es nunmehr: Zwei Reichspräsidenten; man suchte lange, bis man jemand gefunden hatte, der aussah wie Hindenburg, aber das war nicht so schwer. Schwerer war es schon, alle Minister zu verdoppeln – denn wenn es auch Leute gab, die so aussahen wie Herr Hilferding, so wollten sie doch dergleichen nicht wahr haben und drückten sich von dieser Arbeit wo sie nur konnten. Im Amt merkte man nichts.

Verdoppelt wurden die Steuern und die Vorfreudenmädchen, was allgemein auffiel; verdoppelt wurde der Reichswehretat, was gar nicht auffiel, und verdoppelt wurden ferner die Länder, von denen es nunmehr sechsunddreißig gab. Nur die Bayern wollten sich nicht aufs Verdoppeln einlassen: sie sagten, so ein Land wie das ihre gäbe es nicht noch einmal.

Tiefer griff die Doppelei schon in das Privatleben des einzelnen hinein.

Ältere Frauen schafften sich zu Beginn dieser Epoche zwei bis sechzehn Liebhaber an; das Zentrum verlangte, daß, wer nur einen Illing bekäme, wegen Abtreibung bestraft werden sollte, und so geschah’s. Es gab zwei Gertrud Bäumers sowie zwei Theodor Heußens – aber schon hier machte sich ein merkwürdiges Phänomen bemerkbar: die Duplikate, die sich zum ersten Mal in ihrem Leben leibhaftig von außen sahen, konnten sich auf den Tod nicht besehen. Besonders die Herren Hitler und Hitler waren zwei, also vier Tage lang nicht zu beruhigen und strengten denn auch sofort einen Prozeß gegeneinander an.

Die Theater machten ausgezeichnete Geschäfte – es wurde doppelte Regie eingeführt, so daß jedes Stück in zwei Auffassungen herauskam; an den Aktschlüssen wurde entweder die Internationale oder das Stahlhelmlied gesungen, und in einem Berliner Theater gab es eines schönen Abends, pardon, Morgens ein Duett, doch fiel das weiter nicht auf. Jeder Literat hatte von jetzt ab zwei Gesinnungen, mit Ausnahme des Schriftstellers Arnolt Bronnen. Der berüchtigte Ignaz Wrobel hatte nunmehr deren acht.

In Magnus Hirschfelds Institut für angewandte Bibelforschung herrschte ein ungeheurer Andrang: scharenweise eilten die Männer herbei, um sich diesbezüglich verdoppeln zu lassen, was auch bei fast allen gelang: einige baten um Vervierfachung, was ihnen aber – mangels Material – nicht gewährt werden konnte.

Am 10. Oktober entbrannte das Land in einem wilden Bürgerkrieg:

Mit den Waffen sollte entschieden werden, ob sich eine doppelte Negation aufhöbe oder aber sich verstärkte. Die Frage war wichtig genug: auf den Richterstühlen wurde ja nunmehr doppelt Unrecht gesprochen, was – wie die einen behaupteten – Recht ergab; die andern aber hielten das Resultat für verstärktes Unrecht und wurden erst durch die von den Polizeipräsidenten Jagow-Zörrgiebel arrangierten Berliner Fremdenfestspiele überzeugt, daß sie unrecht hätten.

In strahlendem Licht ging das neue Leben dahin. Die Menschen waren moralischer geworden: Vierdeutigkeiten wurden nicht geduldet, und sechseckige Verhältnisse gab es nur noch ganz wenige. Als man die Dolly-Dolly-Sisters in ihrem vierschläfrigen Bett mit zwei Niggern antraf, die dort gemächlich einen Vierback knabberten, wurden diese Personen sofort der Länder verwiesen.

Es gab nach wie vor einen republikanischen Reichsgerichtsrat; doch blieb selber ein Singulare tantum.

Und die Nacht –? Wann schliefen-schliefen diese Leute-Leute –?

In der Nähe des Treptower Parks, da, wo A. Kaktus und sein Friedchen die zwei Sonnen zuerst hatten aufgehen sehen, lag der Eingang zu einer ungeheuren Höhle:

EINGANG ZUR NACHT

stand dort zu lesen. Dort war die Nacht.

Zwei künstliche Prima-Monde hatte man aufgehängt, zwei Milchstraßen gab es, und alle Kellner hatten eine Logarithmentafel um den Leib baumeln, mit der sie die Preise berechneten. Waren die Leute so recht aus Herzensgrund besoffen, dann sagten sie jeden Satz nur einmal, was ungeheure Heiterkeit hervorrief – und die Stotterer hatten einen guten Tag.

So ging das bis zum 25. Januar. An diesem Tage spalteten sich zwei neue Sonnen ab, so daß es nunmehr vier gab. Am 3. Februar waren es acht; am 22. März sechzehn, die Menschen vervielfachten sich entsprechend; am 28. September gab es fünfhundertundzwölf Völkerbünde und zweihundertundvierundzwanzig Päpste, jedoch nur eine deutsche Verfassung, weil man die ohnehin auslegen konnte, wie man wollte.

Lassen Sie mich ergriffen abbrechen –: mit meinen armseligen zweihundertundsechsundfünfzig Händen bin ich nicht imstande, zu schildern, was weiter geschah.

Leben Sie wohl – hoch zweiunddreißig.

Lenkbare Malerei[Bearbeiten]

Lenkbare Malerei 20.09.26 Jg. 31 Heft 25, Seite 324 HAAB

 Lenkbare Malerei
 Von Theobald Tiger

Daß Maler immer ein bestimmtes Züjeh malen:
„Waldschneise bei Klein-Kleckersdorf“ oder „Männlicher Zwitter im Sturm“,
halte ich für verfehlt.
 Der Käufer, der das zahlen

5
tut, kann schließlich für sein Geld verlangen, daß er das bekommt,

was ihm frommt.
 Das wäre sauber, praktisch und angenehm.

Das da oben zum Beispiel stellt dar – je nachdem –:

Einweihung einer pommerschen Pazifistenvereinsfahne durch unsre höchste Obrigkeit.

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Der Zweite von hinten: ER.

 Im Vordergrund die Frau, die schreit,
ist eine pommersche Patriotin, die, von einer wilden Kuh gebissen,
der Obrigkeit ein Sträußlein Narzissen
mit schwarz-rot-goldner Schleife überreichen will.

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Dazu ruft die erregte Menge schrill:


„Nie wieder Krieg! Nieder mit allen Grenzen, die uns noch trennen –!“
     Einzelheiten sind schwer zu erkennen.
Auf Wunsch kann dieses Bild aber auch etwas andres bedeuten:

Europäische Staatsmänner sprechen zu den begeistert herbeigeströmten Leuten:

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„Wir wollen nur nun mal gegenseitig unsre Kriegsschulden erlassen!

Denn wir haben ja alle nur faule Wechsel und leere Kassen!
Mit diesen fruchtlosen Pfändungen kommen wir sicher nicht weiter.
Denn wer sind schließlich die Dummen? Die Angestellten und Arbeiter!“ –
„Bravo!“ ruft die zusammengeströmte Menge.

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 Im

Vordergrund die Frau
ist Herr Churchill. Genau
weiß man das aber nicht, weil dem Beschauer vor Rührung die Augen brennen …
     Im übrigen sind die Einzelheiten schwer zu erkennen.

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Ein anderes Dessin, bitte?

 Bitte!

Also: der Mann in der Mitte,
das ist ein bayerischer Ministerpräsident;
der reicht seinem preußischen Kollegen beide Händ’

35
und spricht: „Mensch! Ich denke, daß wir die dämliche Kleinstaaterei nun mal bleiben lassen!

Hier! Ich will dich um deine Taille fassen –
Herzlich und lange –
 und nun soll es keine bayerischen Belange
mehr geben und keine schwarz-weißen.

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Wir wollen einfach Landsleute sein und auch so heißen!“

Im Vordergrund lauschen ein windiger Berliner und ein dicker Münchner voller Genuß
und geben sich einen Kuß.
Und alle Beteiligten tun sich nicht mehr Saupreuß und Bauernlackel benennen …
     Weitere Einzelheiten sind allerdings schwer zu erkennen.

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Auf diese Malweise käme jeder zu seinem Recht:

 Pazifist und Europa. Weib und Mann.
Es kommt eben nur auf die Beleuchtung an.


Schaubühne[Bearbeiten]

Flocken[Bearbeiten]

Flocken; Theobald Tiger; Schaubühne; 50/567; 13.12.17; UB Michigan

Flocken von Theobald Tiger

Jetzt blasen bald die kalten Winterstürme,
der Rabe kolkt, die schwarzen Krähen schrei’n;
es zieht fatal um alle Kirchentürme,
der Posten wickelt sich in seinen Pelz hinein.

5
Der Ofen knackt. Im bunten Weltgetümmel

wird eingeheizt von Riga bis zur Spree –
Sieh da – nun fällt vom weißen Winterhimmel
 der erste Schnee.

Das war ein Jahr! Der Zar fiel sanft vom Throne,

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es fiel die Börse in Amerika;

es fielen Riga, Görz, und eine Krone
in Rom ist auch dem Fallen ziemlich nah.
Der Deutsche rückt sich seinen Stahlhelm fester
und kocht sich einen warmen Wintertee;

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den U-Bootleuten klatscht auf den Südwester

 der erste Schnee.

Und auch der Frontsoldat, der gute Junge,
packt sich in seine Wintersachen ein;
er hat den Rumgeschmack schon auf der Zunge

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und freut sich auf den braven Glühewein.

Elvira glaubt. es wird dem Knaben frommen
die warme Hülle für den großen Zeh – –
Sie strickt.
 Wir sind bereit.

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 Nun kann er kommen

 der erste Schnee!

Wochen-Ragout[Bearbeiten]

Wochen-Ragout; TT; SB; 8/228; 19.02.14; UB Michigan

Wochen-Ragout von Theobald Tiger

So laßt uns denn zum Mahl die Hände heben!
Was wird wohl Mutter heute leckres geben?
Die Schüssel dampft, das ist kein Küchenclou –
nur ein Ragout!

5
Da sind, zum ersten, noch vom Sonntagsbraten

die schäb’gen Reste von den Herrn Soldaten,
und auch vom Bürgerstolz blieb nur zurück
ein kleines Stück.

Zum zweiten können uns nur wenig locken

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des Zentrums schimm’lige Zerwürfnißbrocken.

teils sind sie faul, teils sin sie angebrannt –
nich in die Hand!

Damit der Speise nicht die Würze fehle.
durchdringt das Steuerpaprika die Seele:

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wieviel der gute Bürger zahlen darf,

ist wirklich scharf.

Hier sollt’ man so viel Oeles nicht vermuten.
fleußen da des Fetts geschmeid’ge Fluten:
von Possart muß an einen russ’schen Ort –

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man ruft ihn dort.


Und kurz, damit ich euch die Wahrheit sage:
dergleichen Fraß gibts bei uns alle Tage.
Der Deutsche würgt, doch speit er nie –
Bon appétit!