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Benutzer:PDD/Projekte/Friedlaender/IKP10

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Eine Rittergutsbesitzerin wegen Anstiftung zur Ermordung ihres Gatten vor den Geschworenen

Prozeß Rosengart vom 23. bis 30. März 1899 vor dem Schwurgericht zu Königsberg, Pr.

Die Trunksucht und die Geschlechtskrankheiten sind zweifellos die größten Geißeln der Menschheit. Die Fortschritte der ärztlichen Wissenschaft sowie der allgemeinen Kultur haben glücklicherweise eine ganz wesentliche Verminderung dieser Menschheitsplagen bewirkt. Die großartige Entdeckung des Professors Ehrlich und die Arbeiten der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten dürften allmählich zur Steuerung der Geschlechtskrankheiten beitragen. Die Zahl der Trunkenbolde hat sich auch, dank dem Fortschritt der Kultur, ganz wesentlich vermindert.

Kaiser Wilhelm II.

hat wiederholt zur Mäßigung im Trinken ermahnt. Soweit mir bekannt, hat bereits Kaiser Friedrich als Kronprinz es veranlaßt, daß den Soldaten auf den Märschen anstatt, wie bis dahin, Schnaps Kaffee in den Feldflaschen mitgegeben wird. Sehr viel dürften auch zur Verminderung der Trunksucht die vielen Abstinentenvereine, stinentenvereine, die sich immer mehr vermehrenden Lokale, in denen nur alkoholfreie Getränke verabreicht werden, die Gesellschaften zur Bekämpfung der Trunksucht und nicht in letzter Linie der

sozialdemokratische Schnaps-Boykott,

der auf dem 1909 in Leipzig stattgefundenen Parteitag der sozialdemokratischen Partei Deutschlands beschlossen wurde, beigetragen haben. Allein diese Übel, die an dem Mark des Volkes zehren, solange es Geschichte gibt, die zur geistigen und körperlichen Zerrüttung ganzer Geschlechter führen, sind noch lange nicht beseitigt. Die weitaus große Mehrheit der Geisteskrankheiten entstehen durch Syphilis und Trunksucht. Auch die große Mehrheit der Verbrechen sind auf Trunksucht zurückzuführen. Wie viele Existenzen diese zwei Plagen vernichtet haben, wie verheerend sie auf das Ehe- und Familienleben und auf die Nachkommen gewirkt haben, ist naturgemäß auch nicht annähernd festzustellen. Daß die Trunksucht an den Türen der Wohlhabenden nicht haltmacht, bewies das Drama, das sich vom 23. bis 30. März 1899 vor dem Schwurgericht zu Königsberg, Preußen, unter der größten Spannung fast der ganzen Kulturwelt entrollte. Auf der Anklagebank saß eine hübsche, elegante und „schick“ gekleidete Frau von 38 1/2 Jahren, Besitzerin, zweier Rittergüter, unter der Beschuldigung, ihren inzwischen verstorbenen Wirtschaftsinspektor angestiftet zu haben,

ihren Mann zu erschießen.

Der Schloßherr des Rittergutes Zögershof, vor dem Tragheimer Tore zu Königsberg, Preußen, August Rosengart, war seit 1878 verheiratet. Zehn Kinder hatte ihm seine Frau geschenkt; von diesen waren 1897 vier Knaben und ein Mädchen im Alter von 17 bis 8 Jahren am Leben. Viele Jahre herrschte in Zögershof ungetrübte Freude. Schließlich kehrte jedoch der Unfriede in die Familie Rosengart ein. Rosengart soll sich dem Trunke ergeben und seine Frau oftmals mißhandelt haben, zumal ihm zu Ohren gekommen war, daß seine Gattin die eheliche Treue nicht innehalte. Am 19. März 1897, abends gegen 8 Uhr, hatte Rosengart mit seiner Familie das Abendessen eingenommen. Nach beendeter Tafel zog sich Rosengart, wie immer, in das Wohnzimmer seines Schlosses zurück, um dort ungestört die Zeitung zu lesen. Rosengart saß auf dem Sofa; vor ihm stand eine brennende Lampe, die Fensterläden waren, wie gewöhnlich, unverschlossen. Kurze Zeit verweilte Frau Rosengart mit ihrem elfjährigen Töchterchen in dem Wohnzimmer, um noch mit Papa zu plaudern. Gegen 9 Uhr verließ Frau Rosengart mit ihrem Töchterchen das Wohnzimmer, „damit Papa ungestört lesen könne“. Kaum hatte Frau Rosengart die Tür hinter sich zugemacht, da krachte ein Schuß, der dem Rittergutsbesitzer zer sofort zu Boden streckte. Eine Kugel hatte ihm den Kopf von links nach rechts durchbohrt, so daß der Tod sofort eingetreten sein muß. Frau Rosengart, die mit ihren Kindern und ihrem Personal herbeigeeilt war, fand ihren Gatten mit zerschmettertem Schädel in einer Blutlache neben dem Sofa liegen. Zwischen der Leiche und dem Sofa lag eine Kugel. Diese hatte zunächst die linke untere Scheibe des Fensters, alsdann den Kopf des Rosengart durchbohrt, hierauf die Tapete und den Kalkputz der gegenüberliegenden Wand 1,25 Meter über dem Fußboden bis auf den Ziegel durchschlagen und ist schließlich zurückprallend in plattgedrückter runder Form zur Erde gefallen. Laut sachverständigem Gutachten war das tödliche Geschoß eine Spitzkugel, die mit einem sogenannten Hinterladegewehr vom Gutshofe aus abgegeben war. Der Mörder ist anscheinend ein sehr gewandter Schütze gewesen, der auch mit den örtlichen und den Wirtschaftsverhältnissen sehr genau vertraut gewesen sein muß. Frau Rosengart sandte sofort einen Wagen nach Königsberg, um einen Arzt und ihren Bruder, den Kaufmann Hermann Adameit, herbeizurufen. Außerdem sandte sie Leute nach dem nahe belegenen Ernsthof, um den Gutsinspektor Paul Rieß herbeizuholen. Da letzterer, trotz mehrfacher Aufforderung, zögerte, den Gendarmen holen zu lassen, ließ Kämmerer Wiemann zwei Pferde satteln, auf denen ein Sohn des Ermordeten und ein Knecht zu dem Gendarmen Pfau nach Vorderhufen ritten. Der Verdacht der Täterschaft lenkte sich sogleich auf den Inspektor Rieß. Es war das Gerücht verbreitet, daß letzterer mit Frau Rosengart unlautere Beziehungen unterhalte. Beide hätten deshalb ein Interesse, Rosengart aus der Welt zu schaffen. Es war außerdem bekannt, daß Rieß ein sehr gewandter Schütze war. In seinem Besitz soll sich auch ein Gewehr befunden haben, in das die Kugel, mit der Rosengart erschossen wurde, paßte. Auf dem Gutshof waren noch wenige Wochen vor dem Morde zwei große wachsame Hofhunde. Rieß soll einen Knecht aufgefordert haben, die Hunde aus dem Wege zu räumen. Kurz vor dem Morde waren die Hunde plötzlich spurlos verschwunden. Außerdem stimmten die Fußspuren, die der Mörder hinterlassen hatte, mit mathematischer Genauigkeit mit den Stiefeln des Rieß überein, Frau Rosengart soll auch mehrfach geäußert haben, sie werde ihren Mann aus dem Wege räumen. Diese und noch andere Verdachtsmomente gaben der Staatsanwaltschaft Veranlassung, Frau Rosengart und den Inspektor Rieß zu verhaften. Rieß starb jedoch sehr bald in der Untersuchungshaft, und Frau Rosengart mußte nach einiger Zeit wieder entlassen werden, da die Belastungsmomente nicht ausreichend waren. Im Sommer 1898 verlobte sich Frau Rosengart mit einem an Jahren bedeutend tend jüngeren Referendar a.D., namens Wolff, und beschloß, diesen im September 1898 zu heiraten. Kaufmann Adameit, Bruder der Frau Rosengart, hegte die Befürchtung, durch diese Ehe könnten die Rosengartschen Kinder, deren Vormund er war, einen argen Vermögensnachteil erleiden, (zumal Wolff vollständig vermögenslos war. Da Frau Rosengart trotz allen gütlichen Zuredens von ihrem Verehelichungsplane nicht abzubringen war, so teilte Adameit der Staatsanwaltschaft mit, seine Schwester habe ihm zugestanden, den Gutsinspektor Rieß bestimmt zu haben, ihren Mann zu erschießen. Im August 1898 fuhr Frau Rosengart mit ihrem Verlobten nach Helgoland. Am Nachmittage des 23. August saß das verlobte Paar am Strande, um dort den Kaffee einzunehmen. Kaum hatte ein Kellner den Kaffee serviert, da näherten sich dem Paare zwei Kriminalbeamte und erklärten: Sie hätten von der Königsberger Staatsanwaltschaft den Auftrag, Frau Gutsbesitzer Rosengart zu verhaften. Dieser Vorgang erregte selbstverständlich in Helgoland das größte Aufsehen.

Am 23. März 1899 erschien Frau Rittergutsbesitzer Rosengart vor den Geschworenen. Sie hieß mit Vornamen Johanna, geborene Adameit. Sie war am 16 Oktober 1860 zu Pillau geboren. Den Vorsitz des Gerichtshofes führte Landgerichtsdirektor Wohlgemuth. Die Anklagebehörde vertrat der Erste Staatsanwalt walt Hepner. Die Verteidigung führten Justizrat Dr. Erich Sello (Berlin) und Rechtsanwalt Dr. Lichtenstein (Königsberg).

Auf Befragen des Vorsitzenden äußerte die Angeklagte: Ich war 18 1/2 Jahre mit meinem Manne verheiratet und habe mit ihm 10 Kinder gehabt. Seit 6 Jahren besaßen wir das Gut Zögershof; 1896 kauften wir noch das Gut Ernsthof.

Vors.: War Ihre Ehe glücklich?

Angekl.: Im allgemeinen war die Ehe glücklich, zum Teil auch unglücklich.

Vors.: Ihr Mann soll Sie oftmals gemißhandelt haben?

Angekl.: Jawohl, aber nur, wenn er betrunken war; in solchem Falle hat er mich auch beschimpft.

Vors.: Ihr Mann soll Sie im Verdacht gehabt haben, daß Sie mit anderen Männern sträflichen Umgang unterhalten?

Angekl.: Nein, mein Mann hatte niemals einen solchen Verdacht, er hatte auch keine Ursache dazu.

Vors.: Weshalb mag er Sie denn mißhandelt und beschimpft haben?

Angekl.: Mein Mann verlangte unbillige Sachen von mir, die ich ihm nicht gewähren wollte. Im übrigen wußte mein Mann, sobald er angetrunken war, absolut nicht, was er tat. Wenn er am anderen Tage wieder nüchtern war, bat er mich um Verzeihung und war wieder der beste Mensch.

Vors.: Hat Sie nicht Ihr Mann im Verdacht gehabt, daß Sie mit Ihrem Kutscher Busch unlautere Beziehungen unterhielten?

Angekl.: Keineswegs.

Vors.: Hat auch Ihr Mann dem Kutscher Busch nicht Vorhaltungen gemacht?

Angekl.: Nein, das kann er nicht getan haben, da er nicht den geringsten Grund dazu hatte.

Verteidiger Justizrat Dr. Sello: Ich ersuche, der Angeklagten die Frage vorzulegen, ob sie schon einmal von ihrem Mann fort war und sich von ihm scheiden lassen wollte.

Angekl.: Das ist richtig. Einmal mißhandelte und beschimpfte mich mein Mann, wenn er angetrunken war, und andererseits hörte ich, daß mein Mann in Königsberg ein Mädchen aushielt. Ich erklärte daher meinem Mann, daß ich dies nicht länger ertragen könne und mich scheiden lassen müsse. Ich war deshalb mehrere Tage von meinem Mann fort und wollte die Scheidungsklage einleiten. Mein Mann kam jedoch nach einigen Tagen zu mir, bat mich um Verzeihung und versprach mir, anders zu werden. Ich ließ mich deshalb überreden, wieder zu ihm zurückzugehen.

Verteidiger R.-A. Dr. Lichtenstein: Die Angeklagte hat behauptet, daß sie genötigt war, mehrfach ihren Mann zu schützen, damit er auf der Chaussee nicht von seinen Arbeitern erschlagen werde.

Angekl.: Das ist richtig. Mein Mann beschimpfte, sobald er angetrunken war, vielfach die Arbeiter, er prozessierte auch viel, es wurde ihm daher mehrfach gedroht, ihn zu erschlagen. Ich bin deshalb meinem Manne oftmals mit Knechten entgegengegangen, um ihn zu schützen. Dies tut gewiß nicht jede Frau.

Erster Staatsanwalt: Sie wollen sagen, wenn Sie Ihren Mann loswerden wollten, dann hätten Sie ihn nicht geschützt?

Angekl.: Jawohl.

Erster Staatsanwalt: Das soll Ihnen geglaubt werden, es bedarf deshalb keines Beweises,

Vors.: Nun kommen Sie einmal zu dem 19. März 1897, also zu dem Abend, an dem Ihr Mann erschossen wurde.

Angekl.: An diesem Abend aßen wir gegen 8 1/2 Uhr gemeinschaftlich Abendbrot. Inspektor Rieß hatte sich bereits nach Hause begeben. Nach dem Abendbrot zog sich mein Mann in das Wohnzimmer zurück, um die Zeitung zu lesen. Ich verweilte noch mit meiner kleinen Tochter Olga in dem Wohnzimmer. Gleich nach 9 Uhr sagte ich zu meiner Tochter: Es ist Zeit, daß du schlafen gehst, du mußt morgen früh um 6 Uhr wieder aufstehen. Wir verabschiedeten uns von Papa. Kaum hatte ich die Tür des Wohnzimmers zugemacht, gemacht, da krachte ein Schuß. Ich eilte mit meinen Kindern und meinem Personal ins Wohnzimmer, in dem wir im ersten Augenblick nichts sahen, da es mit Pulverdampf gefüllt war. Sehr bald sahen wir meinen Mann mit zerschmettertem Schädel zwischen Tisch und Sofa in einer Blutlache liegen. Ich sandte sofort reitende Boten nach Königsberg, um meinen Bruder und einen Arzt zu holen; außerdem schickte ich reitende Boten zu dem Gendarmen und zu unserem Gutsinspektor Rieß.

Vors.: Rieß soll gezögert haben, an die Mordstätte zu kommen?

Angekl.: Davon ist mir nichts bekannt.

Vors.: Die Kugel ist durchs Fenster gekommen?

Angekl.: Jawohl.

Vors.: Vor dem Fenster waren Läden, sie waren aber nicht vorgemacht?

Angekl.: Nein, mein Mann wollte nicht, daß die Läden vorgemacht werden.

Vors.: Kurz vor dem Morde sollen zwei große, sehr wachsame Hunde auf dem Gute gewesen sein, die plötzlich verschwunden waren?

Angekl.: Jawohl.

Vors.: Wie erklären Sie sich das Verschwinden der Hunde?

Angekl.: Das weiß ich nicht.

Vors.: Als der Schuß erfolgte, hatte auf dem Gutshof hof niemand mehr etwas zu tun?

Angekl.: Nein.

Vors.: Es ist daher anzunehmen, daß der Mörder mit den Wirtschafts- und lokalen Verhältnissen genau vertraut gewesen sein muß?

Angekl.: Allerdings.

Vors.: Es waren noch zwei junge Hunde auf dem Gutshof, weshalb mögen diese nicht angeschlagen haben?

Angekl.: Diese waren noch zu jung.

Vors.: Sie sollen mit dem Inspektor Rieß sträflichen Verkehr unterhalten haben?

Angekl.: Das ist unwahr, ich habe niemals mit Rieß unlautere Beziehungen unterhalten.

Verteidiger R.-A. Dr. Lichtenstein: Die Angeklagte behauptet, daß der Ermordete vielfach Drohbriefe erhalten habe?

Angekl.: Das ist richtig.

Vors.: Haben Sie die Drohbriefe gelesen?

Angekl.: Jawohl.

Vors.: Vom wem waren die Drohbriefe?

Angekl.: Das weiß ich nicht, sie waren anonym. In allen wurde mein Mann mit dem Tode bedroht.

Vors.: Sie sollen einmal gesagt haben: Es wäre doch gut, wenn die Fensterläden zugemacht würden, sonst könnte Ihr Mann einmal erschossen werden, und der Verdacht könnte auf Sie und den Inspektor Rieß fallen?

Angekl.: Eine solche Äußerung habe ich niemals getan. Mein Mann erhielt einmal einen Drohbrief. Von diesem machte er zunächst dem Inspektor Rieß Mitteilung. Letzterer setzte mich sofort davon in Kenntnis. Ich eilte deshalb zu meinem Mann; dieser sagte mir: Ich habe heute wiederum einen Drohbrief erhalten, in dem auch du mit dem Tode bedroht wirst.

Vors.: Wen hatten Sie wohl im Verdacht, diesen Brief geschrieben zu haben?

Angekl.: Ich konnte es mir nicht anders denken, als daß Kämmerer Riedat den Brief geschrieben habe.

Der Vorsitzende erläuterte alsdann an der Hand einer Zeichnung den Ortsbefund und verlas das gerichtliche Augenscheinsprotokoll.

Hierauf wurden die medizinischen Sachverständigen vernommen. Kreisarzt Sanitätsrat Dr. Fabian gab eine eingehende Schilderung über den Befund des zerschmetterten Schädels. Die aufgefundene Spitzkugel sei von kurzer Entfernung abgeschossen worden. Sie habe dem Ermordeten die linke Schläfe durchbohrt und sei an der rechten Schläfenseite wieder herausgegangen. Die Kugel sei geeignet gewesen, die geschehene Verletzung herbeizuführen. Der Tod sei durch Zerreißung des Gehirns und Zertrümmerung des Schädels erfolgt.

Gerichtsarzt Dr. Luchau schloß sich diesem Gutachten achten vollinhaltlich an.

Büchsenmacher Rodewald begutachtete: Das ihm vorgelegte lödliche Geschoß sei wahrscheinlich mit einem sogenannten Hinterladegewehr mit vier Balkenzügen abgeschossen worden. Das Geschoß paßte genau in das auf dem Gerichtstisch liegende Gewehr.

Auf Befragen des Ersten Staatsanwalts bemerkte der Sachverständige: Die Kugel sei jedenfalls nicht mit einer Flinte, sondern entweder mit einem bayerischen Militärgewehr oder einem Gewehr mit vier Balkenzügen abgefeuert worden.

Der Vorsitzende ließ hierauf das Geschoß den Geschworenen zeigen.

Der erste Zeuge war Kaufmann Hesse: Er sei mit der Familie Rosengart und auch mit Adameit bekannt gewesen. Er habe seit 1893 mit Rosengart in Geschäftsverbindung gestanden und in den letzten 2 bis 3 Jahren bei Rosengart verkehrt. Der ermordete Rosengart habe seine Frau oftmals, wenn er angetrunken war, in roher Weise beschimpft. In solchen Fällen sei er (Zeuge) hinausgegangen, da ihm diese ehelichen Zwistigkeiten unangenehm waren. Adameit habe ein Kolonialwarengeschäft in Königsberg gehabt. Dies habe er vor einigen Jahren, lange vor der Ermordung des Rosengart, günstig verkauft und sei nach Amerika gegangen, um einen dort lebenden Bruder zu besuchen. Frau Rosengart habe ihrem Bruder 1000 Mark zur Reise gegeben. Adameit sei nach kurzer Zeit wieder zurückgekommen. Nach dem Tode des Rosengart sei Adameit Vormund der Rosengartschen Kinder geworden. Schon vor dem Tode sei Adameit Volontär auf dem Rosengartschen Gute gewesen. Adameit habe oftmals über seine Mündel geschimpft; er habe geklagt, daß sie verroht und sehr unfolgsam seien. Frau Rosengart habe nach dem Tode ihres Mannes oftmals über ihren Bruder geklagt. Sie habe gesagt: ihr Bruder handle keineswegs wie ein Bruder; er wirtschafte in einer Weise, daß, wenn das so weiter gehe, sie schließlich werde betteln gehen müssen. Auf ihre Vorhaltungen habe der Bruder gesagt: Frauenzimmer verstehen nichts vom Geschäft und dürfen sich daher nicht in Geschäfte mischen. Frau Rosengart habe deshalb ihren Bruder entlassen und ihm 6000 Mark geben wollen. Adameit habe gesagt: Meine Schwester mag sich die 6000 M. in die Weste stecken, ich bin der Meinung gewesen, daß ich zeitlebens auf dem Gute meiner Schwester werde bleiben können.

Vors.: Hat nicht Adameit auch über die Verlobung der Frau Rosengart mit dem Referendar a.D. Wolff gesprochen?

Zeuge: Jawohl, Adameit sagte: Das ist eine Dummheit, der Mann ist viel zu jung für meine Schwester.

Vors.: Haben Sie gehört, daß die Angeklagte mit Männern sträflichen Umgang unterhalten hat?

Zeuge: Davon habe ich nichts gehört, es war aber allgemein bekannt, daß der Ermordete ein Mädchen in Königsberg eingemietet hatte.

Verteidiger R.-A. Dr. Lichtenstein: Frau Rosengart soll einmal ihren Mann vor den Mißhandlungen von Arbeitern geschützt haben?

Zeuge: Jawohl; eines Abends war Rosengart in Sackheim stark betrunken. Er wollte nach Hause reiten, er konnte dies aber nicht, da er zu sehr betrunken war. Rosengart mißhandelte das Pferd, zerriß das Zaumzeug, so daß ihm Arbeiter mit Schlägen drohten. Er (Zeuge) habe die Leute ersucht, den Mann nicht zu schlagen, da er sinnlos betrunken war. Sehr bald sei auch Frau Rosengart angefahren gekommen und habe ebenfalls gebeten, ihren Mann nicht zu schlagen.

Verteidiger Justizrat Dr. Sello: Rieß ist im September 1897 an der Schwindsucht gestorben, wissen Sie über ihn etwas zu sagen?

Zeuge: Nein, ich habe Rieß im ganzen zweimal gesehen.

Vert.: Wissen Sie, daß Frau Rosengart mit Rieß ein Liebesverhältnis unterhalten habe?

Zeuge: Davon habe ich nie etwas gehört.

Auf weiteres Befragen der Verteidiger bekundete der Zeuge, daß der verstorbene Rosengart seine Leute, insbesondere den Kutscher Busch, sehr schlecht behandelt habe.

Frau Hesse, die Gattin des Vorzeugen, schloß sich im wesentlichen den Bekundungen ihres Mannes an.

Der folgende Zeuge, Kämmerer Wiemann, bekundete: Er sei vom 1. März bis 16. Mai 1897 auf dem Rittergut Zögershof beschäftigt gewesen. Am Abend es 19. März sei Inspektor Rieß kurz nach 8 Uhr nach Hause gegangen. Als er in das Wohnzimmer trat, in dem der ermordete Rosengart lag, habe Frau Rosengart in Ohnmacht gelegen. Erst als der Gendarm erschien, sei Frau Rosengart aus der Ohnmacht erwacht. Er habe weder wahrgenommen, daß Frau Rosengart mit dem Inspektor Rieß ein Verhältnis unterhalten habe, noch habe er von einem solchen Gerüchte etwas gehört. Rieß sei ein sehr gutmütiger Mann gewesen. Der Sohn der Angeklagten habe ihm einige Tage nach dem Morde gesagt: Denken Sie, Mama soll Papa erschossen haben. Heute früh hat man den Inspektor eingesperrt, man wird wohl auch bald Mama holen. Er, Zeuge, habe dem jungen Mann erwidert: „So schlimm wird es nicht werden.“

Staatsanwalt: Ich ersuche, den Zeugen zu fragen, ob jemand den Versuch gemacht hat, sein Zeugnis zu beeinflussen. Seine heutigen Aussagen weichen in sehr erheblicher Weise von seinen früheren ab.

Der Zeuge versicherte, daß niemand den Versuch gemacht habe, sein Zeugnis zu beeinflussen.

Auf ferneres Befragen des Vorsitzenden bekundete noch der Zeuge: Der Sohn der Angeklagten habe ihm erzählt: Mama sei an dem Abende des Mordes sehr unruhig gewesen; sie habe einige Male die Vorhänge des Fensters, die nach dem Hofe führten, zurückgeschoben und auf den Hof hinausgesehen. Der Ermordete habe die Angeklagte gefragt, weshalb sie so häufig zum Fenster hinaussehe. Die Angeklagte habe erwidert: „Ich sehe bloß hinaus.“

Auf Befragen des Justizrats Dr. Sello bemerkte der Zeuge: Frau Rosengart habe den Eindruck gemacht, daß sie von dem Tode ihres Gatten aufs tiefste erschüttert sei.

Ziegelmeister Frentzel: Als ihm von dem Morde Mitteilung gemacht wurde, habe er verstanden: Rosengart habe geschossen. Er habe deshalb erwidert: „Laß ihn schießen.“ Rosengart habe nämlich, ganz besonders, wenn er angetrunken war, oftmals geschossen und hätte infolgedessen einmal sehr bald seinen (des Zeugen) Bruder erschossen. Es sei ihm bekannt, daß Rosengart mehrfach Drohbriefe erhalten habe. Wenn Rosengart betrunken war, habe er seine Frau beschimpft; bisweilen sei dies auch vorgekommen, wenn er nüchtern war. Es sei ihm nicht bekannt, daß Inspektor Rieß mit der Angeklagten ein Liebesverhältnis unterhalten habe.

Hierauf wurde die Aussage des verstorbenen Inspektors Rieß verlesen. Dieser hatte bekundet: Er sei 1863 geboren und seit 1896 Inspektor auf dem Rittergute Zögershof gewesen. Er sei verheiratet und Vater von drei Kindern. Über das eheliche Verhältnis der Familie Rosengart könne er nichts sagen. Er sei am Abend des 19. März 1897, kurz nach 8 Uhr abends, nach Hause gegangen. Er habe Abendbrot gegessen, sich noch kurze Zeit mit seiner Frau unterhalten und sei alsdann zu Bett gegangen. Kaum war er eingeschlafen, da habe es an seinem Fenster heftig gepocht. Er sei aufgestanden und habe das Fenster geöffnet. Vor ihm habe die 11jährige Olga Rosengart mit dem Rosengartschen Dienstmädchen Mathilde gestanden. Auf seine Frage, was los sei, habe die kleine Olga gesagt: Papa ist erschossen worden. Auf die fernere Frage, wann das geschehen sei, habe das Mädchen geantwortet: ?Soeben.? Er habe sich darauf eiligst angekleidet und sei nach Zögershof gegangen. Er habe dort Frau Rosengart in der Küche weinend sitzen sehen. Rosengart lag zwischen Sofa und Tisch mit zerschmettertem Schädel als Leiche. Er bestreite ganz entschieden, den Rosengart erschossen zu haben. Rosengart sei ihm ein sehr wohlwollender Prinzipal gewesen, der ihm aus freien Stücken vom 1. April 1897 ab eine Zulage von mindestens 150 Mark versprochen hatte. Es sei eine freche Lüge, daß er mit Frau Rosengart ein sträfliches Verhältnis unterhalten habe.

Auf die Frage: Weshalb er nicht selbst zu dem Gendarmen geritten sei, hat der Angeklagte geantwortet: Weshalb ich das nicht getan habe, kann ich nicht sagen.

Der Vorsitzende ließ hierauf die Angeklagte vortreten und befragte sie über die auf einer schwarzen Tafel enthaltene Zeichnung der Rießschen Wohnung.

Auf Befragen des Justizrats Dr. Sello äußerte Kämmerer Wiemann: Am Abend des Mordes sei feuchtes Wetter und der Erdboden aufgeweicht gewesen.

Der Vorsitzende verlas ferner ein Protokoll. Danach haben die Fußspuren auf dem Weizenfelde genau mit den Stiefeln des Rieß übereingestimmt.

Der folgende Zeuge war Kämmerer Gaudeck: Zwischen dem Inspektor Rieß und dem Gutsherrn Rosengart habe ein durchaus freundschaftliches Verhältnis bestanden. Am 19. März 1897 habe Rieß über Mattigkeit geklagt, so daß er sich schon gegen 6 Uhr nachmittags zu Bett legen wollte. Er sei aber trotzdem noch nach Zögershof gegangen, um dort Abrechnung zu machen.

Arbeiter Perkuhn: Als er eines Tages auf dem Gutshofe Mist lud, habe er gehört, daß Inspektor Rieß zu dem Kämmerer Riedat sagte: Es wäre gut, die Hunde wegzubringen. Riedat fragte, wie er das machen solle. Rieß entgegnete, erst müsse der eine, nach etwa 14 Tagen der andere weggebracht werden, bis sie beide weg seien.

Vert. Justizrat Dr. Sello: Hat das der Inspektor so laut gesagt, daß Sie es deutlich hören konnten?

Zeuge: Jawohl.

Witwe Deubner: Sie sei 1895/96 auf dem Gute Zögershof in der Küche beschäftigt gewesen. Der ermordete Rosengart habe oftmals seine Frau ausgeschimpft und sie des Ehebruchs bezichtigt. Frau Rosengart habe einmal gesagt: sie möchte zehn Taler zum besten geben, wenn jemand ihren Mann erschießen wollte; alsdann würde sie wieder glücklich leben.

Die Verteidiger hielten der Zeugin vor, daß sie früher vom Totschlagen gesprochen habe, während sie heute vom Totschießen spreche.

Zeugin: Ich habe stets vom Totschießen gesprochen.

Verteidiger Justizrat Dr. Sello: Sie haben früher immer vom Totschlagen gesprochen und auch gesagt, daß Frau Rosengart eine solche Äußerung mehrere Male getan habe. Heute wissen Sie nichts von einer solchen Äußerung.

Zeugin: Ich habe immer von mehreren Malen gesprochen.

Die Zeugin bekundete im weiteren auf Befragen des Vorsitzenden: Ihre (der Zeugin) Tochter habe dem Kutscher Busch, der zur Zeit schon entlassen war, von Frau Rosengart Briefe tragen müssen. Sie (Zeugin) habe auch gehört, wie der ermordete Rosengart seine Frau des sträflichen Umgangs mit Busch beschuldigt habe.

Vors.: Nun, Angeklagte, was sagen Sie dazu?

Angekl.: Als mein Mann einmal betrunken war, hat er mich allerdings des sträflichen Umgangs mit Busch bezichtigt. Ich wollte eines Abends mit meiner Schwester in Königsberg das Theater besuchen. Deshalb ließ ich Busch schriftlich bitten, uns vom Theater abzuholen, damit wir nicht genötigt waren, des Abends allein die Chaussee zu gehen.

Vors.: Weshalb schrieben Sie an Busch, der doch längst nicht mehr in Ihren Diensten stand, während Sie ein sehr zahlreiches Personal halten? „

Angekl.: Unser Personal mußte um 3 1/2 Uhr des Morgens aufstehen, ich konnte daher nicht verlangen, daß von diesem jemand uns des Abends aus Königsberg abholen kam. Busch hatte keine Stellung.

Vors.: Die Zeugin behauptet aber. Sie haben mehrfach an Busch geschrieben.

Angekl.: Das ist eine freche Lüge; die Frau hat einen Haß auf mich. Ich habe sie hinausgeworfen, weil sie uns bestohlen halle.

Zeugin: Das ist nicht wahr.

Angekl.: Es ist doch wahr.

Auf weiteres Betragen wurde festgestellt, daß die Zeugin die Angeklagte wegen rückständigen Lohnes und Beleidigung verklagt habe und daß die Angeklagte te auch verurteilt worden sei.

Kutscher Busch gab nach längerem Zögern zu, daß er zehnmal wegen Diebstahls bzw. Einbruchdiebstahls, zuletzt mit Zuchthaus, bestraft sei. Als der Vorsitzende den Zeugen aufforderte, den Eid zu leisten, weigerte sich dieser zu schwören, da er nicht wisse, worüber er vernommen werden solle.

Erster Staatsanwalt: Es hat den Anschein, als befürchte der Zeuge, sich einer Straftat zu bezichtigen.

Der Verteidiger R.-A. Dr. Lichtenstein beantragte, den Zeugen vorläufig uneidlich zu vernehmen.

Der Vorsitzende entsprach diesem Antrage.

Der Zeuge bestritt auf Befragen des Vorsitzenden, mit Frau Rosengart ein sträfliches Verhältnis unterhalten, von dieser Briefe empfangen oder sie nach Hause geleitet zu haben. Er sei allerdings Frau Rosengart einige Male auf der Chaussee begegnet, Geld habe er von Frau Rosengart niemals für eine Begleitung erhalten.

Erster Staatsanwalt: Haben Sie an einen Referendar Wolff Briefe geschrieben?

Zeuge: Nein.

Erster Staatsanwalt: Wie verhält es sich mit den bei Ihnen gefundenen Schriftstücken, die die Aufschrift „An den Gerichtsreferendar und Gutsbesitzer Wolff“ tragen?

Zeuge: Diese Schriftstücke habe ich allerdings geschrieben. schrieben.

Erster Staatsanwalt: Hat Ihnen Ihre Frau, als Sie aus dem Zuchthause kamen, nicht gesagt, daß sie Zeugin der Ermordung des Rosengart war?

Zeuge: Jawohl.

Erster Staatsanwalt: Weshalb hat Ihre Frau dies so lange verschwiegen?

Zeuge: Meine Frau wollte nichts mit dem Gericht zu tun haben.

Erster Staatsanwalt: Als Referendar Wolff zu Ihnen kam und Ihre Frau fragte, da überwand Ihre Frau ihre Abneigung gegen die Gerichte?

Der Zeuge schwieg und bekundete auf Befragen des Verteidigers R.-A. Dr. Lichtenstein: Er habe einmal den ermordeten Rosengart und dessen Frau von Königsberg nach Zögershof gefahren. Rosengart sei sehr angetrunken gewesen und habe seine Frau und auch ihn geschlagen.

Verteidiger Justizrat Dr. Sello: Hatten Sie, als Sie bei Rosengart engagiert wurden, bereits eine Zuchthausstrafe erlitten?

Zeuge: Jawohl.

Vert.: War das Ihrer Herrschaft bekannt?

Zeuge: Jawohl.

Es erschien alsdann als Zeuge Gerichtsreferendar a.D. Wolff. Dieser, ein mittelgroßer, hübscher, schneidiger Herr mit flottgedrehtem blondem Schnurrbart, bart, gab an, daß er 30 Jahre alt und evangelischer Konfession sei. Er sei mit Frau Rosengart öffentlich verlobt, wolle aber Zeugnis ablegen. Er habe einmal gehört, daß Kutscher Busch gesagt habe, seine Frau wisse genau, daß Inspektor Rieß den Rosengart nicht erschossen habe. Er sei deshalb sofort zu Busch gegangen, habe mit Frau Busch gesprochen und von der Unterhaltung der Staatsanwaltschaft Anzeige erstattet.

Gutsbesitzer Frehse: Er sei Gutsnachbar des Rosengart gewesen. Als er einmal zu Frau Rosengart ins Zimmer trat, habe diese ihn in ganz unmotivierter Weise umgefaßt und ihm einen Kuß gegeben.

Die Angeklagte bezeichnete diese Bekundung als Lüge. Es sei allerdings vorgekommen, daß sie einmal bei einer Festlichkeit, als der Zeuge am Klavier saß, ihn aus Übermut umgedreht habe. Ein anderes Mal habe der Zeuge mit ihr tanzen wollen. Bei dieser Gelegenheit habe die Frau des Zeugen gerufen: „Gebt euch doch einmal einen herzhaften Kuß.“ Ihr (der Angeklagten) Mann, der im Nebenzimmer saß, habe gerufen: Laßt man solche Albernheiten sein, ich liebe das nicht. Im übrigen habe der Zeuge sehr über seine Frau geklagt.

Der Zeuge bezeichnete die von der Angeklagten erzählten Fälle als richtig, und hielt auch die Kußaffäre aufrecht, er habe deshalb den Umgang mit Rosengarts abgebrochen.

Die Angeklagte zeihte wiederholt den, Zeugen der Lüge.

Besitzer Zahn: Er habe mit Rieß sich über den Mord unterhalten. Als er sagte, der Täter werde wohl in nächster Zeit entdeckt werden, habe sich Rieß entfernt.

Als darauf Kutscher Busch vereidigt werden sollte, weigerte er sich, den Eid zu leisten, da er nicht wisse, von wem und weshalb er angeklagt sei.

Der Vorsitzende suchte den Zeugen zu belehren, daß er nicht Angeklagter, sondern nur Zeuge sei.

Busch beharrte jedoch bei seiner Weigerung. Der Gerichtshof behielt sich die Beschlußfassung über die Vereidigung des Zeugen vor.

Am zweiten Verhandlungstage bekundete Gutsbesitzer Zahn: Er wisse nicht, ob der verstorbene Gutsinspektor Rieß ein guter Schütze war.

Ein Geschworener fragte die Angeklagte, ob das Zimmer derartig mit Pulverdampf angefüllt war, daß sie die Leiche ihres Mannes nicht sofort sehen konnte.

Die Angeklagte verneinte das. Es sei wohl viel Pulverdampf im Zimmer gewesen, sie habe jedoch sogleich den Leichnam zwischen Tisch und Sofa liegen sehen. Geschworener: Infolge des windigen Wetters kann in dem Zimmer kaum Pulverdampf zu sehen gewesen sein.

Auf Antrag des Verteidigers Justizrats Dr. Sello wurde nochmals Kämmerer Wiemann vernommen. Dieser, der als einer der ersten an der Mordstätte erschienen war, bekundete, daß er Pulverdampf nicht wahrgenommen habe.

Gutsbesitzer Sperber: Rieß sei bei ihm Inspektor gewesen. Er sei im allgemeinen ein guter Schütze gewesen. Rieß war leichtsinnig und moralisch etwas gesunken, im übrigen aber ein gutmütiger Mensch, der wissentlich wohl niemanden geschädigt habe.

Förster Jensch: Rieß, der ein Martinigewehr besaß, sei ein sehr guter Büchsenschütze und ein sehr guter Mensch gewesen.

Rittergutsbesitzer Schuster: Rieß sei ein sehr guter, ehrlicher Mensch und ein sehr gewissenhafter Beamter gewesen, der sich niemals hätte bestechen lassen. Rieß habe, als er bei ihm (Zeugen) war, eine Schrotbüchse und eine Kugelbüchse besessen. Letztere sei bei ihm geblieben und sei noch heute auf seinem Gute. Rieß sei abgegangen, da er sich verheiratet hatte. Er habe auf Anfrage des Rosengart den Rieß nur in jeder Beziehung empfehlen können.

Büchsenmacher Neues (Pillau): Er habe dem Rieß einmal einen Karabiner verkauft, in den aber das tödliche Geschoß nicht hineinpasse.

Dienstmädchen Mathilde Krohn: Das Verhältnis der Familie Rosengart sei im allgemeinen ein friedliches gewesen, nur wenn der gnädige Herr betrunken war, sei Zank und Streit gewesen. Sie habe den Inspektor Rieß mehrfach mit Frau Rosengart sprechen sehen, die Eheleute haben sich lediglich über geschäftliche Dinge unterhalten. Am 19. März 1897, abends gegen 9 Uhr, als sie gerade in der Kinderstube war, habe sie plötzlich die gnädige Frau furchtbar schreien hören. Sie sei hinüber in das zu ebener Erde belegene Wohnzimmer gelaufen und habe dort den gnädigen Herrn zwischen Sofa und Tisch tot in einer Blutlache liegen sehen.

Vors.: War Pulverdampf im Zimmer?

Zeugin: Jawohl.

Vors.: War viel Pulverdampf?

Zeugin: Viel nicht, ich habe aber Pulverdampf gesehen und auch gerochen. Die Zeugin erzählte im weiteren auf Befragen des Vorsitzenden: Die gnädige Frau habe sie aufgefordert, zunächst den Kutscher und alsdann den Inspektor herbeizurufen. Sie sei mit der kleinen Olga zu Rieß nach Ernsthof gelaufen. Nach mehrmaligem Pochen habe Inspektor Rieß geöffnet und gefragt, was los sei. Rieß sei ausgekleidet gewesen. Er habe sich sofort angezogen, es habe aber etwas lange gedauert, da er, wie er sagte, seine Strümpfe nicht finden konnte. Rieß sei mit Frau Rosengart und der kleinen Olga oben im Zimmer geblieben, bis der Arzt und Herr Adameit aus Königsberg kamen. Einige Zeit vor dem Morde habe Frau Rosengart gart gesagt: Mein Mann erlaubt nicht, daß die Fensterläden des Abends zugemacht werden; wenn einmal etwas passiert, dann wird man den Inspektor Rieß und mich in Verdacht haben.

Vors.: Wie kam Frau Rosengart zu dieser Äußerung?

Zeugin: Es war doch so die Rede, daß Frau Rosengart und der Inspektor ein Liebesverhältnis haben.

Vors.: Haben Sie irgendeine Wahrnehmung in dieser Beziehung gemacht?

Zeugin: Nein, ich habe Frau Rosengart mit dem Inspektor nur einmal in der Speisekammer sitzen sehen.

Die Zeugin bekundete im weiteren auf Befragen des Vorsitzenden: Sie habe einmal gesehen, wie Frau Rosengart sich einen Eimer Wasser selbst hinaufgetragen habe.

Der Vorsitzende hielt der Zeugin vor, daß sie früher gesagt habe, sie habe einen solchen Vorgang mehrere Male gesehen, dann habe sie wieder in dieser Beziehung alles in Abrede gestellt. Die Zeugin, deren Vernehmung große Schwierigkeiten bereitete, blieb bei ihrer Bekundung. Sie erzählte ferner auf Befragen: Frau Rosengart habe einmal gesagt: Kinder, macht mich nicht unglücklich; damals war Rieß schon verhaftet.

Vors.: Aus welchem Anlaß hat Frau Rosengart das gesagt?

Zeugin: Weil sehr viel Geklatsche war.

Vors.: Was für ein Geklatsche?

Zeugin: Daß die gnädige Frau mit Rieß ein Liebesverhältnis hatte.

Auf Befragen des Verteidigers R.-A. Dr. Lichtenstein bemerkte die Angeklagte: Nachdem Rieß verhaftet war, erzählte Frau Leopold, ich hätte in einer Schmiede ein Messer schärfen lassen, um meinem Manne den Hals damit abzuschneiden. Ich stellte daher sogleich fest, daß die Krohn aus eigenem Antriebe ein Messer hat schärfen lassen. Bei dieser Gelegenheit sagte ich zu meinen Dienstmädchen: Kinder, macht mich durch eure Klatschereien nicht unglücklich; Rieß ist bereits verhaftet, durch eure Klatschereien wird es schließlich dahin kommen, daß auch ich verhaftet werde. Es ist doch schon genug Unglück über mich gekommen.

Vors.: Ist es richtig, daß Sie aus eigenem Antriebe ein Messer in der Schmiede haben schärfen lassen?

Zeugin: Jawohl.

Verteidiger R.-A. Dr. Lichtenstein: Bezog sich die von Ihnen bekundete Äußerung der Frau Rosengart auf diesen Vorfall?

Zeugin: Jawohl.

Erster Staatsanwalt: Ich habe allerdings auch den Eindruck, daß auf die Zeugin in irgendeiner Weise eingewirkt worden ist; sie hat früher ganz anders ausgesagt gesagt als heute. Ich stelle nun an die Zeugin die Frage, ob sie sich erinnert, daß sich das Dienstmädchen Eggert bei dem Untersuchungsrichter selbst des Meineids bezichtigt hat. Die Eggert sagte, ich habe allerdings früher anders ausgesagt, heute ändere ich aber meine Aussage?

Zeugin: Davon weiß ich nichts.

Vors.: Sie haben früher auch bekundet, daß, als Sie dem Rieß sagten: Der gnädige Herr ist erschossen, Rieß gefragt hat: Ist er gleich ganz tot gewesen?

Zeugin: Jawohl, das hat Rieß gesagt.

Erster Staatsanwalt: Ich möchte erst die Olga Rosengart vernommen haben, dann werde ich beantragen, die Widersprüche dieser Zeugin festzustellen.

Verteidiger Justizrat Dr. Sello: Mit Rücksicht auf die große Wichtigkeit der Aussage dieser Zeugin stelle ich den Antrag, die Widersprüche der Zeugin sofort festzustellen.

Der Vorsitzende verlas darauf die verschiedenen Protokolle über die Vernehmungen der Zeugin, die sehr voneinander abwichen.

Die Zeugin bekundete auf wiederholtes Befragen der Verteidiger, daß sie von einem Liebesverhältnis der Angeklagten mit Rieß niemals etwas wahrgenommen habe.

Verteidiger Justizrat Dr. Sello: Ich behaupte, es hat den Frauen in der Aufregung zum mindesten so geschienen, daß im Zimmer Pulverdampf war, zumal sie einen Schuß gehört hatten. Da jedenfalls durch die Behauptung der Angeklagten, das Zimmer sei mit Pulverdampf angefüllt gewesen, deren Glaubwürdigkeit in Zweifel gezogen werden könnte, so beantrage ich, ein Experiment vorzunehmen, um zu sehen, ob durch einen Schuß durchs Fenster im Zimmer Pulverdampf entsteht.

Erster Staatsanwalt: Ein solches Experiment würde dahin führen, daß die Verhandlung in dieser Periode nicht mehr zu Ende kommen kann. Ich erkläre im übrigen, daß ich aus Anlaß der erwähnten Behauptung die Glaubwürdigkeit der Angeklagten nicht in Zweifel ziehe.

Verteidiger Justizrat Dr. Sello: Ich kann aber nicht wissen, ob die Herren Geschworenen aus diesem Anlaß die Glaubwürdigkeit der Angeklagten in Zweifel ziehen. Ich muß daher meinen Antrag aufrechterhalten, zumal ich der Meinung bin, daß die örtliche Augenscheinnahme die Verhandlung doch nur um einen Tag verzögern kann.

Büchsenmacher Neges bekundete auf Befragen des Vorsitzenden: Wenn der Lauf der Gewehrs dicht ans Fenster gehalten worden wäre, dann würde der Schuß allerdings Pulverdampf im Zimmer erzeugt haben. Geübte Schützen pflegen aber nicht derartig zu schießen.

Verteidiger R.-A. Dr. Lichtenstein: Ich muß mich dem Antrage meines Herrn Mitverteidigers, auf örtliche Augenscheinnahme, anschließen. Ich dehne den Antrag dahin aus, daß die Herren Geschworenen an dieser örtlichen Augenscheinnahme teilnehmen, da ich noch mehrere Dinge an Ort und Stelle feststellen lassen muß. Ich will feststellen, daß der Ort, an dem das Gewehr, mit dem der tödliche Schuß abgegeben sein soll, gestanden hat, von derartiger Beschaffenheit war, daß man das Gewehr nicht verstecken konnte, sondern daß zum mindesten der Lauf gesehen werden mußte. Ich will ferner feststellen, daß auf dem Schulwagen, in dem drei Personen saßen, ein Gewehr nicht derartig versteckt werden konnte, ohne daß der Lauf des Gewehrs gesehen werden konnte.

Verteidiger Justizrat Dr. Sello: Ich werde noch beantragen, eine Demonstration der Fußspuren vorzunehmen.

Vors.: Wir werden vorläufig weiterverhandeln und können ja alsdann sehen, ob eine örtliche Augenscheinnahme erforderlich ist.

Verteidiger Justizrat Dr. Sello: Herr Vorsitzender, ich stelle den Antrag nicht eventuell, sondern schon jetzt ganz bestimmt und ersuche jedenfalls, den Antrag zu Protokoll zu nehmen.

Der Vorsitzende entsprach dieser Bitte.

Dienstmädchen Amanda Eggert: Am 19. März 1897, abends gegen 9 Uhr, habe sie im Hofe Geflüster und Klirren von Hundeketten gehört. Sie sei in den Keller gegangen; als sie noch auf den Kellertreppen war, habe sie einen Schuß gehört. Sie sei sofort in das Wohnzimmer des gnädigen Herrn gelaufen und habe dort den gnädigen Herrn zwischen Sofa und Tisch als Leiche liegen sehen. Sie habe niemals etwas bemerkt, was darauf schließen ließ, daß zwischen Rieß und der gnädigen Frau ein Liebesverhältnis bestanden habe. Es sei ihr aber mitgeteilt worden, daß dies eine Frau erzählt habe. Frau Rosengart habe ihr einmal gesagt, mein Mann erlaubt nicht, daß die Fensterläden des Abends geschlossen werden. Wenn nun einmal meinem Manne etwas passiert, dann könnte der Verdacht auf Rieß und mich fallen. Nach dem Morde sei sie von Herrn Adameit nach einem Schraubenzieher geschickt worden. Außerdem habe sie gesehen, daß Frau Rosengart einen Eimer Wasser aus der Küche geholt und in das obere Zimmer getragen habe.

Vors.: Es wird nämlich behauptet: Adameit und die Angeklagte seien bemüht gewesen, daß Gewehr, mit dem Rosengart erschossen wurde, zu vernichten. Das Gewehr sollte in den Pregel versenkt werden. Vorher sollte aber der Lauf des Gewehrs abgeschraubt werden, zu diesem Zwecke war der Schraubenzieher notwendig. Der Lauf sei deshalb glühend gemacht worden. Um nun die Glut zu löschen, sei der Eimer Wasser ser notwendig gewesen.

Auf Antrag des Ersten Staatsanwalts und der Verteidiger wurde festgestellt, daß die Zeugin bei ihren verschiedenen Vernehmungen sich vielfach widersprochen habe. Die Zeugin bestritt, gesagt zu haben, daß sie einen Meineid geleistet habe. Das Dienstmädchen Lina Meier habe sie des Meineids bezichtigt.

Verteidiger Justizrat Dr. Sello: Sie haben jedenfalls bei Ihrer ersten Vernehmung nicht gesagt, daß Sie kurz vor dem Schuß Stimmengeflüster und Kettenklirren im Hofe gehört haben?

Die Zeugin schwieg.

Vert.: Wissen Sie, ob das Stimmengeflüster von Männern oder Frauen ausging?

Zeugin: Das weiß ich nicht.

Die Zeugin bekundete ferner auf Befragen: Die Angeklagte habe sie ersucht, sie solle nicht sagen, daß sie mit Rieß allein gesprochen habe.

Vors.: Haben Sie denn einmal gesehen, daß Frau Rosengart mit Rieß allein gesprochen hat?

Zeugin: Nein.

Vors.: Weshalb mag Frau Rosengart diese Äußerung wohl getan haben?

Zeugin: Das weiß ich nicht.

Vors.: Als Sie eine Vorladung zu dem Untersuchungsrichter erhielten, soll Frau Rosengart zu Ihnen etwas gesagt haben?

Zeugin: Die gnädige Frau sagte: Du wirst ja wissen, was du zu sagen hast.

Auf Befragen des Verteidigers Justizrats Dr. Sello bemerkte schließlich die Zeugin: Als Frau Rosengart den Eimer Wasser hinauftrug, habe der gnädige Herr noch gelebt.

Der Erste Staatsanwalt erwähnte, daß er einen anonymen Brief erhalten habe.

Auf Antrag des Verteidigers R.-A. Dr. Lichtenstein wurde dieser Brief vorgelesen.

Er lautete etwa folgendermaßen:

„Herrn Staatsanwalt, hochgeboren! Sie werden mich entschuldigen, daß ich Ihnen bitte, die unglückliche Frau Rosengart freizulassen. Frau Rosengart ist unschuldig. Wir Arbeiter alle zusammen haben den Inspektor Rieß aufgefordert, Herrn Rosengart zu erschießen. Rieß hat dies auch getan, da er Frau Rosengart liebte, um sie von dem schlechten Manne zu befreien. Ich habe oft gesehen, wie Rosengart seine Leute anband, sie schlug und beschimpfte. Frau Rosengart ist aber unschuldig. Ich bitten Ihnen um Gottes willen, Herr Staatsanwalt, Frau Rosengart freizulassen. Sie würden sonst an der Frau und an den armen Kindern eine schwere Sünde begehen. Sie sind auch kein Gott, sondern nur ein Mensch. Sie haben gewiß schon manchen Menschen unschuldig verurteilt! (Heiterkeit im Zuhörerraum.) Wenn Sie auch noch die unglückliche Frau Rosengart verurteilen, dann würden Sie eine Unschuldige verurteilen und viel Elend über die Kinderchen bringen. Ein Arbeiter, der die Verhältnisse kennt, schreibt das.“

Frau Busch, Gattin des gestern vernommenen Kutschers Busch, erzählte auf Befragen: Am Abend des 19. März 1897 sei sie mit einer Frau Ziegran von Ernsthof nach Zögershof gegangen. Vor ihnen sei ein Mann gegangen, der auf den Rosengartschen Gutshof ging und sich dort hinter einen Wagen stellte. Gleich darauf sei ein Schuß gefallen. Sie sei mit der Ziegran fortgelaufen, da sie glaubten, der Schuß gelte ihnen.

Vors.: Hatte der Mann ein Gewehr oder etwas Ähnliches in der Hand?

Zeugin: Nein, er hatte nichts in der Hand.

Vors.: Kannten Sie den Rieß?

Zeugin: Ja, Rieß kannte ich ganz genau.

Vors.: War der Mann Rieß?

Zeugin: Nein.

Vors.: Weshalb war es Rieß nicht?

Zeugin: Dazu war der Mann zu klein und zu dick.

Vors.: Wie war denn das Wetter an jenem Abend?

Zeugin: Es war regnerisch.

Vors.: Konnten Sie den Mann erkennen?

Zeugin: Ja, ich habe ihn beim Schein der Laterne gesehen.

Vors.: Von welcher Entfernung konnten Sie an jenem Abend einen Menschen erkennen?

Zeugin: Von zwanzig Schritt.

Vors.: Und wie weit standen Sie von dem Mann entfernt?

Zeugin: Ungefähr zehn Schritt.

Vors.: Wie sah der Mann aus?

Zeugin: Er war klein, dick und hatte einen schwarzen Schnurrbart.

Vors.: Was für einen Bart hatte Rieß?

Zeugin: Einen blonden Vollbart.

Erster Staatsanwalt: Wenn Rieß sich ein paar dicke Röcke angezogen und einen schwarzen Schnurrbart angeklebt hätte, wäre es alsdann möglich gewesen, daß dieser Mann Rieß war?

Zeugin: Nein, dazu war er zu klein.

Erster Staatsanwalt: Also nur deshalb konnte es nicht Rieß sein?

Zeugin: Ja.

Verteidiger R.-A. Dr. Lichtenstein: Trug nicht Rieß auch einen halblangen, blonden Kinnbart?

Zeugin: Jawohl.

Vors.: Frau Busch, Sie haben bekundet, daß Sie Frau Rosengart vielfach unterstützt hat?

Zeugin: Das ist richtig, ich konnte mir von Frau Rosengart stets Kartoffeln, Brot und Speck holen.

Vors.: Sie haben doch gehört, daß Rieß und einige Wochen später auch Frau Rosengart verhaftet wurde, da beide im Verdacht standen, den Mord begangen zu haben?

Zeugin: Das habe ich gehört.

Vors.: Wie konnten Sie es über sich gewinnen, zwei Leute, die, wenn Ihre Bekundung wahr ist, doch unschuldig waren, unter der schweren Anklage des Mordes im Untersuchungsgefängnis sitzen zu lassen. Weshalb haben Sie von Ihren Wahrnehmungen dem Gericht nicht sofort Anzeige erstattet?

Zeugin: Ich wurde von niemandem gefragt.

Vors.: Dies allein durfte Sie doch aber nicht abhalten, zu schweigen; Ihre Wohltäterin befand sich im Gefängnis, Sie hatten doch dadurch auch Schaden?

Zeugin: Ich habe mit dem Gericht niemals etwas zu tun gehabt und wollte deshalb auch fernerhin nichts mit dem Gericht zu tun haben.

Vors.: Also weil Sie mit dem Gericht nichts zu tun haben wollten, haben Sie Ihre Wohltäterin ruhig im Gefängnis sitzen lassen und Ihre Wahrnehmungen erst mitgeteilt, als Ihr Mann aus dem Zuchthause kam?

Zeugin: Ich habe es nur meinem Manne erzählt.

Auf ferneres Befragen bekundete die Zeugin: Nachdem ihr Mann schon aus dem Zuchthause zurück war, sei der junge Herr Rosengart zu ihr gekommen und habe sie gefragt, ob der Mann, den sie am Abend des Mordes gesehen habe, etwa Rieß war. Sie habe diese Frage verneint. Auf Befragen des Verteidigers Justizrats Dr. Sello bemerkte die Zeugin noch: Der junge Rosengart habe heftig geweint, als er bei ihr in der Wohnung war.

Frau Marie Ziegran schloß sich vollständig der Bekundung der Vorzeugin an. Auf die Frage des Vorsitzenden, weshalb sie ihre Wahrnehmung nicht angezeigt habe, da sie doch wußte, daß zwei Menschen unschuldig im Untersuchungsgefängnis sitzen, antwortete die Zeugin, sie habe das nicht für nötig gehalten.

Am dritten Verhandlungstage bekundete Schneiderin Kröhnert: Sie habe vom 1. Januar bis 1. Februar 1897 bei Rosengart gedient. Es sei ihr aufgefallen, daß, wenn der gnädige Herr nicht zu Hause war, die gnädige Frau zu dem Inspektor Rieß ganz besonders freundlich war. Einmal sei Rieß bis 2 1/2 Uhr nachts bei Frau Rosengart geblieben, der gnädige Herr sei nicht zu Hause gewesen. Als Rieß fortging, sagte er zu Frau Rosengart, ich werde morgen früh wecken kommen, sonst könnten Sie verschlafen. Rieß sei aber nicht wecken gekommen. Wenn der gnädige Herr nicht zu Hause war, dann sei Rieß mit der Angeklagten zusammen in der Speisekammer, in der Küche, im Keller und in der Kinderstube gewesen. Als sie (Zeugin) eines Tages in den Keller gehen wollte, habe sie Kämmerer Rengath gefragt, ob das Schw. von Rieß wieder ordentlich gefressen und gesoffen habe. Einige Male sei Frau Rieß aufs Gut gekommen und habe weinend ihren Mann gesucht. Frau Rieß habe geklagt, daß ihr Mann sich immer umhertreibe, sie wolle ihren Mann für sich allein haben. Frau Rosengart habe darauf über Frau Rieß gespottet und gesagt, daß diese klein und häßlich sei und eine rote Nase habe. Eines Tages habe Frau Rosengart gesagt: Für die großen Hunde könnten wir lieber ein paar Schweine füttern.

Erster Staatsanwalt: Auch diese Zeugin hat früher bedeutend weitergehende Angaben gemacht. So hat die Zeugin u.a. bekundet: Wenn Herr Rosengart nicht zu Hause war, sei mehr und besser gekocht worden.

Zeugin: Das ist richtig.

Die Frage des Verteidigers R.-A. Dr. Lichtenstein, ob sie wegen Unredlichkeit entlassen worden sei, da sie dem Kämmerer Rengath Kognak, Bier usw. gegeben habe, verneinte die Zeugin.

Dienstmädchen Eggert: Sie habe mehrfach gesehen, daß die Kröhnert dem Kämmerer Rengath Kognak, Bier usw. gegeben habe. Die Kröhnert habe sie (Zeugin) gebeten, der gnädigen Frau nichts davon zu sagen.

Die Angeklagte bemerkte ebenfalls, daß die Kröhnert wegen Unredlichkeit entlassen worden sei.

Letztere stellte das mit Entschiedenheit in Abrede.

Auf Befragen des Verteidigers Justizrats Dr. Sello bekundete Kämmerer Wiemann: Frau Rosengart habe ihn auch bisweilen mit in die Speisekammer genommen, die Tür zugemacht und ihm Speise und Trank gegeben. Ein Liebesverhältnis zwischen Frau Rosengart und ihm habe aber in keiner Weise bestanden.

Kämmerer Rengath: Er habe Frau Rosengart und Inspektor Rieß oftmals so vertraut sprechen sehen, daß er die Überzeugung gewann: es bestehe zwischen beiden ein Liebesverhältnis. Als einmal Frau Rieß ihren Mann suchen kam, habe Frau Rosengart eine sehr unanständige Redensart gebraucht.

Angekl.: Das ist nicht wahr. Ich habe mit diesem Manne niemals gesprochen, am allerwenigsten aber mich einer solchen Redensart bedient. Ich habe meinem Mann mitgeteilt, daß der Zeuge die Kröhnert zu Unredlichkeiten verleitet habe. Mein Mann hat deshalb den Zeugen sofort entlassen, aus diesem Anlaß hat der Zeuge mir Rache geschworen. Als Frau Rieß ihren Mann einmal suchen kam, sagte ich: es würde mir auch nicht gefallen, wenn mein Mann stets von Hause fort wäre. Frau Rengath sagte darauf zu mir: eine solch häßliche Frau, wie die Rieß, muß ja auf Sie eifersüchtig sein. Ich bemerkte: Was erlauben Sie sich für Redensarten? Ich will mich bloß nicht beschmutzen, sonst würde ich Ihnen ein paar Ohrfeigen geben.

Rengath: Das ist Lüge.

Vors.: Sie können nicht sagen, daß das Lüge ist, Sie sind doch nicht dabei gewesen?

Der Zeuge schwieg und bekundete im weiteren auf Befragen: Frau Rosengart habe ihn (Zeugen) einmal gefragt, wo ihr Langbeinchen sei. Auf seine Frage, wer das Langbeinchen sei, habe Frau Rosengart halblaut geantwortet: Nun, der Inspektor Rieß. Frau Rosengart habe gesagt: Mein Langbeinchen ziert doch den ganzen Gutshof, es ist doch ein hübscher Mensch.

Auf Befragen des Verteidigers bestritt der Zeuge, die Kröhnert zu Unredlichkeiten verleitet zu haben, er habe sie lediglich einmal ersucht, ihm eine Flasche Bier zu geben.

Auf Befragen des Verteidigers gab der Zeuge zu, daß er von Rieß wegen Beleidigung verklagt und auch zu 100 Mark, eventuell 20 Tagen Gefängnis verurteilt worden sei, weil er zu dem ermordeten Rosengart gesagt habe: Rieß bringe ihn um Stumpf und Stiel.

Verteidiger R.-A. Dr. Lichtenstein beantragte, aus den Akten festzustellen, daß der Zeuge nicht einmal den Versuch gemacht habe, den Beweis der Wahrheit für seine Behauptungen zu führen. Er beantrage außerdem, die beeidete Aussage der Angeklagten, die damals als Zeugin aufgetreten sei, zu verlesen.

Justizrat Dr. Sello: Er müsse bemerken, daß er prozessuale Bedenken gegen diese Verlesung habe.

Der Erste Staatsanwalt nahm diesen Antrag jedoch auf, dem auch der Gerichtshof entsprach.

Frau Kämmerer Rengath: Ihr Mann habe ihr einmal erzählt: er habe den Inspektor Rieß mit Frau Rosengart in der Schlafstube stehen sehen. Dies habe sie (Zeugin) einer Frau erzählt. Aus diesem Anlaß sei sie wegen Beleidigung bestraft worden. Als Frau Rieß einmal ihren Mann suchen kam, habe Frau Rosengart gesagt: ich werde der Frau einen Bullen schicken.

Maschinistenfrau Baerwald: Kurz ehe der Schuß gefallen sei, habe sie vor dem Fenster des Rosengartschen Wohnzimmers einen Schatten gesehen.

Maschinist Baerwald: Seine Frau habe ihm erzählt, daß sie einen Schuß gehört und einen Schatten gesehen habe. Er könne aber nicht sagen, ob seine Frau ihm mitgeteilt, sie habe den Schatten vor oder nach dem Schuß gesehen. Der junge August Rosengart habe ihm einmal erzählt: Sein Onkel habe gesagt, wenn er zu befehlen hätte, dann wüßte er schon, wen er verhaften würde. Er glaube, August Rosengart habe den Onkel Kapinsky, den Mann der Schwester des ermordeten Rosengart, dabei genannt.

Schuhmacher Wiese: Als der Schuß fiel, habe er bereits im Bett gelegen. Die Amanda Eggert habe ihm erzählt, sie habe nach dem Schuß drei Gestalten am Speicher gesehen.

Der Vorsitzende bemerkte dem Zeugen, daß er bei seiner ersten Vernehmung gesagt habe, die Eggert habe ihm erzählt, sie habe zwei Gestalten stehen sehen.

Zeuge: Er könne sich heute nicht mehr genau erinnern.

Amanda Eggert: Der Zeuge müsse sich irren, sie habe diesem erzählt, daß sie zwei Stimmen gehört habe.

Verteidiger R.-A. Dr. Lichtenstein: Ich stelle fest, daß der Zeuge Wiese ausdrücklich bei seiner ersten Vernehmung gesagt hat: Die Eggert habe nicht sprechen gehört, aber zwei Gestalten am Speicher stehen sehen.

Wiese gab dies als richtig zu.

Amanda Eggert blieb bei ihrer Bekundung, daß sie nur Stimmengeflüster gehört habe.

Auf Befragen des Verteidigers Justizrats Dr. Sello gab die Zeugin als richtig zu, daß Rosengart mehrfach Drohbriefe erhalten habe. In einem dieser Drohbriefe seien die beiden Eheleute mit dem Tode bedroht worden.

Gendarm Pfau: Am Abend des 19. März sei er von dem jungen Rosengart und einem Rosengartschen Knecht von dem Morde benachrichtigt worden. Er sei sofort mit beiden nach Zögershof geritten. Auf dem Hofe sei er dem Inspektor Rieß und dem Ziegelmeister begegnet. Er sei sofort ins Wohnzimmer getreten und habe viele Personen vernommen, es vermochte ihm aber niemand über die Ursache des Mordes etwas mitzuteilen. Die Eggert habe ihm gesagt, sie habe kurz vor dem Schuß auf dem Hofe Stimmen gehört, sie glaube auch, eine Gestalt gesehen zu haben, letzteres wisse sie aber nicht genau. Er habe sofort Fußspuren gesucht, aber solche nicht finden können. Außerhalb des Gehöfts habe er allerdings nicht nach Fußspuren gesucht. Auch als an den darauffolgenden Tagen der Oberwachtmeister, der Erste Staatsanwalt und der Untersuchungsrichter in Zögershof waren, sei außerhalb des Gehöfts nicht nach Fußspuren gesucht worden. Nachdem jedoch die Fußspuren auf dem Weizenfelde entdeckt waren, habe er sie gemessen; sie haben genau mit den Stiefeln des Rieß übereingestimmt. Er sei einmal kurz nach dem Morde nach Zögershof gerufen und von Frau Rosengart ersucht worden, den Arbeiter Holz mit Gewalt vom Gute zu entfernen, da dieser, trotzdem er entlassen war, seine Wohnung nicht räumen wollte. Weshalb Holz entlassen worden sei, wisse er (Zeuge) nicht.

Am Tage nach dem Morde sei der Schwager des Ermordeten, Kapinsky, mit seinem Sohne in einem geschlossenen Wagen auf das Gut Zögershof gefahren. Kapinsky sagte: Ich kenne schon die zwei, die den Mord begangen haben.

Vors.: Wen mag Kapinsky damit gemeint haben?

Zeuge: Ich war der Ansicht, daß Rieß und Frau Rosengart gemeint waren.

Auf Antrag des Ersten Staatsanwalts wurde ein anonymer Brief verlesen. In diesem hieß es: „Vor etwa zwei Jahren hat Frau Rosengart einmal zu einem Kutscher gesagt: Es kommt mir auf ein paar hundert Taler nicht an, wenn der Kutscher mit dem Kerl so fährt, daß er das Genick bricht. Frau Hoffmann (Pillau), die Schwester der Angeklagten, werde bekunden müssen: Frau Rosengart habe einmal in Königsberg einen jungen Mann eingeladen, mit ihr nach Zögershof zu kommen, und bemerkt: Mein Mann ist verreist. Frau Hoffmann habe darauf versetzt: Wenn dein Mann nicht zu Hause ist, dann bist du aus Rand und Band.

Der Täter kann nur ein Bekannter gewesen sein, sonst hätten die Hunde angeschlagen.“

Am vierten Verhandlungstage bekundete das Dienstmädchen Eggert: Die Kutschersfrau Busch und Frau Ziegran klopften stets ans Fenster, wenn sie zu Frau Rosengart kamen. Das sei auch vielfach noch nach dem Tode des Rosengart geschehen.

Busch und Ziegran, nochmals vernommen, bestätigten diese Bekundung. Sie seien zu Frau Rosengart gekommen, um diese um Lebensmittel zu bitten.

Vors.: Das geschah auch noch vielfach nach dem Tode des Rosengart?

Die Zeugen bejahten das.

Auf die Frage des Vorsitzenden: Weshalb sie alsdann dann niemals der Frau Rosengart von ihren so sehr wichtigen Wahrnehmungen Mitteilung gemacht haben, zumal doch naturgemäß sehr viel über den Mord gesprochen worden sei, antworteten beide Zeuginnen übereinstimmend: Sie hätten das nicht für wichtig genug gehalten.

Unter allgemeiner Spannung betrat darauf Kaufmann Hermann Adameit (Königsberg) als Zeuge den Sitzungssaal. Dieser, ein hübscher, großer Mann, mit blondem Vollbart und Brille, gab an: Ich bin 35 Jahre alt, evangelischer Konfession. Ich bin der leibliche Bruder der Angeklagten, werde aber Zeugnis ablegen. Am Spätabend des 19. März 1897 wurde ich benachrichtigt, daß mein Schwager, der Rittergutsbesitzer Rosengart in Zögershof, erschossen worden sei. Ich fuhr eiligst nach Zögershof und fand dort in dem Wohnzimmer, wo das Verbrechen passiert war, viele Leute versammelt. Von dem Täter war zunächst keine Spur vorhanden. Ich blieb vorläufig in Zögershof. Einige Tage nach dem Morde wurde Inspektor Rieß wegen Verdachts der Täterschaft verhaftet. Etwa acht Tage später fiel mir meine Schwester plötzlich um den Hals, begann zu weinen und sagte:

„Lieber Bruder, du bist der einzige, dem ich mich anvertrauen kann. Ich will dir gestehen, mein Mann hat mich in der letzten Zeit furchtbar geschlagen und beschimpft, so daß ich es nicht mehr aushalten konnte. te. Rieß hat ihn erschossen. Das Gewehr, mit dem er geschossen hat, ist im Speicher versteckt gewesen.“

Ich fragte, wo ist das Gewehr? Meine Schwester wußte mir nicht darauf zu antworten, meinte aber, daß das Gewehr nicht in der Wohnung des Rieß in Ernsthof sein werde. Ich untersuchte zunächst den Speicher, konnte aber nichts finden. Ich ging alsdann mit meiner Schwester nach Ernsthof. Dort fanden wir in der Rießschen Wohnung ein Gewehr, aber keine Kugeln. Meine Schwester nahm das Gewehr und verbarg es unter ihre Kleider.

Vors.: Hat Ihnen Ihre Schwester gesagt, ob und inwieweit sie an dem Mord beteiligt war, ganz besonders ob sie den Mord mit Rieß vorher verabredet hatte?

Zeuge: Ich hatte gleich von Anfang an den Eindruck, daß meine Schwester den Rieß angestiftet hat. Als wir von Ernsthof nach Zögershof zurückgingen, hat sie mir auch gestanden, den Rieß angestiftet zu haben.

Vors.: Weshalb haben Sie nicht damals sofort Anzeige erstattet?

Zeuge: Ich unterließ die Anzeige, weil mir meine Schwester leid tat und ich mir sagte: Es würde ihr unter Umständen den Kopf kosten.

Vors.: Nun, was geschah weiter, erzählen Sie einmal ganz ausführlich.

Zeuge: Meine Schwester erzählte mir, daß das Gewehr von Otto Anhuth in Königsberg auf dem Steindamm von Rieß für 47,75 Mark gekauft worden sei. Als wir in Zögershof ankamen, sagte ich zu meiner Schwester: Wir müssen zunächst das Gewehr vernichten. Wir brachten das Gewehr in ein im ersten Stock belegenes Zimmer und ließen einen Schraubenzieher holen, um den Kolben abzuschrauben. Wer nach dem Schraubenzieher geschickt wurde, weiß ich nicht mehr. Wir steckten den abgeschraubten Kolben schließlich ins Feuer, um ihn abzuschmelzen. Da aber die Schmelzung nicht gelang, holte meine Schwester einen Eimer Wasser, um die Glut damit zu löschen. Inzwischen war der Baumeister Worgall nach Zögershof gekommen. Des Nachmittags ließen wir den Schulwagen anspannen und fuhren mit Worgall nach Königsberg.

Vors.: In dem Wagen nahmen Sie, Ihre Schwester und Baumeister Worgall Platz?

Zeuge: Jawohl.

Vors.: Was wollten Sie in Königsberg unternehmen?

Zeuge: Wir hatten verabredet, das Gewehr in den Pregel zu werfen. Meine Schwester knöpfte sich das Gewehr unter die Kleider; um es festzuhalten, band sie es an eine Schnur und nahm sich diese um den Hals. Als wir vor meinem Hause in Königsberg angelangt langt waren, stieg der Baumeister aus. Ich begab mich mit meiner Schwester in meine Wohnung und ging, als es finster war, mit dem Gewehr am den Pregel; dort warf ich das Gewehr hinein.

Vors.: Haben Sie sich die Stelle gemerkt, an der Sie das Gewehr hineingeworfen hatten?

Zeuge: Gewiß, es wurde allerdings später nachgesucht, das Gewehr wurde aber nicht gefunden.

Vors.: Und was veranlaßte Sie schließlich, Anzeige zu machen?

Zeuge: Meine Schwester wurde trotzdem verhaftet. Kaum war sie aber wieder entlassen, da begannen die Klatschereien. Es wurde allgemein gesagt, meine Schwester sei doch die Anstifterin; sie habe mit Rieß ein Liebesverhältnis unterhalten. Meine Schwester sagte oftmals: So könne es mit ihrer Wirtschaft nicht weitergehen, sie müsse wieder heiraten.

Verteidiger R.-A. Dr. Lichtenstein: Mit der Wirtschaft, die angeblich zurückging, waren Sie gemeint?

Zeuge: Jawohl. Meine Schwester, die fast jeden Mann küßte, der zu ihr nach Zögershof kam, unterhielt nach ihrer Entlassung ein ganz intimes Verhältnis mit dem Referendar Wolff.

Vors.: Wann begann dies Verhältnis?

Zeuge: Wolff ging schon zu Lebzeiten meines Schwagers Rosengart in Zögershof aus und ein. Ob und welcher Verkehr damals schon zwischen meiner Schwester und Wolff stattgefunden hat, weiß ich nicht. Weihnachten 1897 hat meine Schwester dem Wolff eine goldene Uhr und Kette geschenkt. Gleich darauf haben beide wie Mann und Frau zusammen gelebt, so daß das Personal und ihre eigenen Kinder daran Ärgernis nahmen und sich darüber aufhielten. Ich machte meiner Schwester Vorstellungen, sie erwiderte aber: sie könne von Wolff nicht mehr lassen, sie werde sich im Gegenteil mit ihm verloben.

Vors.: Wie alt waren die Kinder, die sich über den Verkehr Ihrer Schwester mit dem Referendar Wolff aufhielten?

Zeuge: Der älteste Sohn ist 18, der zweite 15 Jahre alt.

Vors.: Wann verlobte sich Ihre Schwester mit Wolff?

Zeuge: Im Mai 1898.

Vors.: Sie waren bemüht, die Verlobung rückgängig zu machen?

Zeuge: Allerdings.

Vors.: Welches Interesse hatten Sie, die Verlobung rückgängig zu machen?

Zeuge: Ich war der Vormund ihrer Kinder und befürchtete für diese einen großen Vermögensnachteil. Ich wußte, daß Wolff von der Wirtschaft nichts verstand und daß, wenn er Besitzer des Gutes würde, die Wirtschaft zurückgehen müßte. Ich wollte mir auch von Wolff, der sich anmaßte, mir zu kommandieren, nichts sagen lassen.

Verteidiger R.-A. Dr. Lichtenstein: Da Ihre Schwester erklärte, daß sie die Verlobung nicht rückgängig machen werde, drohten Sie ihr, Anzeige zu machen?

Zeuge: Jawohl.

Vert.: Sie haben Ihrer Schwester mehrere Drohbriefe geschrieben?

Zeuge: Jawohl.

Auf Antrag des Verteidigers wurden diese Briefe verlesen.

Vors.: Ehe Sie nach Zögershof kamen, besaßen Sie hier in Königsberg ein Kolonialwarengeschäft?

Zeuge: Jawohl.

Vors.: Im November 1896 haben Sie das Geschäft verkauft?

Zeuge: Jawohl.

Vors.: Weshalb taten Sie das?

Zeuge: Einmal sagte mir mein Schwager Rosengart, er würde es sehr gern sehen, wenn ich bei ihm in Stellung träte, und andererseits war ich in der Lage, das Geschäft unter sehr günstigen Bedingungen zu verkaufen.

Vors.: Sie traten aber nicht sofort bei Rosengart in Stellung, sondern fuhren zuerst nach Amerika?

Zeuge: Jawohl, ich wollte zunächst in Amerika meinen dort lebenden Bruder besuchen.

Vors.: Waren Ihre Geschwister mit dieser Reise einverstanden?

Zeuge: Jawohl, meine Schwester Johanna (die Angeklagte) gab mir sogar 1000 M. zur Reise.

Vors.: Wie lange blieben Sie in Amerika?

Zeuge: Ich fuhr Anfang Dezember 1896 ab und kam Anfang März 1897, kurz vor dem Morde, zurück. Referendar Wolff hatte auch meine Mündel, die jungen Rosengarts, geschlagen. Die Kinder beklagten sich bei mir und sagten: Sie wollten sich von einem fremden Manne nicht schlagen lassen. Ich habe deshalb Wolff zur Rede gestellt. Andererseits befürchtete ich auch, meine Schwester könnte, wenn sie sich mit Wolff verheiratete, es ähnlich wie mit Rosengart machen, da sie zu Lebzeiten Rosengarts, als sie noch in Pillau wohnten, vielfach mit Männern sträflichen Verkehr unterhalten hat. Sie hatte z.B. mit dem Wallmeister Thießen in Pillau und dem Inspektor Grell in Zögershof Liebesverhältnisse unterhalten. Meine Schwester erklärte auf wiederholte Vorhaltungen: sie könne schon deshalb die Verlobung nicht mehr rückgängig machen, da sie den Referendar veranlaßt habe, aus dem Staatsdienst auszuscheiden. Plötzlich hörte ich, meine Schwester sei mit Wolff nach Helgoland abgereist. Da ich vermutete, daß sich das Paar dort trauen lassen wolle, fuhr ich sofort nach Allenstein, um mit Napiesky, dem Schwager des ermordeten Rosengart, und dessen Frau zu beraten, was zu tun sei.

Vors.: Und was war das Ergebnis der Beratung?

Zeuge: Ich telegraphierte sofort an die zuständige Staatsanwaltschaft, das Polizeiamt und das Pfarramt nach Helgoland, da es mir zunächst darauf ankam, die Verheiratung in Helgoland zu hintertreiben.

Verteidiger R.-A. Dr. Lichtenstein: Sie haben also nach Helgoland telegraphiert, unter Umgehung der zuständigen Staatsanwaltschaft?

Zeuge: Allerdings, ich hielt Eile für geboten.

Auf Antrag der Verteidiger wurden die Telegramme und die Strafanzeige des Zeugen an die Königsberger Staatsanwaltschaft verlesen. Es gelangte im weiteren ein Telegramm zur Verlesung, das Frau Napiesky, die Schwester des ermordeten Rosengart, an die Angeklagte nach Helgoland gerichtet hatte. Dies lautete: „Dein Bruder hat der Staatsanwaltschaft Anzeige erstattet. Rate Dir, damit Du nicht über Dich und Deine Familie ewige Schande bringst und auf dem Schafott oder im Zuchthaus enden mußt, Dich verrückt zu stellen, damit Du vorläufig in ein Irrenhaus kommst.“ Unterzeichnet war das Telegramm mit „Napiesky“. Die Angeklagte gab zu, ein solches Telegramm in Helgoland erhalten zu haben.

Verteidiger R.-A. Dr. Lichtenstein: Am 15. August 1898 erhielten Sie von Ihrer Schwester, der Angeklagten, ein Schreiben, in dem sie Ihnen mitteilte, daß Sie entlassen seien und sie die Löschung der Ihnen erteilten Prokura bei dem Amtsgericht bereits beantragt habe?

Zeuge: Jawohl.

Auf Antrag des Verteidigers wurde dieser Brief verlesen. Alsdann fragte der Verteidiger R.-A. Dr. Lichtenstein den Zeugen: Wann er nach Allenstein gefahren sei?

Zeuge: Am 19. August.

Vert.: Und wann depeschierten Sie nach Helgoland?

Zeuge: Am 21. August. Meine Schwester hat mir erzählt, sie habe den Mordplan mit Rieß im Keller besprochen. Nachdem meine Schwester in Helgoland verhaftet war, klopfte es eines Abends zwischen 10 und 11 Uhr an meinem Fenster. Auf meine Frage, wer da sei, antwortete eine Stimme: Wolff. Meine Frau und mein Dienstmädchen warnten mich, zu öffnen, da man nicht wissen könne, was der Mann im Schilde führe; es sei doch schließlich nicht ausgeschlossen, daß der Mann mich erschießen könnte. Ich fragte deshalb, ob denn die Sache so eilig sei, es könnte doch bis zum folgenden Morgen Zeit haben. Der Mann sagte mir aber, er müsse mich sofort sprechen. Ich öffnete und fragte den Referendar Wolff nach seinem Begehr. Wolff entschuldigte sich, daß er in so später Stunde mich störe. Er erzählte mir alsdann, meine Schwester sei in Helgoland von zwei Polizisten verhaftet worden. Er habe dem Transporteur 10 Mark gegeben, dieser habe ihm infolgedessen gestattet, mit meiner Schwester auf dem Schiff gemeinsam bis Altona zu fahren. Er sei meiner Schwester bis Dirschau entgegengefahren, sie sei aber mit dem Zuge, mit dem er sie erwartet habe, nicht gekommen. Wolff bat mich nun, doch sofort der Staatsanwaltschaft mitzuteilen, daß ich in Übereilung gehandelt habe und meine Anzeige unwahr sei. Wenn ich das unverzüglich mache, dann lasse sich die ganze Sache noch rückgängig machen. Wolff sprach im weiteren von einer Hypothek von 30000 Mark, die auf meinen Namen eingetragen werden könnte. Ich solle am folgenden Tage mit ihm zu Herrn Rechtsanwalt Lichtenstein gehen und dort zu Protokoll erklären, daß meine Anzeige unwahr sei, dann würde meine Schwester sofort entlassen werden. Ich antwortete: Ich will nichts haben, ich werde aber tun, was ich kann; ich brauche ja nicht zum Rechtsanwalt Lichtenstein zu gehen, ich kann auch einen anderen Rechtsanwalt um Rat fragen.

Vors.: Waren Sie nun willens, Ihre Angaben für unwahr zu erklären?

Zeuge: Nein. Johanna hat mir gestanden, daß Rieß ihren Mann erschossen hat.

Verteidiger R.-A. Dr. Lichtenstein: Wann fuhren Sie mit Ihrer Schwester und dem Baumeister Worgall von Zögershof nach Königsberg?

Zeuge: Den Tag kann ich nicht genau angeben.

Vert.: Ich werde den Nachweis erbringen, daß Worgall nur ein einziges Mal, und zwar am 7. April 1897 in Zögershof war und daß an diesem Tage die Osterferien des Königsberger Gymnasiums anfingen. Herr Adameit, Sie sagten, Sie haben sich die Stelle genau gemerkt, an der Sie das Gewehr in den Pregel geworfen haben?

Zeuge: Jawohl.

Vors.: Weshalb haben Sie sich die Stelle so genau gemerkt?

Zeuge: Weil ich mir sofort sagte, die Stelle könnte für eine etwaige Wiederauffindung von Bedeutung sein.

Vert.: An welcher Stelle haben Sie das Gewehr in den Pregel geworfen?

Zeuge: Wenn man vom Schloß kommt, am zweiten Floß links.

Vert.: Haben Sie das auch dem Taucher gesagt?

Zeuge: Jawohl.

Vert.: Der Taucher hat aber nichts gefunden?

Zeuge: Nein.

Auf Befragen des Verteidigers Justizrat Dr. Sello bekundete das Dienstmädchen Krohn: Sie habe an dem Tage, an dem Frau Rosengart den Eimer Wasser holte, die Asche aus dem Ofen gezogen, habe aber nichts Auffälliges in der Asche entdeckt.

Vors.: Nun, Frau Rosengart, was sagen Sie zu der Aussage Ihres Bruders?

Angekl.: Das ist alles nicht wahr. Mein Bruder hat mich allerdings gefragt, ob mir bekannt sei, daß Rieß meinen Mann erschossen habe. Ich antwortete: Der Inspektor Steinhagen hat mir erzählt, daß Rieß der Täter sei und das Gewehr, mit dem er meinen Mann erschossen hat, bei Anhuth gekauft habe. Mein Bruder wollte deshalb nach Ernsthof gehen, um das Gewehr in der Rießschen Wohnung zu suchen. Ich erklärte ihm, daß ich ihn begleiten wolle. Ich ging mit meinem Bruder nach Ernsthof, dort durchsuchte mein Bruder die Rießsche Wohnung, er fand aber nichts.

Adameit: Das erstemal habe ich das Gewehr gefunden, ich bin am anderen Tage noch einmal nach Ernsthof gegangen und suchte dort nach Kugeln, eine solche habe ich allerdings nicht gefunden.

Verteidiger R.-A. Dr. Lichtenstein. Sie sollen in den letzten zwei Jahren, als Sie Ihr Geschäft hatten, mit Verlust gearbeitet, und zwar sollen Sie ein Minus von 6484 Mark gehabt haben?

Zeuge: Das ist richtig.

Vert.: Ist es richtig, daß Sie geäußert haben, Sie gehen auf keinen Fall fort von Zögershof?

Zeuge: Das habe ich nicht gesagt, ich habe aber bemerkt, ich glaubte, stets in Zögershof bleiben zu können. nen.

Inspektor Steinhagen verneinte auf Befragen des Vorsitzenden, daß er der Angeklagten erzählt habe: Rieß soll den Rosengart erschossen und das Gewehr für 50 bis 60 Mark bei Anhuth gekauft haben.

Auf Befragen des Verteidigers R.-A. Dr. Lichtenstein gab der Zeuge die Möglichkeit zu, daß der Vorgang ihm nicht mehr erinnerlich sei.

Hierauf wurde Frau Auguste Budnick (Pillau) als Zeugin in den Saal gerufen. Diese gab an: Ich bin die leibliche Schwester der Angeklagten, ich will aber Zeugnis ablegen. Eines Tages kam ich mit meinem Bruder und meiner Schwester in der Zentralhalle hierselbst zusammen. Meine Schwester kam mit dem Referendar Wolff in die Zentralhalle. Ich sagte meiner Schwester, daß ich ihr etwas Wichtiges zu sagen habe, ich könne ihr das aber nicht in Gegenwart eines Fremden sagen. Meine Schwester versetzte: Was du mir zu sagen hast, kann auch mein Bräutigam hören. Ich sagte nun zu meiner Schwester: Es ist mir bekannt, daß Rieß deinen Mann erschossen hat und du ihn angestiftet hast.

Meine Schwester war sehr entrüstet darüber und sagte: Ich solle nicht derartige Redensarten aufbringen. Ich sagte zu meiner Schwester, sie habe doch meinem Bruder Hermann ein Geständnis gemacht. Meine Schwester bestritt dies. Am folgenden Tage ließ mein Bruder Hermann den Referendar Wolff zu sich ins Kontor bitten. Mein Bruder sagte in meiner Gegenwart zu Wolff: Es ist Ihnen doch bekannt, daß meine Schwester den Rieß angestiftet hat, ihren Mann zu erschießen? Wolff sagte: Das weiß ich.

Und trotzdem wollen Sie meine Schwester heiraten? fragte mein Bruder. Jawohl, ich werde sie heiraten, sagte Wolff. August Rosengart kam zu mir nach Pillau und sagte mir, er wolle Anzeige erstatten, sobald die Mutter den Wolff heirate, ich habe aber davon abgeraten. Nachdem meine Schwester verhaftet war, bat mich Wolff, wenn ich vor Gericht als Zeugin erscheine, dann solle ich mein Zeugnis verweigern, da, wie mir bekannt sei, auch mein Bruder Hermann verdächtigt werde. Ich sagte sofort zu Wolff: Ein Verdacht gegen meinen Bruder Hermann ist vollständig unbegründet, dieser kann das schon seiner großen Kurzsichtigkeit halber nicht getan haben; ich werde jedenfalls vor Gericht die volle Wahrheit sagen.

Vors.: Was veranlaßte Sie, gegen Ihre Schwester auszusagen?

Zeugin: Einmal, weil meine Schwester den Wolff heiraten wollte, ganz besonders aber, weil mein Bruder im Verdacht der Täterschaft stand.

Verteidiger Justizrat Dr. Sello: Haben Sie einmal gesagt, wenn Ihre Schwester Ihnen 6000 Mark gebe, dann werden Sie Ihr Zeugnis verweigern?

Zeugin: Nie.

Verteidiger R.-A. Dr. Lichtenstein: Sie haben in Pillau ein Restaurant?

Zeugin: Jawohl.

Vert.: Wie steht es mit Ihren Vermögensverhältnissen?

Zeugin: Diese sind nicht gerade ungünstig.

Referendar a.D. Wolff: Ich bin mit der Familie Rosengart seit 1891 bekannt. Ich habe vielfach, ganz besonders, als ich hier in Königsberg studierte, die Familie in Zögershof besucht und fand stets sehr freundliche Aufnahme. Nach beendetem Studium ging ich nach Bartenstein. Im Jahre 1897 trat ich hier als Referendar bei der Staatsanwaltschaft ein. Von dieser Zeit verkehrte ich wieder häufiger in Zögershof. Einige Zeit nach dem Tode des Rosengart sagte mir einmal Frau Rosengart, sie werde entweder einen Teil ihrer Besitzungen verkaufen oder heiraten müssen. Ich riet ihr zu letzterem. Frau Rosengart sagte darauf: Ich habe in meiner ersten Ehe so trübe Erfahrungen gemacht, daß ich mich nur entschließen würde, einen Mann zu heiraten, zu dem ich das volle Vertrauen habe. Einige Zeit darauf fragte mich Frau Rosengart, ob ich sie heiraten wollte, sie hätte gerade zu mir volles Vertrauen. Ich zögerte zunächst, da ich mit Leib und Seele Jurist war und meine Karriere nicht gern aufgeben wollte. Ich gab jedoch schließlich den Bitten der Frau Rosengart nach und verlobte mich mit ihr im Mai 1898. Erst im Juni 1898 reichte ich meine Entlassung ein, ich empfand noch nach meiner Verlobung Lust, das Assessorexamen zu machen. Meine Braut wurde nun von ihren Geschwistern derartig bestürmt, die Verlobung mit mir rückgängig zu machen, daß wir beschlossen, nach Helgoland zu fahren und uns dort trauen zu lassen.

Vors.: Adameit soll Ihnen einmal in Gegenwart der Frau Budnick gesagt haben: Sie wissen doch, daß meine Schwester den Rieß angestiftet hat, ihren Mann zu erschießen. Darauf sollen Sie geantwortet haben: Das ist mir bekannt. Adameit soll darauf bemerkt haben: Und dennoch wollen Sie meine Schwester heiraten? Sie sollen darauf versetzt haben: Gewiß werde ich sie heiraten.

Zeuge: Das gerade Gegenteil ist wahr. Adameit hat allerdings diese Frage an mich gestellt; ich habe ihm aber sofort geantwortet: Wie kommen Sie dazu, meine Braut eines solchen Verbrechens zu beschuldigen. Machen Sie meinetwegen Anzeige, Ihre plumpen Erpressungen werden sehr wenig Glauben finden.

Vors.: Was für plumpe Erpressungen waren das?

Zeuge: Adameit ließ durchblicken, daß er Besitzer des Gutes werden wollte. Deshalb wollte er die Heirat hintertreiben, weil er befürchtete, er könnte dadurch seiner Stellung verlustig gehen. Ich habe dabei dem Adameit gleich nach unserer Verlobung gesagt, ich bin entfernt, ihn existenzlos machen zu wollen, er könne auch nach unserer Verheiratung bei uns bleiben. Ich bestreite auch, daß meine Braut dem Adameit ein Geständnis gemacht hat, denn als ich von der Unterredung mit Adameit meiner Braut Kenntnis gab, sagte diese sofort: Das hätte ich meinem Bruder nicht zugetraut, ich habe doch wahrhaftig genug an diesem Menschen getan.

Vors.: Hat denn Adameit direkt etwas verlangt, wenn er von einer Anzeige Abstand nehme?

Zeuge: Direkt nicht, aber indirekt. Er verlangte ganz besonders, meine Braut solle die Verlobung mit mir rückgängig machen, damit er nach Belieben auf dem Gut schalten und walten könne.

Der Vorsitzende forderte die Zeugin Budnick auf, dem Referendar Wolff ihre Bekundungen ins Gesicht zu sagen. Nachdem dies geschehen, sagte Wolff: Den Vorgang in der Zentralhalle gebe ich als richtig zu, den Vorgang im Kontor dagegen bestreite ich ganz entschieden. Nicht ich, sondern ein Verwandter der Frau Rosengart hat dem Transporteur 10 Mark gegeben, damit der Transport nicht so auffällig werde. Ich habe den Adameit ersucht, dies niemandem zu erzählen, damit der Transporteur nicht „reinfalle“. Im übrigen habe ich in keiner Weise den Versuch gemacht, einen Zeugen zu beeinflussen. Der Frau Budnick habe ich im Gegenteil gesagt, sie solle ihr Zeugnis nicht verweigern, obwohl sie gesetzlich dazu berechtigt sei. Eines Abends sind die jungen Rosengarts in das Speisezimmer eingebrochen und haben dort Rotwein und Kognak entwendet und sich furchtbar betrunken. In diesem Zustande verlangten sie in sehr ungestümer Weise, ich solle ihnen ein Fuhrwerk zur Verfügung stellen, sie wollen nach Königsberg fahren. Da ich diesem Verlangen unmöglich nachkommen konnte, so drohten die beiden jungen Leute, mich zu erschießen. Ich fuhr deshalb nach Königsberg, um Herrn Adameit, der Vormund der Kinder war, zu bitten, für die Entfernung der Jungen aus Zögershof Sorge zu tragen. Adameit versprach mir dies auch und bemerkte dabei: Es hätte nicht soweit zu kommen brauchen, wenn seine Schwester anders zu ihm gewesen wäre. Ich sagte: Darüber wollen wir uns nicht unterhalten; wenn Sie aber an Ihrem Zeugnis etwas zu ändern haben, dann wenden Sie sich an Herrn Rechtsanwalt Dr. Lichtenstein oder an Herrn Superintendenten Lackner.

Vors.: Was veranlaßte Sie, dem Adameit einen solchen Rat zu geben?

Zeuge: Ich hatte die Empfindung, als wenn den Adameit sein Gewissen bedrücke.

Auf ferneres Befragen bemerkte der Zeuge: Adameit habe einmal für 2000 Mark Pfandbriefe verpfändet, aber nur den Erlös gebucht; er schulde seiner Schwester heute noch 11000 Mark.

Auf Befragen des Ersten Staatsanwalts bestritt der Zeuge, mit der Angeklagten intimen Verkehr unterhalten zu haben, er gab jedoch schließlich zu, in Danzig in einem Hotelzimmer mit seiner Braut logiert zu haben. Es sei das ganz wider seinen Willen geschehen.

Alsdann wurde die 12jährige Tochter der Angeklagten, Olga Rosengart, ein für ihr Alter großes, schlankes, hübsches Mädchen, als Zeugin in den Saal gerufen.

Vors.: Die Angeklagte ist deine Mutter, du hast deshalb das Recht, dein Zeugnis zu verweigern.

Zeugin: Ich will Zeugnis ablegen.

Der Gerichtshof beschloß, während der Vernehmung der kleinen Olga die Angeklagte aus dem Saal zu führen. Nachdem dies geschehen, erzählte das Mädchen in sehr freimütiger Weise und in gewähltem Deutsch: Am Abend, an dem Papa erschossen wurde, kam ich mit meinen Brüdern August und Max gegen 7 1/2 Uhr nach Hause. Im Wohnzimmer waren Papa, Mama und der Inspektor Rieß. Papa forderte den Inspektor auf, mit uns Abendbrot zu essen. Der Inspektor lehnte aber ab mit dem Bemerken, er fühle sich unwohl, er habe es in den Gliedern und wolle sich deshalb zeitig zu Bett begeben. Rieß ging gegen 8 Uhr abends nach Hause. Wir aßen bald darauf Abendbrot. Nach dem Abendbrot zog sich Papa ins Wohnzimmer zurück, um die Zeitung zu lesen. Mama und ich gingen noch auf einige Augenblicke zu Papa. Sehr bald entfernten wir uns, damit Papa ruhig die Zeitung lesen könne. Mama sagte mir, ich solle schlafen gehen, da ich doch am folgenden Tage um 6 Uhr früh aufstehen müsse. Wir sagten Papa gute Nacht. Mama ging noch einmal zu Papa ins Zimmer, um sich den Migränestift zu holen, da sie heftige Kopfschmerzen hatte. Kaum war Mama zu mir zurückgekehrt, da hörten wir einen Schuß fallen. Wir eilten ins Wohnzimmer. Dort sah ich etwas Pulverdampf. Papa lag erschossen zwischen Sofa und Tisch. Mama schickte mich mit der Mathilde nach Ernsthof, um den Inspektor Rieß zu holen. Wir pochten dort ans Fenster. Nach mehrmaligem Pochen öffnete Rieß und fragte, was los sei. Ich sagte: Papa ist erschossen. Wann ist das geschehen? fragte Rieß. Soeben, sagte ich. Ist er sofort ganz tot gewesen? fragte Rieß. Ich glaube, antwortete ich. Rieß kleidete sich an und kam nach kurzer Zeit mit uns nach Zögershof. Als wir ankamen, war der Arzt und Onkel Adameit schon im Wohnzimmer. Nach einiger Zeit begab ich mich mit Mama und Rieß in mein Zimmer. Ich legte mich mit Mama ins Bett, Rieß legte sich auf die Chaiselongue.

Vors.: Hatte sich Mama ausgezogen?

Zeugin: Nur zum Teil hatte sich Mama ausgekleidet. det.

Vors.: Hatte sich Rieß ausgekleidet?

Zeugin: Nein. Rieß hatte sich nur den Rock ausgezogen.

Verteidiger R.-A. Dr. Lichtenstein: Ich beantrage, aus den Akten festzustellen, daß die Zeugin früher gesagt hat, Rieß hatte sich vollständig ausgezogen.

Die Zeugin bemerkte auf Befragen, daß sie sich bei ihrer ersten Vernehmung vielleicht geirrt habe, sie wisse aber jetzt genau, daß Rieß nicht ausgezogen war.

Die Zeugin bekundete ferner: Nachdem sie mit Mama eine Zeitlang im Bett gelegen, habe wohl Mama geglaubt, daß sie schlafe, denn Mama sei aufgestanden, zu Rieß hinübergegangen und habe mit diesem gezischelt. Mama habe dabei den Kopf auf die Schulter des Rieß gelegt. Nach einigen Minuten sei Mama wieder zu ihr ins Bett gekommen.

Vors.: Du hast auch gesagt, daß Rieß mit Mama häufig im Keller war?

Zeugin: Jawohl, ich mußte während dieser Zeit Wache stehen, und als ich einmal nicht wollte, gab mir Mama eine Ohrfeige.

Vors.: Wie lange blieb Mama mit Rieß gewöhnlich im Keller?

Zeugin: Etwa fünf Minuten, einmal wohl auch eine Viertelstunde.

Verteidiger R.-A. Dr. Lichtenstein: Hat Ihnen Onkel Adameit gesagt, was Sie aussagen sollen?

Zeugin: Nein.

Vert.: Hat Onkel Adameit mit Ihnen über den Mord Ihres Papas nicht gesprochen?

Zeugin: Jawohl, gesprochen ist sehr viel worden, Onkel Adameit hat aber gesagt, was du bekunden sollst, kann ich dir nicht sagen.

Vert.: Sie sollen einmal gesagt haben, Onkel Adameit hat Ihnen nicht gesagt, was Sie aussagen sollen, aber er hat es Ihnen deutlich um den Mund geschmiert, daß Sie genau wissen, was Sie aussagen sollen.

Zeugin: Das ist richtig.

Vert.: Sind Sie nicht von Ihrem Bruder Karl bedroht worden, wenn Sie nicht gegen Ihre Mutter aussagen?

Zeugin: Mein Bruder Karl hat einmal zu mir gesagt: Wenn du nicht gegen Mama aussagst, dann schlage ich dich tot. (Große Bewegung.)

Verteidiger Justizrat Dr. Sello: Fräulein Rosengart, Sie haben, als Sie das erstemal vernommen wurden, Ihr Zeugnis verweigert. Nach Verlauf eines Jahres haben Sie jedoch erklärt, Sie wollen Zeugnis gegen Ihre Mutter ablegen. Wie kam es, daß nach Verlauf eines Jahres eine derartige Sinnesänderung mit Ihnen vorging?

Zeugin: Es wurde von den Verwandten soviel geredet.

Vert.: Was wurde geredet?

Zeugin: Daß Mama mit Rieß ein Liebesverhältnis unterhalten hat.

Vert.: Sie waren damals zehn Jahre alt, da erzählten Ihnen Ihre Verwandten: Mama habe mit dem Inspektor Rieß ein Liebesverhältnis unterhalten?

Zeugin: Jawohl.

Vert.: Wer waren diese Verwandten?

Zeugin: Onkel Adameit, Onkel Kapinsky, Tante Budnick, Tante Hoffmann und Tante Kapinsky.

Ein Geschworener: War der Zeugin bekannt, weshalb ihre Mutter angeklagt ist?

Zeugin: Jawohl. Mama wird beschuldigt, den Rieß angestiftet zu haben, Papa zu erschießen.

Vors.: Wenn nun Mama schuldig befunden wird, welche Strafe würde sie alsdann wohl treffen?

Zeugin: Das weiß ich nicht.

Vors.: Würde Mama alsdann ins Gefängnis kommen?

Zeugin: Das glaube ich wohl.

Vors.: Könnte Mama auch mit dem Tode bestraft werden?

Zeugin: Das weiß ich nicht.

Vors.: Du hast früher gesagt, Mama habe am Abend des Mordes einige Male die Vorhänge zurückgemacht gemacht und in den Hof hinausgesehen.

Zeugin: Das ist richtig.

Vors.: Was sagte Papa dazu?

Zeugin: Papa fragte: Was siehst du denn immer zum Fenster hinaus? Da antwortete Mama: Ich will sehen, wie der Kutscher ausspannt.

Vors.: Hat Mama mehrfach zum Fenster hinausgesehen?

Zeugin: Ja, einige Male.

Verteidiger Justizrat Dr. Sello: Hat Mama auch an anderen Abenden zum Fenster hinausgesehen?

Zeugin: Jawohl.

Vert.: Haben Sie auch bisweilen den Vorhang des Abends zurückgeschoben und zum Fenster hinausgesehen?

Zeugin: Jawohl.

Vert. R.-A. Dr. Lichtenstein: Ihr Onkel Adameit soll zu Ihnen gesagt haben: Sie werden nächstens ein kleines Schwesterchen bekommen. Wenn Sie Mama im Gefängnis besuchen, dann sollen Sie einmal sehen, ob Schwesterchen bald kommen werde.

Zeugin: Das stimmt. (Große Bewegung im Zuhörerraum.)

Verteidiger Justizrat Dr. Sello: Als Sie nun zu Mama ins Gefängnis kamen, wie hat Sie Mama empfangen?

Zeugin: Mama fiel mir um den Hals, weinte und küßte mich.

Vert.: Mama hat Sie also wie eine zärtliche Mutter empfangen?

Zeugin: Jawohl.

Vert.: Ihr Vormund Zarm hat Sie einmal aufgefordert, zu dem Onkel Kapinsky nach Allenstein zu fahren; war Ihnen bekannt, daß Onkel Kapinsky gegen Ihre Mutter Anzeige erstattet hat?

Zeugin: Nein.

Ein Geschworener: Die Zeugin hat anfänglich ihr Zeugnis verweigert; weshalb hat sie das getan? Wenn nach ihrer Meinung die Mutter unschuldig ist, dann hatte sie doch keine Ursache, ihr Zeugnis zu verweigern?

Zeugin: Ich wollte einmal nicht gegen meine Mutter als Zeugin auftreten, und andererseits war ich noch niemals vor Gericht.

Verteidiger Justizrat Dr. Sello: Von Ihren Verwandten sind Sie aber doch schließlich bestimmt worden, gegen Ihre Mutter Zeugnis abzulegen?

Zeugin: Jawohl.

Erster Staatsanwalt: Hat Herr Wolff Ihnen gesagt, was Sie aussagen sollen?

Zeugin: Herr Wolff hat nur gesagt: ich solle mein Zeugnis nicht verweigern, da sonst geglaubt werden könnte, daß ich etwas gegen die Mutter wisse.

Es wurde hierauf die Angeklagte wieder auf die Anklagebank geführt. Der Vorsitzende teilte der Angeklagten mit, was ihre Tochter ausgesagt hat. Die Angeklagte bestritt den Vorgang im Zimmer der Olga und bemerkte: sie sei nicht bloß mit Rieß, sondern auch mit anderen Personen einige Male in den Keller gegangen, um etwas zu besprechen.

Olga Rosengart, von dem Verteidiger R.-A. Dr. Lichtenstein nochmals befragt, erklärte schließlich, sie habe nur ein einziges Mal gesehen, daß ihre Mutter mit Rieß in den Keller ging.

Es wurde hierauf der 13jährige August Rosengart als Zeuge aufgerufen. Dieser erklärte auf Befragen des Vorsitzenden, daß er sein Zeugnis verweigere.

Danach erschien als Zeuge der älteste Sohn der Angeklagten, Karl Rosengart. Dieser bemerkte auf Befragen des Vorsitzenden: Er sei 19 Jahre alt und wolle Zeugnis ablegen. Er sei, als sein Vater ermordet wurde, in der Klinik gewesen. Sein Bruder August habe ihn einmal in der Klinik besucht und ihm gesagt: Onkel Adameit sagt: Der Inspektor Rieß habe Papa erschossen, und Mama habe ihn dazu angestiftet. Es sei von den Verwandten vielfach in dieser Weise gesprochen worden. Es sei richtig, daß ihm seine Schwester einmal gesagt hat: Onkel Adameit hat mir wohl nicht gesagt, was ich aussagen soll, er hat es mir aber so um den Mund geschmiert, daß ich genau weiß, was ich aussagen soll. Es sei unwahr, daß er zu seiner Schwester gesagt habe: Wenn du nicht gegen die Mama aussagst, dann schlage ich dich tot. Er habe nur gesagt: Ich gebe dir ein paar zwischen die Ohren, wenn du vor Gericht nicht alles sagst, was du weißt. Onkel Adameit habe ihm gesagt, er solle nur immer Schlechtes gegen die Mama verbreiten. Damals war Mama bereits zum zweiten Male verhaftet. Es sei von den Verwandten vielfach erzählt worden, daß Mama mit Inspektor Rieß ein Liebesverhältnis gehabt habe und daß Mama deshalb den Papa aus dem Wege habe räumen wollen. Onkel Adameit habe ihn einige Male geschlagen, weil er zuviel getrunken hatte. Einmal habe Adameit zu ihm gesagt: Du bist schön dumm, daß du nicht einen Blauen aus der Kasse genommen hast, dann hätte doch wenigstens Wolff auch einmal ein Manko in der Kasse gehabt. Onkel Adameit habe ihn einmal aufgefordert, eine Schlechtigkeit zu begehen und ihn ein anderes Mal unzüchtig berührt.

Die Verteidiger regten an, bei diesen schlüpfrigen Auseinandersetzungen die Öffentlichkeit auszuschließen. Der Vorsitzende erwiderte jedoch: Wenn das Publikum diese Dinge vertragen könne, dann könne er nichts dagegen tun.

Auf Antrag des Ersten Staatsanwalts wurde die kleine Olga aus dem Saale geführt.

Verteidiger R.-A. Dr. Lichtenstein: Ist es richtig, daß Tante Budnick einmal gesagt hat, wenn sie 6000 Mark bekäme, dann würde sie ihr Zeugnis verweigern oder zugunsten der Mama aussagen?

Zeuge: Das hat Onkel Budnick gesagt, er fügte noch hinzu: wenn wir 6000 Mark erhielten, dann würde ich schon dafür sorgen, daß meine Frau ihr Zeugnis verweigert oder ihre Beschuldigungen widerruft. Tante Budnick sagte darauf: Ich kann meinen Bruder doch nicht jetzt im Stich lassen, wenn ich jetzt meine Beschuldigungen widerrufe, dann fällt ja mein Bruder rein.

Verteidiger Justizrat Dr. Sello: Ist es wahr, daß Ihr Onkel gesagt hat: Es schadet nichts, wenn Mama nicht mehr rauskommt, ich werde alsdann das Gut bewirtschaften, und wenn ihr großjährig seid, dann werde ich mich mit euch schon auseinandersetzen?

Zeuge: Jawohl, das hat Onkel Adameit gesagt. (Große Bewegung im Zuhörerraum.)

Erster Staatsanwalt: Haben Sie mit jemandem über Ihre heutigen Aussagen gesprochen, denn es ist doch sonderbar, daß die Herren Verteidiger alles wissen?

Zeuge: Ich habe allerdings mit dem Bruder des Herrn Referendar Wolff gesprochen.

Adameit erklärte auf Befragen des Vorsitzenden: Alles, was der Zeuge hier gesagt hat, ist nicht wahr. (Heiterkeit im Zuhörerraum.) Der Vorsitzende ermahnte das Publikum zur Ruhe.

Der Vorsitzende stellte nunmehr an die Verteidiger die Frage, ob sie ihren Antrag auf örtliche Augenscheinnahme noch aufrechterhielten.

Die Verteidiger erklärten, daß sie darauf verzichteten.

Einige Geschworene bemerkten jedoch, daß ihnen eine nähere Beschreibung der Örtlichkeit erwünscht wäre. Daraufhin nahmen die Verteidiger ihren Antrag wieder auf.

Der Gerichtshof beschloß: am Montag, vormittags 10 Uhr, in Zögershof eine örtliche Augenscheinnahme vorzunehmen und dazu eine Anzahl Zeugen vorzuladen.

Der Lokaltermin in Zögershof.

Helles, klares Winterwetter herrschte in Königsberg. Hin und wieder fielen starke Schneeflocken hernieder. Schon in früher Morgenstunde bewegte sich eine große Anzahl Droschken und gemietete Wagen die Tragheimer Chaussee entlang nach Zögershof zu. Ehe man nach Zögershof kommt, muß man Ernsthof passieren, das bekanntlich ebenfalls zu dem Rosengartschen Besitztum gehörte. Dort lag das Wohnhaus des verstorbenen Inspektors Rieß. Kaum fünf Minuten davon befand sich das Gut Zögershof. Idyllisch lag das schöne Rosengartsche Wohnhaus auf dem großen, augenblicklich von einer starken Schneedecke eingehüllten Gutshof.

Die Rosengartschen Kinder, Dienstmädchen, Instleute und auch eine Anzahl anderer Neugieriger hatten sich eingefunden, als die Wagen angerollt kamen. In erster Reihe erschienen die Vertreter der Presse. Kurze Zeit darauf kam Gendarm Pfau auf den Gutshof geritten. Alsdann trafen die Geschworenen, der Erste Staatsanwalt, die Verteidiger, die geladenen Zeugen ein. Endlich rollte eine elegante Equipage, mit zwei schönen Rappen bespannt, daher. Ein uniformierter Gefängnisaufseher mit Seitengewehr entstieg der Equipage. Im Fond des geschlossenen Wagens bemerkte man zwei Frauengestalten, es waren dies die Angeklagte und eine Gefängnisaufseherin. Frau Rosengart trug einen langen schwarzen, sehr eleganten Plüschmantel. Ein moderner hellgrauer Hut mit schwarzen, breiten Bändern bedeckte den Kopf. Sie sah wohl sehr blaß aus, man konnte sich aber nur schwer vorstellen, eine Frau vor sich zu sehen, die der Anstiftung zum Morde angeklagt ist. Viel eher gewann man den Eindruck, als komme die „gnädige Frau“ von einer Vergnügungspartie aus Königsberg zurück. Mit geradezu bewunderungswerter Ruhe sah sich die Angeklagte in ihrem Gutshof um, als sie aus dem Wagen stieg. Sofort näherte sich ihr ihr ältester Sohn Karl, ein hochaufgeschossener, schlanker, hübscher junger Mann, das getreue Ebenbild seiner Mutter. Der arme Mensch, der bereits lange Zeit in der Königsberger Klinik zugebracht hatte, konnte sich nur mühsam, hinkend, auf einen Stock sich stützend, fortbewegen. Herzlich begrüßte er seine Mutter. Gleich darauf kam auch die kleine, recht schick gekleidete Olga auf die Mutter zugeeilt. Herzlich, ja zärtlich war auch diese Begegnung zwischen Mutter und Tochter. Zwei kleinere Knaben winkten der Mutter durch die Scheiben eines zu ebener Erde belegenen Zimmers freundlich zu. Die Dienstmädchen, Instleute, Kutscher eilten herbei und reichten ihrer Herrin in herzlicher Weise die Hand. Nur der dreizehnjährige August, ein stämmiger, für sein Alter sehr großer Mensch, der sein Zeugnis verweigert hatte, blieb in einiger Entfernung stehen. Er beachtete die Mutter nicht. Hin und wieder sprach er mit seinem Onkel Adameit. Gleich nachdem die Journalisten eingetroffen waren, wurden diese von dem Referendar a.D. Wolff, der augenblicklich der Verwalter des Gutes zu sein schien, in freundlichster Weise empfangen. Referendar Wolff zeigte den Journalisten bereitwilligst das aufs eleganteste eingerichtete Wohnzimmer, in dem der unglückliche Rosengart den tödlichen Schuß empfangen hatte. Herr Wolff teilte mit, daß das Zimmer seit jenem verhängnisvollen Abend gänzlich unverändert geblieben sei.

Gegen 10 Uhr vormittags erschien der Gerichtshof. Es wurde zunächst das Rosengartsche Wohnzimmer, in dem der Mord passiert war, betreten. Der Vorsitzende forderte die Angeklagte auf, genau zu zeigen, in welcher Weise ihr Gatte an jenem Abende auf dem Sofa gesessen hat, als er den tödlichen Schuß erhielt. Der Vorsitzende forderte die Journalisten auf, das Zimmer zu verlassen, „da in diesem nicht genügend Raum sei“. Nachdem die Journalisten das Zimmer verlassen hatten, ward dies verschlossen, so daß von der Verhandlung nichts zu hören war.

Nach beendetem Termin im Wohnzimmer kam der Gerichtshof auf den Hof. Der Vorsitzende ließ die Frauen Busch und Ziegran die Stelle bezeichnen, an der sie kurz vor dem Fallen des Schusses einen Mann hatten stehen sehen. Die Frauen bekundeten auf Befragen des Vorsitzenden, sie haben nicht gemerkt, daß der Mann etwas in der Hand hatte. Sie haben auch den Mann nicht schießen sehen. Sie haben sich auf dem Gutshof aufgehalten, um Gelegenheit zu finden, die „gnädige Frau“ zu sprechen und diese um Kartoffeln, Brot und Speck zu bitten. Als sie den Schuß hörten, seien sie fortgelaufen, da sie glaubten, der Schuß gelte ihnen.

Gendarm Pfau hatte im Wohnzimmer die Stelle bezeichnet, an der er drei Tage nach dem Morde das tödliche Geschoß gefunden hatte. Er bekundete auf Befragen: Der Mörder müsse kaum 10 Schritt vom Fenster gestanden haben, als er den tödlichen Schuß abgab.

Es wurden alsdann die anderen Räumlichkeiten in der Rosengartschen Wohnung, die Gehöfte, das Weizenfeld usw. in Augenschein genommen, über das der Mörder nach geschehener Tat geflüchtet sein soll. Hierauf wurde im oberen Zimmer der Kolben eines Gewehrs verbrannt und darauf der kleine Schulwagen angespannt, in dem die Rosengartschen Kinder nach Königsberg in die Schule fuhren. In diesem sollen, laut Bekundung des Adameit, dieser, Baumeister Worgall und die Angeklagte kurze Zeit nach dem Morde nach Königsberg gefahren sein. Die Angeklagte soll dabei den Gewehrlauf unter ihren Mantel geknüpft haben, so daß man ihn nicht bemerken konnte. Der Angeklagten wurde aufgegeben, einen Gewehrlauf unter ihren Mantel zu knöpfen und sich mit Adameit und Worgall in den Schulwagen zu setzen. Alsdann wurde die Angeklagte aufgefordert, mit dem Gewehrlauf unter den Mantel geknöpft die Treppen ihres Wohnhauses hinaufzugehen. Über das Ergebnis dieser Versuche ließ sich nicht berichten, da die Berichterstatter in solcher Entfernung gehalten wurden, daß sie davon nichts sehen konnten. Alsdann begab sich der Gerichtshof nach Ernsthof in die Wohnung des Rieß. Dort wurde das Schlafzimmer des Rieß besichtigt und eine Wiederholung des Pochens an die Fensterläden gemacht. Darauf wurde der gegenüberliegende gende Speicher besichtigt, in dem Rieß das Mordgewehr angeblich versteckt haben soll. Auch hiervon konnten die Berichterstatter nichts sehen.

Nachmittags wurde die Verhandlung im Schwurgerichtssaale fortgesetzt.

Der Erste Staatsanwalt teilte mit, daß eine Reihe von anonymen Schreiben an ihn gekommen seien. Ein Schreiben war unterschrieben: „Ein Geschworener“. Der Briefschreiber erklärte den Gerichtshof für verrückt. (Heiterkeit.) Die Geschworenen erklärten einmütig, daß der Briefschreiber selbstverständlich nicht in ihren Reihen zu suchen sei.

In einem anderen Briefe bezeichnete eine Frau ihren Mann als den Täter. Dieser habe Rosengart erschossen, weil er sie mit Rosengart in flagranti ertappt habe. Auf Antrag der Verteidigung wurde dieser ellenlange, ganz konfus und ungrammatikalisch geschriebene Brief verlesen. In diesem hieß es u.a.: Geehrter Herr Staatsanwalt! Die Mordgeschichte ist ganz falsch. Frau Rosengart und der arme Inspektor Rieß haben es nicht getan. Ich habe den erschossenen Rosengart sehr geliebt und der Frau Rosengart viel Ärger bereitet. Mein Mann hat uns acht Tage vor dem Tode betroffen und deshalb sofort den Vorsatz gefaßt, Herrn Rosengart zu erschießen. Mein Mann ist drei Wochen darauf in ein fremdes Land gegangen und hat sich dort das Leben genommen. Auch ich bin aus Königsberg nigsberg fortgezogen. Ich bin ein sehr hübsches Mädchen von seltener Schönheit. (Heiterkeit im Zuhörerraum.) Ich bin extra von Oderberg nach Königsberg gekommen, um Ihnen, Herr Staatsanwalt, zu schreiben, daß Frau Rosengart vollständig unschuldig ist. Mein Mann war klein, dick und hatte einen schwarzen Schnurrbart. Ich kann nicht persönlich in den Gerichtssaal kommen, da ich alsdann auch verhaftet werden würde. Meinem Mann können Sie nichts mehr tun, da dieser sich das Leben genommen hat. Ich habe jedenfalls Herrn Rosengart sehr geliebt!

Verteidiger Justizrat Dr. Sello: Ich bitte den Herrn Vorsitzenden, die anonyme Briefschreiberin aufzufordern, sich zu melden, wenn sie etwa im Saale sei.

Der Vorsitzende entsprach dieser Bitte und bemerkte: Es wäre nur anständig, wenn die anonyme Briefschreiberin sich melden wollte. Mit anonymen Schreiben läßt sich weder die Schuld noch die Unschuld der Angeklagten feststellen.

Der Erste Staatsanwalt teilte hierauf mit, daß ein Rittergutsbesitzer Wilhelm Bahr sich als Zeuge gemeldet habe, der bekunden wolle, daß im Jahre 1896 auf dem Rosengartschen Gute zwei große Hofhunde getötet worden seien, weil sie auf der Jagd gewildert hatten. Er (Erster Staatsanwalt) habe diesen Herrn als Zeugen geladen.

Verteidiger R.-A. Dr. Lichtenstein: Die Verteidigung gung hat einen ganz ähnlichen Brief von Herrn Wilhelm Bahr erhalten.

Verteidiger Justizrat Dr. Sello teilte mit, daß sich der Rittergutsbesitzer Schönlein (Popelten bei Goldbach) als Leumundszeuge gemeldet habe; er werde den Zeugen sofort telegraphisch laden.

Es wurde beschlossen: den Rittergutsbesitzer Knoblauch (Königsberg i.Pr.), Rittergutsbesitzer Wendt (Hohenrade) und eine Frau Krauß als Zeugen zu laden.

Der Erste Staatsanwalt teilte mit, daß ihm eine Anzahl Patronen von demselben Kaliber wie das tödliche Geschoß übersandt worden seien, die angeblich am Pregel an der Krämerbrücke gefunden worden seien. Auf Antrag des Ersten Staatsanwalt wurden die Patronen den Geschwerenen gezeigt.

Es wurden hierauf nochmals Frau Busch und Frau Ziegran vernommen, die ihre heute vormittag in Zögershof gemachten Bekundungen bestätigten.

Ein Geschworener: Frau Ziegran, haben Sie über Ihre Wahrnehmungen, ehe Sie vom Gericht als Zeugin vernommen wurden, mit Frau Busch gesprochen?

Zeugin: Nein.

Geschworener: Also, ehe Sie als Zeugin vorgeladen wurden, haben Sie mit Frau Busch niemals darüber gesprochen, daß Sie am Abend des Mordes, kurz vor dem Schuß, einen verdächtigen Mann auf dem Gutshof, in der Nähe des Rosengartschen Wohnzimmers, gesehen haben?

Zeugin: Nein.

Kaufmann Adameit bestätigte die von ihm heute vormittag in Zögershof gemachten Bekundungen. In dem Rießschen Speicher sei damals, als er mit der Angeklagten das Gewehr holte, mehr Hafer gewesen.

Dienstmädchen Krohn teilte mit, daß sie, soweit sie sich erinnere, das Zimmer der kleinen Olga auch im März 1897 regelmäßig geheizt habe.

Förster Jensch begutachtete als Sachverständiger: Er gebe die Möglichkeit zu, daß in einer Entfernung von zehn Schritt vom Fenster mit einem gezogenen Gewehr ein Schuß, der die erzielte Wirkung hatte, abgegeben sein könne.

Büchsenmacher Rodewald schloß sich diesem Gutachten an. Er habe allerdings begutachtet, daß die Abschmelzung des Gewehrkolbens 1 bis 1 1/2 Stunden Zeit in Anspruch nehme. Heute sei die Abschmelzung innerhalb acht Minuten bewirkt worden; es müsse aber dabei berücksichtigt werden, daß heute das Feuer, ein ganz außergewöhnliches, starkes gewesen sei.

Handlungsgehilfe Rinnowsky von der Firma Anhuth: Er erinnere sich nicht, daß ihm eine Photographie des Rieß vorgezeigt worden sei. Er habe wohl kurz vor dem Morde eine Flinte von dem Kaliber verkauft, kauft, mit dem der tödliche Schuß abgegeben sein müsse, er könne aber den Käufer nicht beschreiben.

Auf Antrag des Ersten Staatsanwalts wurden diesem Zeugen die Zeugen Wolff und Adameit vorgestellt. Rinnowsky bemerkte, daß diese Herren die Flinte nicht von ihm gekauft haben.

Der Vorsitzende nahm hierauf dem Zeugen Rinnowsky den Sachverständigeneid ab, da dieser erklärt hatte, daß er 25 Jahre im Fache und selbst Schütze sei.

Rinnowsky begutachtete nun ebenfalls: Er halte es für möglich, daß in einer Entfernung von zehn Schritt mit einem gezogenen Gewehr ein Schuß mit der geschehenen Wirkung abgegeben werden könne. Voraussetzung hierbei sei allerdings, daß der Schütze gesehen haben müsse.

Auf Befragen des Verteidigers Justizrats Dr. Sello bekundete das Dienstmädchen Krohn, daß, soweit sie sich erinnere, in allen den nach dem Hofe führenden Zimmern Licht gebrannt habe.

Verteidiger Justizrat Dr. Sello beantragte, einen Kalender von 1897 zu beschaffen, um feststellen zu können, welches Wetter am Abend des Mordes in Zögershof war.

Kanzlist Friedrich: Die Stiefel des Rieß haben genau in die entdeckten Spuren auf dem Weizenfelde gepaßt.

Ein Geschworener: Hat Rieß nur ein Paar Stiefel gehabt?

Kanzlist Friedrich: Nein, er hatte zwei Paar.

Frau Rieß, die Gattin des verstorbenen Inspektors Rieß, bekundete auf Befragen des Vorsitzenden: Sie könne nicht sagen, ob die ihr vorgezeigten Stiefel die ihres verstorbenen Mannes seien. Als sie nach Ernsthof zogen, habe ihr Mann im unteren, sie im oberen Zimmer geschlafen, da ihr Mann sehr früh aufstehen mußte und niemand im Hause war, der ihn wecken konnte. Sie habe gehört, daß ihr Mann mit Frau Rosengart ein Liebesverhältnis unterhalten habe, aus eigener Wissenschaft vermöge sie aber nichts darüber zu bekunden. Sie habe mehrfach ihren Mann in Zögershof gesucht und habe ihn ausgescholten, wenn er bis in die späte Nacht mit Herrn Rosengart kneipte. Sie könne nicht genau sagen, wann ihr Mann am Abend des Mordes nach Hause gekommen sei, da sie keine Uhr im Hause hatte; soweit sie sich erinnere, sei ihr Mann zur gewöhnlichen Zeit nach Hause gekommen. Ihr Mann sagte, als er nach Hause kam: sie solle ihm ein Abendbrot kochen, er werde inzwischen noch einen Augenblick hinausgehen. Sie habe ihrem Manne Milch und Eier gekocht. Dieser sei auch nach wenigen Minuten zurückgekommen, habe Abendbrot gegessen und sich darauf sofort schlafen gelegt, da er am andern Morgen sehr früh aufstehen mußte. Sie (Zeugin) habe in der Küche abgewaschen und sei alsdann auch schlafen gegangen. Von dem Pochen ans Fenster habe sie nicht das geringste gehört.

Auf Befragen des Verteidigers Justizrats Dr. Sello bemerkte die Zeugin: Ihr Mann sei zur Zeit kränklich gewesen, er habe über Brustschmerzen geklagt und habe auch vielfach gehustet. Sie habe an jenem Abend nichts Auffälliges an ihrem Manne bemerkt. Ihr Mann habe auch in der letzten Zeit kein anderes Verhalten ihr gegenüber gezeigt. Ihr eheliches Verhältnis hatte keine Veränderung erfahren, ihr Mann sei sich immer gleich geblieben.

Ein Geschworener: Wann wurden im März 1897 des Abends die Kühe in Ernsthof gemolken?

Zeugin: Das weiß ich nicht.

Zwei andere Zeugen bekundeten, daß dies gewöhnlich nach Feierabend geschehen sei und etwa 1 bis 1 1/2 Stunden gedauert habe. Gegen 8 Uhr abends sei das Melken längst vorüber gewesen.

Verteidiger Justizrat Dr. Sello: Halten Sie Ihren Mann für schuldig, Herrn Rosengart erschossen zu haben?

Zeugin: Keineswegs. Mein Mann war ein so gutmütiger Mensch, daß ich der festen Überzeugung bin, er hat den Mord nicht begangen.

Verteidiger R.-A. Dr. Lichtenstein: Ist es wahr, daß Sie im Juli 1897 zu einem Arzt in Caymen gesagt haben: Sie können die Schande, die durch die gegen Ihren Mann erhobene Beschuldigung über Sie und Ihre Kinder gekommen ist, nicht länger ertragen und wollen sich und Ihren Kindern das Leben nehmen?

Zeugin: Jawohl, das habe ich zu dem Herrn Doktor gesagt.

Frau Minna May: Sie habe zehn Jahre bei Adameit als Dienstmädchen gedient. Eines Abends im August 1898 habe es ans Fenster geklopft. Herr Adameit habe erst nach längerem Zögern ihr befohlen, zu öffnen. Als sie aufgeschlossen hatte, habe Referendar Wolff vor der Tür gestanden und Herrn Adameit zu sprechen gewünscht. Letzterer habe Herrn Wolff ersucht, ins Sprechzimmer zu treten. Herr Wolff habe nun Herrn Adameit erzählt: Er sei der Frau Rosengart bis Dirschau entgegengefahren, diese sei aber nicht mit dem Zuge, mit dem er sie erwartet habe, gekommen. Herr Wolff habe weiter gesagt: Es sei noch Zeit, alles rückgängig zu machen. Wenn Herr Adameit sein Zeugnis verweigern oder zurückziehen würde, dann dürfte Frau Rosengart sofort entlassen werden. Herr Adameit solle doch am folgenden Morgen zu Herrn R.-A. Lichtenstein gehen; er (Wolff) werde auch dafür sorgen, daß eine Grundschuld von 30000 Mark für Herrn Adameit gelöscht werde. Herr Adameit habe erwidert: Es ist ja nicht notwendig, daß ich gerade zu Herrn R.-A. Lichtenstein gehe, ich kann ja auch zu einem anderen Rechtsanwalt gehen. Es wäre aber das beste, wenn Sie zu Herrn R.-A. Lichtenstein gehen, habe Wolff versetzt, ich möchte doch, daß Johanna so schnell als möglich herauskommt. Die Eggert habe ihr einmal gesagt: Wenn sie die Wahrheit gesagt hätte, dann würde Frau Rosengart überhaupt nicht mehr herauskommen, die armen Kinder taten ihr aber leid. Frau Rosengart habe zu den Dienstmädchen gesagt: Kinder, macht mich nicht unglücklich und sagt nicht, daß ich mit Rieß allein gewesen bin.

Dienstmädchen Eggert: Das letztere ist richtig; Frau Rosengart hat gesagt: Kinder, macht mich nicht unglücklich und sagt nicht, daß ich mit Rieß allein gewesen bin, es gibt soviel falsche Menschen, die mich ins Unglück stürzen wollen.

Vors.: Haben Sie zu der May gesagt: Wenn Sie alles gesagt hätten, dann würde Frau Rosengart überhaupt nicht mehr herauskommen, die Kinderchen tun mir aber leid.

Zeugin: Nein.

Auf Befragen des Verteidigers R.-A. Dr. Lichtenstein bemerkte die Zeugin Eggert: Sie habe nur ein einziges Mal gesehen, daß Frau Rosengart mit Rieß in die Speisekammer ging. Frau Rosengart habe zuschließen wollen, dies sei ihr aber nicht gelungen. Frau Rosengart sei auch mit Wiemann allein im Speisezimmer gewesen.

Auf Befragen eines Geschworenen bemerkte die Zeugin May: Adameit habe sie aufgefordert zu lauschen, als Wolff zu ihnen gekommen sei.

Zeugin Rathke bekundete ebenfalls: Die Eggert habe zu ihr gesagt: Wenn sie alles gesagt hätte, was sie wisse, dann würde Frau Rosengart überhaupt nicht mehr herauskommen, sie habe nicht alles gesagt, weil ihr die armen Kinder leid tun.

Die Eggert bestritt auch dieser Zeugin gegenüber, die erwähnte Äußerung getan zu haben.

Inspektor Zarm: Adameit habe nach dem Tode des Rosengart und während der Verhaftung der Frau Rosengart die Rosengartschen Kinder sehr schlecht behandelt. Er habe sie zum Teil zerrissen und ohne Strümpfe gehen lassen, während seine eigenen Kinder sehr fein gekleidet gingen.

Auf Antrag der Verteidigung wurde Dr. med. Czygan als Zeuge vernommen. Im Juli 1897 sei Frau Rieß zu ihm gekommen und habe ihn gebeten, ihr Gift zu verschreiben, da sie sich und ihre Kinder vergiften wolle. Frau Rieß habe dabei gesagt, sie mache sich Vorwürfe, daß sie ihren Mann des strafbaren Umganges mit Frau Rosengart bezichtigt habe; sie sei von der Unschuld ihres Mannes überzeugt.

Kriminalkommissar Wohlfromm, der unter Ausschluß der Öffentlichkeit vernommen wurde, bekundete: Er habe in der Rosengartschen Wohnung unsittliche liche Gegenstände schlimmster Art gefunden.

Frau Rosengart: Ihr Bruder Adameit habe diese unsittlichen Gegenstände ihrem Manne gebracht und damit „Unsinn“ getrieben.

Adameit: Diese unsittlichen Gegenstände habe er einmal von einem „Herrenabend“ mit nach Hause gebracht, die Angeklagte habe sie mitgenommen.

Die Angeklagte erklärte das als Lüge.

Die Frage des Verteidigers Justizrats Dr. Sello, ob es wahr sei, daß er wegen strafbaren Eigennutzes bestraft worden sei und deshalb die im Jahre 1882 innegehabte Schankkonzession verloren habe, weil der Verdacht bestand, er werde das Schankgewerbe zur Völlerei, Unzucht oder verbotenem Spiel mißbrauchen, verneinte Adameit: Er habe nur einige Polizeistrafen erlitten, und es sei deshalb das Verfahren wegen Entziehung der Schankkonzession gegen ihn eingeleitet worden.

Verteidiger Justizrat Dr. Sello: Welches Ergebnis hat dies Verfahren gehabt?

Zeuge: Das weiß ich nicht mehr.

Vert.: Also das wissen Sie nicht mehr?

Zeuge: Nein.

Kriminalkommissar Wohlfromm bekundete im weiteren auf Befragen: Es sei ihm von verschiedenen Frauen, die er nicht mehr alle namhaft machen könne, mitgeteilt worden, daß Frau Rosengart mit Rieß ein Liebesverhältnis unterhalten habe; er (Zeuge) habe ferner festgestellt, daß Rieß ein vorzüglicher Schütze war, daß er mit Gewehren förmlich Handel getrieben habe. Diese und andere Umstände hatten schließlich zur Verhaftung des Rieß geführt. Adameit habe ihm genau die Stelle bezeichnet, an der er den Gewehrlauf in den Pregel habe „gleiten“ lassen. Die Stelle sei allerdings über zwölf Fuß tief, man hätte trotzdem annehmen müssen, daß der Lauf gefunden worden wäre. Ein Taucher der Feuerwehr habe mehrere Male danach gesucht, er habe aber nichts finden können.

Verteidiger Justizrat Dr. Sello: Adameit sagte Ihnen, er habe sich die Stelle, an der er den Gewehrlauf habe hinabgleiten lassen, ganz genau gemerkt. Hat er Ihnen einen Grund angegeben, weshalb er sich die Stelle so genau gemerkt hat?

Zeuge: Adameit sagte, er habe sich die Stelle deshalb genau gemerkt, da man nicht wissen könne, wozu es gut sei.

Alsdann wurde die Öffentlichkeit wiederhergestellt und Bahnhofsrestaurateur Kapinski (Allenstein) als Zeuge vernommen: Meine Frau war die Schwester des ermordeten Rosengart. Ich hatte, sobald ich von dem Morde erfuhr, sofort die Überzeugung, daß Rieß der Mörder sei.

Vors.: Welche Unterlagen hatten Sie für diese Ihre Überzeugung?

Zeuge: Rieß ist einmal zum Viehmarkt mit meinem Schwager Rosengart in Allenstein gewesen. Rieß machte auf mich den Eindruck, als würde er zu meinem Schwager sagen: Ich werde dich nächstens ermorden.

Vors.: Worauf gründete sich dieser Eindruck?

Zeuge: Rieß kümmerte sich so genau um die Vermögens- und Geldverhältnisse des Rosengart.

Vors.: Sind Sie der Meinung, daß, wenn sich ein Gutsinspektor um die Geld- und Vermögensverhältnisse des Gutsbesitzers bekümmert, er die Absicht hat, den Gutsbesitzer umzubringen?

Zeuge: Rieß war gar zu kurze Zeit da.

Vors.: Wußten Sie, daß Frau Rosengart mit Rieß ein Liebesverhältnis unterhalten habe?

Zeuge: Davon hatte ich gehört.

Verteidiger Justizrat Dr. Sello: Wußten Sie, daß Ihr Schwager ein Trinker war?

Zeuge: Nein.

Vors.: Sie haben bei der Staatsanwaltschaft Anzeige erstattet, hatten Sie irgendwelche Unterlagen dafür?

Zeuge: Als ich die Depesche erhielt, daß mein Schwager erschossen sei, und meine Frau weinte, da sagte ich sofort, das hat Rieß getan.

Vors.: Eine bestimmte Unterlage hatten Sie aber nicht dafür?

Zeuge: Nein.

Verteidiger R.-A. Dr. Lichtenstein: Von wem erhielten Sie die Depesche?

Zeuge: Von Frau Rosengart.

Vors.: Noch in derselben Nacht?

Zeuge: Nein, am folgenden Morgen.

Vors.: Nun erzählen Sie einmal weiter, was Sie hierauf taten?

Zeuge: Ich fuhr am 20. März nach Zögershof, und als ich mir das Fenster ansah, durch das geschossen worden ist, da sagte ich gleich, ich wüßte schon, wen ich verhaften lassen würde. Ich begab mich auch sofort nach Königsberg, sprach hier mit dem Staatsanwalt Dr. Wollenberg, und auf dessen Anraten machte ich eine schriftliche Anzeige.

Verteidiger R.-A. Dr. Lichtenstein: Weshalb haben Sie diese Anzeige anonym eingereicht?

Zeuge: Da ich mit dem Staatsanwalt gesprochen hatte, so hielt ich es nicht für nötig, die Anzeige zu unterschreiben.

Verteidiger R.-A. Dr. Lichtenstein: Was veranlaßte Sie, am 20. März nach Zögershof zu fahren?

Zeuge (zum Vorsitzenden): Muß ich dem Herrn Rechtsanwalt antworten? (Heiterkeit im Zuhörerraum.)

Vors.: Dann antworten Sie mir.

Zeuge: Wenn ich eine Depesche erhalte, mein Schwager sei erschossen, dann habe ich doch wohl Veranlassung, nach Zögershof zu fahren?

Verteidiger R.-A. Dr. Lichtenstein: Wie standen Sie mit Ihrem Schwager Rosengart?

Zeuge: Ganz gut.

Vert.: Sie sollen wegen des Testaments der Mutter des Rosengart mit diesem Auseinandersetzungen gehabt haben?

Zeuge: Das ist richtig, deshalb waren wir aber nicht verfeindet. Der Zeuge bekundete im weiteren auf Befragen des Vorsitzenden: Eines Tages kam Herr Adameit mit Karl Rosengart zu uns nach Allenstein. Adameit erzählte uns, seine Schwester Johanna wolle sich mit einem jungen Referendar verheiraten; dies müsse auf alle Fälle hintertrieben werden.

Vors.: Weshalb sollte diese Heirat hintertrieben werden?

Zeuge: Adameit sagte: Es kann zu nichts Gutem führen, wenn ein so junger Mann eine bedeutend ältere Frau mit fünf Kindern heiratet. Außerdem würden die Kinder arg benachteiligt werden. Adameit erzählte außerdem, seine Schwester sei ihm eines Tages um den Hals gefallen und habe zu ihm gesagt: Du bist der einzige, dem ich mich anvertrauen kann, ich habe bei Tag und Nacht keine Ruhe. Ich muß dir daher gestehen, daß ich den Rieß angestiftet habe, meinen Mann zu erschießen. Adameit sagte, ich hätte sofort Anzeige erstattet, wenn ich gewußt hätte, daß meine Schwester so schlecht ist.

Vors.: Inwiefern war die Schwester schlecht?

Zeuge: Sie hatte dem Adameit geschrieben, daß er entlassen und seine Prokura gelöscht sei. Meine Frau sagte: Mit meiner Schwägerin ist es doch nicht richtig; das beste wäre, man läßt sie für verrückt erklären. Ich sagte darauf zu meiner Frau: Das wird schlecht gehen. Aber man muß ihr telegraphieren, daß sie sich selbst für verrückt erklären lassen soll. Wenn sie einmal erst im Irrenhause ist, dann wird sich schon alles finden. Ich ging alsdann in mein Wohnzimmer und las in einer Zeitung eine Anfrage: Was eine Trauung in Helgoland koste usw. Ich sagte deshalb zu meiner Frau, die beiden sind zweifellos schon nach Helgoland abgereist. Diese meine Vermutung hatte sich auch bestätigt. Ich gab noch am selben Tage eine Depesche nach Königsberg an die Staatsanwaltschaft und eine Depesche nach Helgoland auf.

Infolge verschiedener Fragen der Verteidiger bemerkte der Erste Staatsanwalt: Die Anzeige des Zeugen hat die Staatsanwaltschaft nicht zur Verhaftung veranlaßt. Ich habe Herrn Gendarm Pfau bereits am 20. März 1897, also am Tage nach dem Morde, beauftragt, die Angeklagte und Rieß zu überwachen.

Gendarm Pfau bestätigte das.

Malermeister Henckel: Adameit habe ihm von dem Geständnis seiner Schwester Mitteilung gemacht und ihm einmal gesagt: In ein bis zwei Jahren werde ich die Wirtschaft übernehmen, vorläufig verwalte ich das Gut erst für die Erben.

Maurermeister Worgall: Ich stand mit Rosengart in Geschäftsverbindung. Am 7. April 1897 kam ich nach Zögershof. Ich fuhr am Nachmittag mit Adameit und Frau Rosengart im Schulwagen nach Königsberg, ich habe aber in keiner Weise bemerkt, daß Frau Rosengart etwas unter dem Mantel verborgen hatte.

Vors.: Haben Sie heute früh etwas gemerkt?

Zeuge: Gewiß, ich habe sehr deutlich gemerkt, daß heute Frau Rosengart einen steifen Gegenstand unter dem Mantel trug.

Verteidiger Justizrat Dr. Sello: Wenn Frau Rosengart damals denselben oder einen ähnlichen Gegenstand unter dem Mantel gehabt hätte, würden Sie es alsdann auch gemerkt haben?

Zeuge: Aber sofort hätte ich es bemerkt. Frau Rosengart kann einen Gewehrlauf damals nicht unter den Mantel geknöpft haben, denn sie sprang förmlich in den Wagen hinein.

Verteidiger Justizrat Dr. Sello: Sie sind unbestraft?

Zeuge: Jawohl.

Vert.: Und sind wie alt?

Zeuge: 36 Jahre.

Dachdeckermeister Schaumann: Er hatte in Zögershof die Dachdeckerarbeiten. Adameit habe zu ihm einmal gesagt, wenn ich erst Besitzer des Gutes bin, dann wird hier alles anders werden.

Adameit bestritt das.

Am fünften Verhandlungstage wurde nochmals Dachdeckermeister Schaumann vernommen. Er bekundete auf Befragen: Er wisse sich ganz genau zu erinnern, daß er am 7. April 1897 mit dem Malermeister Henckel zusammen in Zögershof gewesen sei.

Auf Antrag des Verteidigers Justizrats Dr. Sello wurde festgestellt, daß am 7. April 1897 die Schulferien der höheren Lehranstalten in Königsberg begannen.

Dachdeckermeister Schaumann: Er erinnere sich mit Bestimmtheit, daß an dem Tage, an dem er mit Henckel in Zögershof war, ein Sohn der Angeklagten eine sehr gute Zensur brachte. Henckel sagte zu dem kleinen Rosengart: Wenn dein Papa noch lebte, dann würde er sich sehr freuen; „der Papa sagte immer, aus dir wird niemals etwas werden.“ Henckel habe dem Knaben ein Geldstück geschenkt.

Auf Befragen des Verteidigers Justizrats Dr. Sello wurde nochmals Kaufmann Adameit vernommen. Er bekundete: Das Holen des Gewehres in Ernsthof, das Abschrauben des Kolbens, das Verbrennen, das Fahren nach Königsberg habe an ein und demselben Tage stattgefunden. Er sei aber der Meinung, daß an diesem Tage die Zeugen Henckel und Schaumann nicht in Zögershof waren.

Buchhalter Seemann: Er sei längere Zeit Buchhalter auf dem Rosengartschen Gute in Zögershof gewesen. Adameit, der nach dem Tode des Rosengart und insbesondere während der Verhaftung der Frau Rosengart das Gut verwaltete, habe 3000 Mark jährliches Gehalt bekommen. Die Kassenmankos seien aber unter der Herrschaft Adameits stets bedeutend größer gewesen als unter der Herrschaft Rosengarts. Adameit habe diese Mankos zu verdecken gesucht, indem er die fehlenden Gelder als verausgabte Wirtschaftsgelder buchte.

Erster Staatsanwalt: Wenn etwa aus den Bekundungen des Zeugen bewiesen werden soll, daß Adameit Unredlichkeiten begangen habe, dann muß ich beantragen, einen gerichtlichen Sachverständigen mit der Prüfung der gesamten Rosengartschen Bücher zu beauftragen.

Verteidiger R.-A. Dr. Lichtenstein: Wir wollen allerdings den Beweis führen, daß, angesichts des Umstandes, daß zu einer Zeit, wo Herr Rosengart tot, Frau Rosengart im Gefängnis war, bedeutend größere Kassenmankos vorhanden waren als früher, wo zwei Menschen mehr da waren. Ich bin aber der Meinung, daß der Zeuge, der viele Jahre bei Rosengart die Bücher cher geführt, Sachverständiger genug ist.

Auf Befragen des Vorsitzenden bemerkte Adameit: Er hatte in Zögershof auch Kost und Wohnung. Außerdem sei seine Schwester Hoffmann auf dem Gute gewesen, als die Angeklagte verhaftet war. Er habe im übrigen von der Wirtschaft, insbesondere von der Landwirtschaft, nichts verstanden.

Erster Staatsanwalt: Zeuge Seemann, wollen Sie behaupten, daß Adameit durch die Mankos, die er als verausgabte Wirtschaftsgelder buchte, Unredlichkeiten begangen hat?

Zeuge: Nein.

Erster Staatsanwalt: Dann habe ich in dieser Beziehung keine weiteren Anträge zu stellen.

Buchhalter Seemann bekundete im weiteren auf Befragen: Er habe von Frau Rosengart, und zwar noch zu Lebzeiten des Rosengart, gehört, daß letzterer mehrfach Drohbriefe erhalten habe.

Gutsbesitzer Schönlein: Rieß sei Anfang der achtziger Jahre ein Jahr lang bei ihm Inspektor gewesen. Er sei ein tüchtiger und zuverlässiger Beamter gewesen, dem er nichts Schlechtes zugetraut habe.

Verteidiger Justizrat Dr. Sello: Sie sollen, als Rieß verhaftet war, gesagt haben: „Wenn Rieß wieder herauskommt, dann würden Sie kein Bedenken tragen, ihn sofort wieder als Inspektor zu engagieren?“

Zeuge: Jawohl, das habe ich gesagt; ich hätte das auch getan, denn ich habe Rieß sehr ungern entlassen.

Gutsbesitzer Wendt: Er habe Rieß nicht näher gekannt, er könne aber bekunden, daß Rieß ein sehr gutmütiger Mensch war. Er habe auch einmal gehört, daß Rieß ein sehr guter Schütze war, aus eigener Wissenschaft könne er aber nichts darüber bekunden.

Landgerichtsrat Hempel: Als die Obduktion der Leiche des Rosengart stattfand, habe jemand gesagt: Niemand weiter als Rieß ist der Täter. Gleich darauf sei Rieß ins Zimmer getreten. Der Erste Staatsanwalt habe den Antrag gestellt, Rieß zu verhaften. Er, Zeuge, habe daher dem Kriminalkommissar Wohlfromm den Verhaftsbefehl ausgestellt und ihm aufgegeben, den Rieß ins Gefängnis nach Königsberg abzuführen.

Maurermeister Simon: Er habe einmal mit Adameit für die Firma A. Rosengart ein Grundstück für 120000 Mark gekauft, Frau Rosengart sei mit diesem Kauf einverstanden gewesen.

Angekl.: Ich bestreite, daß ich mit dem Kauf einverstanden war. Ich habe im Gegenteil den Zeugen und meinen Bruder zur Rede gestellt und gesagt: Ehe ein solches Geschäft abgeschlossen wird, muß ich doch gefragt werden.

Zeuge: Das ist nicht wahr.

Angekl.: Es ist doch wahr.

Vors.: Haben Sie durch diesen Kauf Schaden erlitten? ten?

Angekl.: Jawohl, durch die Gelderentnahme für dieses Grundstück.

Vors.: Wurden Ihnen diese Gelder verzinst?

Angekl.: Nein.

Adameit: Ich habe im Einverständnis mit meiner Schwester das Grundstück gekauft.

Angekl.: Das ist nicht wahr, du hast die Kaufgelder, ohne mich zu fragen, aus der Kasse genommen.

Verteidiger R.-A. Dr. Lichtenstein: Wer waren die Inhaber der Firma A. Rosengart?

Zeuge: Meine Schwester Johanna und deren Kinder.

Vert.: Sie waren als Vormund der Rosengartschen Kinder verpflichtet, das Vermögen der Kinder mündelsicher anzulegen. Hielten Sie die Verwendung der Gelder zum Ankauf eines Grundstücks für mündelsicher?

Zeuge: Ich glaubte, da meine Schwester mit dem Kauf einverstanden war, dazu berechtigt zu sein.

Verteidiger Justizrat Dr. Sello: Sie geben jedenfalls zu, die Hälfte der Mündelgelder ohne Genehmigung des Obervormundschaftsgerichts in einem Grundstück angelegt zu haben?

Zeuge: Ich glaubte, dazu berechtigt zu sein, da ich das Einverständnis meiner Schwester hatte.

Bauunternehmer Ranenführer: Adameit habe für das erwähnte Grundstück eine Hypothek von 60000 Mark und noch 6-7000 Mark bar angezahlt. Adameit habe sich für Abschluß des Geschäfts 2000 Mark Provision von ihm ausbedungen. Er habe dies auch zugestanden, wenn er einige tausend Mark bar erhalte. Adameit habe sich die 2000 M. Provision selbst abgezogen; er (Zeuge) habe sich dies gefallen lassen müssen, da er Geld gebraucht habe.

Referendar a.D. Wolff: Er könne den Nachweis führen, daß die Familie Rosengart durch den Adameitschen Grundstückskauf 12000 Mark Schaden gehabt habe.

Brunnenmacher Siemund: Frau Rosengart habe ihm erzählt, daß sie von dem Grundstückskauf nichts gewußt habe. Als Frau Rosengart das erstemal verhaftet war, habe Adameit darüber mit ihm gesprochen. Er habe zu Adameit gesagt: Glauben Sie denn, daß Frau Rosengart an dem Morde beteiligt ist? Adameit antwortete: Das weiß ich ganz genau. Er sagte darauf: das wird man Frau Rosengart wohl nicht beweisen können. Adameit versetzte: Ich werde die Sache schon machen. Als Frau Rosengart das zweitemal verhaftet war, begegnete er (Zeuge) dem Adameit und August Rosengart auf der Chaussee. Adameit fragte: Wissen Sie schon das Allerneueste? Dabei lachte sowohl Adameit als auch August Rosengart recht höhnisch.

Verteidiger Justizrat Dr. Sello: Was mag Adameit wohl unter dem „Allerneuesten“ verstanden haben?

Zeuge: Ich hatte den Eindruck, daß er die Wiederverhaftung der Frau Rosengart in Helgoland meinte.

Vert.: Damals war gerade Frau Rosengart in Helgoland verhaftet worden?

Zeuge: Jawohl.

Vert.: Und da haben Adameit und August Rosengart höhnisch gelacht?

Zeuge: Jawohl.

Kaufmann Wisniewsky: Der Kauf eines Grundstücks sei allerdings stets mit Gefahren verbunden. Ihm sei Frau Rosengart als eine durchaus anständige Frau bekannt.

Arbeiter Reiß: Im Jahre 1894 oder 1895 sei er auf dem Rosengartschen Gute beschäftigt gewesen. Herr Rosengart sei einmal vom Pferde gestürzt. Da habe Frau Rosengart gesagt: Schade, daß sich der Kerl nicht sofort das Genick abgestürzt hat. Ein anderes Mal sei Frau Rosengart zu ihm in den Stall gekommen und habe gesagt: Mein Mann ist vollständig verrückt. Wenn ihm jemand das Genick abschlagen wollte, dem würde ich wer weiß was geben. Er habe darauf versetzt: Wenn ich das tun würde, dann würden Sie mich sofort anzeigen. Keineswegs, habe Frau Rosengart gesagt, das sollte alsdann kein Mensch erfahren. Ihnen würde ich eine gute Belohnung geben, und Sie sollten außerdem gutes Brot bei mir haben; Sie könnten weiter bei uns Ziegel fahren.

Verteidiger Justizrat Dr. Sello: Haben Sie diesen Vorgang während der vier Jahre jemandem erzählt?

Zeuge: Nein.

Vert.: Wodurch mag dieser Vorgang zur Kenntnis der Behörde gekommen sein?

Zeuge: Ich war lange weg, dann habe ich es dem Gastwirt Wels vom „Kaisergarten“ erzählt.

Vert.: Was heißt das, Sie waren weg?

Zeuge: Ich bin bestraft worden.

Vert.: Weshalb wurden Sie bestraft?

Zeuge: Wegen Körperverletzung.

Vert.: Zu welcher Strafe wurden Sie verurteilt?

Zeuge: Zu 18 Monaten.

Vert.: Gefängnis oder Zuchthaus?

Zeuge: Zuchthaus. (Bewegung im Zuhörerraum.)

Vert.: Dann sind Sie also wegen Körperverletzung mit tödlichem Ausgange bestraft worden?

Zeuge: Jawohl.

Vert.: Sind Sie außerdem schon einmal bestraft?

Zeuge: Jawohl; nur noch zweimal.

Vert.: Weshalb?

Zeuge: Auch wegen Körperverletzung.

Vert.: Und welche Strafen haben Sie erlitten?

Zeuge: Das weiß ich nicht mehr.

Vert.: Der Zeuge scheint für seine Vorstrafen ein schlechtes Gedächtnis zu haben, ich lege im übrigen kein weiteres Gewicht darauf. Ich will bloß noch fragen: Weshalb sind Sie von Zögershof fortgekommen?

Zeuge: Weil ich mit einem anderen Arbeiter nicht zusammen Ziegel fahren wollte.

Vert.: Sind Sie nicht entlassen worden, weil Sie Leute zum Haferdiebstahl verleitet haben?

Zeuge: Nein.

Verteidiger R.-A. Dr. Lichtenstein: Sind Sie nicht vom Gendarmen Pfau gewaltsam aus Zögershof hinausgeworfen worden?

Zeuge: Nein.

Vert.: Dann ersuche ich, der Angeklagten Gelegenheit zu geben, sich hierüber zu äußern.

Angekl.: Alles, was der Zeuge hier gesagt hat, ist freche Lüge. Mein Mann ist allerdings einmal mit dem Pferde gestürzt. Er war infolgedessen sehr aufgeregt, ich habe deshalb alles aufgeboten, um meinen Mann zu beruhigen. Die von dem Zeugen bekundete Äußerung ist Lüge.

Vors.: Und wie verhält es sich mit dem Gespräch im Stall?

Angekl.: Ich habe mit dem Zeugen niemals im Stall gesprochen. Ich habe aber meinen Mann einmal darauf aufmerksam gemacht, daß der Zeuge Leute verleitet habe, uns Hafer zu stehlen, und daß er eine Decke gestohlen hat. Mein Mann hat ihn deshalb entlassen. Der Zeuge drohte aus diesem Anlaß meinem Mann, ihn zu erschießen. Auf mich kam er mit der Axt los und wollte mich damit totschlagen. Einen Mann hatte er derartig mit der Forke geschlagen, daß dieser nach etwa acht Tagen im Krankenhause starb. Der Mann wurde deshalb zu eineinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt. Ich bin in dieser Verhandlung gegen ihn als Zeugin aufgetreten.

Da der Zeuge auf Befragen erklärte, daß er sich nicht darauf erinnere, beantragte der Verteidiger R.-A. Dr. Lichtenstein, die Strafakten des Zeugen vorzulegen. Der Gerichtshof entsprach diesem Antrage.

Nach einer kurzen Pause verlas der Vorsitzende aus den Akten, daß der Zeuge wegen vorsätzlicher Körperverletzung mit tödlichem Ausgange und Bedrohung mit eineinhalb Jahren und vierzig Tagen Zuchthaus und zwei Jahren Ehrverlust bestraft sei. Mit ihm wurde sein Bruder und Bruderssohn bestraft. Die Angeklagte ist in diesem Prozeß als Belastungszeugin aufgetreten. Verteidiger Justizrat Dr. Sello stellte noch aus den Akten fest, daß der Zeuge auch einigemal wegen Körperverletzung mit Gefängnis bestraft war.

Verteidiger R.-A. Dr. Lichtenstein: Als Sie verurteilt wurden, sollen Sie gesagt haben: Wenn ich wieder rauskomme, dann werde ich es der Frau Rosengart schon besorgen?

Zeuge: Darauf erinnere ich mich nicht.

Verteidiger Justizrat Dr. Sello stellte fest, daß der Zeuge noch heute nicht im Besitze der bürgerlichen Ehrenrechte sei.

Dr. phil. Frost bekundete hierauf, daß es am Abend des 19. März 1897 regnerisch und dunkel war.

Gespannknecht Grab: Frau Rosengart sei mehrfach bemüht gewesen, ihren Mann vor Mißhandlungen seiner Arbeiter zu schützen. Rosengart habe einmal, als er betrunken war, auf seine Arbeiter geschossen. Die Arbeiter seien deshalb auf Rosengart losgegangen, Frau Rosengart habe die Arbeiter jedoch mit den Worten beruhigt: „Ihr seht doch, mein Mann ist betrunken!“

Restaurateur Neumann: Frau Rosengart habe oftmals gesagt, sie habe Angst, daß ihr Mann von seinen Arbeitern einmal totgeschlagen werde.

Zimmermeister Loneit: Frau Rosengart habe ihm einmal geklagt, daß ihr Mann sie furchtbar mißhandelt habe. Die Frau habe ihm ihre angeschwollenen Arme gezeigt und gesagt: Wenn mir meine Kinder nicht leidtäten, dann würde ich mich scheiden lassen.

Vors.: Sie haben bei dem Untersuchungsrichter bekundet: Frau Rosengart habe Ihnen ihre blau angeschwollenen Arme gezeigt und gesagt: Ich gäbe wer weiß was zum besten, wenn jemand meinen Mann aus dem Wege räumt.

Zeuge: Das kann ich nicht behaupten.

Vors.: Sie haben das aber bei dem Untersuchungsrichter gesagt.

Zeuge: Das muß auf einem Irrtum beruhen.

Der Zeuge bekundete im weiteren auf Befragen: Er sei einmal mit Rosengart nach Königsberg gefahren. Da habe Rosengart gesagt: Ich würde mir gern ein anderes Weib nehmen und mich von meiner Frau scheiden lassen, wenn ich nicht befürchtete, daß die Sache mich zuviel Geld kosten würde. Ich versetzte: Sie würden ein klotziges Stück Geld zu zahlen haben, da Sie mit Ihrer Frau in Gütergemeinschaft leben. Rosengart sagte darauf: Ich müßte ihr schließlich die Hälfte des Vermögens herausgeben.

Frau Malermeister Henckel: Frau Rosengart habe ihr oftmals gesagt: Ich lasse mich von meinem Mann nicht scheiden, und wenn er mich totschlägt. Dazu tun mir meine Kinder zu leid und außerdem habe ich meinen Mann auch aus Liebe geheiratet. Frau Rosengart habe oftmals ihren Mann zu schützen gesucht, wenn er von Arbeitern bedroht war. Als Frau Rosengart hörte, daß Rengath das Gerücht verbreitet habe: sie unterhalte mit Rieß ein Liebesverhältnis, sei Frau Rosengart sehr aufgeregt gewesen und habe Rengath in Gegenwart ihres Mannes mit sehr heftigen Worten zur Rede gestellt. Rengath habe gesagt, er könne Tatsachen nicht anführen, es sei ihm nur erzählt worden.

Vors.: Was sagte Herr Rosengart dazu?

Zeugin: Der sagte gar nichts.

Verteidiger R.-A. Dr. Lichtenstein: Frau Rosengart soll zu Ihnen einmal etwas über die Krankheit des Rieß gesagt haben.

Zeugin: Frau Rosengart sagte: Rieß ist schwindsüchtig und wirft sehr aus, ich empfinde Ekel dagegen.

Vert.: Frau Rosengart soll den Rieß so von oben herab wie einen Untergebenen behandelt haben.

Zeugin: Das ist richtig.

Vors.: Wie war das eheliche Leben der Rosengarts?

Zeugin: Im allgemeinen ein gutes, nur wenn Herr Rosengart betrunken war, da gab es Zank und Streit.

Kaufmann Wendt: Rosengart sei von seinen Arbeitern oftmals bedroht worden, seine Frau sei aber stets sein rettender Engel gewesen; diese sei immer bemüht gewesen, die Leute zu beruhigen.

Vors.: Sie sind mit Frau Rosengart und dem Referendar a.D. Wolff in Helgoland gewesen; wie kam das?

Zeuge: Ich traf Frau Rosengart und Wolff hier in Königsberg. Diese baten mich, mit Ihnen nach Helgoland zu fahren, um ihnen als Trauzeuge zu dienen. Auf meine Frage, weshalb sie sich nicht zu Hause trauen lassen wollten, wurde mir geantwortet: Die Verwandten sind in geradezu beängstigender Weise bemüht, die Verlobung rückgängig zu machen, deshalb wollten sie sich in Helgoland trauen lassen. Ich sagte zu Frau Rosengart, wenn sie mir das Ehrenwort gebe, daß sie an dem Morde ihres Gatten in keiner Weise beteiligt sei, dann will ich mitfahren. Frau Rosengart gab mir das Ehrenwort. Ich entschloß mich deshalb, mitzufahren.

Vors.: Wurden Ihnen die Reisekosten bezahlt?

Zeuge: Herr Referendar Wolff sagte: die Reisekosten werden wir Ihnen selbstverständlich bezahlen. Ich lehnte dies jedoch ab und habe die Reise selbst bezahlt.

Vors.: Sie sollen dem Transporteur 10 Mark gegeben haben?

Zeuge: Das ist richtig, ich hielt das für keine Bestechung. Wir fuhren erster Kajüte und speisten in dieser zu Mittag. Damit der Transport auf dem Schiff nicht zu auffällig werde, sagte ich zu dem Transporteur: Hier haben Sie 10 Mark und lassen Sie sich in einer anderen Kajüte auch etwas zu essen geben.

Erster Staatsanwalt: Was veranlaßte Sie, der Angeklagten das Ehrenwort abzunehmen, daß sie an dem Morde ihres Mannes nicht beteiligt sei?

Zeuge: Weil Frau Rosengart deshalb verhaftet war.

Erster Staatsanwalt: Sie müssen doch einen Zweifel gehabt haben, daß Sie der Frau Rosengart das Ehrenwort abverlangten?

Zeuge: Ich hatte nicht den geringsten Zweifel an der Unschuld der Frau Rosengart, ich habe ihr das Ehrenwort lediglich deshalb abgefordert, weil sie wegen Verdachts einmal verhaftet war.

Auf Befragen des Verteidigers Justizrats Dr. Sello bekundete der Zeuge noch: Er kenne die Angeklagte von Jugend auf. Diese habe im Alter von 18 Jahren, und zwar, soweit ihm bekannt, aus Liebe ihren Mann geheiratet.

Kämmerer Rengath: Er bestreite, daß Frau Rosengart ihn in Gegenwart der Frau Henckel zur Rede gestellt habe. Frau Henckel bemerkte, daß sie im Nebenzimmer gewesen sei, als Frau Rosengart den Rengath zur Rede gestellt habe, sie habe aber alles genau hören können.

Frau Strauß: Sie sei einmal bei Rosengart im Keller mit Kartoffelauslesen beschäftigt gewesen. Eines Mittags sei Frau Rosengart mit Rieß in den Keller gekommen, wie lange diese beiden im Keller blieben, könne sie nicht sagen, da sie gerade zu dieser Zeit Mittag essen gegangen sei.

Polizeisekretär Ottenberg: Er sei früher Kassenkontrolleur in Braunsberg gewesen. Adameit habe dort im Jahre 1887 ein Restaurant gehabt. Eines Tages sei Adameit, der ein entfernter Verwandter von ihm sei, mit der Bitte zu ihm gekommen, bei dem Herrn Bürgermeister ein gutes Wort einzulegen, da das Verfahren wegen Entziehung der Schankkonzession gegen ihn eingeleitet sei.

Vors.: Weshalb war dies Verfahren gegen Adameit eingeleitet?

Zeuge: Er soll vielfach die Polizeistunde weit überschritten, Gymnasiasten alkoholische Getränke verabreicht und Hasardspiele geduldet haben.

Vors.: Nun, haben Sie bei dem Herrn Bürgermeister für Adameit ein gutes Wort eingelegt?

Zeuge: Jawohl, der Herr Bürgermeister sagte: Ich will die Sache noch einmal niederschlagen, wenn Adameit sich aber wieder etwas zuschulden kommen läßt, dann behelligen Sie mich nicht mehr damit. Das Verfahren wurde eingestellt. Adameit hatte aber die Gastwirtschaft sehr heruntergebracht, so daß er sie verkaufte.

Vors.: Welchen Ruf hatte Adameit in Braunsberg?

Zeuge: Keinen besonders guten.

Auf Befragen des Verteidigers R.-A. Dr. Lichtenstein erzählte der Zeuge noch: Olga Rosengart sei etwa drei Wochen nach dem Morde bei ihm in Braunsberg gewesen und habe in sehr ausführlicher Weise die Vorgänge vom 19. März 1897 mitgeteilt.

Verteidiger Justizrat Dr. Sello: Hat die kleine Olga irgend etwas über die Vorgänge in ihrem Zimmer erzählt?

Zeuge: Nein.

Vert.: Hat Olga gar nichts davon erzählt?

Zeuge: Nein.

Adameit: Er könne aus seinen Büchern nachweisen, daß sein Geschäft in Braunsberg nicht zurückgegangen sei, er habe es auch vorteilhaft verkauft. Ebenso bestreite er, daß er in Braunsberg einen nicht guten Namen hatte. Er sei erst jüngst wieder in Braunsberg gewesen und habe dort eine allgemeine gute Aufnahme gefunden.

Taucher Sapendowsky: Er habe im Auftrage der Kriminalpolizei wiederholt die von Adameit angegebene Stelle im Pregel, und zwar zwei Meter im Umkreise aufs genaueste mit seinen Händen durchsucht, er habe aber den Gewehrlauf nicht finden können.

Inspektor Rudolf Wolff, Bruder des Referendars a.D. Wolff: Adameit habe sein Mündel, den Karl Rosengart, zu Schlechtigkeiten zu verleiten gesucht, einmal im Schulwagen, in Gegenwart der Frau Rosengart, sehr unanständige Redensarten geführt und den Karl Rosengart in unzüchtiger Weise berührt.

Der bereits wiederholt auch als Sachverständiger vernommene Handlungsgehilfe Rinnowsky bemerkte auf Befragen: Der Zeuge Inspektor Wolff sei nicht der Käufer der Flinte gewesen, letzterer sei bedeutend größer als der Zeuge gewesen.

Referendar Semann: Frau Rosengart habe ihm einmal von einem Drohbrief unflätigsten Inhalts, den ihr Mann erhalten habe, Mitteilung gemacht.

Kindergärtnerin Papke: Adameit habe einigemal in ihrer und in Gegenwart der Rosengartschen Kinder derartige gemeine Redensarten gemacht, daß sie (Zeugin) vor Scham hinausgegangen sei und geweint habe.

Darauf wurde der Reichstagsabgeordnete R.-A. Haase als Zeuge vernommen. Dieser bekundete: Ich war Verteidiger des Rieß. Ich habe ihm gleich bei meinem ersten Besuch im Gefängnis dringend geraten, in allen Dingen, auch in allen nebensächlichen Punkten, die volle Wahrheit zu sagen, da, wenn der Untersuchungsrichter ihm eine Unwahrheit nachweise, dies einen sehr schlechten Eindruck machen würde. Ganz besonders solle er genau sagen, welche Gewehre er besitze bzw. besessen habe. Rieß machte mir in dieser Beziehung sofort die eingehendsten Mitteilungen. Inzwischen wurde auch Frau Rosengart verhaftet und Herr Rechtsanwalt Lichtenstein mit der Verteidigung betraut. Ich verabredete deshalb mit Herrn Rechtsanwalt Lichtenstein, mit diesem gemeinschaftlich nach Zögershof zu fahren, um uns die Örtlichkeit anzusehen. Herr Rechtsanwalt Lichtenstein sagte mir, daß Herr Adameit sich erboten habe, uns mit einem Fuhrwerk abzuholen. Als wir nun mit Adameit nach Zögershof fuhren, sagte dieser: Er sei der festen Überzeugung, daß Rieß nicht der Mörder sei. Auch seine Schwester halte er für vollständig unschuldig. schuldig. Diese sei in früheren Jahren von ihrem Manne derartig gemißhandelt worden, daß alle Geschwister es ihr nicht verdacht hätten, wenn sie ihren Mann aus dem Wege geräumt hätte, allein dazu sei seine Schwester gar nicht fähig. Rieß versicherte mir auch, als ich ihn am 28. Juni wieder besuchte, wiederholt, daß er unschuldig sei, und bat mich, noch seine Freilassung zu bewirken. Ich sagte ihm, daß ich zu meinem Bedauern in dieser Beziehung wenig tun könne, da doch einmal der Verdacht bestehe und ich andererseits die Sachlage nicht übersehen könne, da mir die Einsichtnahme in die Akten verwehrt sei. Ich sagte außerdem zu Rieß: Vielleicht können Sie selbst in der Sache etwas tun. Es ist doch der Verdacht entstanden, daß Sie und Frau Rosengart den Mord verschuldet haben; haben Sie sich vielleicht ein Bild gemacht, wer der Mörder sein könne? Rieß antwortete: Ich kann doch nur vermuten und möchte nicht gern einen Unschuldigen verdächtigen. Im September 1897 besuchte ich wiederum den Rieß, der inzwischen in die Krankenabteilung gebracht worden war. Ich überbrachte ihm die Mitteilung, daß ein Antrag auf Haftentlassung wie der abgelehnt worden sei, obwohl ich den Antrag damit begründet hatte, daß der Angeklagte in hohem Grade lungenkrank sei und laut Bekundung des Gefängnisarztes sich nur schwer fortbewegen könne, mithin ein Fluchtverdacht ausgeschlossen sei. Der Angeklagte war sehr niedergeschlagen, er sah sehr elend aus und sagte mir, daß es mit ihm sehr bald zu Ende gehen werde. Ich suchte ihn zu trösten, Rieß sagte jedoch: er fühle, daß sein Ende nahe, er könne mir aber nur nochmals die Versicherung geben, daß er unschuldig sei.

Erster Staatsanwalt: Ich habe gegen das Plädoyer des dritten Herrn Verteidigers nicht das geringste einzuwenden. Ich will bloß bemerken, daß die Anklagebehörde das Bestreben hatte, die verhafteten Angeklagten aufs strengste zu isolieren und jede Kommunikation zu verhindern. Von Herrn Rechtsanwalt Haase, der, soviel ich weiß, ein Verwandter oder wenigstens guter Bekannter des Herrn Rechtsanwalts Lichtenstein ist, haben wir gehört, daß sie gemeinschaftlich die Örtlichkeit in Augenschein genommen und über die Sache konferiert haben. Wie alsdann die Isolierung ausfällt, überlasse ich Ihrem Urteil.

Rechtsanwalt Haase: Wenn dieser Vorwurf des Herrn Ersten Staatsanwalts gegen mich gerichtet war, so muß ich dagegen protestieren. Ich habe nichts unternommen, was die Isolierung irgendwie hätte gefährden können.

Erster Staatsanwalt: Ich erkläre, daß mir jeder Vorwurf ferngelegen hat; es lag in der Natur der Sache, daß die beiden Herren Verteidiger konferiert haben. Ich will nur noch den von Herrn Rechtsanwalt Haase erhobenen Vorwurf zurückweisen, daß ihm die Einsichtnahme in die Akten verweigert worden sei.

Rechtsanwalt Haase: Ich bemerke, daß ich keinen Vorwurf, sondern lediglich die Tatsache referierend mitgeteilt habe.

Verteidiger R.-A. Dr. Lichtenstein: Auch ich muß den Vorwurf zurückweisen, daß ich irgend etwas unternommen habe, was die Isolierung hätte verletzen können. Ich bemerke im übrigen, daß mir bis zum Schluß der Voruntersuchung die Einsichtnahme in die Akten verweigert worden ist.

Erster Staatsanwalt: Ich versichere nochmals, daß mir jeder persönliche Vorwurf ferngelegen hat.

R.-A. Haase: Wenn in einer Sache mehrere Verteidiger sind, dann würden sie nur ihre Pflicht verletzen, wenn sie nicht im Interesse ihrer Klienten gemeinschaftlich konferierten. Ich bemerke im übrigen, daß Rieß nichts von der Verhaftung der Frau Rosengart wußte; ich habe ihm aber davon Mitteilung gemacht.

Verteidiger R.-A. Dr. Lichtenstein: Herr Kollege, Rieß ist im September 1897 an der Lungenschwindsucht gestorben. Sie haben den Rieß noch in den letzten Stunden gesehen: welche Auffassung hatten Sie von der Schuld des Rieß gewonnen?

R.-A. Haase: Ich hatte den Eindruck gewonnen, daß Rieß die Wahrheit gesagt habe und unschuldig sei.

Die Beweisaufnahme war damit beendet.

Auf Antrag des Ersten Staatsanwalts wurde beschlossen, den Kutscher Busch wegen Verdachts der Begünstigung nicht zu vereidigen.

Die Zeugen Adameit, Budnick, Karl Rosengart und Referendar Wolff erklärten auf Befragen des Vorsitzenden: sie seien bereit, den Eid zu leisten.

Verteidiger Justizrat Dr. Sello protestierte gegen die Vereidigung der Zeugen aus Gründen des nahen verwandtschaftlichen Verhältnisses, bei Adameit aber auch wegen Verdachts der Begünstigung, deren er sich, wenn seine Aussage wahr sei, in hohem Grade schuldig gemacht habe.

Erster Staatsanwalt: Gegen Adameit könnte wohl kaum ein Verfahren wegen Begünstigung eingeleitet werden, da es sich um seine Schwester handelte.

Verteidiger Justizrat Dr. Sello: Begünstigung bleibt Begünstigung, auch wenn sie aus gewissen Umständen straflos ist.

Der Gerichtshof beschloß, alle 4 Zeugen nicht zu vereidigen. (Lautes Bravo im Zuhörerraum.) Der Vorsitzende ermahnte das Publikum zur Ruhe. „Gegen Adameit liege der Verdacht der Begünstigung vor, die anderen Zeugen werden ihres nahen verwandtschaftlichen Verhältnisses wegen nicht vereidet.“

Am sechsten Verhandlungstage bekundete Baumeister Worgall: Als er mit der Angeklagten und Adameit meit nach Zögershof gefahren sei, habe die Angeklagte ein Pack Eier in der Hand gehabt. Dieses Päckchen habe die Angeklagte dem Adameit, als der Wagen vor dessen Hause angelangt war, herausgereicht und sei in dem Wagen sitzen geblieben.

Erster Staatsanwalt: Ich beantrage, sämtliche Wärter, Wärterinnen und Ärzte des Krankenhauses vorzuladen. Ich halte diesen Antrag für um so notwendiger, da mir zu Ohren gekommen ist, Rieß habe auf dem Sterbebett ein Geständnis abgelegt.

Verteidiger Justizrat Dr. Sello: Dann stelle ich den Antrag, auch alle Gefängniswärter vorzuladen.

Verteidiger R.-A. Dr. Lichtenstein: Auf die Bemerkung des Herrn Ersten Staatsanwalts habe ich mitzuteilen: Rieß hat nicht nur nicht ein Geständnis abgelegt, sondern er hat im Gegenteil einem Geistlichen in feierlichster Weise seine Unschuld beteuert. Ich stelle den Antrag, diesen Geistlichen als Zeugen zu laden.

Erster Staatsanwalt: Ich schließe mich diesem Antrage an, ich hege nur die Befürchtung, der Geistliche wird sein Zeugnis verweigern.

Verteidiger R.-A. Dr. Lichtenstein: Die Verteidigung hat ebenfalls eine Anzahl anonymer Briefe erhalten. Ich darf mir erlauben, eines dieser Schreiben zu verlesen, da wir es zum Gegenstande eines Antrages machen wollen. Der Verteidiger las: „Geehrter Herr Rechtsanwalt! Ich beeile mich Ihnen mitzuteilen, daß die Angeklagte, als sie noch in Pillau wohnte, sehr häufig Gelegenheit hatte, ihren Mann aus dem Wege zu räumen. Rosengart ist häufig in meinem Restaurant sinnlos betrunken gewesen. Mein Restaurant liegt dicht am Wasser.“...

Erster Staatsanwalt: Ich protestiere gegen die Verlesung.

Verteidiger Justizrat Dr. Sello: Wir wollen diesen Brief zum Gegenstande eines Antrages machen. Wir wollen beantragen, den Schreiber des Briefes, Herrn Restaurateur Leo Riefenstahl in Pillau, als Zeugen zu laden.

Erster Staatsanwalt: Ich muß jedenfalls beantragen, den Brief dem Gerichtshofe zu überreichen.

Verteidiger Justizrat Dr. Sello: Dann bitte ich um eine kurze Pause, um den Antrag auf Ladung des Herrn Leo Riefenstahl begründen zu können.

Erster Staatsanwalt: Ich habe auch eine Anzahl anonymer Briefe erhalten. In einem Briefe bekennt sich ein Mann, namens Z., als Mörder. In einem zweiten Brief wird bemerkt, daß die Angeklagte auf ihren Mann geschimpft habe. In einem weiteren Schreiben heißt es: Der Gewehrlauf kann sehr wohl in den Pregel gesenkt und versunken sein. In einem ferneren Schreiben wird Referendar a.D. Wolff, in anderen Schreiben Adameit und auch die Angeklagte des Mordes beschuldigt. In einem Schreiben wird behauptet: Adameit habe bei einem Bohrbau den Arbeitern die Löhne nicht bezahlt. Ich überreiche alle diese Briefe zu den Akten. Ich habe aber nun noch einen Antrag zu stellen, obwohl dieser die Verhandlung etwas verzögern wird. Meiner Meinung nach ist bei der örtlichen Augenscheinnahme der Nachweis geliefert worden, daß das Gewehr aus dem Speicher in Ernsthof geholt und der Kolben in Zögershof verbrannt worden ist. Nur der Lauf ist nicht aufgefunden worden. Ich beantrage, das Grab des ermordeten Rosengart öffnen zu lassen, um festzustellen, ob etwa der Gewehrlauf in dem Grabe des Rosengart verborgen ist. Dadurch würde die ganze Sache eine andere Gestalt erfahren.

Verteidiger Justizrat Dr. Sello: Die Verteidigung schließt sich diesem Antrage an.

Erster Staatsanwalt: Ich beantrage außerdem, festzustellen, ob der Acker, auf dem die Fußspuren entdeckt wurden, Sturzacker oder Weizenfeld ist. Ich glaube, darüber wird uns Inspektor Zarm am ehesten Auskunft geben können.

Verteidiger R.-A. Dr. Lichtenstein: Ich habe noch an den Inspektor Steinhagen eine Frage zu stellen. Herr Inspektor: Sind Sie schon bestraft?

Zeuge: Jawohl.

Vert.: Weshalb?

Zeuge: Wegen Sittlichkeitsverbrechens mit zwei Jahren.

Vert.: Gefängnis oder Zuchthaus?

Zeuge: Zuchthaus.

Es wird nun nochmals Frau Rieß gefragt, ob sie schwören wolle. Nachdem die Zeugin wiederholt Einwendungen gemacht hatte, erklärte sie sich schließlich bereit, den Eid zu leisten. Der Gerichtshof beschloß die Vereidigung und auch das Grab des ermordeten Rosengart öffnen zu lassen.

Die Angeklagte gab auf Befragen des Vorsitzenden an, daß ihr Mann auf dem Altstädtischen Kirchhofe in Königsberg vor dem Steindammer Tor begraben worden sei. Der Gerichtshof beauftragte den Untersuchungsrichter, Landgerichtsrat Moser, den Kriminalkommissar Wohlfromm und einen Gerichtsschreiber, sich nach dem Altstädtischen Kirchhofe zu begeben und dort nach eingeholter Erlaubnis des Kirchenvorstandes das Grab von einer Anzahl Totengräber öffnen zu lassen.

Verteidiger Justizrat Dr. Sello: Die Verteidigung hätte keinen weiteren Antrag gestellt, um die Sache nicht noch länger hinauszuziehen. Da jedoch die Öffnung des Grabes geraume Zeit in Anspruch nehmen dürfte, so beantrage ich, den Restaurateur Leo Riefenstahl in Pillau telegraphisch als Zeugen zu laden, um ihn über folgende Punkte zu vernehmen: Der verstorbene Rosengart habe vielfach in seinem dicht am Wasser belegenen Lokale sinnlos betrunken gesessen, seine Frau habe ihn sehr häufig abgeholt. Sie habe oftmals stundenlang gewartet, bis ihr Mann so weit ausgenüchtert war, daß er nach Hause gehen konnte. Die Frau sei alsdann dem torkelnden Manne in einiger Entfernung gefolgt, um zu verhüten, daß er ins Wasser falle oder ihm sonst ein Unglück zustoße.

Erster Staatsanwalt: Das geschah, als die Familie Rosengart in Pillau wohnte?

Vert.: Jawohl.

Erster Staatsanwalt: Und wann war das?

Vert.: Von 1887 bis 1892. Der Gerichtshof beschloß, den Restaurateur Leo Riefenstahl (Pillau) sofort telegraphisch als Zeugen zu laden.

Es wurde darauf die von den Geschworenen beantragte Verlesung des Protokolls angeregt.

Verteidiger Justizrat Dr. Sello: Laut § 253 der Strafprozeßordnung ist eine direkte Verlesung des Protokolls unzulässig. Es ist nur zulässig, die Angeklagte nochmals über ihre damalige Aussage zu befragen und ihr zur etwa erforderlichen Auffrischung des Gedächtnisses das Protokoll vorzuhalten.

Die Geschworenen erklärten sich damit einverstanden.

Der Vorsitzende ließ die Angeklagte vor den Richtertisch treten. Sie gab auf Befragen des Vorsitzenden etwa folgendes an: Ich war einmal mit meinen Geschwistern hier in der Zentralhalle. Da sagte meine Schwester Budnick: Du hast dem Hermann gestanden, daß du Rieß bestimmt hast, deinen Mann zu erschießen. Ich sagte sofort: Das ist eine freche Lüge. Meine Schwester versetzte: Das beste ist doch, du sagst die Wahrheit, es ist ja doch noch nichts verloren, Hermann wird ja die Sache nicht anzeigen. Ich antwortete: Laß er machen, was er will, ich kann nicht etwas gestehen, was ich nicht begangen habe.

Vors.: Was mag Ihrer Meinung nach Ihren Bruder Hermann Adameit veranlaßt haben, Sie anzuzeigen?

Angekl.: Mein Bruder war, als er bei mir Prokurist war, stets sehr grob und unmanierlich zu mir. Er hat mich sogar einmal mit einem Stocke bedroht. Meine Bücher werden nachweisen, daß er verschiedene Unredlichkeiten begangen hat. Er hat außerdem in seiner Eigenschaft als Prokurist die Lieferung eines großen Postens Ziegelsteine abgeschlossen, ohne sich zu erkundigen, ob wir die Lieferzeit werden innehalten können. Ich wurde deshalb, da wir die Ziegel zur festgesetzten Zeit nicht liefern konnten, auf 2000 Mark Schadenersatz verklagt. Meinen Bruder kränkte es selbstverständlich, daß ich ihm schließlich kündigte und das Löschen der Prokura beantragte. Ganz besonders ärgerte er sich, daß ich mich wieder verheiraten wollte. Er sagte zu mir: Ich lasse mich nicht rausschmeißen, ich werde selbst gehen, ich werde dir aber zeigen, was ich kann, und wenn es mein Unglück sein sollte.

Vors.: Und was mag wohl die Budnick gegen Sie so eingenommen haben?

Angekl.: Ich habe meine Schwester Budnick stets unterstützt, ich habe ihr 6000 Mark zur Errichtung eines Geschäfts gegeben. Als sie aber hörte, daß ich mich verheiraten wollte, sagte sie zu mir: Wenn du diesen Mann heiratest, dann werden wir die Anzeige machen, daß du von dem Tode deines Mannes gewußt hast. Wir werden schon dafür sorgen, daß dieser Erzgauner aus dem Hause kommt. Ich erwiderte: „Macht, was ihr wollt, wenn mein Bräutigam sparsam ist, so ist das gewiß kein Fehler. Eure Drohungen schrecken mich nicht, ich werde mir den Mann doch heiraten.“ Ich hatte keinerlei Anlaß, meinen Mann aus dem Wege zu räumen. Mein Mann liebte mich sehr und war, wenn er nüchtern war, sehr gut zu mir. Auch ich liebte meinen Mann.

Vors.: Wie war Ihr Mann zu Rieß?

Angekl.: Mein Mann war zu Rieß derartig liebenswürdig, daß ich ihn deshalb einige Male zur Rede stellte und ihm sagte, das schicke sich eigentlich nicht.

Vors.: Sie sind also der Meinung, Rieß hatte keine Ursache, Ihren Mann aus dem Wege zu räumen?

Angekl.: Keineswegs. Mein Mann hatte dem Rieß Gehaltszulage versprochen und war stets so freundlich lich zu ihm, daß er gewiß nicht die geringste Ursache hatte, meinen Mann zu erschießen.

Vors.: Wie ist es mit dem Schraubenzieher?

Angekl.: Der Schraubenzieher ist allerdings geholt worden. Ich kann aber nicht sagen, ob ich oder mein Bruder den Schraubenzieher hat holen lassen. Jedenfalls wünschte mein Bruder den Schraubenzieher, um eine Reparatur an der Nähmaschine vorzunehmen.

Vors.: Ihr Bruder war, als er bei Ihnen Prokurist war, gleichzeitig der Vormund Ihrer Kinder?

Angekl.: Jawohl.

Verteidiger Justizrat Dr. Sello: Ich ersuche, der Angeklagten die Frage vorzulegen, ob sie, obwohl ihr ihre Verwandten gedroht haben, sie wegen Anstiftung zum Morde anzuzeigen, sobald sie heirate, sie dennoch ihren Entschluß nicht aufgegeben hat.

Angekl.: Ich hatte den Entschluß, den Referendar Wolff zu heiraten, trotz aller Drohungen nicht aufgegeben. Ich sagte zu meinen Geschwistern: Macht, was ihr wollt, mein Gewissen ist rein, ich werde meinen Entschluß nicht ändern, sondern mich in allernächster Zeit mit Wolff verheiraten. Darüber gerieten meine Geschwister in große Aufregung. Meine Schwester Budnick sagte: Es ist bereits in einem Familienrat beschlossen worden, dich für verrückt erklären und in ein Irrenhaus sperren zu lassen. Da sagte mein Bräutigam: Da bin ich aber auch noch da. Einen Menschen für verrückt erklären kann nur ein Arzt. Ich sagte zu meiner Schwester: Wenn es zum Verrückterklären kommt, dann hast du die erste Nummer. (Heiterkeit im Zuhörerraum.) Meine Schwester sagte darauf: Wenn du nicht dafür sorgst, daß dieser Mann – damit meinte sie meinen Bräutigam – aus dem Hause kommt, dann werden wir dafür sorgen, daß dir alles zu Wasser wird. Und mein Bruder Hermann sagte: Ich werde die Heirat hintertreiben, und wenn es mein Unglück sein sollte.

Vors.: Was mag denn aber Ihre Schwester veranlaßt haben, derartig gegen Sie aufzutreten?

Angekl.: Jedenfalls weil sie befürchtete, sie würde, wenn ich wieder verheiratet bin, nichts mehr von mir bekommen.

Vors.: Sie lebten mit Ihrem Mann in Gütergemeinschaft?

Angekl.: Jawohl.

Vors.: Und Sie leben auch jetzt mit Ihren Kindern in Gütergemeinschaft?

Angekl.: Jawohl.

Erster Staatsanwalt: Adameit hatte schon im April gesagt: Wenn Wolff nicht aus dem Hause kommt, dann platzt die Bombe?

Angekl.: Das ist richtig.

Vors.: Was mag Adameit damit gemeint haben?

Angekl.: Er drohte mir damals schon mit der Anzeige. zeige.

Auf Antrag des Ersten Staatsanwalts wurde nochmals Baumeister Worgall vernommen. Er bekundete: Er sei, als die Leiche des ermordeten Rosengart zur Parade stand und auch am 7. April 1897 in Zögershof gewesen.

Krankenwärter Baufeld: Er habe gewußt, daß Rieß wegen Verdachts des Mordes verhaftet war. Er habe auch mit Rieß mehrfach darüber gesprochen, Rieß habe aber stets beteuert, daß er unschuldig sei. Ein Geistlicher sei bei dem Tode des Rieß nicht zugegen gewesen.

Inspektor Steinhagen: Er erinnere sich nicht, daß er der Angeklagten gesagt habe, er hätte gehört, daß Rieß der Mörder sei.

Der Beschluß, die Leiche auszugraben, hatte in Königsberg eine ganz außerordentlich große Aufregung hervorgerufen. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich diese Nachricht. Obwohl die Wiedereröffnung der Sitzung erst auf 4 Uhr nachmittags anberaumt war, war das am Paradeplatz belegene Gerichtsgebäude schon gegen 3 Uhr nachmittags von einer unübersehbaren Menschenmenge umlagert. Der Andrang des Publikums war infolgedessen lebensgefährlich.

Gegen 4 1/4 Uhr nachmittags wurde die Sitzung wieder eröffnet. Der Erste Staatsanwalt teilte mit, daß ihm wiederum eine Anzahl anonymer Briefe zugegangen gegangen sei. In einigen dieser Briefe werde von einzelnen Zeugen behauptet, daß sie einen Meineid geleistet haben. In einem anderen Schreiben werde die Persönlichkeit des als Zeugen geladenen Riefenstahl bemängelt.

Verteidiger Justizrat Dr. Sello: Ich habe noch einen Antrag zu stellen. Ein Rentier Hermann Klein, Sackh. Hintergasse, hat sich erboten, zu bekunden, daß Rieß ein sehr gutmütiger Mensch war, dem man einen Mord nicht zutrauen könnte.

Der Erste Staatsanwalt erklärte sich mit diesem Antrage einverstanden. Der Gerichtshof beschloß, den Rentier Hermann Klein sofort durch einen besonderen Boten zu laden.

Kriminalkommissar Wohlfromm: Er habe sich heute mittag in Gemeinschaft mit Herrn Landgerichtsrat Moser und einem Gerichtsschreiber nach dem Allstädtischen Kirchhof begeben und dort, nach eingeholter Erlaubnis des Kirchhofinspektors, das Grab des Rosengart öffnen lassen. Der Sarg sei in die Leichenhalle geschafft und dort geöffnet worden. Die Leiche sei aus dem Sarge herausgenommen, in diesem alles aufs genaueste untersucht worden, es sei aber nichts gefunden worden.

Auf Befragen des Verteidigers Justizrats Dr. Sello bekundete der Zeuge noch, daß der Untergrund des Pregels mittels elektrischen Magnets untersucht worden den sei.

Landgerichtsrat Moser, als Zeuge vernommen, schloß sich der Aussage des Kriminalkommissars Wohlfromm vollständig an.

Alsdann wurde Restaurateur Riefenstahl (Pillau) als Zeuge vernommen: Er kenne Frau Rosengart seit 1882. Soweit ihm bekannt, habe sie ihren Mann aus Liebe geheiratet. Der ermordete Rosengart sei in seinem dicht am Wasser belegenen Restaurant vielfach sinnlos betrunken gewesen. Frau Rosengart habe oftmals viele Stunden auf ihren Mann gewartet. Er (Zeuge) habe gehört, daß Rosengart seine Frau oftmals arg mißhandle. Er habe deshalb mehrfach zu Frau Rosengart gesagt, sie solle sich diese Behandlung nicht gefallen lassen und zum mindesten um ihren Mann nicht so sehr besorgt sein. Frau Rosengart habe darauf erwidert: Mein Mann weiß, wenn er betrunken ist, nicht, was er tut, wenn er aber nüchtern ist, dann ist er der beste Mensch. Ich habe zu Hause keine Ruhe, wenn mein Mann nicht da ist. Ich befürchte stets, es könnte ihm etwas passieren.

Rentier Klein: Er habe den Rieß sehr genau gekannt; er sei ein sehr ordentlicher und gutmütiger Mensch gewesen, dem eine Mordtat nicht zuzutrauen war.

Der Vorsitzende erklärte alsdann die Beweisaufnahme für geschlossen und verlas die den Geschworenen nen vorzulegenden Schuldfragen: 1. Ist die Angeklagte schuldig, den verstorbenen Inspektor Rieß, der am 19. März 1897 den Gutsbesitzer Rosengart zu Zögershof vorsätzlich und mit Überlegung gelötet hat, durch Versprechungen oder andere Mittel zu dieser Straftat bestimmt zu haben? 2. Im Falle der Verneinung dieser Frage: Ist die Angeklagte schuldig, dem Inspektor Rieß bei Begehung des in Frage 1 erwähnten Verbrechens durch Rat oder Tat wissentlich Hilfe geleistet zu haben?

Der Erste Staatsanwalt beantragte noch die Frage zu stellen: Im Falle der Verneinung der Fragen 1 und 2: Ist die Angeklagte schuldig, den Rieß nach Begehung der Tat begünstigt zu haben, um ihn der Bestrafung zu entziehen.

Es begannen alsdann die Plädoyers. Erster Staatsanwalt Hepner: Meine Herren Geschworenen! Zwei Jahre sind ins Land gegangen, seitdem der Gutsbesitzer Rosengart in Zögershof in seinem Wohnzimmer meuchlings getötet worden ist, und noch immer ist dieses Verbrechen nicht gesühnt. Der Mann, der aller menschlichen Voraussicht nach den Mord begangen hat, ist wohl einige Tage nach dem Morde in Haft genommen worden. Allein dieser Mann ist nach wenigen Monaten einer tückischen Krankheit erlegen. Der Tod des Rieß ist höchstwahrscheinlich beschleunigt worden, weil er am Abend des 19. März 1897 über ein aufgeweichtes Feld in schnellem Trabe gelaufen ist, und durch die veränderte Lebensweise, zu der der Mann im Gefängnis gezwungen war. Der Mörder ist der Gerechtigkeit entronnen, er steht vor einem höheren Richter. Doch nicht gesühnt ist die Freveltat der Frau, die hier auf der Anklagebank sitzt und heute Ihres Wahrspruchs harrt. Ich gebe mich der Hoffnung hin, daß Ihr Wahrspruch der Gerechtigkeit entsprechen wird. Dem Manne, der meiner festen Überzeugung nach die Mordwaffe gegen Rosengart gerichtet hat, ist von den verschiedensten Leuten das beste Leumundszeugnis ausgestellt worden. Ich habe die Überzeugung erlangt, Rieß hätte sich niemals dazu verstanden, ein solch grausiges Verbrechen zu begehen, wenn ihm nicht gewissermaßen von dieser Frau die Mordwaffe in die Hand gedrückt worden wäre. Die Frau war über den Tod ihres Mannes nicht besonders betrübt. Sie wurde drei Wochen nach dem Morde ebenfalls Verhaftet, wegen Mangels an Beweisen mußte sie aber sehr bald wieder entlassen und das Verfahren gegen sie eingestellt werden. Frau Rosengart verlobte sich einige Zeit später mit einem 9 Jahre jüngeren Manne und begab sich auf die Hochzeitsreise. Sie wissen, in welch tragischer Weise diese Hochzeitsreise in Helgoland endete. Die Verwandten wollten nicht länger schweigen, als sie sahen, mit welch frivoler Art sich die Angeklagte über die Ermordung ihres Mannes hinwegsetzte, sie brachten deshalb das Verbrechen zur Anzeige. Ich habe schon bei vielen Kriminalfällen, die noch bedeutend schwieriger waren als dieser, mitgewirkt. Allein eine solche Zeugenbeeinflussung, wie sie durch den Referendar a.D. Wolff versucht worden, ist mir in meiner langjährigen Praxis noch nicht vorgekommen. Daß Herr Referendar a.D. Wolff als Verlobter der Angeklagten bemüht war, soviel als möglich Entlastungsmaterial herbeizuschaffen, ist erklärlich und entschuldbar. Aber in der Weise, wie in dem vorliegenden Fall auf die Zeugen eingewirkt worden, wie fast jeder Mensch in der Provinz gefragt worden ist, ob er etwas Nachteiliges über einen Belastungszeugen wisse oder etwas für den Leumund des Rieß vorbringen könne, ist ein Verfahren, das doch die Grenzen des Zulässigen weit überschreitet. Es wird notwendig werden, die Zeugen in zwei Klassen zu teilen, in solche, die von Wolff beeinflußt waren, und in solche, die von Wolff nicht beeinflußt waren. Sie haben gehört, daß selbst eine Zeugin von dem gestrigen Plädoyer des als Zeugen vernommenen Rechtsanwalts Haase ganz verwirrt geworden ist.

Der Erste Staatsanwalt gab alsdann den Geschworenen eine eingehende Belehrung über die vorliegenden Schuldfragen und führte weiter aus: Voraussetzung für die Bejahung der Schuldtragen ist, daß Sie die Überzeugung erlangt haben, Rieß sei der Täter gewesen. Wenn Sie, meine Herren Geschworenen, der Meinung sind: Rieß ist nicht der Täter, dann müssen Sie die Schuldfragen verneinen. Es ist kein Zweifel, der ermordete Rosengart war eine sehr brutale Natur, der einen sehr gefährlichen Trunk hatte. Rosengart hat oftmals, wenn er betrunken war, seine Arbeiter geschlagen, ja auf diese geschossen. Allein trotzdem ist es meiner Überzeugung nach ausgeschlossen, daß in den Kreisen der Rosengartschen Arbeiter der Mörder zu suchen ist. Es hat bereits ein Zeuge hier ausgesagt: Wenn ein Arbeiter den Vorsatz gehabt hätte, den Rosengart zu erschlagen, dann hätte er ihm ohne weiteres eins auf den Kopf gegeben. Es ist aber keineswegs anzunehmen, daß ein Arbeiter den Mord von langer Hand vorbereitet hat, daß er sich auf den Gutshof gestellt und den Rosengart meuchlings erschossen hat. Es ist auch nicht anzunehmen, daß ein Arbeiter ein solch treffsicheres Gewehr, mit dem der Mord ausgeführt sein muß, sich verschafft hat. Es kommt hinzu, daß die Mordtat nur von einem sehr guten Schützen ausgeführt sein kann, und daß die Fußspuren keineswegs Spuren von Fabrikstiefeln, sondern von auf Bestellung gemachten Stiefeln herrührten. Ich bezweifle nicht, daß Rosengart vielfach Drohbriefe erhalten hat. Zu meinem Bedauern sind die Drohbriefe nicht aufbewahrt worden, wir hätten alsdann vielleicht bekannte Handschriften erkennen können. Ist es nicht möglich, daß diese Drohbriefe vom Täter und seiner Anstifterin herrühren? Diese konnten sehr gut der Ansicht sein, daß jene Drohbriefe ihnen einmal nützen könnten. Es ist nun festgestellt, daß Rieß ein ganz vorzüglicher Schütze war, der selbst mit geübten Förstern um die Wette schoß. Ein dem Rieß sehr ähnlicher Mann hatte kurz vor dem Morde bei Anhuth hierselbst ein Gewehr gekauft, das dem Kaliber entspricht, das Adameit bei Rieß gefunden haben will. Nach der übereinstimmenden Meinung der Sachverständigen kann nur ein solches Gewehr als Mordwaffe gedient haben. Es ist ferner festgestellt, daß Rieß Gelegenheit hatte, 3/4 Stunden lang allein und unbeobachtet auf dem Gutshof zu stehen. Es entsteht nun die Frage, welches Motiv hatte Rieß, um den Rosengart zu töten? Ich will nicht direkt behaupten, daß zwischen Rieß und der Angeklagten ein intimer Verkehr stattgefunden hat, wenigstens ist das nicht mit Sicherheit festgestellt. Allein zweifellos haben Rieß und die Angeklagte oftmals Gelegenheit gesucht und auch gefunden, allein zusammen zu sein. Daß sie dabei kein Paternoster gebetet haben, ist klar; ich will aber trotzdem nicht behaupten, daß ein sträflicher Verkehr stattgefunden hat. Für mich steht aber soviel fest: Rieß und die Angeklagte haben sich geliebt. Dafür sprechen einmal die verschiedenen Zeugenaussagen, aber auch das eheliche Leben von beiden. Sie haben Frau Rieß hier gesehen, diese macht zweifellos einen blöden Eindruck. Daß diese Frau nicht befähigt war, dem Rieß sein Haus zu bauen, ist ohne weiteres anzunehmen. Rieß hat allerdings seine Frau nicht mißhandelt. Er war, im Gegensatz zu Rosengart, ein gutmütiger Mensch von geradezu weichem Gemüt. Das schließt aber nicht aus, daß er bemüht war, die Liebe der Frau Rosengart zu gewinnen und sich dieser nähern zu können. Deshalb gab er ihrem Drängen nach, ihren Mann aus dem Wege zu räumen. Frau Rosengart hatte alle Ursache, sich ihres Mannes zu entledigen. Sie wurde von ihrem Manne oftmals in brutalster Weise mißhandelt, und sie wollte ungehindert mit Rieß verkehren. Ich zweifle keinen Augenblick, daß die Angeklagte oftmals ihren Mann vor Mißhandlungen der Arbeiter geschützt hat. Es ist sehr erklärlich, daß in Augenblicken, wo der Haß gegen den Mann nicht gerade akut ist, die Frau den Mann vor Mißhandlungen schützen wird. Sie handelt dabei schon aus Eigennutz, denn sie wäre anderenfalls schließlich genötigt, den Mann zu pflegen. Daß die Angeklagte eine große Neigung zum intimen Verkehr mit Männern hatte, hat die Beweisaufnahme hinlänglich ergeben. Ich behaupte nicht, daß die Angeklagte auch mit dem Kutscher Busch ein Verhältnis hatte, einen solchen Geschmack traue ich der Angeklagten nicht zu. (Heiterkeit im Zuhörerraum.) Ich glaube viel eher, die Angeklagte hatte sich nur von Busch auf der Chaussee begleiten lassen, weil sie hier in der Stadt andere Liebesabenteuer im Sinne hatte und sich deshalb von ihrem Personal nicht abholen lassen wollte. Der Erste Staatsanwalt erwähnte alsdann der Aussagen des Zeugen Rengath. Trotz der größten Bemühungen sei es nicht gelungen, dessen Glaubwürdigkeit zu erschüttern. Er erinnere an die verschiedenen Aussprüche der Angeklagten: Sie möchte am liebsten ihrem Mann Rattenpulver geben. Er behaupte nicht, daß die Angeklagte die Absicht hatte, ihren Mann mit Rattenpulver zu vergiften, dieser Ausspruch lasse aber auf die Gesinnung der Angeklagten einen charakteristischen Schluß ziehen. Der Erste Staatsanwalt beleuchtete hierauf die einzelnen Zeugenaussagen und fuhr alsdann in etwa folgender Weise fort:

Sie haben die kleine Olga gehört. Das Mädchen hat trotz eingehendster Vernehmung in diesem überfüllten Saale sehr klare Antworten gegeben und einen vollständig glaubwürdigen Eindruck gemacht. Sie haben gehört, daß die Olga gesagt hat: Mama ist in Ohnmacht gefallen, als sie gesehen habe, daß Papa tot sei. Ich habe keinen Zweifel, daß diese Ohnmacht eine Verstellung war. Diese Frau fällt nicht in Ohnmacht, eher eine Schwadron Dragoner. (Heiterkeit im Zuhörerraum.) Wichtig ist aber die Bekundung der Olga über den Vorgang in dem oberen Zimmer. Es war doch höchst charakteristisch, daß die Angeklagte unmittelbar nach dem Tode ihres Mannes sich mit Rieß nach dem oberen Zimmer begab, sich mit ihrer Tochter zusammen ins Bett legte, und als sie glaubte, ihre Tochter schlafe, zu Rieß hinüberging und mit diesem zischelte. Es ist ein bekannter psychologischer Vorgang, daß, wenn zwei Leute verschiedenen Geschlechts eine Mordtat begehen, sie sich nach der Tat um so mehr zueinander hingezogen fühlen. Sie wollen gleich nach vollbrachter Tat die Früchte ihres Verbrechens genießen. Wir haben das in dem in vergangener Woche in Lyck verhandelten Gattenmordprozeß wieder gesehen. Es ist ferner festgestellt, daß Rieß den Rengath aufgefordert hat, die Hofhunde wegzubringen, und daß die Angeklagte geäußert hat: „Für die zwei großen Hofhunde können wir lieber zwei Schweine füttern.“

Ich komme zu dem Zeugen Adameit. Man hat in geradezu unerhörter Weise diesen Mann mit Kot zu bewerfen gesucht, es ist aber nicht gelungen, etwas wirklich Gravierendes gegen ihn vorzubringen. Ich gebe zu, das Benehmen des Adameit gegen seinen Neffen war unpassend, aber nicht unsittlich. Untreue in seiner Eigenschaft als Vormund ist dem Zeugen nicht nachgewiesen. Jedenfalls haben sich die Aussagen des Adameit vollständig bewahrheitet. Adameit hatte behauptet: der Kolben wäre innerhalb 1/4 Stunde verbrannt. Der Sachverständige behauptete: es seien dazu zwei bis drei Stunden notwendig. Als wir in Zögershof waren und den Versuch des Verbrennens machten, paßte das Gewehr ganz genau in der von Adameit beschriebenen Weise in den Ofen hinein. Adameit wurde in Zögershof noch einmal gefragt, wie lange das Verbrennen gedauert habe, er werde darauf festgenagelt werden. Adameit sagte, eine Viertel-, vielleicht auch eine halbe Stunde, und Sie haben gesehen, meine Herren Geschworenen, das Verbrennen in Zögershof am vergangenen Montag dauerte 8 1/2 Minuten. Der Sachverständige sagte, am Montag sei ein außergewöhnlich starkes Feuer gemacht worden. Ich gebe das zu. Dann ist doch aber anzunehmen, daß bei weniger starkem Feuer das Abbrennen genau so lange dauert, wie Adameit angegeben hat. Die Angeklagte selbst hat heute zugegeben, daß sie einen Schraubenzieher hat holen lassen. Es ist außerdem von mehreren Zeugen bekundet worden, daß die Angeklagte einen Eimer Wasser in das Zimmer der kleinen Olga getragen hat. Adameit hat bekundet, es wurde ein Eimer Wasser geholt, um die Glut des Gewehrlaufs abzukühlen.

Ich habe aber auch die Überzeugung daß Adameit den Gewehrlauf in den Pregel gesenkt hat. Wir haben am vergangenen Montag gesehen, daß die Angeklagte mit großer Leichtigkeit den Gewehrlauf unter ihren Mantel knöpfen, die Treppe hinauf- und hinuntergehen und in den Wagen steigen konnte. Daß der Gewehrlauf nicht gefunden wurde, ist erklärlich, nachdem wir gehört haben, daß der Lauf sehr leicht im Schlamm versunken sein kann. Es ist doch auch nicht außer acht zu lassen, daß erst nach 1 1/2 Jahren nach dem Lauf gesucht worden ist, daß gerade an der bezeichneten Stelle des Pregels ein starker Schiffsverkehr stattfindet und daß der Lauf sehr gut mit einem Bootshaken oder einer Ruderstange hinuntergestoßen sein kann. Ich behaupte keineswegs, daß Adameit aus edlen Beweggründen die Tat zur Anzeige gebracht hat. Er hätte alsdann nicht 1 1/2 Jahre damit gewartet. Er wollte zunächst das ihm von der reichen Schwester anvertraute Geheimnis ausnützen, und als er sah, daß seine Schwester ihm nicht die gebührende Berücksichtigung zuteil werden ließ, ging er hin und machte Anzeige. Jedenfalls hat die Budnick ohne jedes Interesse gehandelt. Es ist nicht anzunehmen, daß Frau Budnick hier hintreten wird, um durch eine Lüge ihre leibliche Schwester dem Henker zu überliefern. Herr Referendar Wolff war bemüht, auch die Geschwister zu beeinflussen. Er sagte: er sei sehr entrüstet gewesen über die gegen seine Braut erhobene Beschuldigung, er gab aber zu, daß er in demselben Atemzuge dem Adameit sagte: er werde dafür sorgen, daß seine Braut ihm ein Restaurant kaufe.

Der Erste Staatsanwalt erwähnte alsdann, daß die Verteidigung bemüht gewesen sei, die Haftentlassung der Angeklagten zu bewirken mit der Begründung, daß ein Darmleiden eine schleunige Operation notwendig mache. Es wurde jedoch zunächst eine gerichtsärztliche Untersuchung beschlossen, die die Behauptung des Verteidigers nicht bestätigte.

Verteidiger Justizrat! Dr. Sello: Ich muß doch darauf aufmerksam machen, daß diese letzte Bemerkung des Herrn Ersten Staatsanwalts in der Verhandlung nicht mit einem Wort erwähnt worden ist.

Der Vorsitzende bestätigte das.

Der Erste Staatsanwalt fuhr alsdann fort: Als Referendar Wolff an jenem Augustabend zu Adameit ging, da riet er ihm, am folgenden Tage zu Herrn Rechtsanwalt Lichtenstein und zu Herrn Superintendenten Lackner zu gehen. Herr Referendar Wolff wußte, daß, wenn die Zurückziehung des Zeugnisses des Adameit Wert haben solle, es nicht genüge, daß Adameit bloß ihm gegenüber seine Beschuldigungen zurückzieht. Meine Herren Geschworenen! Ich will mich kurz fassen und eile zum Schluß. Ich erwähne noch, daß die Angeklagte kurz vor dem Fallen des tödlichen Schusses in unruhiger Weise mehrfach die Vorhänge zurückschlug und zum Fenster hinaussah, so daß dieses Benehmen ihrem ermordeten Gatten auffiel und er sie fragte, weshalb sie fortwährend hinaussehe. Ich will nicht behaupten, daß die Angeklagte nachsah, ob Rieß bereits mit der Mordwaffe auf dem Gutshof stehe; zweifellos ist mir aber, daß die Angeklagte an jenem Abend eine ganz ungewöhnliche Unruhe an den Tag gelegt hat. Die Frau Busch und Ziegran haben allerdings bekundet: Sie haben am Mordabend einen Mann in verdächtiger Weise auf dem Gutshof stehen sehen, dieser sei aber kleiner und dicker als Rieß gewesen und habe einen schwarzen Schnurrbart gehabt. Diese höchst wichtige Wahrnehmung, die an die Mondscheinler in Irland erinnert, trugen die beiden Frauen zwei volle Jahre mit sich herum; sie ließen ihre Wohltäterin ganz ruhig im Gefängnis sitzen. Es ist für mich kein Zweifel: die beiden Frauen sind am Tage nach dem Morde zu der Angeklagten gelaufen und haben dieser ihre Wahrnehmungen mitgeteilt. Die Angeklagte sagte zu ihnen: „Kinder, macht mich nicht unglücklich und schweigt.“ Als aber das Belastungsmaterial sich häufle, da war es nicht mehr geraten, daß die Frauen länger schwiegen, sie mußten reden und bezeugen, daß der Mann, den sie gesehen haben und der zweifellos der Mörder war, nicht Rieß gewesen ist. Die Frauen haben auch erst dann ihre Wahrnehmungen erzählt, als Busch aus dem Zuchthause kam. Dieser wußte, welchen Wert das Wissen eines solchen Geheimnisses einer so zahlungsfähigen Frau wie der Angeklagten hatte. Es war ihm klar, daß das Wissen dieses Geheimnisses eine lebenslängliche Rente bedeutet. Dies allein ist die Erklärung für das höchst eigentümliche Verhalten der Zeuginnen Busch und Ziegran. Ich will nun schließen; ich behalte mir vor, auf die Reden der Herren Verteidiger zu antworten. Ich habe die Überzeugung, meine Herren Geschworenen, Sie werden die Angeklagte schuldig sprechen. Ich stehe nicht an, zu sagen: Sie würden andererseits einen Fehlspruch tun.

Verteidiger Justizrat Dr. Sello (Berlin): Meine Herren Geschworenen! Ich habe sonst die Gewohnheit, mich eng an die Ausführungen des Vertreters der Königlichen Staatsanwaltschaft anzuschließen. Zu meinem großen Bedauern muß ich diesmal von dieser Form abweichen und meine eigenen Wege gehen, da ich nicht in der Lage bin, den Schwingen der kühnen Phantasie des Herrn Ersten Staatsanwalts zu folgen. Aber auch Menschlichkeitsrücksichten nötigen mich, von dieser meiner sonstigen Gewohnheit abzuweichen; ich bin das der unglücklichen Frau schuldig, die hinter mir sitzt und mit Zittern und Zagen Ihrem Wahrspruch entgegensieht. Ich kann dem Herrn Staatsanwalt um so weniger in seinen Ausführungen folgen, da es mir widerstrebt, in dem gegenwärtigen Augenblicke seine Behauptung zu widerlegen: die Frau, die vor der Leiche ihres soeben erschossenen Mannes in Ohnmacht gefallen sei, habe diese Ohnmacht geheuchelt, da eher eine Schwadron Dragoner in Ohnmacht falle als diese Frau. Ich will daher meine eigenen Wege wandeln und mich streng an den Gang der Verhandlung halten. Wenn man auf die sechstägige Verhandlung zurückblickt, dann drängt sich unwillkürlich die Frage auf: ist denn mit einer Silbe die Schuld des verstorbenen Inspektors Rieß bewiesen? Ich frage: Wenn der verstorbene Rieß lebte und hier auf der Anklagebank säße, hätten Sie alsdann den Mut, auf Grund des vorgeführten Beweismaterials den Mann für schuldig zu erklären? Ich frage: Was ist gegen Rieß bewiesen worden? Eine Reihe einwandfreier Zeugen hat bekundet, daß Rieß ein braver, ordentlicher Mann, ein pflichtgetreuer Beamter von seltener Gutmütigkeit, ja von weichem Gemüt war. Frau Rieß hat uns tränenden Auges versichert, daß sie sich Vorwürfe mache, ihren Mann, der immer gut und liebevoll zu ihr war, irrtümlicherweise der ehelichen Untreue beschuldigt zu haben. Ich frage, ist auch nur mit eines Haares Breite bewiesen worden, daß Rieß der Mörder ist? Ganz abgesehen davon, daß eine Reihe von Zeugen hier bekundet haben: Rieß sei einer solch schrecklichen Tat nicht fähig, so entsteht doch die Frage: Halte denn Rieß irgendeinen Beweggrund, seinen Prinzipal meuchlings niederzuschießen? Wir haben gehört, der ermordete Rosengart war ein böser Kumpan, der seiner Brutalität und seiner vielen Prozesse wegen viele Feinde hatte. Aber wir haben auch gehört, daß der verstorbene Rieß mit Rosengart in durchaus friedlicher Weise lebte. Von keinem Zeugen ist auch nur mit einer Silbe bekundet worden, daß zwischen Rieß und Rosengart jemals ein böses Wort gefallen ist. Es ist uns im Gegenteil bekundet worden: Der verstorbene Rosengart hatte den Rieß sehr lieb, er zog ihn oftmals zu Tisch, er brachte ihm volles Vertrauen entgegen, ja, er hatte ihm für den 1. April eine Gehaltszulage von 150 Mark versprochen.

Nun könnte man sagen: Rieß gehört vielleicht zu den stillen Gewässern, von denen man sagt, daß sie tief seien. Es wird behauptet: Rieß habe seinen Prinzipal erschossen, weil er mit der Angeklagten ein Liebesverhältnis unterhielt. Der Herr Erste Staatsanwalt war so gütig, zuzugestehen, daß ein intimer Verkehr zwischen Rieß und der Angeklagten nicht nachgewiesen sei. Aber trotzdem habe ein Liebesverhältnis zwischen Rieß und der Angeklagten bestanden. Allein nicht ein einziger Zeuge, weder die mit Schimpf und Schande weggejagten Dienstboten, noch die von glühendem Haß erfüllten Geschwister der Angeklagten haben eine Tatsache für diese Behauptung anführen können. Die kleine Olga, die hier als Zeugin erschien und erklärte, daß sie gegen ihre Mutter Zeugnis ablegen wolle, hat allerdings bekundet: Rieß und ihre Mutter seien vielfach im Keller zusammengekommen, und sie habe Wache stehen müssen. Das kleine Mädchen, das anfänglich erklärt hatte, sie wolle gegen ihre Mutter nicht Zeugnis ablegen, wurden von liebenden Verwandten veranlaßt, schließlich doch gegen ihre Mutter als Zeugin aufzutreten. Nicht von der Verteidigung, sondern von der Geschworenenbank wurde die Frage gestellt, ob denn das Kind wisse, welchen Verbrechens die Mutter angeklagt ist. Die Verteidigung brach infolgedessen in den Ruf aus: „Mein Gott, es handelt sich doch um Leben und Tod.“ Das kleine Mädchen mußte schließlich zugeben, Onkel Adameit habe ihm allerdings nicht gesagt, was es aussagen solle, aber er habe es ihr wie Pappe um den Mund geschmiert, und sein Bruder Karl habe ihm gedroht: er werde es totschlagen, wenn es nicht gegen Mama aussage. Dieses Mädchen hat zunächst eine Behauptung aufgestellt, die, wenn sie richtig wäre, allerdings dafür spräche, daß ein Liebesverhältnis zwischen Rieß und der Angeklagten bestanden habe. Allein der Zufall wollte es, daß das Mädchen schließlich erklärte: sie habe den Rieß nur ein einziges Mal mit der Mutter im Keller gesehen, in allen übrigen Fällen seien es die Frauen Busch und Ziegran gewesen, die mit der Mutter im Keller waren. Daß die Angeklagte den Rieß aufforderte, nach einem solch furchtbaren Vorgange bei ihr zu bleiben, kann man ihr wirklich nicht übelnehmen. nehmen. Wir haben gehört, daß Rieß sich angezogen auf die Chaiselongue gelegt habe. Hätte die Angeklagte etwas im Sinne gehabt, dann hätte sie weder das Licht brennen noch die Tür offengelassen. Der Herr Erste Staatsanwalt erwähnte eines Prozesses, der mir nicht einmal dem Namen nach bekannt ist, der den Beweis erbracht habe, daß Mörder, die verschiedenen Geschlechtern angehören, gewöhnlich nach der Tat sich um so mehr zueinander hingezogen fühlen. Jedenfalls hat die Beweisaufnahme trotz klatschsüchtiger, mit Schimpf und Schande weggejagter Dienstboten und liebender Geschwister, die die eigenen Kinder der Angeklagten bestimmten, Zeugnis gegen ihre Mutter abzulegen und sie zu instruieren, damit die Kinder dazu beitragen, daß die Mutter dem Henker überliefert werde und die einen Familienrat abhielten, um die Schwester ins Irrenhaus stecken zu lassen, das Vorhandensein eines Liebesverhältnisses zwischen Rieß und der Angeklagten nicht erwiesen. Es ist auch in keiner Weise erwiesen, daß Rieß, der verheiratet und Vater dreier Kinder war, mit anderen Frauen strafbaren Umgang gehabt habe. Ebensowenig ist eine solche Handlung von der Angeklagten bewiesen. Es ist allerdings von liebenden Geschwistern behauptet worden, die Angeklagte habe in Pillau mit einem Wallmeister ein strafbares Verhältnis unterhalten. Ich habe die Überzeugung, daß die Königliche Staatsanwaltschaft waltschaft auf diese Behauptung selbst keinen Wert gelegt hat, denn es wäre der Staatsanwaltschaft bei ihren Machtmitteln ein leichtes gewesen, diesen Wallmeister zur Stelle zu schaffen. Nun könnte man sagen: die Angeklagte wollte ihren Mann los werden, weil sie von ihm mißhandelt wurde. Abgesehen davon, daß wir nicht gehört haben, daß in den letzten drei Monaten vor dem Morde eine Mißhandlung der Angeklagten seitens ihres Mannes stattgefunden hatte, so hatte die Angeklagte, wenn sie ihren Mann los werden wollte, nicht nötig, ihren Gatten, den Vater ihrer fünf Kinder, meuchlings niederschießen zu lassen, sie hätte mit Erfolg die Ehescheidungsklage einleiten können, und ihr Mann wäre für den schuldigen Teil erklärt worden. Ich bin der Meinung: hätte die Angeklagte ihren Mann los werden wollen, dann würde sie zunächst diesen Versuch unternommen haben. Die Beweisaufnahme hat ohne Zweifel ergeben, daß der ermordete Rosengart eine große Anzahl Feinde hatte und viele Drohbriefe erhalten hat. Der Herr Erste Staatsanwalt hat diese Drohbriefe für eine Vorbereitung gehalten, weil die Briefe nicht mehr vorhanden seien. Ich behaupte, wären die Drohbriefe vorbereitet gewesen, dann hätte die Angeklagte sie aufgehoben. Ja, ich behaupte: Wäre nur ein einziger Drohbrief vorhanden, der Herr Erste Staatsanwalt würde daraus zweifellos erst recht gefolgert haben, daß die Drohbriefe briefe vorbereitet waren. Ich bin aber der Meinung: Rosengarts haben gehandelt wie alle vernünftigen Menschen, die anonyme Drohbriefe zumeist ungelesen als verächtliche Wische in den Papierkorb werfen. Jedenfalls ist der Mörder nicht im Inspektorhause zu Ernsthof, sondern unter den Schreibern der Drohbriefe zu suchen. Die Amanda Eggert, die zweifellos einen glaubwürdigen Eindruck machte, hat bekundet: sie habe kurz vor dem Schuß zwei Stimmen im Hofe flüstern gehört. Meine Herren! Nur der Theatermörder, wie Tell, ergeht sich vor dem Morde in Monologen. Bürgerliche Mörder im praktischen Leben halten keine Monologe. Wenn also die Bekundung der Eggert wahr ist, dann haben zwei Personen die Mordtat begangen, und alsdann ist Rieß nicht der Mörder.

Der Herr Erste Staatsanwalt hat Herrn Referendar a.D. Wolff der unstatthaften Zeugenbeeinflussung geziehen. Die Verhandlung hat aber nicht eine einzige Tatsache dafür ergeben. Ich fühle mich verpflichtet, Herrn Referendar Wolff, der noch vor wenigen Monaten unter dem Amtseide stand und von uns als Kollege angeredet wurde, in Schutz zu nehmen. Daß Herr Referendar Wolff das Zeugnis der Frauen Busch und Ziegran zur Anzeige gebracht hat, ist ihm doch gewiß nicht zum Vorwurf zu machen. Ich bin der Meinung, hätte Referendar Wolff diese Anzeige unterlassen, dann würde er sich einer groben Pflichtverletzung schuldig gemacht haben. Der Herr Erste Staatsanwalt hat die Frauen Busch und Ziegran als unglaubwürdig bezeichnet, weil sie 1 1/2 Jahre geschwiegen haben. Meine Herren Geschworenen! Es gibt eben zwei verschiedene Klassen von Zeugen: die einen, die alles mögliche erzählen, obwohl sie nichts wissen, und die anderen, die schweigen, obwohl sie etwas wissen. Es ist mir sehr erklärlich, daß ungebildete Leute deshalb schweigen, weil sie mit dem Gericht nichts zu tun haben wollen, weil sie dem Grundsatz huldigen: Das Feuer, das sie nicht brennt, nicht zu löschen. Jedenfalls ist es Tatsache, daß die beiden Frauen, trotzdem sie in lebhaftester Weise ins Kreuzverhör genommen wurden, sich nicht ein einziges Mal widersprochen haben. Hätten die Frauen entlasten wollen, dann würden sie gesagt haben: Der Mörder ist nicht nach Ernsthof zu, sondern in der entgegengesetzten Richtung geflüchtet. Leute dieses Bildungsgrades lügen nicht Unwahrheiten in ihre Aussagen hinein, um glaubhafter zu erscheinen, solche Zeuginnen lügen plump und grob. Der Verteidiger suchte im weiteren nachzuweisen, daß ein ortskundiger Mörder nicht den Weg über das Weizenfeld genommen hätte, er hätte einen näheren Weg einschlagen können, ohne auf der Chaussee bemerkt zu werden. Es mußte dem Mörder darum zu tun gewesen sein, daß einmal Fußspuren nicht zu sehen waren und daß er andererseits so schnell als möglich in seine Behausung komme. Es sei auch nicht möglich, daß Rieß in so kurzer Zeit Abendbrot gegessen, sich ausgezogen und schlafen gelegt habe. Es sei ferner auffallend, vorausgesetzt, Rieß habe den Mord auf Anstiftung oder mit Wissen und Willen der Angeklagten getan, daß die Angeklagte, als sie in das Mordzimmer stürzte, ihre Tochter Olga und die Eggert sofort zu dem Inspektor Rieß geschickt hat. Sie mußte befürchten, daß die beiden Mädchen eher in Ernsthof seien als der Mörder.

Ich komme nun zu dem Zeugen Adameit. Ich habe wohl nicht nötig, näher auszuführen, daß Adameit lediglich aus Eigennutz gehandelt hat, um sich in den Besitz der Wirtschaft zu setzen. Er wollte es verhindern, daß die Angeklagte den Referendar Wolff heiratet, weil er dadurch einen Vermögensnachteil befürchtete. Seine Bemerkung: „Sie sitzt drin, ich werde für euch wirtschaften und wenn ihr großjährig seid, mich mit euch auseinandersetzen“, charakterisiert den Mann vollständig. Aus denselben Beweggründen hat die Budnick gehandelt, deren Zeugnis allein aber keine Bedeutung hat. Aber selbst wenn die Aussage des Adameit wahr wäre, so hätte sich die Angeklagte nicht einmal der Begünstigung schuldig gemacht. Der Verteidiger suchte ferner den Nachweis zu führen, daß Adameit sich vielfach widersprochen habe und daß nicht anzunehmen sei, daß das Gewehr bei den vielen Haussuchungen nicht entdeckt worden wäre. Der Verteidiger schloß mit etwa folgenden Worten:

Meine Herren Geschworenen! Die Angeklagte hat trotz eingehenden Verhörs sich nicht mit einem Worte widersprochen. So handelt aber nur jemand, der die Wahrheit sagt. Sie haben heute über Tod und Leben eines Menschen zu entscheiden. Es ist eine alte Sage, daß man das Gespenst, das man einmal geschaut hat, schwer wieder los wird. Die Angeklagte hat das Gespenst des Schafotts klar vor Augen gesehen und furchtbar gelitten. Ich hoffe, Sie werden durch Ihren Wahrspruch es bewirken, daß das arme Weib noch heute nacht das Gefängnis verlassen kann. Mag Ihr Wahrspruch ausfallen, wie er wolle, ich bin entfernt, ihn als Fehlspruch zu bezeichnen. Ich habe jedoch das Vertrauen, daß Ihr Spruch der Gerechtigkeit und dem allgemeinen Volksgefühl entsprechen wird. Das hoffe ich, das erwarte ich von Ihnen. (Lebhaftes Bravo im Zuhörerraum.)

Vors.: Wenn sich eine solche Kundgebung noch einmal wiederholt, dann werde ich den Zuhörerraum sofort räumen lassen und die Schuldigen zur Bestrafung ziehen.

Es folgten noch längere Repliken und Dupliken zwischen dem Ersten Staatsanwalt und dem Verteidiger Justizrat Dr. Sello. Die Angeklagte, vom Vorsitzenden befragt, was sie noch anzuführen habe, bemerkte: merkte: Ich versichere, daß ich unschuldig bin.

Der Vorsitzende gab alsdann den Geschworenen die vorgeschriebene Rechtsbelehrung. Darauf zogen sich die Geschworenen gegen 1 3/4 Uhr nachts zur Beratung zurück.

Gegen 3 1/4 Uhr nachts traten die Geschworenen wieder in den Saal. Unter höchster Spannung des überfüllten Zuhörerraumes verkündete der Obmann, Rittergutsbesitzer Magnus (Holstein bei Königsberg), daß die Geschworenen alle drei Schuldfragen verneint haben. (Lebhaftes Bravo und große Bewegung im Zuhörerraum.) Der Vorsitzende rügte das Bravo. Nachdem die Angeklagte wieder eingeführt und ihr vom Gerichtsschreiber der Spruch der Geschworenen vorgelesen war, verkündete der Vorsitzende, Landgerichtsdirektor Wohlgemuth: Der Gerichtshof hat, dem Spruch der Geschworenen entsprechend, dahin erkannt, daß die Angeklagte freigesprochen ist und die Kosten des Verfahrens der Staatskasse auferlegt werden. Der Gerichtshof hat außerdem beschlossen, den Haftbefehl gegen die Angeklagte aufzuheben und sie sofort in Freiheit zu setzen. Die Sitzung ist geschlossen. (Schluß gegen 3 1/2 Uhr nachts.) Olga Rosengart drängte zur Anklagebank, überreichte der Mutter ein Bukett und küßte sie herzlich. Dies taten auch Carl Rosengart und der Referendar a.D. Wolff. Auf dem Paradeplatz hatte ein vieltausendköpfiges Publikum Posto gefaßt. Vor dem Gerichtsgebäude wartete die elegante Equipage der Angeklagten.

Der König der Spieler Rudolf Stallmann und Genossen auf der Anklagebank

Es gibt wohl nur wenige Menschen, die frei von jeder Leidenschaft sind. Zu den schlimmsten Leidenschaften gehört zweifellos das Spiel, und zwar das Spiel in jeder Form. Solange das Kartenspiel nur als Gesellschaftsspiel mit geringen Einsätzen betrieben wird, ist gewiß nichts dagegen einzuwenden. Wenn das Kartenspiel aber zur Leidenschaft wird, so daß der Beruf vernachlässigt, das Familienleben gestört und die Nachtruhe geopfert wird, dann ist es entschieden zu verurteilen. In solchen Fällen wird das Spiel gewöhnlich nicht mehr als Gesellschaftsspiel betrieben, sondern in der Absicht, schnelle und hohe Gewinne zu erzielen. Vor einiger Zeit wurde im Westen Berlins von der Polizei ein Spielklub entdeckt, der zumeist aus Damen, besseren Kokotten usw. bestand. In diesem Klub sollen riesige Summen in einer Nacht verspielt worden sein. Wie viele Existenzen durch diese unbezähmbare Leidenschaft ruiniert worden sind, wie viele Selbstmorde der Spieltisch im Gefolge gehabt hat, ist schwer festzustellen. Das gewerbsmäßige Glücksspiel bildet fast eine tägliche Rubrik auf den Terminzetteln der Strafgerichte. Gerichtliche Bestrafungen sind aber keineswegs imstande, den Spielteufel, der schon im grauen Altertum sein unheimliches Wesen trieb, aus der Welt zu schaffen. Trotz aller Bestrafungen und Warnungen der Presse blüht in Berlin und in anderen Großstädten noch immer das Gewerbe der

Bauernfänger.

In der Nähe der in den Vorstädten Berlins belegenen Bahnhöfe treiben sich noch immer zahlreiche Bauernfänger umher. Sie verstehen es meisterhaft, unerfahrene Leute, insbesondere jugendliche Arbeiter, die fremd nach Berlin kommen, in obskure Kellerlokale zu verschleppen und sie zum Kümmelblättchen- oder „Meine-deine-Tante“-Spiel zu veranlassen. Die Bauernfänger erbieten sich gewöhnlich, die Zeche des Fremden zu bezahlen, ihm auch lohnende Arbeit nachzuweisen. Sie lassen den Fremden zunächst gewinnen). Sehr bald wendet sich aber das Glück. Nach kurzer Zeit hat der Fremde seine ganze Barschaft verspielt und – die freundlichen Herren, die zum Spiel eingeladen haben, sind mit dem Raub spurlos verschwunden. Daß der Wirt diese Leute, obwohl sie seine täglichen Gäste, gewissermaßen seine Schlepper sind, nicht kennt, richtiger gesagt, nicht kennen will, ist selbstverständlich.

Eine nicht geringere Leidenschaft als das Kartenspiel ist das Setzen auf Rennpferde. Unsummen werden hierbei verspielt. In Großberlin verspielen Ehefrauen das ihnen vom Gatten gegebene Wirtschaftsgeld der ganzen Woche. Handlungslehrlinge verspielen die ihnen anvertraute Portokasse, Gymnasiasten ihr Taschengeld, Studenten den Betrag ihrer Monatswechsel. Aber auch

das Börsenspiel,

das von Leuten, die vom Börsenwesen nicht die geringste Kenntnis besitzen, vielfach in leidenschaftlichster Weise betrieben wird, ist aufs schärfste zu verurteilen. Eine große Anzahl Schwindler, die die Frechheit haben, sich „Bankier“ zu nennen, sind bemüht, durch Aussendung von Reisenden in die kleinen Städte und Dörfer die Sucht des unerfahrenen Publikums nach schnellem, mühelosem Gewinn anzureizen und zum Börsenspiel zu verleiten. Diese Art „Bankiers“, die im eigentlichen Sinne des Wortes nur

betrügerische Roulettehalter

sind, haben mit der Börse keinerlei Beziehungen. Sie führen die erhaltenen Aufträge zum Ankauf von Papieren oder auch Prämien überhaupt nicht aus, sondern machen die Geschäfte „in sich“. Um die Kunden sicher zu machen, geben diese „Bankiers“, denen für die wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse zumeist jedes Verständnis abgeht, den Kunden eine ordnungsgemäße, mit den erforderlichen Börsenstempeln versehene Rechnung, auf der der Vermerk enthalten ist: „Stücke im Depot.“ Das ist selbstverständlich Flunkerei. Diese „Bankiers“, die „Buketshop-Bankiers“ kiers“ genannt werden und vielfach in den Untersuchungs- und Strafgefängnissen anzutreffen sind, haben das Interesse, daß die den Kunden zum Ankauf empfohlenen Papiere im Kurse sinken. Diese „Ehrenmänner“ empfehlen daher naturgemäß Papiere, deren Kursrückgang vorauszusehen ist. Sobald dieser Fall eintritt, fordert der „Bankier“ den Kunden auf, ihm weitere Einlage zu geben, d.h. „das Depot zu verstärken“. Wenn der Kunde dazu nicht imstande ist, dann verkauft der „Bankier“ angeblich die im Kurse gesunkenen Papiere und beschwatzt den Kunden, andere, im Kurse niedriger stehende Papiere zu kaufen. Letztere sinken schließlich auf Null. Der Kunde hat alsdann sein Depot verloren. Der Gewinner ist stets der „Bankier“, der alle diese Geschäfte ohne jedes Risiko ausgeführt hat. Wenn jedoch der seltene Fall eintritt, daß ein angeblich gekauftes Papier im Kurse steigt und der Kunde die Auszahlung des Gewinnes verlangt, dann wird ihm zugeredet, das Papier nicht zu verkaufen, da es „sicher“ noch bedeutend weiter steigen werde. Der „Bankier“ weiß angeblich ganz genau, daß die Baisse deckt, mithin wäre der Verkauf ein Fehler. Der Kunde wird so lange beschwatzt, bis der Kurs wieder gesunken ist. Jedenfalls erhält der Kunde von dieser

Räuberbande

niemals das eingezahlte Geld wieder. Diese Art von „Bankiers“ lebt auf Kosten der kleinen Sparer in Saus und Braus, unterhält Mätressen, Reitpferde usw., bis die Kunden schließlich einsehen, daß sie Betrügern in die Hände gefallen sind und die Hilfe des Staatsanwalts anrufen. In den meisten Fällen ist aber alsdann das eingezahlte Kapital für immer verloren. Generalkonsul Russel, Vorstandsmitglied der Diskonto-Gesellschaft, sagte einmal bei Beratung des Börsengesetzes in einer Vollversammlung des Deutschen Handelstages: „Wenn jedermann über den Bankier, dem er sein Vermögen anvertraut, und über die anzukaufenden Papiere sich wenigstens ebenso erkundigen würde, wie über den Schneidermeister, bei dem er sich einen Anzug bestellen will, dann würde das Publikum weniger Verluste zu beklagen haben.“

Das Publikum sollte auch nicht zu vertrauensselig zu Banken sein. Die Leipziger Bank galt viele Jahre als erstklassig. Die Bewohner Leipzigs vertrauten arglos ihre Vermögen der Leipziger Bank. Die Leipziger waren fast ausnahmslos stolz auf „ihre Bank“. Die Deutsche Bank eröffnete in Leipzig eine Filiale. Aber die stark lokalpatriotisch veranlagten Leipziger wollten von den „Berlinern“ nichts wissen, sie blieben der Leipziger Bank treu. Die Zahl der Leipziger Bürger, die etwas Vermögen besaßen und dies nicht der Leipziger Bank anvertraut hatten, war jedenfalls sehr gering. Da plötzlich, im Juni 1901, brach, wie aus heiterem Himmel ein Donnerschlag,

eine Katastrophe

aus, wie sie fürchterlicher nicht gedacht werden kann. Die stolze Leipziger Bank war jäh zusammengebrochen. Eine ungeheuer große Anzahl Familien Leipzigs und Umgegend hatte ihr ganzes Vermögen verloren. Direktor Exner hatte einige 90 Millionen Mark der Treber-Aktien-Gesellschaft in Kassel geliehen. Der Direktor dieser Gesellschaft, Schmidt, hatte zahlreiche Tochtergesellschaften gegründet. Diesem Mann schwebte augenscheinlich eine amerikanische Trustbildung größten Stils vor. Schmidt war mit Exner, ebenfalls ein geborener Kasseler, seit Jugend auf befreundet. Die Leipziger Bank war das Bankhaus der Treber-Gesellschaft. Exner ließ sich von seinem Freunde Schmidt vorgaukeln, die Leipziger Bank werde durch die finanzielle Unterstützung der Treber-Gesellschaft ein Riesenvermögen verdienen. Exner hatte wohl schließlich Bedenken, als Schmidt immer neue Millionen verlangte. Er befand sich aber in einer Zwickmühle, denn Schmidt erklärte: Wenn er nicht fernere Unterstützung erhalte, dann breche das ganze Gebäude zusammen und es sei alles verloren. Wenn er dagegen weitere Unterstützung erhalte, dann sei zweifellos ein fabelhaftes Vermögen

Milliarden

zu verdienen. Nachdem Schmidt etwa 95 Millionen von der Leipziger Bank erhalten hatte, brach die Treber-Gesellschaft zusammen und

Direktor Schmidt war verschwunden.

Nach längerer Zeit gelang es, Schmidt, der wahrscheinlich ein großes Vermögen für sich in Sicherheit gebracht hatte, im Auslande zu verhaften. Er wurde ausgeliefert und im Juli 1903 vom Schwurgericht zu Kassel zu mehrjährigem Zuchthaus verurteilt. Selbstverständlich hatten auch die zahllosen Besitzer der Treber-Aktien, deren Kurs eine schwindelhafte Höhe erreicht hatte, ihr ganzes Vermögen verloren. Als Direktor Exner sowie seine Mitdirektoren und Aufsichtsräte sich vom 16. Juni bis 23. Juli 1902 vor dem Leipziger Schwurgericht zu verantworten hatten, dauerte es mehrere Tage, ehe es gelang, ein Geschworenengericht zu bilden. Bekanntlich ist derjenige vom Geschworenenamt ausgeschlossen, der oder dessen Angehörige durch die zur Verhandlung stehende Straftat geschädigt worden sind. Da aber durch den Zusammenbruch der Leipziger Bank fast die ganze besitzende Bürgerschaft Leipzigs geschädigt war, so machte es begreiflicherweise ungeheuere Mühe, ein Schwurgericht zu bilden. Die mitangeklagten Aufsichtsräte, sämtlich Leute, die zu den ersten Familien Leipzigs gehörten, erklärten in der Verhandlung: Sie hätten eher geglaubt, der Himmel würde auf die Erde fallen, als daß die Leipziger Bank zusammenbrechen könnte. Die Geschworenen, die am 23. Juli von 10 1/2 Uhr morgens bis 8 1/2 Uhr abends beraten hatten, erklärten den Direktor Exner

schuldig des betrügerischen Bankerottes

unter Ausschluß mildernder Umstände.

Der Gerichtshof verurteilte daraufhin Exner zu

fünf Jahren Zuchthaus

und fünf Jahren Ehrverlust.

Der Verteidiger Justizrat Dr. v. Gordon (Berlin) legte gegen das Urteil Revision ein. Das Reichsgericht hob das Urteil auf und wies die Sache zur nochmaligen Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurück, und zwar aus folgenden Gründen: Die Geschworenen waren, nachdem der Obmann den Wahrspruch der Geschworenen verkündet hatte, einer Formverletzung wegen genötigt, sich noch einmal zurückzuziehen. Der Wahrspruch blieb unverändert. Da aber der Vorsitzende verabsäumt hatte, den Geschworenen vor der zweiten Beratung zu sagen: Sie seien an den verkündeten Wahrspruch nicht gebunden, sondern berechtigt, ein anderes Urteil zu fällen, so war das Reichsgericht genötigt, das Urteil aufzuheben.

In der zweiten Schwurgerichtsverhandlung, im Februar-März 1903, wurde Exner zu 2 1/2 Jahren Gefängnis, unter Abrechnung von 9 Monaten auf die allerdings seit Juni 1901 währende Untersuchungshaft, verurteilt. Sowohl der Zusammenbruch der Leipziger Bank als auch der Kasseler Treber-Gesellschaft hatte

eine große Anzahl Selbstmorde

von Leuten, die zu Bettlern herabgesunken waren, im Gefolge. Aus beiden Verhandlungen ging hervor, daß die Aufsichtsräte in den Aktiengesellschaften in der Hauptsache Staffage bilden. Zu Aufsichtsräten werden gewöhnlich Leute mit wohlklingendem Namen gewählt, um – Dumme zum Kauf von Aktien anzulocken. Diese „Äufsichtsräte“ stecken lediglich die Tantieme ein, im allgemeinen kümmern sie sich um die Transaktionen der Direktoren nicht im geringsten, sie haben auch oftmals davon kein Verständnis.

Während des Leipziger Bankprozesses, dem ich, ebenso wie dem Treiberprozeß in Kassel, als Berichterstatter beiwohnte, stieg mir bisweilen bei Vernehmung einiger Aufsichtsräte unwillkürlich die Frage auf: „Stellen sich diese Leute so dumm, oder sind sie wirklich so dumm?“ Jedenfalls klafft bezüglich der Verantwortlichkeit der Aufsichtsräte noch eine arge Lücke im Gesetz.

In der zweiten Schwurgerichtsverhandlung gegen den Direktor Exner bekundete der als Zeuge vernommene Generalkonsul v. Schwabach vom Berliner Bankhause S. Bleichroeder: Wir standen mit der Leipziger Bank in engster Beziehung, hatten aber von dem Stande der Bank so wenig Kenntnis, daß wir im Juni 1901 ohne jeden Argwohn für einen Kunden einen größeren Posten Leipziger-Bank-Aktien zum Kurse von 143 % kauften. Drei Tage später kam der Zusammenbruch und die Aktien notierten an der Berliner Börse 3 % Brief, d.h. sie wurden mit 3 % angeboten. Ein Geldkurs war überhaupt nicht vorhanden, d.h. es wollte die Akten niemand kaufen. Der Kurs fiel deshalb sehr schnell auf 1 %.

Auch die Niederdeutsche Bank in Dortmund genoß in Rheinland-Westfalen großes Ansehen. Eines Tages brach dieses stolze Finanzgebäude jäh zusammen und zahlreiche Leute hatten den Verlust ihres ganzen Vermögens zu beklagen. Der Direktor dieser Bank, Ohm, hat sich seit fast einem Jahre vor dem Dortmunder Strafgericht zu verantworten. Wann dieser eigenartige Prozeß zu Ende kommen wird, ist zur Zeit der Drucklegung dieses Bandes noch nicht abzusehen. Ähnliche Vorkommnisse waren zu verzeichnen, als Anfang 1896 die Rheinisch-Westfälische Bank zusammenkrachte. Ich erinnere ferner an den Bontoux-Krach in Paris (1882). Dieser Eugène Bontoux, ein zweiter Stroußberg, hatte 1880 mit den Geldern der Legitimisten und Klerikalen die „Union générale“ in Paris gegründet. Letztere machte anfänglich glänzende Geschäfte. Sie verband sich mit der Österreichischen Länderbank und übernahm den Bau mehrerer ungarischer und serbischer Bahnen. 1882 brach das stolze Unternehmen zusammen. Wiederum war ein Vermögen von Milliarden verloren. Bontoux wurde 1883 zu 5 Jahren Gefängnis verurteilt. Er entzog sich der Verbüßung der Strafe durch die Flucht. Ein Mitglied der

Familie Rothschild

hatte durch den Zusammenbruch der „Union générale“

achtzig Millionen Franken

verloren. Dieser Mann machte seinem Leben durch Erhängen ein Ende.

Ich erinnere endlich an den Zusammenbruch des weltberühmten Londoner Bankhauses

Baring Brothers and Co.

(November 1890). Dies Fallissement wurde nur mit Mühe durch die Bank von England und andere große Banken, die das Bankhaus in eine Aktiengesellschaft umwandelten, vor dem Schlimmsten bewahrt. Wäre das nicht sofort geschehen, dann hätte dieser Zusammenbruch unabsehbare Folgen gehabt. Jedenfalls hatte der Zusammenbruch eine große Deroute auf dem internationalen Börsenmarkt bewirkt und einen ungeheuren Vermögensverlust im Gefolge. Auch das

Lotteriespiel

nimmt immer mehr überhand. Die kleinen Lotterien, die fast gar keine Chancen bieten, werden ohne Unterlaß öffentlich angepriesen und erlaubt. Die preußische Klassenlotterie ist wesentlich erweitert, die Gewinne winne aber verringert worden.

Aufs schärfste zu tadeln ist es, daß die Königlich Preußische General-Lotterie-Direktion angibt, die Gewinne werden sämtlich doppelt ausgezahlt, während dies doch nur der Fall ist, wenn ein Spieler ein doppeltes Los besitzt. Da das aber nur in den seltensten Fällen, ja wohl überhaupt nicht vorkommt – und das ist der Lotteriedirektion zweifellos bekannt –, so ist die Angabe: Die Gewinne werden zweimal ausgezahlt, nicht der Wahrheit entsprechend.

In meiner langjährigen Berufstätigkeit habe ich eine Reihe großer Spielerprozesse erlebt, aber vermindert hat sich die Zahl der Spieler bestimmt noch nicht. Nicht nur in Berlin, auch in anderen Großstädten und Weltbadeorten gibt es zahlreiche geheime Spielklubs, in denen in einer einzigen Nacht Unsummen verloren werden.

Der

„olle ehrliche Seemann“,

hannoverschen Angedenkens, der bekanntlich mit einer Roulette die Lande durchzog, hat längst das Zeitliche gesegnet. Die Falschspieler aus jener Zeit, die Lichtner, Konrad Reuter, v. Meyerinck, Fährle, Abter und Genossen haben sich fast sämtlich zu ihren Vätern versammelt. Aber eine neue Generation von Falschspielern ist erstanden, die in der ganzen Welt zusammenströmen, wo das zahlungsfähige Reisepublikum blikum sich einfindet, in Ostende, in Monte Carlo, in Davos, in St. Moritz, in Venedig, in Florenz usw. Ganz besonders suchen die internationalen Falschspieler ihre Opfer, wie es schon Seemann und Genossen machten, unter den

deutschen Offizieren.

Es ist diesen Gaunern bekannt, daß den Offizieren das Glücksspiel durch Regimentsbefehl streng verboten ist und daß sie auch, aus Anlaß der strengen Begriffe über Ehrenschulden im deutschen Offizierkorps, glatte Regulierung von deutschen Offizieren erwarten können. Die internationalen Falsch- und gewerbsmäßigen Glücksspieler erkennen in den Cafés und Hotelrestaurants der Weltstädte und Weltbadeorte sofort mit Kennerblick den deutschen Offizier, auch wenn dieser Zivilkleidung trägt.

Der König der Spieler

soll der ehemalige Berliner Handlungsgehilfe

Rudolf Stallmann

gewesen sein.

Dieser seltene Abenteurer gab an, neunmal den Erdball durchquert zu haben. Im Juni 1910 war Stallmann, der sich Freiherr v. Korff-König, auch v. Roßbach-König oder v. König-Körner nannte, in Berlin. Er wurde beschuldigt, in Gemeinschaft mit dem Rumänen Stefan Bujes und dem Leutnant a.D. Niemela den damals 21jährigen Husarenleutnant Georg v. Dippe im Hotel „Fürstenhof“ in Berlin, Königgrätzer Straße, beim Spiel innerhalb ganz kurzer Zeit 80000 Mark abgewonnen zu haben. Georg v. Dippe ist, beiläufig erwähnt, der einzige Sohn eines Rittergutsbesitzers, der ein Vermögen von weit über 60 Millionen Mark besitzt. Zu der internationalen Spielerbande gehörten außerdem Bela Klimm, genannt Graf de Ramée, Leutnant a.D. Freiherr Schenk zu Schweinsberg, Mr. Owen, v. Heßdorf, Oszegowitsch, Tartière, Maringer, Kapitän Newton, Rentier Benno Kramer und Leutnant a.D. Edmund Niemela. Vor längerer Zeit gelang es, den Rumänen Bujes zu verhaften. Er wurde im März 1912 nach mehrtägiger Verhandlung von der ersten Strafkammer des Landgerichts Berlin wegen Falschspiels zu einer längeren Gefängnisstrafe verurteilt. Mit ihm war der bekannte Graf Gisbert v. Wolff-Metternich, Neffe des ehemaligen Botschafters des Deutschen Reiches in London, angeklagt. Er wurde beschuldigt, bei dem Spiel im Hotel „Fürstenhof“ und auch bei anderen Gelegenheiten der internationalen Falschspielerbande als Schlepper gedient zu haben. Er wurde jedoch wegen Mangels an Beweisen freigesprochen. Gegen andere Mitglieder der internationalen Spielerbande fanden Prozesse wegen Falschspiels in Frankfurt a.M. und Düsseldorf statt, die sämtlich mit Verurteilungen der Angeklagten endeten. Stallmann soll während des Prozesses wider Bujes- Metternich in Berlin gewesen sein. Die Berliner Polizei setzte seit Jahren alle Hebel in Bewegung, um Stallmann, den „König der Spieler“, zu verhaften.

Eines Abends, im August 1912, als Stallmann aus einem Spielklub in London trat, um nach Hause zu gehen, wurde er verhaftet und nach längeren diplomatischen Verhandlungen an das Landgericht Berlin I ausgeliefert. Bald darauf gelang es auch, Niemela und Kramer – letzterer war beschuldigt, einen Erpressungsversuch gegen den Leutnant Georg v. Dippe unternommen zu haben – zu verhaften. Beide wurden ebenfalls ausgeliefert. Der Spielerkönig Stallmann hatte sich in Gemeinschaft mit Niemela und Kramer vom 26. März bis 10. April 1913 vor der ersten Strafkammer des Landgerichts Berlin I, Stallmann und Niemela wegen Betruges, Kramer wegen versuchter Erpressung zu verantworten. Den Vorsitz des Gerichtshofes führte Landgerichtsrat Lampe. Der alte freundliche Herr hat den Krieg gegen Frankreich mitgemacht und in der Schlacht bei Gravelotte den linken Arm verloren. Die Anklagebehörde vertrat Staatsanwaltschaftsrat Dr. Weismann, ein ungemein schneidiger Jurist und ein den Journalisten sehr entgegenkommender Herr. Die Verteidigung hatten übernommen die Rechtsanwälte Dr. Julius Meyer I, Dr. Werthauer und Walter Bahn für Stallmann, die Rechtsanwälte Dr. Schwindt und Dr. Erich Frey für Niemela, die Rechtsanwälte Dr. Max Alsberg und Dr. Siegfried Löwenstein für Kramer. Der mittelgroße Stallmann machte wohl einen sehr intelligenten, aber keineswegs den Eindruck eines Weltkavaliers, wie man sich den

König der Spieler

doch allgemein vorstellte. Er war am 14. April 1871 als Sohn des Kaufmanns Louis Stallmann in Berlin geboren, evangelischer Konzession und verheiratet. Er war 1889 in Berlin wegen Hausfriedensbruchs und Sachbeschädigung mit einer Woche Gefängnis, in München wegen Betruges (Zechprellerei) und Führung falschen Namens mit einem Monat Gefängnis und drei Tagen Haft bestraft. Niemela war ein kleiner, noch sehr jugendlich aussehender, sorgsam gekleideter Herr, mit blondem, nett gescheiteltem Haar und kleinem, wohlgepflegten blonden Schnurrbart. Ein Sturz mit dem Aeroplan hatte ihn den Verlust der Nasenspitze gekostet. Dies verunstaltete das sonst nicht unschöne Gesicht. Niemela war als Sohn eines Tierarztes am 7. Juli 1884 in Ratibor geboren und unbestraft. Kramer war ein großer, breitschultriger Herr mit sehr intelligentem Gesichtsausdruck. Er war 1855 in Nordhausen geboren. Während seiner Militärzeit war er wegen Diebstahls, begangen gegen einen Kameraden, mit drei Wochen strengen Arrests und Versetzung in die zweite Klasse des Soldatenstandes, im Jahre 1912 in London wegen Führung eines Spielklubs klubs mit vier Wochen einfacher Haft bestraft. Die Verhandlung gestaltete sich folgendermaßen:

Vorsitzender Landgerichtsrat Lampe: Angeklagter Stallmann, ich muß zuerst auf Ihre persönlichen Verhältnisse eingehen. Ihr Vater hat in Berlin das Grundstück Oranienstraße 98, in der Nähe der Jerusalemer Kirche, besessen. Was war denn eigentlich Ihr Vater?

Angekl. Stallmann: Mein Vater war Fabrikant und dann Rentier.

Vors.: Erzählen Sie uns doch etwas über Ihr Vorleben.

Angekl.: Ich habe in Berlin das Louisenstädtische Gymnasium besucht und dort die Berechtigung zum einjährigen Militärdienst erworben. Nachdem ich die Schule verlassen hatte, kam ich aufs Land, um dort bei einem Privatlehrer Sprachen zu lernen.

Vors.: Hatten Sie nicht vorher noch eine andere Stellung?

Angekl.: Jawohl, ich war in Berlin in einem Engros-Kommissions- und Exportgeschäft. Die Sache paßte mir aber nicht, denn beim Briefekopieren konnte ich nichts lernen. Nachdem ich mit den Sprachstudien fertig war, ging ich nach Südamerika, und zwar im Jahre 1897, zur Zeit der Revolution in Venezuela. Ich war Volontär in Chile und habe in dem Freiwilligenkorps die Revolution in Venezuela mitgemacht. Dann habe ich Amerika zu Pferde durchkreuzt und gejagt.

Vors.: Woher hatten Sie denn die Mittel zu diesem Leben?

Angekl: Ich erhielt ständig die Zinsen eines Kapitals von 20000 Mark. Von meinem Vater erhielt ich 2000 Mark und außerdem von meiner Mutter noch 3500 Mark jährlich. Insgesamt bin ich 1 1/2 Jahre in Südamerika gewesen, dann bin ich nach Berlin zurückgekommen.

Vors.: Hatten Sie denn alsdann noch Geld?

Angekl.: Als ich in Berlin ankam, nicht mehr, obgleich ich in Neuyork auf der deutschen Gesandtschaft Geld für mich gefunden hatte.

Vors.: Was machten Sie denn hier in Berlin?

Angekl.: Mein damaliger Schwager, der Weinhändler Witkop, Unter den Linden, hatte sich in der Potsdamer Straße ein neues Haus gebaut. Ich habe ihm geholfen, sein wertvolles Weinlager nach der Potsdamer Straße zu überführen, was etwa zwei Monate gedauert hat. Hiervon mag es wohl auch kommen, daß ich als „Handlungsgehilfe“ bezeichnet wurde. Ich kam dann auf die Idee, nach Monte Carlo zu gehen und dort zu spielen.

Vors.: Hatten Sie denn dazu Geld?

Angekl.: Jawohl, etwa 20000 Mark!

Vors.: Woher hatten Sie das Geld?

Angekl.: Von Richard Meier und Pariser, zwei Geldverleihern. Ich war dann etwa sechs Monate in Monte Carlo.

Vors.: Haben Sie von dort noch Geld zurückgebracht?

Angekl.: Nicht einen Pfennig. Ich bin dann über Paris nach Spaa gefahren.

Vors.: Dort haben Sie wohl auch das Fräulein Gaum kennengelernt, ebenso haben Sie sich hier zuerst „König“ genannt?

Angekl.: Jawohl.

Vors.: Wie sind Sie denn auf diesen Namen gekommen?

Angekl.: Das weiß ich selbst nicht.

Vors.: Wie kamen Sie denn überhaupt dazu, sich einen falschen Namen beizulegen?

Angekl.: In sämtlichen Spielplätzen wird eine Liste mit den Namen der Mitglieder der betreffenden Klubs geführt, die an alle Spielklubs in Europa versandt werden. Es war mir unangenehm, daß alle Augenblicke in den nach Berlin gesandten Listen der Name „Rudolf Stallmann“ auftauchte.

Vors.: Dann muß doch nach Ihrer eigenen Meinung

der Beruf eines Spielers etwas anrüchig

sein?

Angekl.: Jawohl, in gewissem Sinne kann ich das nicht bestreiten.

Vors.: Sie sind doch aber selbst Spieler?

Angekl.: In gewissem Sinne ja, denn ich spiele leidenschaftlich gern. Ich habe aber stets nicht nur mein Geld, sondern auch das Geld meines Vaters und meines Onkels verspielt, da kann doch von einer Gewerbsmäßigkeit keine Rede sein.

Auf weiteren Vorhalt des Vorsitzenden erklärte Stallmann: Von Spaa sei er nach anderen Plätzen gefahren und alsdann mit seiner Geliebten Anna Gaum nach München gekommen. Die Geliebte hatte, wie der Vorsitzende feststellte, angegeben, daß sie von der Erwerbsunzucht gelebt und daß sie Stallmanm aus den Erträgen dieses Lebenswandels unterstützt habe. Stallmann stellte das ganz entschieden in Abrede. In München konnte er seine Hotelrechnung nicht bezahlen und verwies den Hotelier auf seine Koffer und seine Uhr. Er sei deshalb wegen Zechprellerei zu einem Monat Gefängnis verurteilt worden. Im Jahre 1896 sei er mit einem gewissen Rieger in eine Anklagesache wegen schwerer Urkundenfälschung und Betruges verwickelt gewesen. Es sei damals, da er nicht zu finden war, ein Steckbrief gegen ihn erlassen worden. Das Verfahren endete mit der Verurteilung Riegers und mit Einstellung des Verfahrens gegen ihn (Stallmann), da Verjährung eingetreten war. In jenem Verfahren hatte seine Mutter eidlich bekundet, daß er nichts habe und auch von seinem Schwager nichts zu erwarten habe. Stallmann erklärte, daß er bei seiner Vernehmung in München das Protokoll gewissermaßen als „dummer Junge“ unterschrieben habe. Er habe nicht gewußt, daß ein Steckbrief gegen ihn erlassen war; der Vorsitzende werde aus den Akten wissen, daß alle möglichen Steckbriefe gegen ihn erfassen worden seien, doch habe sich herausgestellt, daß alle Anschuldigungen gegen ihn unwahr waren. Er sei in München zu Unrecht verurteilt worden, denn er habe stets von seiner Mutter Geld erhalten. Er gebe aber zu, daß er vorübergehend wenig Geld halte.

Vors.: Sie haben aber bald darauf mit ungeheuren Summen operiert. Woher stammten diese?

Angekl.: Ich habe schon gesagt, daß ich in Südamerika große Terraingeschäfte gemacht habe, wozu ja keine großen Kapitalien gehörten, denn das Terrain dort kostet eigentlich nur den Stempel, allerdings unter der Bedingung, daß auch Arbeit geleistet wird. Ich habe nach und nach 5000 Pfund Sterling in diese Geschäfte hineingesteckt und etwa 400000 Mark herausgezogen. Ich habe dann zehn Jahre lang in einem großen englischen Haus Finanzgeschäfte, in Rumänien Petroleumgeschäfte gemacht u.a.m. Ich habe bei vielen Geschäften dieser Art gewonnen, bei einigen auch verloren.

Vors.: Von München gingen Sie nach Belgien und England?

Angekl.: Jawohl. Es war dies zu einer Zeit, wo ein früherer Oberkellner Marquet, auf Grund eines erfolgreich durchgefochtenen Prozesses, die Erlaubnis erhalten hatte, Spielklubs zu gründen, allerdings unter der Bedingung, daß Vorsitzender und Komiteemitglieder Belgier sein mußten. Durch meine Verbindungen wurde es mir nicht schwer, solche Leute zu finden. Ich habe neun Klubs gegründet; die Sache ging sehr gut, und ich schaffte mir dadurch ein Kapital von etwa 100000 Franken, mit dem ich nach London ging. Dort befaßte ich mich mit Minengeschäften und ging nach Afrika; das war im Jahre 1902 oder 1903 während der Zeit des Burenkrieges.

Vors.: Wann haben Sie geheiratet?

Angekl.: Im Jahre 1905.

Vors.: Aus welchem Grunde haben Sie sich denn den Adel zugelegt?

Angekl.: Nun, weil dies doch immer einen gewissen Vorteil hat, beispielsweise bessere Chancen in Hotels gewährleistet. Es ist das derselbe Grund, weshalb in Deutschland manche Offiziere, die bloß Herren „von“ sind, sich „Baron“ nennen. Die Herren gehen eine Stufe höher, und ich bin auch eine Stufe höher gegangen.

Vors.: Wie sind Sie denn nach Argentinien gekommen?

Angekl.: Herr Präsident, ich bin

neunmal um die Weltgereist,

da werde ich doch wohl auch nach Argentinien kommen.

Vors.: Sie behielten den Adel ständig bei?

Angekl.: Ich war in weiten Kreisen als „v. König“ bekannt geworden und habe alle möglichen Schritte getan, um rechtsgültig den Namen tragen zu können.

Vors.: Sie gingen also im Jahre 1905 nach Argentinien.

Angekl.: Ich lernte meine Frau, ein Fräulein Lemoine, schon auf dem Schiff während der Überfahrt nach Argentinien kennen. Meine Frau und ihre Mutter fuhren nach Argentinien zurück. Der Mann meiner Schwiegermutter war gestorben, und der Großvater meiner Frau hatte gewünscht, daß die Damen zurückkehrten.

Vors.: Ihre Frau ist die Tochter eines katholischen Arztes. Sie sind aber evangelisch?

Angekl.: Ich habe einen Revers wegen der katholischen Kindererziehung unterschrieben. Ich bin getraut worden von einem Onkel meiner Schwiegermutter, der Erzbischof ist und zu dem Zweck der Trauung eine 48stündige Reise unternommen hatte.

Auf weiteren Vorhalt des Vorsitzenden erklärte der Angeklagte: Mein verstorbener Schwiegervater hat kein größeres Vermögen hinterlassen, aber der Großvater meiner Frau, Herr Escalada, hat – sehr niedrig gegriffen – ein Vermögen von 25 Millionen. Vor neun Monaten ist ein einziges Grundstück des Herrn Escalada für acht Millionen Pesos verkauft worden. Meine Frau und meine Schwiegermutter bekamen über 400000 Mark jährlich, die mir unbeschränkt zur Verfügung stehen. Ich habe aber nie von meiner Frau auch nur einen Pfennig verlangt, denn ich bin nicht erbärmlich genug, um mich von meiner Frau ernähren zu lassen.

Vors.: Leben Sie mit Ihrer Frau zusammen?

Angekl.: Ich habe mich noch nie von meiner Frau getrennt. Meine Frau würde nie von mir lassen. Wenn ich mal Geld zu meinen Geschäften brauchte, habe ich wohl zu meiner Frau gesagt: „Hast du 50000 Mark da?“ Ich habe diese Gelder aber prompt zurückgezahlt. Unsere Heirat ist keineswegs eine sogenannte Geldheirat gewesen.

Staatsanwalt Dr. Weismann: Es wird nicht behauptet, daß der Angeklagte Stallmann vermögenslos ist. Im Gegenteil: er besitzt viel mehr, als wir glauben; es fragt sich bloß, wie das Geld erworben worden ist.

Angekl.: Durch zehnjährige Geschäfte in London! Die Auskunft des Generalkonsuls, auf welche immer wieder Bezug genommen wird, ist vollständig falsch!

Vors.: Sie sind im Jahre 1901 aus Paris wegen Verdachts der Spionage ausgewiesen worden. Nach amtlicher Auskunft aus Paris sind Sie allerdings dort nie wegen Falschspiels verhaftet oder verfolgt worden, aber im Februar 1910 hat Sie ein Spanier, namens Comas de Mora, beschuldigt, daß Sie im Jahre vorher in Rom beim Bakkarat ihm eine große Summe Geldes abgenommen haben.

Angekl.: Bei dem Comas de Mora handelte es sich um einen Erpressungsversuch, der nicht gelungen ist.

Vors.: Wie kommt es aber, daß Sie von den verschiedensten Polizeibehörden, als Falschspieler bezeichnet werden?

Angekl.: Ich erkläre mir dies aus zwei Gesichtspunkten. Nach all den Zeitungsberichten ist der französischen Regierung wohl diese Ansicht suggeriert worden. Ich bin ja noch Mitglied aller Spielklubs in Paris. Ich bin Gegenstand verschiedenster Erpressungen geworden, bis es mir mal zuviel wurde. Andererseits gibt es nach meiner festen Überzeugung einen Falschspieler, der sich „Rudolf v. König“ nennt Dies ergibt sich aus der Verhandlung, in der behauptet wurde, ich hätte auch in Davos und Chiavenna Leuten ihr Spielgeld abgenommen. Auf meinen Antrag bin ich mit den betreffenden Leuten konfrontiert worden und diese haben sofort gesagt: „I bewahre! Das ist nicht derselbe Mann; der v. König, den wir meinen, hatte eine Adlernase.“ Ich hoffe, noch im Laufe dieser Verhandlung Beweise erbringen zu können, wo dieser Rudolf v. König ist. Es soll nämlich eine Gräfin v. Arnim von einem Rudolf v. König um 6000 bis 8000 Mark beschwindelt worden sein.

Der Vorsitzende hielt alsdann dem Angeklagten Einzelheiten aus der Auskunft der Zentralpolizeibehörde in Paris vor, die ihn als den Anführer einer Bande von Leuten bezeichnete, die von Diebstählen in Luxuszügen, Betrügereien und Falschspielen lebe.

Angekl.: Das ist absolut unwahr.

Vors.: Es wird außerdem behauptet, daß Sie im September 1908 in Münster am Stein einen Diebstahl an einem mit Juwelen gefüllten Postgeldsack ausgeführt haben.

Angekl.: Da ist die Polizeibehörde sicher einem schlechten Scherz zum Opfer gefallen. Ich bin nie in Münster am Stein gewesen! Mir wird jetzt alles mögliche nachgesagt. Wenn man heute von mir sagt, ich habe mit dem Raubmörder Trenkler Geschäfte gemacht, so bin ich auch ziemlich machtlos dagegen.

Vors.: Ich komme nun zu der

Vernehmung des Angeklagten Niemela.

Angeklagter, Sie sind Leutnant a.D., und zwar sollen Sie aus dem Dienst geschieden sein, weil Sie einen Uniall als Flieger erlitten hatten?

Angekl. Niemela: Nein, ich bin wegen eines Nerven- und Muskelleidens ausgeschieden und beziehe jetzt als ehemaliger Offizier eine Pension von 83 Mark monatlich.

Vors.: Sie haben das Gymnasium in Ratibor besucht, später haben Sie in der Anstalt von Fischer in der Zietenstraße in Berlin das Fähnrichsexamen gemacht. Alsdann sind Sie in das 124. Infanterieregiment in Württemberg eingetreten und haben sich als Flieger ausgebildet?

Angekl.: Jawohl, das ist alles richtig.

Vors.: Wie waren denn Ihre Vermögensverhältnisse zu jener Zeit?

Angekl.: Ich bezog als Offizier im Durchschnitt 150 M. Zuschuß. Dies reichte völlig aus, da man in einer so kleinen Garnison gar nicht viel verbrauchen kann. Man bekam schon für 20 Mark ein Zimmer und konnte für 90 Pfennig gut Mittag essen.

Vors.: Diesen Zuschuß erhielten Sie doch nur zu Lebzeiten Ihres Vaters?

Angeklagter: Jawohl, außerdem erhielt ich von meinem Vater größere Beträge, um Reisen unternehmen zu können.

Staatsanwaltschaftsrat Dr. Weismann: Als Sie jenen Zuschuß nicht mehr erhielten, konnten Sie doch von Ihrem Leutnantsgehalt nicht mehr so große Reisen unternehmen, wie Sie es trotzdem getan haben.

Angekl.: Ich sprach schon über diesen Punkt mit meinem Verteidiger, Rechtsanwalt Dr. Schwindt, der meine Verwandten laden wird zum Beweis dafür, woher ich die erforderlichen Mittel bezogen habe. Ich habe allein von meinem Schwager etwa 50000 Mark erhalten.

Vors.: Weshalb haben Sie denn in der Voruntersuchung jede Auskunft darüber verweigert?

Angekl.: Ich war damals so krank und zusammengebrochen, daß ich keine genauen Auskünfte hätte geben können.

Vors.: Dann hätten Sie doch einfach sagen können, ich kann jetzt keine Auskunft geben, und nicht: „Ich verweigere die Auskunft.“

Angekl.: Ich kann jedenfalls nachweisen, daß mir jederzeit Mittel zur Verfügung standen.

Staatsanwalt: Auch soviel, um Automobilreisen durch ganz Europa zu unternehmen?

Angekl.: Das war ja als Leutnant, nachdem ich Geld geerbt hatte. Ich war von meinem Schwager zu Reisen nach Italien und nach dem Schwarzen Meer eingeladen worden und hatte abgelehnt. Dann starb mein Vater, und das Erbteil wurde ausgezahlt.

Vors.: Wieviel war denn das?

Angekl.: Das war nacht viel, ich habe mir aber von meinem Schwager und von anderen Leuten Geld auf das Grundstück in Ratibor geliehen.

Staatsanwalt: Ihr Vater hatte doch nur 6000 Mark versteuert, außerdem soll das Grundstück nach einer Auskunft nur 30000 Mark wert und mit 18000 Mark Hypotheken belastet sein.

Angekl.: Das ist nicht richtig. Das Grundstück ist mit 136000 Mark eingeschätzt worden.

Vors.: Sie haben dann späterhin das Fliegerzeugnis erhalten?

Angekl.: Jawohl. Als Offizier bekam ich sehr viel Urlaub und hielt mich in Frankreich auf. Ich habe in Pau, Chalons-sur-Marne und den anderen Flugplätzen geflogen und bin schließlich in ein festes Verhältnis zu der Firma Nieuport getreten. In dieser Stellung sollte ich als einziger deutscher Flieger den Flug Paris-Rom mitmachen, und zwar mit dem Apparat, der bei dem Gordon-Bennett-Rennen 12 Kilometer geflogen war. Die französische Regierung erhob jedoch Einspruch. Ich durfte als deutscher Offizier nicht die verschiedenen Forts, wie Dijon und andere, überfliegen. Ich erhielt darauf ein Angebot von der Luftverkehrsgesellschaft, außerdem sollte ich eine Automobilfahrt von Argentinien nach Neuyork leiten, die der

Herzog Borwin zu Mecklenburg-Schwerin

in Begleitung des amerikanischen Bankiers Drex, unternehmen wollte. Hauptmann de la Roi sollte gerade nach Paris kommen, um mich zu engagieren, als der Steckbrief hinter mir erlassen wurde. Ich fuhr nun nach London, um mich in die türkische Armee einstellen zu lassen und am Tripolisfeldzug als Flieger teilzunehmen.

Vors.: Sie hatten früher die Aussage verweigert, ob Sie noch aus einem anderen Grunde aus der Armee ausgeschieden sind. Wollen Sie das jetzt sagen?

R.-A. Dr. Schwindt: Es spielt hier ein Brief eine Rolle, den Bujes in den Händen hat, in dem der Name einer hochadligen Dame erwähnt wird, mit der Niemela in Württemberg verlobt war. Diese sollte in die Affäre nicht mit hineingezogen werden.

Staatsanwalt: Spielt nicht dabei auch eine Spielschuld eine Rolle, die durch eine Anzeige zur Kenntnis Ihres Kommandeurs gekommen ist?

Angekl.: Es handelte sich dabei nur um 1500 Mark, die ich später auch bezahlt habe, deshalb hätte man mir beim Regiment keine Schwierigkeiten gemacht.

Zwischen dem Verteidiger Niemelas, Rechtsanwalt Dr. Schwindt, und dem Staatsanwalt Dr. Weismann kam es darauf zu längeren Auseinandersetzungen über die Vermögenslage, in der sich der Vater des Angeklagten befunden habe. Der Verteidiger beantragte, neue Auskünfte vom Katasteramt in Ratibor und anderen Stellen einzuziehen. Staatsanwalt Dr. Weismann bemerkte, daß ein einfacher Tierarzt in Ratibor doch nicht Millionen hinterlassen könne oder mindestens ein solches Kapital, das dem Angeklagten gestatten konnte, einen so luxuriösen Lebenswandel zu führen, wie er ihn tatsächlich geführt habe. Es wurde ferner erwähnt, daß Niemela von London aus im „Berliner Lokalanzeiger“ ein Inserat erlassen hatte, in dem er als angeblicher „deutscher Artilleriehauptmann“ eine Heirat mit „sehr vornehmer vermögender Dame“ eingehen wollte. Die unter einer Chiffre eingegangenen Briefe wurden dann nach London befördert.

Angekl. Niemela: Ich konnte mir damals nicht anders helfen. Mir ist dazu in London geraten worden. Mich hat die Geschichte noch 3000 Mark gekostet. Außerdem ist das doch gar nichts Ungewöhnliches. Im „Berliner Tageblatt“ stehen alle Tage mindestens fünf Inserate, in denen deutsche Offiziere um eine Heirat bitten.

Vors.: Sind Sie selbst Spieler?

Angekl.: Nein, ich spiele öfter Skat und auch Bakkarat, aber sonst nichts.

Staatsanwalt: Nach einer Auskunft der französischen Regierung sind Sie, als des Falschspiels verdächtig, aus sämtlichen französischen Spielklubs ausgewiesen worden.

Angekl.: Das ist nicht richtig.

Vors.: Wie kommt es überhaupt, daß Sie sich stets an jenen französischen Spielorten aufgehalten haben?

Angekl.: Darüber verweigere ich die Auskunft, oder ich bitte, die Öffentlichkeit auszuschließen, dann werde ich mich darüber äußern.

R.-A. Dr. Schwindt: Der Angeklagte hat mir erklärt, daß er

in staatlichem Interesse

hierüber in voller Öffentlichkeit keine Angaben machen werde. Er hat in Frankreich als Offizier eine Tätigkeit entwickelt, über die er sich hier nicht so ohne weiteres auslassen könne.

Staatsanwalt: Das ist nicht richtig; ich kenne den Grund besser. Ich habe, da Niemela schon früher derartige Andeutungen gemacht hatte, verschiedene Auskünfte, u.a. auch bei dem französischen Minister des Innern eingezogen. Die Ermittelungen haben ergeben, daß der Aufenthalt Niemelas an den französischen Spielorten mit militärischen Dingen nicht das geringste zu tun hat.

Angekl.: Das ist nicht richtig. Ich kann schwarz auf weiß beweisen, was ich getan habe, ich bin u.a. auch bei den französischen Manövern gewesen.

Staatsanwalt: Niemela ist ausgewiesen worden, weil er als Falschspieler bekannt war und mit Falschspielern Beziehungen unterhalten hatte, wie z.B. mit Stallmann, Bela, Klimm, Schenk zu Schweinsberg u.a.

Vors.: Ausschlaggebend soll gewesen sein, weil bekannt wurde, daß Sie einen Brief von Schenk zu Schweinsberg an Stallmann bei sich hatten.

Angekl.: Ich will nicht mehr leben, wenn das richtig ist.

Vors.: Wie kommt es aber, daß Sie sich ständig in der Gesellschaft von Leuten befanden, die, wie Bujes, Schenk zu Schweinsberg, wegen Falschspiels verurteilt worden sind?

Angekl.: Ich habe doch gar nicht gewußt, was das für Leute sind. Die Leute haben in den vornehmsten Kreisen verkehrt. Stallmann war sogar mit einem deutschen Thronfolger eng befreundet.

Vors.: Sie müssen doch aber schon einen gewissen Verdacht gehabt haben, daß Bujes ein Falschspieler ist, denn Sie haben einmal früher gesagt, Sie hätten ihn entlarven wollen.

Angekl.: Dieser Argwohn ist wieder gefallen, nachdem ich hörte, daß Bujes mit der Tochter eines deutschen Generals verlobt ist, der sich doch wahrscheinlich vorher über Bujes erkundigt haben wird.

Staatsanwalt Dr. Weismann bestritt nochmals, daß der Vater des Angeklagten als Tierarzt so vermögend gewesen sei, wie der Angeklagte behauptet, und behielt sich weiteren Nachweis dafür vor, daß das ganze Erbteil von Vaters Seite nur 6000 Mark betragen hatte.

Angeklagter Kramer äußerte auf Befragen des Vorsitzenden: Ich habe die Realschule bis Tertia besucht und bin alsdann in einem Pensionat weitergebildet worden. Nachdem ich in Frankfurt a.d.O. drei Jahre meiner Militärpflicht genügt hatte, arbeitete ich als Maschinenbautechniker in Portugal, Spanien und Rußland. Später habe ich mich dauernd in Rußland niedergelassen. Ich bin ein

gewerbsmäßiger Glücksspieler.

Ich mache ein Gewerbe aus dem Spiel, aber nur dort, wo das Strafgesetz kein gewerbsmäßiges Glücksspiel kennt, nämlich, im Ausland. Ich habe in London 2500-3000 Pfund Sterling jährlich verdient, teils als Buchmacher, teils durch Börsenspekulationen, teils als Inhaber oder Mitinhaber von Spielklubs. Ich hatte zeitweise ein tägliches Soll und Haben bis 10000 Mark. Ich hatte bisweilen für Kartengeld eine Million bezahlt. Ich habe Stallmann 1897 oder 1898 an einem für mich unglücklichen Tage kennengelernt, da ich an) ihn 60-70000 Mark verloren hatte. Ich habe damals innerhalb 2 bis 3 Tagen 300000 Mark verloren. Persönliche Beziehungen habe ich nicht zu Stallmann. In London wurde ich unter dem Namen v. Kramer in die vornehmsten Klubs eingeführt. Da ich unter dem Namen v. Kramer schon lange lebte, bin ich dabei geblieben. Bisweilen habe ich mich auch v. Gilbert genannt. Ich besaß nämlich ein kleines, diesen Namen führendes Gut, ich hielt mich deshalb für berechtigt, mich v. Gilbert zu nennen, v. Bredow habe ich mich nur in dem Fall Dippe genannt, und zwar zum Teil im eigenen Interesse, teils im Interesse des Herrn v. Dippe. Die französische Regierung muß in sehr eigentümlicher Weise über mich berichtet haben, denn in der Auskunft über mich stehen ganz horrende Dinge. Ich bestreite auch, daß ich in Lugano wegen Falschspiels verhaftet worden bin. Ich habe mich allerdings oftmals in Gesellschaft von Pauli, der sich als Minenbesitzer ausgab, dem angeblichen Plantagenbesitzer Rohleder und dem Falschspieler Maringer befunden. Ich habe diese Leute für anständig gehalten. Pauli ist ein sehr reicher Mann, der seiner Tochter eine Million Mitgift gegeben hat. Auch besitzt dieser Mann ein feenhaft schönes Schloß in Deutschland. Ich habe auch von Maringer niemals etwas Unrechtes bemerkt.

Es wurden alsdann mehrere

Illustrationsfälle

verhandelt. Diese standen nicht zur Anklage, sondern sollten lediglich das Milieu zeigen, unter dem die Angeklagten gelebt haben. Im Mai 1910 hielt sich Leutnant Fritz Muntermann aus Nieder-Ingelheim am Rhein in Berlin auf. Er wohnte im Hotel „Kaiserhof“. Er wurde mit Niemela bekannt. Dieser stellte ihm Bujes vor. Letzterer lud Niemela und Muntermann für den nächsten Tag zum Diner nach dem Hotel Esplanade ein.

Niemela erklärte, anderweit vergeben zu sein, Muntermann sagte aber zu. An dem Essen nahm außer Bujes und Muntermann auch Freiherr Schenk zu Schweinsberg teil. Nach Tisch begab man sich in die Bar des Hotels, dort stellte sich auch Niemela ein. Nach einiger Zeit schlug v. Schenk vor, die Zeche mit Würfeln auszuspielen. Es wurde gepokert; am Spiel beteiligten sich alle vier, und zwar spielten Niemela und v. Schenk und andererseits Bujes und Muntermann zusammen. Bei der Abrechnung hatte Muntermann an Niemela 3000 Mark und an v. Schenk ebenfalls 3000 Mark verloren. Muntermann konnte nicht zahlen, deshalb übernahm Bujes die Zahlung dieser Schuld. Es soll angeblich ein Schuldschein oder ein Wechsel dafür gegeben worden sein, der dann an Stallmann weiter „verschoben“ worden sein soll. Es war dies der Fall, in dem später Graf Wolff-Metternich in Begleitung Newtons, eines notorischen Falschspielers, in der Wohnung Muntermanns erschien und ihm die Erledigung der Angelegenheit nahelegte.

Der Angeklagte Stallmann bestritt, daß er in diesem Falle sich irgendwie unfair benommen habe. Dasselbe behauptete Niemela. Er habe Muntermann kennengelernt und diesen nach seinen eigenen Angaben für einen Offizier gehalten. Er habe das ganze Spiel, in dem um Streichhölzer gespielt wurde, eigentlich für einen Scherz gehalten. Jetzt komme er immer mehr zu der Überzeugung, daß die ganze Sache von Herrn v. Schenk, der homosexuell veranlagt sei, und der wohl mit seinem sicheren Blick in Muntermann einen Gleichgesinnten erblickt haben dürfte, inszeniert worden sei. Er glaube jetzt bestimmt, daß es sich um ein abgekartetes Spiel gehandelt habe.

Leutnant Muntermann konnte nicht als Zeuge vernommen werden. Angeklagter Niemela behauptete, daß Muntermann infolge homosexueller Vorgänge von einem Herrn nach Kanada abgeschoben worden sei.

Der zweite Illustrationsfall spielte in Wiesbaden. Angeklagter Niemela war als Offizier wegen seines leidenden Zustandes nach Wiesbaden in die dortige Heilanstalt geschickt worden. In der „Rose“ lernte er den Landwirt Kiepert kennen. Er behauptete, daß er in Wiesbaden mit den allerersten Bürgern verkehrte. Niemela machte Kiepert mit Stallmann bekannt und man nahm ein gemeinschaftliches Abendessen in der „Rose“ ein. Auch ein Baron v. Maltzahn sei mit dabei gewesen. Dann ging man in die Bar. Dort habe, wie Niemela behauptete, Kiepert den Ausgeklagten Stallmann sofort zum Spiel aufgefordert, ebenso ihn selbst. Er habe aber abgelehnt und sich am Spiel nicht beteiligt. Schließlich hätten Kiepert, Stallmann und ein Baron Staël v. Holstein) sich zum Bakkarat niedergesetzt, und Kiepert soll an diesem Abend 17000 Mark verloren haben.

Vors.: Es ist doch wunderbar, daß Sie, der Sie als kranker Offizier zur Kur nach Wiesbaden geschickt worden sind, in die Bar gehen und auch abends spielten.

Angekl.: Ich bitte, zu bedenken, daß ich damals ein 24jähriger Offizier war, und daß in der Bar immer 20 bis 24 Offiziere aus der Heilanstalt verkehrten. (Heiterkeit.)

Angekl. Stallmann: Er sei in Wiesbaden durch einen Automobilunfall längere Zeit aufgehalten worden und habe in der „Rose“ verkehrt. Dort sei vielfach um Tausende gespielt worden. Sätze von 5000, 10000 und 20000 Mark seien keine Seltenheiten gewesen. Er behaupte, daß Kiepert in Spielangelegenheiten nicht unbewandert war, denn Kieperts Bruder habe am Abend vorher 10000 Mark gewonnen und sei dann abgereist. Herr v. Staël habe zum Spiel angeregt. Er (Stallmann) habe 5000 Mark an v. Staël verloren; er sei der einzige gewesen, der Geld bei sich hatte. Man habe

11 Stunden bis morgens 9 Uhr gespielt,

sein Geld habe immer einen Kreislauf gemacht. Schließlich schuldete ihm Kiepert 17000 Mark. Der Angeklagte Stallmann bezeichnete alsdann einige Ansichten, die Kriminalkommissar v. Manteuffel in der Verhandlung gegen Bujes über das Bakkaratspiel sowie die Chancen des Bankhalters und der Spieler gemacht hatte, als falsch. Herr v. Manteuffel hat es für auffällig erachtet, daß ich meistens die Bank hielt und sehr wenig pointierte. Das ist gar nicht auffällig, sondern die Grundregel jedes Bakkaratspieles. Daraus kann Herr v. Manteuffel doch gar keine Schlüsse ziehen! Ich könnte mich auf Tausende von Spielern berufen, die mir dies bestätigen würden. Herr v. Manteuffel sagt: Diese hohen Gewinne hat Stallmann hauptsächlich in der Bank gemacht. Ich will beweisen, daß man Gewinne nur in der Bank erzielen kann. Beim Pointieren kann man nicht besonders gewinnen. Übrigens ist es verhältnismäßig kein gar so großer Gewinn, der mir nach elfstündigem Spiel bei Einsätzen von 1000, 2000 und 3000 Mark zugefallen ist. Aus der Höhe dieser Summe ist kein Schluß auf Falschspiel zu ziehen. Herr Kiepert, der sich durchaus als Gentleman erwiesen, hat seine Schuld bezahlt. Es ist auch unwahr, daß die Mitspieler betrunken gemacht wurden; einem Betrunkenen gegenüber braucht man nicht falsch zu spielen.

Vors.: Aber Sie spielten sehr gern?

Angekl.: Gewiß. Ich spielte gern, wenn ich wußte, die Spieler sind Leute, die Geld hatten, denn meinen Kopf wette ich im Spiel noch immer gegen, jedermann.

Vors.: Jedenfalls hat Ihnen der Automobilunfall 22000 Mark eingebracht!

Angekl.: Nein, nur 12000 Mark. Ich will gar nicht bestreiten, daß ich gern, viel und hoch spiele, aber ein gewerbsmäßiger Glücksspieler bin ich auf keinen Fall. Ich gebe zu, vor 17 Jahren mit professionellen Spielern, verkehrt zu haben, seit 10 Jahren spiele ich aber nur noch zu meinem Vergnügen. Das behaupte ich und werde es beweisen. Es gelangte darauf der Illustrationsfall

v. Werder

zur Erörterung. Im Februar 1910 befand sich der Leutnant Wolf von Werder mit seiner Kusine, Margarete v. Redern, in Davos, wo er die Bekanntschaft des als Falschspieler bekannten Horváth machte. Dieser nannte sich Baron Szegedy. Als v. Werder mit seiner Kusine nach St. Moritz weiterreiste, erschienen außer Horváth auch Niemela, Bujes, der sich de Buire nannte, und Stallmann. Nach einer Schlittenpartie nach Chiavenna soll Niemela im Hotel zu einem Spiel animiert haben, bei dem v. Werder 8400 Franken an Niemela verlor.

Angeklagter Niemela erklärte auf Befragen des Vorsitzenden: Er hatte einen Erholungsurlaub erhalten und sei von seiner Garnison Weingarten nach Davos gefahren, wo er den Baron Szegedy kennengelernt habe. Dieser habe ihm sehr gefallen, da er eine staunenswerte Kenntnis in militärischen Dingen hatte. Im Hotel sei ihm Fräulein v. Redern vorgestellt worden. In Davos sei er mit mehreren Bekannten zusammengetroffen mengetroffen und habe unter anderem auch mit dem Lokomotivfabrikanten Henschel und dem Sektfabrikanten Henkel aus Wiesbaden im Hotel diniert und später gespielt.

Staatsanwalt Dr. Weismann: Das ist wieder einmal sehr interessant. Der Sohn eines Tierarztes aus Ratibor, ein kleiner, einfacher Infanterieleutnant, macht große Reisen in die fashionabelsten Kurorte, macht dort ohne weiteres alle möglichen Bekanntschaften angesehener, reicher Leute. Das ist doch sehr auffallend, daß ausgerechnet Herr Niemela solche Bekanntschaften machte, ganz gleich, wo er hinkommt. Der Verkehr mit solchen reichen. Leuten kostet doch Geld; vielleicht erklärt der Angeklagte einmal, wo er diese Mittel her hatte.

Angekl. Niemela: Mein Schwager, durch den ich diese Leute kennengelernt habe, war doch stets dabei und hat bezahlt, außerdem hat er mir stets Geld geschickt.

Staatsanwalt: Ich bestreite ganz entschieden, daß sich in Ihrer Familie jemand befindet, der Ihren Leichtsinn durch die fortwährende Hergabe von großen Geldmitteln unterstützt hat. Ich habe ebenfalls das größte Interesse, Ihren Schwager hier einmal zu sehen und zu hören.

R.-A. Dr. Schwindt: Ich beantrage schon zum wiederholten Male, den Schwager zu befragen, ob er dem Angeklagten auf die Erbschaft hin mindestens 25000 Mark freiwillig zur Verfügung gestellt hat, als dem Leutnant, dem Stolz der Familie.

Staatsanwalt: Der Angeklagte hat aber nicht nur gelebt wie ein reicher Mann, sondern wie ein Millionär, er hat teure Automobilfahrten durch ganz Europa unternommen, in den teuersten Hotels gewohnt, diniert, Champagner getrunken, gejeut, dazu reichten die Unterstützungen jedenfalls nicht aus. Ich glaube, daß der Schwager das Gegenteil bekunden wird. Wie die Familie auf den unvermögenden Leutnant in einem Infaniterieregiment besonders stolz sein kann, versteh ich nicht. Diese Stellung ist ja natürlich sehr ehrenwert, aber sie kann immerhin von jedem anständigen Menschen gleicher Vorbildung eingenommen werden. Ich habe hier eine

amtliche Auskunft des Kaiserlichen Automobilklubs,

dem Sie anläßlich der Prinz-Heinrich-Fahrt auch falsche Angaben gemacht und einen geliehenen Wagen als Ihr Eigentum ausgegeben hatten.

Angekl. Niemela: Das ist nicht wahr; ich hatte 2500 Mark auf den Wagen angezahlt.

Staatsanwalt: Außerdem weiß man doch, daß die Beteiligung an solcher Fahrt etwa 20000 Mark kostet.

R.-A. Dr. Schwindt: Ich habe hier eine Zuschrift der Schweizerischen Kreditanstalt in Zürich, in der bestätigt wird, daß Niemela zu jener Zeit 15000 Franken ken zur Verfügung standen.

Staatsanwalt: Woher soll denn dies Geld gekommen sein?

Angekl.: Auch aus der Erbschaft.

Staatsanwalt: Ich behaupte, daß überhaupt keine Erbschaft vorhanden war.

R.-A. Dr. Schwindt: Ich kann doch nicht mehr tun, als fortwährend zu beantragen, den Schwager zu vernehmen; der wird uns ja alles sagen, was von Wichtigkeit ist.

Angekl.: Bis 1909 war ich überhaupt noch in keinem Spielklub, das hätte ja auch mein Kommandeur erfahren. Ich habe fünf Kommandeure gehabt, die sämtlich für mich eintreten.

Staatsanwalt (unterbrechend): Die denken gar nicht daran. Wenn Sie das behaupten, so werde ich Sie nach dieser Richtung hin ruinieren und die Herren vorladen lassen. Sie würden sich wundern, was diese erzählen würden; die denken gar nicht daran, für Sie einzutreten, im Gegenteil, die stoßen Sie ab. Es ist traurig, daß ein Mann wie Sie überhaupt in der deutschen Armee Offizier gewesen ist.

Angekl.: Meine Kommandeure sind stets für mich eingetreten; wenn sie es jetzt nicht mehr tun, so sind die Zeitungsnachrichten schuld, die allerdings gegen mich sprechen.

Vors.: Was war denn in Chiavenna los?

Angekl.: Bujes hat dort extra die Kirche aufschießen lassen, ist mit Fräulein v. Redern hineingegangen und hat gebetet, auch hat er zwei Kerzen angezündet. Bujes war überhaupt ein besonders frommer Mensch. Es wäre interessant, den Pfarrer in Plötzensee darüber zu hören, da Bujes auch dort sehr fromm ist.

R.-A. Dr. Schwindt: Bujes soll dort sogar Ministrant sein. Ich glaubte immer, ein Mensch, der sehr fromm ist, kann nicht schlecht sein.

Vors.: Besonders fromm war wohl Bujes in der Bar! Sie sollen in Chiavenna doch 4800 Mark gewonnen haben?

Angekl. Niemela: Davon habe ich am nächsten Tag überhaupt nichts gewußt, aber wenn Leute spielen und einer verliert, muß der andere doch gewonnen haben.

Vors.: Nach dem Spiel sollen Sie die Karten zerrissen haben. Es ist dies einer der berühmtesten Falschspielertricks, um die Spuren des begangenen Vergehens zu beseitigen.

Angekl.: Das ist nicht richtig, das ist fast allgemeiner Brauch. In Henry Bernsteins Stück „Bakkarat“ läßt der Autor einen bekannten Spieler, der in Paris 80000 Franken gewonnen hat, die Karten zerreißen, nachdem er einmal einen kleinen Betrag verloren hat. Dieses Buch gibt es bei Reclam für 20 Pfennige.

Vors.: Es ist auch sehr auffällig, daß sich in Ihrem Besitz zahlreiche Bücher über Glücksspiele befanden. Bujes hat Ihnen, wie Sie früher einmal gesagt hatten, angeboten, mit Ihnen Kompagniegeschäfte zu machen.

Niemela: Jawohl. Bujes hat mir 20000 Mark angeboten, wenn ich. v. Dippe nicht warnen würde. Bujes zeigte mir unter anderem auch einen Brief eines Grafen Pourtalès und sagte: „Is sich gutes Freind von mich, schreibt sich aberr immer Daitsch, kann ich Daitsch nicht lesen. Sie kennen viel reiche Leute, wenn Sie mitmachen, können wir in einem Jahr eine Million verdienen.“ Ich lehnte aber ab, da ich die feste Absicht hatte, zu heiraten, und ein gutes Eheleben wäre dabei doch ausgeschlossen gewesen. Bujes sagte mir, daß

Graf Pourtalès und ein preußischer Hauptmann,

dessen Namem ich nennen kann, es auch so machen, die Beweise habe ich. Er sagte mir ferner, er wollte mit mir nach Rußland gehen und dort spielen, es wäre dort sehr schön.

Staatsanwalt: Ich möchte Verwahrung einlegen, daß der Angeklagte behauptet, ein preußischer Hauptmann habe sich an dem Falschspiel beteiligt. Auf die Beweise, die der Angeklagte angeblich hat, bin ich gespannt.

Vors.: Haben Sie soeben sagen wollen, Angeklagter Niemela, daß sich die Betreffenden an dem Falschspiel spiel beteiligt haben?

Angekl.: Von Falschspiel habe ich ja damals selbst nichts gewußt, ich habe es so verstanden, als wenn Bujes damit sagen wollte, daß jene auch mitspielen.

Der Angeklagte erzählte dann weiter, wie er die Bekanntschaft mit dem Engländer Owen gemacht habe, und erläuterte unter anderem auch eingehend das Rouge-et-noir-Spiel.

Staatsanwaltschaftsrat Dr. Weismann: Owen ist der größte und gefährlichste Falschspieler, der überhaupt auf der Welt existiert.

Angeklagter Niemela: Und ich kann Ihnen zwanzig der vornehmsten Leute nennen, die mit Owen und den anderen jahrelang verkehrt haben, während ich sie nur wenige Monate kannte.

R.-A. Dr. Schwindt: Die Liste mit den Namen dieser Leute habe ich hier!

Vors.: Sie sollen einmal zu Bergell gesagt haben: Bujes hat mich fest, wenn ich doch bloß von dem Hund loskommen könnte.

Angekl.: Bergell ist ein Plapperpapagei, der hat das ganz falsch verstanden. Ich sagte ihm nur, Bujes hat mich wegen einer ganz anderen Sache in der Hand, was ich ja heute auch noch sage.

Am zweiten Verhandlungstage erbat sich nach Eröffnung der Sitzung sofort das Wort Angeklagter Stallmann: In einem französischen Polizeibericht wird meine Mutter eine Hoteleinbrecherin und Diebin genannt. Ich halte es für meine Pflicht, dagegen mit aller Entschiedenheit zu protestieren. Meine Mutter war eine sehr wohlhabende Rentiere, eine hochanständige Frau, die vor zwei Jahren gestorben ist.

Es gelangte alsdann der Fall des

Oberleutnants Beckhaus

zur Erörterung. Beckhaus hatte im Juli 1910 in Ostende den allen Polizeibehörden als Falschspieler bekannten Handlungsgehilfen Johann Pauly, der sich als Fabrikbesitzer in Südwestafrika vorstellte, kennengelernt. Sie haben gemeinschaftlich das Gambrinus-Restaurant besucht und dort den Grafen Gisbert von Wolff-Metternich und den den Polizeibehörden als Falschspieler bekannten Newton kennengelernt. Letzterer hat sich als Offizier der Yorkschen Husaren vorgestellt. Alle vier besuchten die Britisch-Japanische Ausstellung. Dort wurden dem Oberleutnant Beckhaus Baron Korff-König und Gemahlin vorgestellt. Dies war Stallmann. Letzterer lud den Oberleutnant zum nächsten Sonntag zum Diner nach seinem Hotel, dem Royal-Palace-Hotel ein. Zum Diner war außerdem noch Graf Wolff-Metternich erschienen. Nach Beendigung des Diners kam Newton. Stallmann forderte die Herren auf, nach seinem Rauchzimmer zu kommen. Dort lagen Karten auf dem Tisch und es wurde sogleich „Rouge et noir“ gespielt. Zunächst wurden kleine Summen gesetzt. Auf Anregung des Grafen Metternich übernahm Beckhaus mit dem Grafen gemeinsam die Bank. Darauf erhöhte Newton plötzlich den Einsatz auf 50 Pfund Sterling. Nunmehr verlor die Bank Schlag auf Schlag, so daß beide Bankhalter binnen kurzer Zeit 14200 Mark verloren hatten. Stallmann, der sich nur am Anfange am Spiel beteiligte, hatte 100 M. verloren. Da Beckhaus bares Geld nicht bei sich hatte, stellte Graf Metternich über die gemeinsame Schuld einen Scheck aus und ließ sich von Beckhaus einen Schuldschein über 7100 Mark geben. Beckhaus hat die Schuld nicht bezahlt, da er erfahren hatte, daß er Falschspielern in die Hände gefallen war.

Angeklagter Stallmann: Er habe Beckhaus durch Pauly kennengelernt und sich gewissermaßen seiner angenommen. Beckhaus habe ihm anvertraut, daß er sich nicht in guten Vermögensverhältnissen befinde und sich von seiner Regimentskasse 500 Mark geliehen habe. Er habe ein Faible für Offiziere, da er früher selbst Offizier werden wollte. Newton habe das Recht, sich Kapitän zu nennen. Dieser besitze das Viktoriakreuz als Auszeichnung für Verdienste in Südafrika und gehöre einem Yocmonry-Regiment an. Er (Stallmann) war nicht damit einverstanden, daß in seinem Rauchzimmer gespielt wurde. Er habe auch darauf gedrungen, daß der Satz nicht höher als 10 Mark sein dürfe. Während er die Bank hielt, sei in mäßigen Grenzen gespielt worden; nachdem er sich aber entfernt hatte, seien die Sätze in die Höhe geschraubt worden. Dabei habe Beckhaus seinen Verlust wieder eingeholt, aber das Spiel nicht eingestellt. Newton habe darauf bestanden, daß Beckhaus sofort zahlen müsse. Er (Angeklagter) habe aber darauf verwiesen, daß er einen deutschen Offizier vor sich habe, dessen Ehrenwort ihm genügen müsse. Newton habe sich damit nicht zufrieden gegeben, infolgedessen habe er mit Graf Wolff-Metternich die Schuld übernommen. Im weiteren äußerte Stallmann: Kriminalkommissar v. Manteuffel habe in einem früheren Prozeß zeigen wollen, daß man bei Rouge et noir sehr leicht betrügen und jede Karte erraten könne. Das sei ein großer Irrtum. Zwischen Kartenkunststück und Falschspiel sei ein gewaltiger Unterschied. Wenn ein Spiel Karten zur Stelle wäre, dann würde er es dem Gerichtshof gern zeigen.

Ein Zwischenfall.

Ein Gerichtsdiener meldete, daß im Zuhörerraum ein Zeichner sitze. Der Vorsitzende forderte den Mann auf, sofort den Saal zu verlassen. „Wir sind hier nicht in einem Theater. Gestern ist sogar versucht worden, eine Filmaufnahme zu machen, es wird immer unglaublicher.“

Staatsanwaltschaftsrat Dr. Weismann: Stallmann hat gestern erklärt, er sei Spieler aus Passion, weil er mit Sicherheit darauf rechnen könne, fast immer mit Gewinn abzuschneiden. Welches Interesse hat alsdann Stallmann an einem Spiel wie Rouge et noir, bei dem es doch nicht auf Geschicklichkeit ankommt, sondern das ein sogenanntes

Bauernfängerspiel

ist?

Stallmann: Ich stimme dem Herrn Staatsanwalt vollständig bei, Rouge et noir ist ein Bauernfängerspiel. Die Leute, die das regelmäßig machen, gehören nicht ins Gefängnis, sondern ins Irrenhaus. Wenn aber jemand, der seit 20 Jahren spielt, nur ein einziges Mal Rouge et noir spielt, ich habe es bei dem Fall Dippe erst gelernt, da kann man doch daraus keine Schlüsse ziehen. Ich habe einmal in England aus Scherz mich an einem Kümmelblättchenspiel beteiligt und dabei 2 Mark verloren. Man kann doch deshalb nicht behaupten, ich sei ein Kümmelblättchenspieler.

Staatsanwalt: Wenn der Angeklagte dies Spiel bei Dippe erkannt hat, da hätte er es doch nicht dulden dürfen?

Angekl.: Rouge et noir ist ganz ungefährlich, wenn man nicht höher als 10 Mark setzt. Leute, die intelligent genug sind, im Spiel mit ihrem Kopf zu verdienen, werden nie Rouge et noir spielen.

Vors.: Um so mehr wäre es doch Ihre Pflicht gewesen, sen, ein solches Spiel zu verhindern?

Angekl.: Oberleutnant Beckhaus hätte sich mit den Sätzen in vernünftigen Grenzen halten können, man kann doch einen deutschen Offizier nicht als Kind behandeln.

Auf Befragen des Vorsitzenden erklärte Stallmann: Beckhaus hat an jenem Tage sehr wenig getrunken, Newton hat nur Milch getrunken.

Vors.: Trinkt denn Newton immer nur Milch, wenn er spielt?

Stallmann: Das weiß ich nicht, jedenfalls wäre es ganz vernünftig. (Allgemeine Heiterkeit.)

Auf weiteres Befragen äußerte Stallmann: Die späteren Bekundungen des Oberleutnants Beckhaus sind wohl auf eine gewisse Suggestivwirkung seitens des Kriminalkommissars v. Manteuffel zurückzuführen. Wenn ich auf der Straße nach einem Dach hinaufsehe, so dauert es nicht lange und 100 Leute sehen ebenfalls hinauf. Wenn ich dann sage, soeben ist ein Mann übers Dach geflogen, dann werden sich sofort einige finden, die das bestätigen.

Es gelangte hierauf eine amtliche Auskunft zur Verlesung, wonach das Niemelasche Grundstück in Ratibor auf 60000 Mark geschätzt wurde.

R.-A. Dr. Schwindt beantragte, die zufällig in Berlin weilende Schwester Niemelas und den Kartonnagenfabrikanten Dalo Heimann aus Ratibor, der sich soeben bei ihm gemeldet habe, als Zeugen zu vernehmen.

Es gelangten darauf mehrere Illustrationsfälle zur Verhandlung. Dem Angeklagten Kramer wurde vorgehalten, daß er mit einem der Polizei des In- und Auslandes bekannten Handlungsgehilfen Rohleder, einem berüchtigten Falschspieler, der sich als Farmer aus Java ausgab, in Monte Carlo einem Fremden eine hohe Summe im Falschspiel abgenommen habe.

Die Verteidiger protestierten gegen die Erörterung weiterer Illustrationsfälle.

R.-A. Bahn: Er habe gegen die Erörterung der Illustrationsfälle juristische Bedenken, da lediglich der Fall Dippe zur Verhandlung stehe und die Angeklagten auch nur dieses Falles wegen ausgeliefert seien. Er beantrage daher, zu beschließen, daß die bisherige Erörterung der Illustrationsfälle bei der Urteilsbildung nicht verwertet werde.

Die R.-A. Dr. Alsberg und Dr. Löwenstein schlossen sich dem Antrage an.

Staatsanwalt: Ich widerspreche dem Antrage; die Heranziehung der Illustrationsfälle ist erforderlich, um nachzuweisen, daß die Angeklagten zwecks Falschspiels untereinander und mit anderen internationalen Falschspielern verkehrt haben.

Nach längerer Beratung des Gerichtshofes verkündete der Vorsitzende: Der Gerichtshof lehnt die Anträge träge der Verteidiger ab, da die Illustrationsfälle herangezogen werden müssen, um das Vorleben der Angeklagten und ihre Beziehungen zueinander und zu anderen Falschspielern beweisen zu können.

Es gelangte darauf folgender Illustrationsfall zur Verhandlung: Hauptmann Freiherr v. Fürstenberg wohnte im Januar 1908 in Rom in einem deutschen Hotel. Als er eines Tages zum Rennen fahren wollte und sich bei dem Portier erkundigte, wurde er von dem ihm fremden Kramer angesprochen, der sich als „v. Kramer“ vorstellte und ihm zurief: „Ich fahre auch zum Rennen, da können wir ja zusammen fahren.“ Als v. Fürstenberg acht Tage später nach Florenz fahren wollte, kam „v. Kramer“ im letzten (Augenblick, als sich der Zug schon in Bewegung gesetzt hatte, an, und mit ihm ein zweiter Herr, der sich als Buchhändler Maringer vorstellte. Unterwegs kamen alle drei ins Gespräch und stiegen auch in Florenz in demselben Hotel ab. In einer Pilsener Bierstube kam zufällig

der angebliche Minenbesitzer Pauly aus Afrika

hinzu, der die Herren zum nächsten Tag zu einem Diner in sein Hotel einlud.

Bei diesem Diner offerierte Pauly dem Herrn v. Fürstenberg eine Zigarre, die ihn, wie er später angab, „ganz duselig“ machte. Plötzlich waren dann Karten auf dem Tisch, und Pauly erklärte ein Spiel „Häufeln“, feln“, das angeblich in Afrika gespielt werde. Bei dem Spiel gewann von Fürstenberg stets kleinere Sätze, während er größere verlor und schließlich Pauly 16000 Lire schuldete. Alsdann erboten sich „v. Kramer“ und Maringer, die Angelegenheit zu ordnen. Wie v. Fürstenberg später angab, habe er sich nach jener Zigarre die ganze Nacht hindurch und auch noch den nächsten Tag unwohl gefühlt. Am nächsten Tage erklärte Maringer, daß er die Sache, mit Pauly geordnet habe und legte Herrn v. Fürstenberg einen Wechsel über 13000. Mark vor, den v. Fürstenberg auch unterzeichnete.

Angeklagter Kramer: Ich habe in meinem Leben noch nie einen so enragierten Spieler kennengelernt, wie Herrn v. Fürstenberg. Er ist ein sehr scharfer und leidenschaftlicher Spieler.

Vors.: Es wird behauptet, Pauly habe dem Freiherrn v. Fürstenberg eine so starke Zigarre gegeben, daß ihm, wie er sich ausdrückte, „ganz duselig“ geworden sei.

Angekl.: Dieser Ausdruck ist eigentlich bezeichnend für einen Freiherrn.

Vors.: Herr v. Fürstenberg, der also 16000 Franken verloren hatte, soll von Ihnen, Maringer und Pauly gewissermaßen eingekreist worden sein?

Angeklagter Kramer: Es wird alles mögliche behauptet, was ganz abenteuerlich klingt, einer will hypnotisiert notisiert worden sein, einer sagt, er habe präparierte Austern vorgesetzt erhalten. Es wird für verdächtig erklärt, daß ich keine Austern gegessen habe, und doch ist dies ganz einfach zu erklären: Es gibt zwei Dinge, die ich überhaupt nicht esse – das sind Austern und Zwiebeln! Alle jene Verdächtigungen sind mittelalterliche Bekundungen, die an die Zeit der Hexenprozesse erinnern. Es ist eigentümlich, daß ein Offizier solche Dinge vorbringt.

R.-A. Dr. Jul. Meyer I: Hat Herr v. Fürstenberg trotz der schweren Zigarre sich weiter lebhaft am Spiel beteiligt?

Angekl.: Selbstverständlich.

R.-A. Dr. Alsberg: Haben Sie von der angeblich schweren Zigarre jemals aus den Akten irgend etwas gehört?

Angekl.: Nein.

Vert. Dr. Alsberg: Was ist aus dem Wechsel geworden? Ist er bezahlt?

Angekl.: Ich traf eines Tages Herrn v. Fürstenberg in Aachen; da kam er auf Maringer und seinen Wechsel zu sprechen. Herr v. Fürstenberg hat darauf hingewiesen, daß das „Pedigree“ Maringers nicht ganz in Ordnung sei, und mich gebeten, zu ihm zu gehen und zu versuchen, von dem Akzept etwas herunterzuhandeln. Ich reiste zu Maringer und sagte ihm, er solle dem Wunsche entsprechen, denn damit würde großer „Stank“ vermieden werden. Maringer hat denn auch reduziert, und mit Hängen und Würgen soll dann Herr v. Fürstenberg später 2000 bis 3000 Mark gezahlt haben.

R.-A. Dr. Löwenstein: Hat Ihnen gegenüber Herr v. Fürstenberg überhaupt jemals etwas von Zigarren und falschem Spiel gesagt?

Angekl.: Nein; er ist erst durch Kriminalkommissar v. Manteuffel darauf gebracht worden, daß falsch gespielt worden sei.

Vert.: Was ist aus dem Spiel Karten geworden?

Vors.: Die Karten soll Freiherr v. Fürstenberg als Andenken mitgenommen haben. Dabei soll er noch gesagt haben: Das ist ein teures Andenken!

Angekl.: Die Karten waren ganz neu und vom Hotel geliefert worden. Die Karten sind übrigens untersucht worden, und es wurde nichts Verdächtiges an ihnen gefunden.

Der Staatsanwalt wollte den als Zeugen zu vernehmenden Freiherrn v. Fürstenberg auffordern, die Karten mitzubringen, falls er sie noch besitzt.

Angekl.: Das ist nach fünf Jahren doch kaum zu erwarten. Übrigens könnten sie ja inzwischen auch eine Veränderung durch den Gebrauch erfahren haben.

Im Juli 1906 befand sich Leutnant v. Westernhagen im Hotel Imperial in Ostende. Eines Tages drängte sich Maringer an ihn heran und begann mit ihm ein Gespräch, in dem er ihn aufforderte, am Nachmittag mit zu einem Rennen zu kommen, das er in Begleitung eines Herrn v. Kramer besuchen wollte. Am Nachmittag gesellte sich auch noch der Minenbesitzer Pauly, der ebenfalls zu den Falschspielern gehörte, zu ihnen. Am nächsten Tage wurde in einem Restaurant neben dem Kursaal ein schon vorher bestelltes Frühstück eingenommen, das schon auf dem Tisch stand. Wie v. Westernhagen behauptete, ist er anscheinend durch irgendwelche Beimischung zu den Speisen, insbesondere zu den Austern, in einen Zustand verminderten Bewußtseins verfallen. Er erinnere sich, daß seine Herztätigkeit ohne erkennbare Ursache ganz plötzlich ungemein beschleunigt wurde. Wie die Anklage behauptet, sei auch hier genau wie in dem Fall v. Fürstenberg die anscheinend schon vorher als Stichwort verabredete Frage an Pauly gefallen, was man denn eigentlich in Afrika spiele. Darauf zeigte Pauly das „Häufeln“-Spiel. Plötzlich war das Spiel auch im Gange, und in unglaublich kurzer Zeit verlor v. Westernhagen allein an Pauly 2980 Franken, über die er einen Wechsel ausstellen mußte. Wie v. Westernhagen angab, habe er erst später im Kupee seine physische Bewegungsfreiheit wiedererlangt, anscheinend sei er durch irgendeine Beimischung zu den Speisen oder durch Hypnose in jenen Zustand gebracht worden. Auf eine Frage des Vorsitzenden, was er zu der Behauptung Westernhagens bezüglich der Austern sage, erklärte Kramer: Das ist ja kompletter Unsinn.

R.-A. Dr. Jul. Meyer I: Wer im Juli Austern ißt, muß immer mit der Möglichkeit rechnen, daß ihm schlecht wird.

Staatsanwalt Dr. Weismann: Die Häufigkeit der Fälle, in denen die Betrogenen behaupten, daß ihnen irgendwelche Dinge in die Speisen gemischt seien, gibt doch aber zu Bedenken Anlaß.

Angeklagter Kramer: Es ist sehr wahrscheinlich, daß später durch die Fragen des Kriminalkommissars v. Manteuffel den Leuten etwas Derartiges erst suggeriert worden ist; von selbst haben sie es wahrscheinlich nicht gesagt.

Staatsanwalt: Das ist ein Irrtum, mehrere der Geschädigten haben in ihren Anzeigen schon davon gesprochen.

Kramer: Da müßte man doch erst Stichproben auf ihre Glaubwürdigkeit machen; ich kann den Herren jedenfalls Lügen nachweisen.

Staatsanwalt: In Aachen schwebt außerdem ein Verfahren gegen Kramer, in dem er beschuldigt wird, mit jungen hübschen Mädchen Reisen unternommen zu haben, um dann an den Herren, die sich an die Mädchen heranmachten, Erpressungen zu begehen.

Kramer: Das bestreite ich auf das entschiedenste; das ist eine Lüge.

Es wurde alsdann der

Fall Dippe

erörtert. Angeklagter Niemela erklärte: Er habe sich am 1. Juni 1910 in Berlin aufgehalten, da am 2. Juni die Prinz Heinrich-Fahrt stattgefunden habe. Er habe v. Dippe gekannt, ihn aber nicht nach Berlin kommen lassen. Er habe zufällig im Hotel Fürstenhof zwei Zimmer bewohnt und deshalb nichts dagegen gehabt, daß v. Dippe mit Stallmann und Bujes auf einem seiner Zimmer den Kaffee eingenommen haben. An dem Spiel habe er sich nicht beteiligt. Wenn er das hätte tun wollen, dann hätte er längst mit von Dippe spielen können. Er hatte auch den Eindruck, daß v. Dippe an jenem Tage etwas angetrunken war.

Vors.: v. Dippe behauptet, Sie haben sich den Bujes als v. Hennrichs vorstellen lassen?

Niemela: Das ist unwahr, ich habe allerdings Bujes auf dessen Bitten Herr v. Hennrichs genannt. Bujes sagte mir: Dies sei sein Schriftstellername, den er immer in Deutschland führe. Das war mir um so weniger aufgefallen, als man sich im Auslande mit Leichtigkeit zu einem Fürsten machen kann. Im übrigen habe ich v. Dippe vor Bujes gewarnt, da ich gegen ihn ein gewisses Mißtrauen hatte.

Angeklagter Stallmann: Er sei zufällig auf dem Lehrter Bahnhof gewesen, als v. Dippe mit Bujes angekommen gekommen sei. v. Dippe habe ihm Bujes als von Hennrich de Bujes vorgestellt. Zwischen beiden habe eine innige Freundschaft bestanden, als ob sie sich schon seit Jahren kennen. Er sei der Einladung, nach dem Hotel „Fürstenhof“ zu fahren, gefolgt, er habe aber die Karten nicht bestellt. Aus Ärger über das Spiel habe er die Hälfte Karten zerrissen. Er habe das keineswegs getan, um ein Falschspiel nicht aufkommen zu lassen. Gebogene Karten lassen sich mit einem Griff wieder gerade machen. Jedenfalls sei er entfernt gewesen, falsch zu spielen, zumal er selbst 80000 Mark bei diesem Spiel verloren habe.

Stallmann gab im weiteren Verlauf zu, daß er während des Metternich-Bujes-Prozesses in Berlin war, um das Grab seiner Mutter zu besuchen.

Ein weiterer Illustrationsfall war folgender: Ein Gutsbesitzer Seydl hatte Beziehungen zu einer Anna Moll, die er von früher her kannte. Plötzlich sei „v. Kramer“ auf der Bildfläche erschienen, habe sich als „Ehegatte“ der „Dame“ vorgestellt und von Seydl 10000 Mark erpreßt. Die Zahlung sei in zwei Wechseln erfolgt, deren letzter von der Beitreibungszentrale Fandreyer in Düsseldorf präsentiert wurde. Später sei die Erpressung weiter fortgesetzt worden, es sei behauptet worden, Anna Moll sei in gesegnete Umstände gekommen, Kramer habe gedroht, Seydl wegen Verbrechens gegen das keimende Leben anzuzeigen. Es sollen dann weitere

36000 Mark erpreßt

worden sein.

Angeklagter Kramer erklärte diese Angaben von Anfang bis zu Ende für unwahr. Richtig sei, daß er mit Anna Moll in Beziehungen gestanden habe; sie habe ihm im Jahre 1909 Seydl in Aachen als ihren neuen Freund vorgestellt. Möglich sei es, daß Anna Moll später einmal in der Weinlaune oder aus Scherz ihn Seydl gegenüber als ihren Gatten bezeichnet habe. Tatsächlich sei es Seydl sehr wohlbekannt gewesen, daß Anna Moll nur sein „Verhältnis“ war, er habe auch gewußt, daß er sich mit Seydl in alle Vergnügungen und Aufmerksamkeiten teilte. Seydl habe das Mädchen in Aachen und bei Ausflügen in fünfzig verschiedenen Attitüden photographiert und sich selbst mit Anna Moll auf gemeinschaftlichen Bildern wiederholt photographieren lassen. Seydl habe der Moll auch versprochen, sie in England zu heiraten. Richtig sei, daß ihm Seydl einmal zwei Wechsel zu je 5000 Mark gegeben habe, doch habe dies einen ganz anderen Grund gehabt. Seydl habe ihm eines Tages geschrieben, daß Anna Moll sich in delikaten Umständen befinde, und er ihr pekuniär helfen möchte; er habe sein Wort, Anna Moll zu heiraten, nicht halten können und wolle ihr vorläufig 20000 Kronen geben, damit sie ein Geschäft beginnen könne. Seydl habe ihn gebeten, ihm zu diesem Zweck 10000 Mark vorzustrecken. Zu diesem Zweck habe er als Sicherheit zwei Wechsel mitgeschickt. Er habe die 10000 Mark der Anna Moll bar gezahlt. Ein Jahr später, im April 1910, habe Seydl Anna Moll zu sich nach Österreich kommen lassen und sie dort 2 1/2 Monate bei sich behalten. Im Mai 1910 habe Anna Moll aus Salzburg an ihn geschrieben, unter Beifügung eines zustimmenden Begleitbriefes Seydls, daß er ihr einen großen Gefallen tun möchte, zur Sicherstellung ihrer Zukunft Seydl 30000 Mark vorzustrecken. Er sei dann nach Salzburg gereist, habe zugesagt und von Seydl dessen Akzepte von 36000 Kronen erhalten. Der Anna Moll habe er zugesagt, daß sie das Geld jederzeit nach acht Tage vorhergegangener Notiz erhalten könne. Er sei dann zurückgereist und habe auf Wunsch Seydls die Wechsel in die Hände von Fandreyer gegeben. Als er nach England zurückgekehrt war, habe er eine Einladung zu einer schon längst geplanten Reise nach Indien vorgefunden. Da der Aufenthalt in Indien auf mehrere Jahre berechnet gewesen sei, habe er Seydl hiervon benachrichtigt und, da er inzwischen von Fandreyers Verhaftung Kenntnis erhalten hatte, so habe er sich an dessen Rechtsbeistand gewandt mit dem Ersuchen, offiziell dafür Sorge zu tragen, daß jene Wechsel über 36000 Kronen an Seydl zurückgesandt würden. Die Reise nach Indien sei schließlich wegen des Todes eines der Hauptbeteiligten unterblieben. Ein Erpresser werde wohl nicht freiwillig 36000 Kronen zurückgeben.

Angeklagter Niemela erklärte auf Befragen: Er habe einmal in einem Nachtlokal von einem Assessor gehört, daß er und ein Herr Reichenheim in Davos größere Summen an Bujes verloren hätten. Später habe er in Brüssel von dem sogenannten Baron Szegedin gehört, daß Bujes ein gewerbsmäßiger Spieler sei. Dieser habe auch von Baron König gesprochen, den er als den „begabtesten Spieler der Welt“ bezeichnete, ihn aber als einen Millionär und flotten Journalisten bezeichnete, der in Paris ein großes Haus führe und ein Schloß besitze. Als er den Baron König in Paris besuchte, habe er in seiner luxuriös ausgestalteten Wohnung die vornehmste Gesellschaft, darunter einen deutschen Prinzen eines regierenden Hauses angetroffen; die Schwiegermutter des Barons König sei eine sehr vornehme Dame, und er (Niemela), damals fünfundzwanzigjährig, habe eine Dame aus der vornehmsten Gesellschaft zu Tisch führen dürfen. Wenn jemand mit einem deutschen Prinzen verkehrt, so könne er ihn doch unmöglich als Falschspieler einschätzen. Er habe dies auch keineswegs getan und nur gegen Bujes Verdacht gehabt. Als er dann beim Hamburger Derby im Hotel Herrn v. Dippe in Gesellschaft anderer Offiziere gesehen, habe er ihm gesagt, er würde ihn nächstens in Berlin aufsuchen, um die Sache vom „Fürstenhof“ mit ihm zu besprechen. Dann habe er Herrn Bergell zu Herrn v. Dippe nach Berlin geschickt und ihm sagen lassen, daß bei jenem Vorgang nicht alles in Ordnung gewesen war. Er habe auch die Absicht gehabt, zum Untersuchungsrichter zu gehen, Bergell habe ihm aber davon abgeraten, da „so ein Untersuchungsrichter aus jeder Kleinigkeit gleich eine große Sache mache“. (Heiterkeit.) Er bestreite, daß Herr v. Dippe ihm einen Vorwurf gemacht habe, daß er ihn mit „Falschspielern“ bekannt gemacht, ferner, daß er auch Herrn Bergell nicht gesagt habe, v. Dippe sei in die Hände von Falschspielern geraten. Eine Frage des Staatsanwalts, ob er v. Dippe „angepumpt“ habe, verneinte der Angeklagte.

Am dritten Verhandlungstage beantragte der Verteidiger Reichtsanwalt Dr. Julius Meyer I, eine telegraphische Auskunft bei dem deutschen Konsul in Davos darüber einzuholen, daß sich im Februar 1910 dort ein Spieler aufgehalten habe, der sich den Namen „v. König“ beigelegt hatte und mit Bela Klimm, dem angeblichen Grafen de la Rammé, in dem Hause der Gräfin Obreo verkehrt hatte.

Staatsanwaltschaftsrat Dr. Weismann: Es berührt allmählich komisch, daß Stallmann so tut, als wenn er den Namen „v. König“ mit Recht führt und irgendein Hochstapler sich den Namen „v. König“ zu Unrecht beigelegt hat. Es gibt doch sehr viele Herren v. König, die sehr ehrenwert sind.

Rechtsanwalt Dr. Meyer: Stallmann heißt im Auslande mit Recht „v. König“, er ist unter diesem Namen auch getraut worden.

Rechtsanwalt Dr. Frey bat, dem Angeklagten Niemela, der von dem Staatsanwalt bisher in so ungewöhnlich scharfer Weise angegriffen worden sei, Gelegenheit zu einer Erklärung zu geben. Niemela habe sich als Flieger große Verdienste erworben und sei nicht, wie es den Anschein habe, nur in der Welt herumgereist und habe Geld ausgegeben.

Staatsanwaltschaftsrat Dr. Weismann erklärte: Ich habe nie bestritten, daß Niemela sich auf dem Gebiete des Flugsports Verdienste erworben hat. Jedenfalls hat er, nach einer Auskunft des Generalsekretärs des Kaiserlichen Automobilklubs, die Prinz-Heinrich-Fahrt unter falschen Vorspiegelungen mitgemacht. Wenn Niemela das bestreitet, werde ich den Herrn vorladen.

Niemela: Ich bitte auch darum, es wird sich herausstellen, daß meine Angaben richtig sind. Ich habe aus den Zeitungen ersehen, daß es den Anschein hat, als wenn ich fortwährend in der Welt herumgereist wäre. Ich habe bis 1908 überhaupt keinen Urlaub erhalten und bis dahin sehr viel gearbeitet, um mich für die Kriegsakademie vorzubereiten. Ich bin 1908 nach Frankreich geschickt worden. Wenn man mit 23 Jahren nach Frankreich geschickt wird, so ist dies wohl ein Zeichen, daß ich etwas leisten konnte. Ich habe 1909 ein Buch über die Stellung der Offiziere geschrieben und viel Geld durch Zeitungsartikel verdient. Die Herren von der Presse werden mir bestätigen, daß es eine Kleinigkeit ist, 300 Mark und mehr monatlich zu verdienen, wenn man als Offizier über Aeroplane und Flugsport schreibt. Es kann jedenfalls keine Rede davon sein, daß ich immer nur auf Reisen war und den Dienst gewissermaßen nur als eine unangenehme Unterbrechung meiner freien Zeit betrachtet hätte.

Es wurde alsdann die Erörterung des Falles Dippe fortgesetzt.

Im weiteren Verlauf erklärte Angeklagter Niemela: Als er im September 1911 nach London kam, sei er krank gewesen. In London habe er Kramer kennengelernt, ohne zu wissen, daß dieser ein professioneller Spieler war. Auch habe er damals nicht gewußt, daß er, Niemela, steckbrieflich verfolgt wurde. Er habe Kramer sein Herz geöffnet und ihm die Verdrießlichkeiten mitgeteilt, die ihm wegen der Fürstenhofaffäre entstanden seien und noch entstehen könnten. Bei dieser Gelegenheit habe er Kramer auch von dem Briefe des Herrn v. Dippe Mitteilung gemacht, in dem dieser ihm bestätigt habe, daß er nicht beteiligt gewesen sei. Darauf habe ihn Kramer getröstet und habe gesagt, daß nach diesem Briefe Herr v. Dippe ja einen Meineid geleistet habe. Kramer habe sich erboten, die Sache in die Hand zu nehmen und zu allgemeiner Zufriedenheit zu regeln. Er selbst sei infolge der vielen Aufregungen ganz zusammengebrochen, so daß ihn Kramer von London aus zur Erholung aufs Land schaffen mußte. Er habe niemals dem Angeklagten Kramer gesagt, daß er an Dippe um Geld schreiben solle.

Angeklagter Kramer wies den Verdacht zurück, daß er den ominösen Brief irgendwie zur Erlangung von Geld ausnutzen wollte. Was er in dieser Affäre gemacht, habe er nur getan, um Niemela zu helfen. Seine ganze Korrespondenz mit Dr. Rosenstock, seine Depeschen an diesen, in denen er den Hinweis auf ?Opfer? ablehnte, beweise, daß er gar nicht daran gedacht habe, durch Erpressung Gelder zu erlangen.

Der Vorsitzende brachte zum Beweis des Gegenteils einen Brief und Telegramme zur Verlesung, aus denen versteckte Drohungen herauszulesen seien. Der Angeklagte bestritt das mit großer Entschiedenheit.

Alsdann wurde ein aufsehenerregender, sehr umfangreicher Brief verlesen, den Angeklagter Niemela zu einer Zeit geschrieben hatte, als er Herrn v. Dippe schon vor Bujes und Genossen gewarnt hatte. Dieser an Herrn v. Dippe gerichtete Brief drückt sich in sehr wenig schmeichelhafter Weise über die Gesellschaft aus, in die er hineingeraten sei. Er beklagte sich darüber, daß man ihn jetzt auf alle Weise verfolge, weil man erfahren, daß er ihn Herrn v. Dippe, gewarnt habe. Er beklagte sich weiter darüber, daß man auf alle Fälle den sogenannten Meineidsbrief des Herrn v. Dippe, den er sorgsam in einem Safe verwahre, in die Hände zu bekommen suche. Man habe nach dieser Richtung hin sogar mit Hilfe bestochener Polizisten und Postboten Schritte unternommen, es sei ein Einbruch in sein Safe versucht, man habe ihn mit vergifteter Milch um die Ecke bringen wollen usw. Kramer sei der größte Lump der Welt und ein intimer Freund des Korff-König. Die ganze Bande müsse er hineinlegen; er wünsche nichts mehr als die Vernichtung dieser Bande. Die Rachsucht dieser Gauner sei übergroß, weil er die Warnung ausgesprochen habe. In dem Briefe wurden dann noch eingehende Andeutungen darüber gemacht, wie sich die Vorgänge beim Spiel im ?Fürstenhof? angeblich entwickelt haben. Herr v. Dippe wisse, daß er ihm in einem Briefe einen Meineid eingestanden habe; diesen Brief habe nur ein einziger Mann gesehen, der sich als Freund geriert habe, aber ein notorischer Lump sei. Dieser Mann habe sich einer Erpressung schuldig gemacht, von der er, Niemela, selbstverständlich nichts gewußt habe. Die Hunde hätten überhaupt die größten Gemeinheiten ausgeführt; Kramer sei selbst willens gewesen, ihn ins Irrenhaus zu bringen. Lieber Herr v. Dippe, so ungefähr schloß der Brief, Sie sehen, ich bin durch die unglaubliche Rachsucht dieser Gauner ins Verderben gebracht. Ich werde nun nach Berlin zum Termin kommen, seien Sie in diesem Moment zum letzten Male mein Kamerad!“

Angeklagter Kramer: Wenn ich Kenntnis von diesem Briefe vorher gehabt hätte, so würde ich nicht bei Gelegenheit in einem Telegramm an Dr. Rosenstock Herrn Niemela einen Schurken genannt haben. Nach Kenntnis dieses Briefes muß ich sagen, daß Niemela zu jener Zeit komplett verrückt war und noch ist. Ich habe schon in London geglaubt, daß man ihn ins Irrenhaus bringen müßte, da er das Gerücht verbreitete, ich hätte ihn durch etwas, was ich ihm in die Milch getan, einschläfern oder gar töten wollen. Was er da schreibt, ist doch kompletter Unsinn! Nichts weiter wie Wahnvorstellungen! Er macht immer aus Nebensachen eine Hauptsache. Ich frage Herrn Niemela: Ist das die Wahrheit? Ja oder Nein?

Angeklagter Niemela: Ich war damals sehr schwer krank, und da wurde mir von Freunden des Kramer, der mich auf das Land gebracht hatte, gesagt, Kramer wolle mich in das Irrenhaus sperren. Darüber war ich kolossal wütend; zum Teil aus meinem kranken Zustand heraus, zum Teil auf meine Wut hin habe ich den Brief geschrieben, den ich in verschiedenen Punkten nicht aufrechterhalten kann.

Rechtsanwalt Dr. Julius Meyer: In dem Brief steht auch: Kramer sei von Dr. Rosenstock bestochen, um ihn (Niemela) in eine Irrenanstalt zu bringen. Haben Sie, Herr Niemela, dies geglaubt?

Niemela: Ja!

Vert.: Das genügt mir.

Rechtsanwalt Dr. Loewenstein: Ich frage den Angeklagten Niemela direkt, ob er es heute noch aufrechterhalten kann, daß nach seiner Meinung Kramer mit dem Briefe Erpressungen gegen Herrn v. Dippe begehen wollte.

Niemela: Ich habe mich später davon überzeugt, daß dies nicht der Fall ist.

Vors.: Wie ist es denn gekommen, daß ein englischer Anwalt bei dem Regiment des Herrn v. Dippe die Anzeige erstattet hat, ebenso ist auch von Frankreich aus von einem gewissen Dubonnier eine gleiche Anzeige erstattet worden?

Niemela: Das weiß ich nicht!

Angeklagter Kramer: Ich kann mir ungefähr denken, wie die Anzeige entstanden ist. Anscheinend hat Niemela zuviel darüber gesprochen. Niemela war zu jener Zeit so aufgeregt, daß er wohl selbst nicht gewußt hat, was er tat. Einmal behauptete er, als ihm seine englische Wirtin ein Glas Milch hinstellte, ich hätte ihn vergiften wollen, in allen Klubs wurde davon gesprochen; dabei habe ich davon getrunken, und auch einer Katze davon gegeben, und wir leben beide heute noch. (Heiterkeit.) Einige Tage später trat von Paris aus ein Brief ein, in dem sich ein zweiter Brief mit der Aufschrift befand: „An Christian Dippe weitersenden!“ In dem Briefe stand: Dippe hat einen Meineid geleistet. Ich telegraphierte sofort an Rosenstock, daß Niemela ein Schurke sei, da diese Sache offenbar auf ihn zurückzuführen sei. Heute bedauere ich das Wort Schurke, da Niemela für mich nicht nur ein kranker, nervöser und schwacher Mensch, sondern wirklich meschugge ist. (Heiterkeit)

Hierauf wurde die Schwester des Angeklagten Niemela, die Lehrerin Klementine Niemela aus Friedenshütte, vernommen. Sie bekundete: Die Geschwister in Ratibor besitzen drei Grundstücke, von denen zwei bebaut sind. In den letzten Jahren habe sie ihren Bruder mit insgesamt 25000 Mark unterstützt.

Staatsanwalt: Sie müssen, da Sie auch größere Reisen gemacht haben, ja ein wahres Finanzgenie sein, wie es Deutschland eigentlich gut gebrauchen könnte, wenn Sie von Ihrem Gehalt noch so große Unterstützungen geben konnten.

Zeugin: Ja, es scheint so, daß ich ein solches Genie bin.

Rechtsanwalt Dr. Schwindt: Als Ihr Bruder in England war und Sie von dort aus um Geld bat, haben Sie ihm Geld geschickt?

Zeugin: Jawohl, 3000 Mark.

Dr. Schwindt: Also es genügte ein einfacher Brief, daß Sie Ihrem Bruder 3000 Mark schickten?

Zeugin: Jawohl.

Es folgte die Vernehmung des Hauptmanns Beckhaus, der seinerzeit in London nach einem Besuch der Britisch-Japanischen Ausstellung, mit Stallmann, dem Kapitän Newton und dem Grafen Gisbert Wolff-Metternich Rouge et noir gespielt und dabei 7000 Mark verloren hatte. Der Zeuge, der in allen Einzelheiten die Vorgänge bei dem Spiel schilderte, erklärte, daß er Schlag auf Schlag verlor mit dem Augenblick, als er die Bank übernommen hatte. Als er mit seinem Partner zusammen 14000 Mark verloren hatte, sei auf Zureden Newtons das Spiel nochmals losgegangen; er habe anfänglich seinen Verlust annähernd wiedergewonnen: das Endergebnis sei aber wieder der gemeinsame Verlust der beiden Bankhalter in Höhe von 14000 Mark gewesen. Er habe, da ein Mann, wie der Neffe des deutschen Botschafters, Graf Wolff-Metternich, ihn mit den Teilnehmern am Spiel bekannt gemacht, keinen Zweifel daran gehabt, daß er es mit anständigen Männern zu tun hatte. Einige bei ihm später aufgetauchte Zweifel seien verstärkt worden, als er hörte, daß Graf Metternich und Newton nach Berlin gefahren seien, um einen Wechsel zu präsentieren. Er habe einige Rechtsanwälte und Gerichtsherren befragt. Diese seien mit ihm der Überzeugung gewesen, daß er Hochstaplern in die Hände gefallen sein müsse. Er sei darauf sofort nach Berlin gefahren, habe Herrn v. Manteuffel aufgesucht und diesem gesagt, er möchte ihm in einer Spielangelegenheit etwas mitteilen, es wäre ihm aber nicht angenehm, wenn sein Name dabei in die Öffentlichkeit käme. Herr v. Manteuffel habe gesagt, wenn etwas Strafbares vorliege, könne er ihn vor der Öffentlichkeit nicht schützen, er müßte dann die Sache weiter verfolgen. Nach langem Überlegen habe er die Anzeige erstattet, im Vollbewußtsein der Konsequenzen, die dies nach sich ziehen müsse. Als er den Namen Newton genannt, habe Herr v. Manteuffel telephonisch aus einem anderen Zimmer die Photographie des Falschspielers Newton bestellt und sie ihm mit dem Bemerken vorgezeigt, daß dieser Mann festgenommen, aber leider wieder entlassen worden sei.

Auf wiederholte Fragen des Rechtsanwalts Dr. Meyer bekundete der Zeuge, daß ihm während des Spiels selbst keine verdächtigen Momente aufgefallen seien, die auf Falschspiel hingedeutet hätten. Der bei ihm entstandene unbestimmte Verdacht sei erst durch die Zeitungsnachricht in eine bestimmte Form gebracht worden, welche besagte, daß Newton und Metternich ternich in Berlin erschienen seien, um einen Wechsel zu präsentieren.

Im weiteren Verlauf erklärte der Verteidiger R.-A. Bahn: Er könne nicht umhin, dem Zeugen den Vorwurf der Unwahrheit und Verschleierung zu machen.

Hauptmann Beckhaus erklärte: Er könne sich diesen Vorwurf nicht gefallen lassen, da er Offizier sei.

Rechtsanwalt Bahn: Ich habe selbstverständlich Herrn Hauptmann Beckhaus nicht den Vorwurf der wissentlichen Unwahrheit gemacht. Unter Verschleierung habe ich ausdrücken wollen, daß der Zeuge nicht alles gesagt habe, was er hätte sagen sollen.

Am vierten Verhandlungstage beantragte der Verteidiger R.-A. Dr. Julius Meyer I, eine Auskunft bei der argentinischen Gesandtschaft einzuziehen, daß die Familie der Frau Stallmann, eine geborene Escalada, zu den ersten Familien des Landes gehört, daß der Schwiegervater Escalada ein Vermögen von mindestens 25 Millionen Mark besitzt, dessen einzige Erbin Stallmanns Frau sei. Der Verteidiger beantragte ferner, die Schwiegermutter Stallmanns, Frau Lemoine in Paris, darüber zu vernehmen, daß der Frau Stallmann von ihrem Vater seit Stallmanns Verheiratung mindestens 400000 Mark zugewendet worden seien, und daß Stallmann stets berechtigt gewesen sei, über diese Summe zu verfügen. Frau Lemoine sei bereit, auf telegraphische Aufforderung vor dem deutschen Konsulat ihre Aussage zu machen.

Der Angeklagte Stallmann beantragte, eine Auskunft bei seiner Bank einzuziehen, daß er an Bujes seinen Spielverlust von 10000 Mark mit einem Scheck über diese Summe bezahlt habe, und daß er von seiner Frau für seine Reise nach Rumänien 50000 Mark erhalten habe. Hiervon habe er 14000 Mark verbraucht und den Rest wieder auf das Konto seiner Frau eingezahlt.

Staatsanwaltschaftsrat Dr. Weismann erklärte, daß er alle diese Anträge als wahr unterstellen könne.

Weiter wurde beantragt, den Grafen Gisbert Wolff-Metternich zu laden. Der Vorsitzende machte Zweifel geltend, ob Metternich dieser Vorladung Folge leisten würde, da er sich im Auslande aufhalte. Der Staatsanwalt ersuchte, in Erwägung zu ziehen, daß das Zeugnis des Grafen Metternich wenig Glaubwürdigkeit verdiene.

Der Antrag wurde deshalb zurückgezogen. Der Vorsitzende verkündete nach längerer Beratung des Gerichtshofs, daß ein Teil der Anträge als wahr unterstellt worden sei, bezüglich der übrigen Punkte habe sich das Gericht die Beschlußfassung vorbehalten.

Alsdann erschien als Zeuge Leutnant v. Werder: Er habe den Angeklagten Niemela im Hotel in St. Moritz kennengelernt. Dieser habe ihm Bujes als Monsieur de Buire vorgestellt. Von St. Moritz habe er mit seiner ner Kusine Fräulein v. Redern und diesen beiden Herren in einem Schlitten einen Ausflug nach Chiavenna gemacht. Dort sei gespielt worden. Er habe insgesamt 8400 Mark an Niemela verloren und darüber einen Schuldschein ausgestellt. Das Geld habe er an Bujes bezahlt und den Schuldschein zurückerhalten. Am Schluß des Spieles sei es zwischen Bujes und Niemela zu einem Streit gekommen, den seine Kusine geschlichtet habe. Auf der Fahrt nach Chiavenna haben in dem Schlitten noch zwei andere Herren gesessen, Bujes habe gesagt, daß der eine von diesen Herren ein Baron Korff-König sei. Der Angeklagte Stallmann sei aber mit diesem Baron Korff-König nicht identisch. Er sei größer gewesen als Stallmann, habe einen auffallend großen Kopf gehabt, eine Adlernase und einen kurzgeschorenen Schnurrbart.

Rechtsanwalt Julius Meyer I: Wir haben also jetzt den Beweis erbracht, daß es noch einen anderen Baron Korff-König gibt. Auch der Steckbrief, der hinter Stallmann erlassen worden ist, trägt die Personalbeschreibung, die der Zeuge soeben gegeben hat. Ich will nur sagen, daß anscheinend alle Straftaten, die hier Herr v. Korff-König begangen hat, jetzt dem Angeklagten Stallmann in die Schuhe geschoben werden.

Vors.: Meine Herren! Es steht ja fest, daß Stallmann zu jener Zeit nicht in St. Moritz und Davos gewesen ist. Herr v. Werder, zwischen Ihnen und Bujes hat doch eine Korrespondenz stattgefunden, in der Bujes den Angeklagten Niemela nicht gerade mit Kosenamen belegt hat?

Zeuge: Bujes hat mir Briefe geschrieben, in denen er Niemela als Gauner und Schurken bezeichnet hat.

Im März 1910 befand sich der Rittergutsbesitzer Dzialas aus Schlepnitz in Florenz. Dort lernte er einen Österreicher kennen und wurde durch diesen mit Owen und Bujes bekannt, der sich damals „Etienne de Buies“ nannte und mit Niemela bekannt war. Bei einem Ausflug nach Fiesole kam es nach dem Diner zum Rouge et noir. Dzialas hat an Owen 12000 Franken und an Bujes 3000 Franken verloren, er hat zunächst Wechsel ausgestellt und nach seiner Heimkehr die Beträge bezahlt. Nach dem Spiel hat Bujes die Karten zerrissen.

v. Adelt, der früher aktiver Offizier war, war im Jahre 1909 in Monte Carlo. Als er auf einer Bank vor dem Kasino saß, setzte sich ein Mann neben ihn, der sich als Plantagenbesitzer Rohleder aus Java vorstellte. Man ging ins Café Paris in der Nähe des Kasinos. Da sah Rohleder einen Mann, den er als Herrn v. Kramer bezeichnete, über den Damm gehen; er holte ihn an den Tisch heran. Man verabredete eine Partie nach den Palmengärten von Bordighera. In Mentone stieß ein dritter Herr zu der Gesellschaft, setzte sich im Zuge dem Herrn v. Kramer gegenüber und kam mit ihm in ein Gespräch, in dessen Verlauf er sich erinnerte, daß sie beide einmal miteinander bekannt gemacht worden seien. An Ort und Stelle frühstückte man in einem Gasthof, nach dem Frühstück wurde vorgeschlagen, den Preis des Frühstücks auszuspielen. Es wurde Rouge et noir mit Streichhölzern, deren jedes einen Franken darstellte, gespielt, dann gingen die Sätze immer höher. Er (Zeuge) verlor nicht nur sein ganzes Bargeld, sondern auch noch 1200 Franken, die er sich von Herrn v. Kramer borgte. Er hat im ganzen 7400 Franken verloren. Dann wurde das Spiel abgebrochen. Rohleder, der kurze Zeit hinausgegangen war, tat sehr empört, daß er (Zeuge) sich in ein so hohes Spiel eingelassen habe; Rohleder übernahm die Regelung. Er (Zeuge) gab einen Scheck auf die Holländische Bank und mußte außerdem einen Wechsel unterschreiben. Am nächsten Tage fuhr man nach Monte Carlo zurück. Dort gab er Herrn v. Kramer die 1200 Franken wieder. Der von ihm unterschriebene Wechsel ist nach der Zentrale Fandreyer in Düsseldorf gegangen, um von dieser einkassiert zu werden. Später ist ihm, als er in der Strafsache vernommen wurde, auf der Polizei die Photographie eines Holländers Jakob Grieg vorgelegt worden, der ein Falschspieler ist und von ihm als der beteiligte Unbekannte wiedererkannt wurde. Er habe die Wechselschuld bezahlt. Er würde es nicht getan haben, wenn er gewußt hätte, daß Rohleder ein in Deutschland und Grieg ein in Holland wegen Falschspiels bestrafter Mann war. Die Rechtsanwälte Dr. Alsberg und Dr. Werthauer bestritten diese Angaben; die Bestrafung sei nur wegen gewerbsmäßigen Glücksspiels, aber nicht wegen Falschspiels erfolgt.

Ein Herr v. Hilsemann hat ein ähnliches Abenteuer gehabt. Er hat sich in Ventimiglia in ein Spiel eingelassen in der Meinung, daß nur die Zeche ausgespielt werden solle. Seine Partner waren Kramer, Rohleder und ein Dritter. Er hat schließlich an Kramer 1500 Franken und an den Dritten 6000 Franken verloren. Rohleder, der ihn mit den anderen bekannt gemacht hatte, trat für ihn ein, gab an Kramer die 1500 Franken bar und einen Scheck an den Dritten und ließ sich über die Gesamtsumme von 7500 Franken von ihm einen Wechsel ausstellen. Auf dem Rückwege nach Monte Carlo sagte Kramer, er sei durch eine Depesche zu seiner in Cannes krank liegenden Frau gerufen worden. Auch Rohleder verschwand am anderen Tage, angeblich infolge einer dringenden Depesche. Auch dieser Wechsel hat den Weg zu Fandreyer genommen.

Staatsanwaltschaftsrat Dr. Weismann beantragte, den Direktor Schneider von der Luftverkehrsgesellschaft auf dessen persönlichen Wunsch zu laden. Dieser wolle die Angaben Niemelas über seine Tätigkeit als Flieger widerlegen. Schneider bezeichne diese Angabe als „haarsträubend“.

Rechtsanwalt Dr. Schwindt: Die Sache kommt darauf hinaus, daß ich dann beantragen müßte, halb Frankreich zu laden zum Beweis dafür, daß Niemela sich Verdienste im Flugsport erworben hat und in ganz Frankreich geflogen ist. Darüber kann doch Herr Schneider nichts sagen.

Angeklagter Niemela: Wie kann denn Herr Schneider etwas über mich wissen, ich habe ja nie behauptet, daß ich in Deutschland geflogen bin, sondern immer nur, daß ich in Frankreich geflogen bin.

Staatsanwalt: Man kann doch aber einem ehrenwerten Herrn wie Herrn Direktor Schneider nicht derartige Vorwürfe machen.

Rechtsanwalt Dr. Schwindt: Wenn der Herr geladen wird, muß ich ebenfalls Zeugen aus Frankreich laden lassen, denn der Herr kann doch über die Fliegertätigkeit meines Mandanten in Frankreich keinerlei Angaben machen.

Am fünften Verhandlungstage teilte Staatsanwaltschaftsrat Dr. Weismann mit, daß er den Direktor Schneider, den er gestern schon benannt, als Zeuge geladen habe.

Angeklagter Niemela: Ich protestiere gegen die Vernehmung des Direktors Schneider. Ich wäre gezwungen, als Gegengewicht den Präsidenten des Aeroklubs in Paris laden zu lassen. Ich habe das Fliegen zu meinem Gewerbe gemacht und kann meine Tätigkeit auf diesem Gebiete nicht einseitig schlecht machen lassen.

Vors.: Dann würden wir ja zweifellos die ganze Verhandlung vertagen müssen.

Staatsanwaltschaftsrat Dr. Weismann: Ich benannte Herrn Direktor Schneider nicht wegen der Tätigkeit des Angeklagten als Flieger, sondern wegen seiner Spielertätigkeit auf dem Flugplatz.

Angeklagter Niemela: Ich kenne Herrn Direktor Schneider gar nicht!

Ein Zeuge Bund hatte folgendes Spielabenteuer erlebt:

Im Jahre 1908 lernte er in Lugano einen Herrn Pauly kennen, der sich als Minenbesitzer aus Südafrika vorstellte. Bund war zum ersten Male außerhalb Deutschlands, und es war ihm ganz angenehm, Anschluß zu finden. Auf der Straße sah Pauly plötzlich einen Mann stehen, den er begrüßte und als Herrn v. Kramer vorstellte. Nach zehntägigem Zusammensein machte man einen Ausflug nach Como. Auf dem Schiff gesellte sich ein anderer Herr hinzu, der als ein Regierungsrat aus Köln vorgestellt wurde. Dann kam wieder die alte Geschichte: In Como wurde ein Spiel gemacht, man spielte „Häufeln“, und in ganz kurzer Zeit verlor Bund 8000 Franken an den angeblichen Regierungsrat aus Köln. Er akzeptierte einen Wechsel, der zuerst von einer holländischen Bank, und später von der Eintreibungszentrale Fandreyer geltend gemacht wurde. Bund war während des Spieles einmal ängstlich geworden, der fremde Herr beruhigte ihn aber, indem er sagte: Wir spielen ja doch, bis einer quitt ist. Bei dem ganzen Spiel ist ihm (Zeugen) keinerlei Verdacht aufgestiegen.

Der nächste Zeuge, Hauptmann a.D., jetziger Rittergutsbesitzer Freiherr v. Fürstenberg aus Westfalen, hatte sich auf Grund seiner Erlebnisse mit Kramer dem Kriminalkommissar v. Manteuffel zur Verfügung gestellt, als die gegenwärtige Anklagesache in Fluß kam. Nach seiner Rückkehr aus Südwestafrika weilte er 1908 in Rom und logierte im Hotel Haßler, in welchem auch ein Herr v. Kramer wohnte. Als er eines Tages an den Portier die Frage richtete, wie man am besten zum Rennen komme, da ertönte von der oberen Treppe die Stimme des Herrn Kramer, der hinunterrief: Ach, ich habe einen Wagen zum Rennen, da könnten Sie ja mitfahren. Herr v. Fürstenberg dankte aber. Als er nach acht Tagen im Begriff war, den Zug nach Florenz zu besteigen, war auch Kramer im Begriff, mit demselben Zuge nach Florenz zu fahren. Er bat den Zeugen um Entschuldigung, daß er ihm vor acht Tagen ohne Berechtigung seinen Wagen angeboten habe. Beide Herren nahmen in demselben Abteil Platz. Als sich der Zug gerade in Bewegung setzte, kam im letzten Augenblick noch ein Herr in das Abteil gestürzt, warf sein Gepäck in das Netz, und als er hörte, daß die beiden anderen Deutsche waren, stellte er sich als „Kunsthändler Maringer“ vor. Baron v. Fürstenberg stellte sich gleichfalls vor, ebenso Kramer, der durchaus nicht so tat, als ob der „Kunsthändler Maringer“ ein alter Bekannter von ihm war. In Florenz stieg man in demselben Hotel ab. Die Herren waren sehr liebenswürdig gegen den Baron, man ging abends gemeinsam in ein Pilsener Bierlokal, wo Maringer „ganz zufällig“ auf Pauly stieß, von dem er dem Baron erzählte, daß er ein alter Afrikaner, ein Minenbesitzer sei, der Herrn v. Fürstenberg als solcher interessieren würde. Pauly wohnte in einem größeren Hotel mit internationalem Verkehr. Auf Aufforderung Paulys gingen die Herren am nächsten Tage in dessen Hotel. Man trank dort eine Flasche Sekt. Bei dieser Gelegenheit ging Pauly plötzlich an seinen Überrock, holte ein Spiel Karten aus der Tasche dieses Rockes und erbot sich, den Herren einmal ein in Afrika beliebtes Spiel, das „Häufeln“ zu zeigen. Aus dem Spiel mit Streichhölzern wurde ein Spiel mit immer höher steigenden Einsätzen. Nach eineinhalbstündigem Spiel stand Herr von Fürstenberg zu seinem Erstaunen auf 16000 Lire minus. Maringer erklärte sich bereit, die Sache zu arrangieren und stellte zunächst einen Scheck aus. Am nächsten Morgen kam Maringer an den Kaffeetisch des Herrn v. Fürstenberg und sagte: „Wir leben und sterben, unterschreiben Sie doch dies Akzept über 13000 Mark.“ Dies geschah. Als dann Baron v. Fürstenberg in Wiesbaden weilte, erzählte er anderen Offizieren sein Spielpech. Diese Kameraden waren der Ansicht, daß er Leuten in die Hände gefallen sei, die ihn betrogen hätten. Der eine erzählte von einem ähnlichen Abenteuer, das er in Neapel, der andere von einem Abenteuer in Palermo, ein dritter von einer Spielaffäre, bei welcher ein Minenbesitzer eine Rolle gespielt habe. Nun befestigte sich in ihm (Zeugen) mehr und mehr die Überzeugung, daß er es mit Falschspielern zu tun gehabt habe. Er erinnerte sich auch, daß ihm nach dem Genuß einer ihm angebotenen Zigarre und nach dem genossenen Wein ganz sonderbar zumute geworden sei; er sei am nächsten Tage außergewöhnlich schlapp, müde und kaputt gewesen. Deshalb habe er den Wechsel nicht bezahlt.

Auch der nächste Zeuge, ein Offizier aus einem thüringischen Regiment, war als 25jähriger junger Leutnant im Juni 1910 nach Brüssel zur Weltausstellung gefahren. Dort hatte er einen Mann kennengelernt, der sich als Raab, Sohn eines Kunsthändlers ins Frankfurt a.M., vorstellte. Diesen hat er später in Ostende wiedergesehen. Zufällig kam Kramer hinzu, der sich als „v. Gilbert“ vorstellte. Bei einem Ausflug nach Blankenberghe kam es nach einem Essen, bei dem französischer Weißwein getrunken wurde, zum Spiel, das für den Offizier mit einem Verlust von 9900 M. endete. Der Zeuge erklärte, daß er bei dieser Spielaffäre ziemlich betrunken gewesen sei. Nachher seien ihm allerlei Bedenken gekommen. Er habe sich sofort ins Bett legen müssen und Erbrechen gehabt, mußte sich Tee bestellen, den er auch nicht bei sich behalten konnte. Auf Grund seines immer stärker werdenden Verdachts habe er sich an einen ihm bekannten Kriminalkommissar gewandt. Letzterer hat ihn zu Herrn v. Manteuffel geschickt; diesem habe er die ganze Sache erzählt.

Kramer hielt dem Zeugen vor, daß er an jenem Tage noch kränker war als er es dargestellt, und zwar infolge des von ihm genommenen Seebades und darauffolgenden Frühstücks und Sektgenusses.

Rechtsanwalt Dr. Julius Meyer I: Es ist dies eine typische Krankheit, die „Ostendaise“, die einen nach den ersten Bädern in Ostende befällt.

Gutsbesitzer Max Seydl bekundete: Im Sommer 1907 habe er in Wiesbaden mit der noch sehr jugendlichen Anna Moll Beziehungen angeknüpft. Der Angeklagte Kramer habe Erpressungsversuche gegen ihn unternommen unter dem Vorgeben, daß die Moll seine angetraute Gattin sei. Er (Seydl) hatte größere Summen gezahlt.

Angeklagter Kramer bezeichnete diese Aussage als unwahr. Seydl habe gar nicht annehmen können, daß die Moll seine Frau sei.

Darauf wurde Kaufmann Gaston de Fommervault aus Paris, unter Mitwirkung des Rechtsanwalts Illch, Dolmetschers der französischen Sprache, als Zeuge vernommen. Stallmann hatte einen Wechsel über 80000 Mark, den Leutnant v. Dippe bei Abschluß des Spiels im „Fürstenhof“ an Bujes zur Begleichung seiner Spielschuld gegeben hatte, in seinem Besitz. Er wollte feststellen, daß es sich dabei nicht um eine Schiebung gehandelt, er vielmehr den Wechsel in Gegenwart des Zeugen von Bujes gekauft oder gegen Spielschulden verrechnet hatte. Der Zeuge Baron de Fommervault bekundete: Er sei seit seiner Jugend mit Fräulein Lemoine, die von „Herrn v. König“ geheiratet wurde, bekannt; diese verkehrte in seiner Familie. Er habe „Herrn von König“ häufiger in Nizza gesehen, man sah ihn jedoch nur selten im Spielsaal. In Paris habe er öfter im Klub mit „v. König“ gespielt, er habe geringe Beträge verloren, aber einmal selbst von ihm 35000 Franken gewonnen, die am nächsten Tage in französischen Banknoten bezahlt worden seien. Im Juli 1910 sei er zugegen gewesen, als Stallmannv. König einem anderen Herrn einen Wechsel von 80000 M. diskontiert und die Valuta in Scheck und Gold ausgezahlt habe. Der ihm unbekannte Herr hatte ziemlich erhebliche Verluste. Er habe gesehen, daß der Herr an Stallmann einen Wechsel über 80000 Mark gab, und daß Stallmann einen hohen Betrag dafür auszahlte. Er erinnere sich noch, daß er Stallmann gesagt habe: es sei doch ein bißchen unvorsichtig von ihm, so im Handumdrehen eine solche Wechselsumme auszuzahlen. Ob Stallmann bei dieser Gelegenheit auch gesagt habe, „er habe ja nur 50000 Mark gezahlt“ und es handle sich um eine Verrechnung eines Spielverlustes, könne er nicht sagen.

Rechtsanwalt Dr. Meyer: Kann der Zeuge vielleicht sagen, wie der Mann, der doch wohl Bujes gewesen sein muß, aussah?

Zeuge: Ich kann mich nur noch erinnern, daß der Herr viel „mit den Händen sprach“ und recht aufgeregt war.

Staatsanwalt: Das tun viele Leute. (Heiterkeit.) Herr Bujes kann übrigens sofort vorgeführt werden, er ist aus dem Gefängnis hergebracht worden und steht zur Verfügung.

Bujes wurde in den Saal geführt.

Er sah sich sehr erstaunt um und nickte mit einem Lächeln des Erinnerns den Vertretern der Presse zu. Zeuge de Fommervault musterte den Zeugen Bujes und erklärte, ihm nicht wiederzuerkennen.

Staatsanwaltschaftsrat Dr. Weismann: Der ganze Habitus des Herrn Bujes ist doch ein solcher, daß man ihn nicht so leicht vergißt. Wenn der Zeuge sich so genau der Kleinigkeiten über den Wechsel besinnt, so fällt es doch auf, daß er sich auf eine so markante Persönlichkeit nicht besinnt.

Zeuge: Ich kann doch als Zeuge nur sagen, was ich weiß, aber nicht, was ich nicht weiß. Ich habe den betreffenden Herrn nur in einem großen Saal und bei anderer Beleuchtung gesehen.

Zeuge Bujes: Um was handelt es sich hier überhaupt? Ich muß das wissen! Ich will das wissen!

Vors.: Seien Sie still!

Stallmann: Herr Bujes sieht, wie ich feststelle, jetzt wesentlich anders aus, als früher. Damals war er viel korpulenter!

Bujes (sehr lebhaft): Hab’ ich doch 23 Kilo verloren, seitdem ich schmachte im Gefängnis, unschuldig!

Vors. (unterbrechend): Sie warten, bis wir zu Ihrer Vernehmung kommen werden!

Bujes: Bon!

Nachdem Bujes die Frage des Staatsanwalts, ob er denn den Zeugen de Fommervault kenne, verneint hatte, wurde er wieder abgeführt. Er verließ dem Saal mit einer Verbeugung gegen den Gerichtshof.

Der vom Staatsanwalt vorgeladene Flugtechniker Franz Schneider von der Luftverkehrsgesellschaft Johannisthal kannte den Angeklagten Niemela von Paris her. Er war damals bei der Nieuportgesellschaft tätig. Bei den Flugversuchen im Lager von Chalons erschien Niemela häufig im eigenen Automobil mit goldbetreßtem Chauffeur. Es kam, im Anschluß an das Mittagessen, öfter zu einem Jeu. Die Leute waren sich nicht klar, was man aus Niemela machen solle, ob er nicht etwa ein höherer Beamter sei, der von Deutschland geschickt wurde. Ein amerikanischer und ein italienischer Offizier, die die Fliegerschule besuchten, haben sich geweigert, mit Niemela weiter zu verkehren.

Niemela bezeichnete das als unwahr.

R.-A. Dr. Schwindt beantragte die Vorladung des Hauptmanns de la Croix, der bestätigen werde, daß im Jahre 1911, also nach jenen angeblichen ungünstigen Nachrichten über Niemela, die Fluggesellschaft mit diesem einen Anstellungsvertrag schließen wollte.

Angeklagter Niemela: Das Automobil gehörte einem mir befreundeten griechischen Herrn. In Chalons-sur-Marne wird jeden Nachmittag gespielt, weil man erst gegen 6 oder 7 Uhr zu fliegen pflegt, und man sich bis dahin die Zeit vertreiben will. Ich habe damals auf keinem Flugplatz auch nur einen Pfennig gewonnen.

Vors.: Wie kommt es aber, daß Ihnen die französische Regierung das Betreten der Spielklubs verboten hat?

Angekl. Niemela: Die Ausweisung datiert vom Oktober 1911; ich war aber im August schon in London.

Staatsanwalt: Und wie kommt es, daß Sie in den Listen der Falschspieler geführt werden?

Niemela: Ich bin in Frankreich immer anständig behandelt worden; erst als die Nachrichten in den Zeitungen erschienen und durch allerlei Geschwätz, vielleicht auch durch Herrn v. Manteuffel, ist es herbeigeführt worden, daß man mich auf die Liste gesetzt hat.

Direktor Schneider erklärte auf Befragen nochmals, er habe von dem italienischen Offizier Rossi und von anderen gehört, daß sie glaubten, Niemela spiele falsch.

Rechtsanwalt Dr. Schwindt: Das ist doch alles vom Hörensagen. Dann müssen wir die Personen vorladen, die so etwas gesagt haben sollen. Wenn die Verteidigung auch so operieren und hier Zeugen vorführen wollte, die nur de audito berichten, dann würde der Staatsanwalt mit Recht dagegen protestieren. Das geht doch nicht, das widerspricht allen Grundsätzen des Strafprozesses.

Am sechsten Verhandlungstage bekundete Oberförsterkandidat a.D. Helmuth Bergell als Zeuge: Im Jahre 1910 habe er auf einem Ausflug nach Nizza den Baron von König kennengelernt. Da dieser in Argentinien war und er (Zeuge) sich dort auch betätigt hatte, habe er sich für den sehr liebenswürdigen Herrn interessiert. essiert. In der Begleitung des „Barons v. König“ befanden sich ein Russe und ein Engländer. Er wurde zum Frühstück nach einem Hotel eingeladen. Es wurde alsdann um die Zeche gewürfelt. Nach Monte Carlo zurückgekehrt, saßen die Herren in einem besonderen Zimmer des Hotels. Nach dem Essen wurde mit Würfeln gespielt. Dabei habe er (Zeuge) 2500 Franken in bar und 9000 Franken unbar verloren. Er sei an diesem Tage sehr betrunken gewesen und habe am folgenden Tage einen ungewöhnlich starken „Kater“ gehabt. Etwas Verdächtiges beim Spiel habe er nicht gemerkt; wäre dies geschehen, dann würde er den Herren den Würfelbecher an den Kopf geworfen haben. Später hatte er sich mit einer „millionenschweren“ Dame verlobt und war genötigt, zwecks Einleitung eines Finanzgeschäfts nach London zu fahren. Er brauchte 50000 Mark. v. König, den er in London traf, erklärte sich zu dem Darlehn bereit, wenn er zwei zuverlässige Bürgen stelle. Zum Abschluß des Geschäfts sei es nicht gekommen. Er habe v. König in dessen Wohnung besucht. Dieser war glänzend eingerichtet, und es habe dort eine gute Gesellschaft verkehrt. Er habe aber auch einen Mann gesehen, der in diese Gesellschaft nicht paßte. Er habe einmal v. König, dessen richtigen Namen Stallmann er später erfahren habe, mit Newton und noch einem anderen Engländer pokern sehen. Niemela habe er kurz vor der Prinz-Heinrich-Fahrt, an der er sich auch beteiligen wollte, kennengelernt. Eines Abends habe er mit Niemela und Schenk v. Schweinsberg im „Esplanade-Hotel“ in Berlin zusammen geknobelt. In Berlin sei er auch mit Stallmann und Bujes zusammengetroffen. Er habe später Niemela gefragt: Wie kommen Sie eigentlich zu „Herrn v. König“? Der heißt ja gar nicht König, sondern Stallmann. Niemela habe ihn vor Stallmann und Bujes gewarnt und erzählt, Stallmann habe eine Art Zauberring für vieles Geld erworben. An diesem Ringe sei ein Spiegel befestigt, auf dem er die untere Seite der Karten ablesen könne. Bei Rouge et noir würden die Karten durch Einbiegen einer Farbe oder durch Eindrücke mittels des Fingernagels gekennzeichnet. Er, so sagte Niemela, könnte die Tricks auch ausführen. Auf sein (des Zeugen) Ersuchen habe Niemela mit ihm aus Scherz ein Spiel angefangen, um ihm zu zeigen, daß er die Geheimnisse des Spiels auch sehr gut kenne. Er habe beobachtet, daß man mit solchen Tricks vielleicht 18jährige Primaner, aber nicht gewiegte Spieler düpieren könne. Niemela habe ihm weiter erzählt, Bujes sei nicht ein Herr de Bujes, stamme auch nicht aus Frankreich, sondern von der asiatischen Grenze. Eines Tages war Niemela sehr deprimiert und sagte: „Sie glauben gar nicht, wie ich unter dem Verkehr dieser Leute zu leiden habe.“ Er sagte mehrmals: „Wenn ich nur von diesen Hunden loskäme; Sie glauben gar nicht, was ich ausgestanden habe.“ Im weiteren habe ihm Niemela erzählt, daß Leutnant v. Dippe im Hotel „Fürstenhof“ in Berlin an Stallmann und Bujes 80000 Mark verloren habe. Er müßte dies eigentlich anzeigen, da er infolge dieses Vorganges selbst noch in Teufels Küche kommen könnte. Niemela habe ihn gebeten, v. Dippe aufzuklären und zu warnen. Dies habe er getan und v. Dippe veranlaßt, den Spielwechsel nicht zu bezahlen. Die Verteidiger nahmen den Zeugen in ein längeres Kreuzverhör. Der Zeuge verwahrte sich entschieden gegen den Verdacht, daß er aus irgendwelchen pekuniären Absichten v. Dippe gewarnt habe.

Stallmann: Wenn Niemela wirklich das gesagt hat, was der Zeuge behauptet, so hat sich dies wahrscheinlich nur auf Bujes bezogen. Im übrigen halte ich Niemela für einen ganz verwirrten und konfusen Menschen.

Angeklagter Niemela: Er habe seine Äußerungen nur in der Form gemacht, daß Bujes, wenn er verlieren sollte, nicht bezahlen würde; auf Betrug und Falschspiel habe sich seine Äußerung nicht bezogen. Bergell habe ihm erzählt, v. Dippe habe ihm 13000 Mark gegeben mit dem Bemerken, er wolle ihn nicht im Stich lassen. Niemela erhob weiter mehrere Vorwürfe gegen den Zeugen. Darauf erklärte der Vorsitzende zende: „Wer im Glashause sitzt, sollte doch nicht mit Steinen werfen.“

Alsdann wurde Bujes, der im März 1912 wegen Falschspiels zu einem Jahre Gefängnis verurteilt worden ist und diese Strafe in Plötzensee verbüßte, als Zeuge vorgeführt. Bujes, der angab, Kaufmann zu sein, mit Vornamen Stefan zu heißen, antwortete auf die Frage des Vorsitzenden nach der Religion: Griechisch-Katholisch. Er war ein großer, schlanker Mann von etwa 38 Jahren. Er ging modern und schick gekleidet, trug ein goldenes Pincenez und hatte ganz das Aussehen eines Lebemanns, denen man täglich in den großen Pariser Cafés begegnet. Er sprach nur gebrochen Deutsch, und zwar derartig schnell, daß man ihm nur mit Mühe zu folgen vermochte. Er wurde unvereidigt vernommen und begann mit den Worten: Herr Président, bitt’ schön, etwas nachsichtig mit meinem Sprach zu sein. Sprech’ ich allerdings die deutsche Sprach', denn ich besuch’ die Hochschule in Plötzensee.

Vors.: Sie sollen als Zeuge vernommen werden und müssen die reine Wahrheit sagen.

Zeuge: Herr Président, ich liebe nur die Wahrheit. Ich muß dem Herrn Président und dem Herr Prokureur, die ganze Sach’ von Ursprung an erzählen.

Vors.: Nein, wir wollen nur die Vorgänge vom 1. Juni 1910 von Ihnen hören.

Zeuge: Bon. Ich bin gekommen geschäftlich nach Berlin, ich hatte eine Dame zu besuchen und mußte nach Rathenow, wo ich wollte kaufen eine Petroleum-Bohrmaschine; hatte Auftrag von einem Herrn aus Westarabien. Bei Schmidt in Rathenow wurde gesagt: Haben keine Bohrmaschine, nur Dreschmaschinen. Habe telegraphiert an Monsieur de König, der in Berlin war und den ich kannte von Paris. Herrn König hatte ich gefragt in Paris: „Wo ißt man gut in Berlin?“ König hatte gesagt, bei Traube. Ich hatte mich geirrt in der Leipziger Straße, glaubte ich bei Kaminski. (Heiterkeit.)

Vors.: Sie meinen wohl Kempinski.

Zeuge: Bon, Herr Président, man ißt sehr gut, sehr gut bei Kempinski.

Vors.: Essen und Trinken scheint bei den Herren eine große Hauptsache zu sein.

Zeuge (mit lauter Stimme): Herr Président, bitte, ich armer Mann sitze jetzt in Anstalt und esse seit Wochen nur Brot und Milch.

Vors.: Nun weiter.

Zeuge: Wie ich sitze in der Eisenbahn von Rathenow nach Berlin, klopft jemand auf meine Schulter und sagt: Nanu. Wie ich mich umschau', sehe ich einen Herrn ohne Schnurrbart vor mir, das war Leutnant v. Dippe, den ich kannte vom Rennen, und der mich auch kannte unter meinem Journalistennamen von Hennrichs. Ich hatte Hunger, ich ging in den Speisewagen mit Herrn v. Dippe. Wir tranken Whisky und Soda. Ich sagte Herrn v. Dippe: In Berlin erwartet mich jemand, mit dem ich Geschäfte machen will. Herr v. Dippe sagte: „Wir können zusammen speisen.“ Bon, sagte ich. In Berlin erwartet mich Herr v. König, Noblesse oblige. Ich stelle Herrn v. König vor. (Ein Beisitzer niest laut.)

Bujes: Sehen Sie, Herr Président, das ist Wahrheit. Ich bin sehr abergläubisch, und wenn einer niest, ist es Wahrheit. (Stürmische Heiterkeit.)

Vors.: Unterlassen Sie solche Redensarten und fahren Sie fort.

Zeuge: Herr v. Dippe sagte: Wollen wir speisen im „Fürstenhof“? Wir haben getrunken zwei Flaschen Wein und eine Flasche Sekt. Besaufen aber war keiner. Bitt’ schön, die Deitschen trinken tapfer. Ein Deitscher kann fünf bis sechs Rumänen hinlegen. (Heiterkeit.)

Vors.: Nicht so umschweifig.

Zeuge: Dann kam Niemela, und ich bestellte Essen nach Menü. Er trank etwas Sekt, denn wissen Sie, Herr Président, wenn ein deitscher Offizier sich setzt an unsern Tisch, muß ich ihm doch ein Glas offerieren. Nach Tisch lud uns Leutnant Niemela ein, Kaffee zu trinken auf seinem Zimmer. Da kam es zum Spiel. Wissen Sie, in meiner Jugend war ich schon in Monte Carlo, diesem Teufelsparadies, dieser Lasterhöhle, und bitte, Herr Prokureur, die Schriftstücke in Empfang zu nehmen und durchzulesen.

Vors.: Ich weiß schon, es ist eine von Ihnen aufgestellte Gewinnberechnung.

Der Zeuge erzählte alsdann: Niemela hatte vorgeschlagen, Ecarté zu spielen. v. König und v. Dippe haben aber eine Art Problem lösen wollen. Ich habe 110 Mark an Niemela verloren, dann ist Niemela weggegangen, und nun begann das Spiel Rouge et noir. Stallmann spielte hoch. Plötzlich kommt v. Dippe. Sie müssen wissen, Herr Président, v. Dippe war sehr intim zu mir, sagte immer „Mon chère Hennrichs“. v. Dippe war gar nicht besaufen, schmeißt ein Braunes hin und sagt: Wollen ihm das Genick brechen! Banko. Verzeihen, Herr Président, muß ich mich besinnen, habe ich eine Memoire wie ein Has'. Also v. Dippe spielte mit die Braunen. v. Dippe und v. König hielten die Bank. Ich pointiere. Als Pointeur habe ich ganz bestimmtes System, muß ich immer gewinnen. Hat sich Herr v. Manteuffel keine Ahnung vom Spiel.

Vors.: Schweifen Sie nicht so ab.

Zeuge: Rouge et noir ist kein Falschspiel, sondern ein Berechnungsspiel, ein Glücksspiel. Als Pointeur will ich immer gewinnen. Will ich spielen mit zwanzig Sachverständigen, aber nicht mit Herrn v. Manteuffel. teuffel. Mein System fängt mit 200 Franken an. Habe übersetzt eine Setzmethode. (In großer Erregung): Man muß pointieren, nicht wie die Deitschen; verlieren in Monte Carlo 50 Millionen, ein Beweis, daß sich haben Deitschen viel Geld. (Heiterkeit.)

Vors.: Bleiben Sie nur bei der Sache.

Bujes: Bon. Meine Skala ging sehr gut, ich hatte großen Haufen Geld vor mir. Trotzdem von König ist tüchtiger Spieler. Es ging alles elektrik, war sich mein Glückstag. Habe ich gewonnen 160000 Mark. Ich ließ mir natürlich geben einen Wechsel, bin ich doch Kaufmann. Heute, Herr Président, in meinem Unglück, glaube ich, v. Dippe in vollem Bewußtsein 80000 Mark geschrieben hat, damit Wechsel nicht gültig ist.

Staatsanwalt: Fiel Ihnen das nicht an jenem Abend auf?

Bujes: Habe ich doch große Confiance zu Herrn v. Dippe gehabt.

Vors.: Sind Sie überzeugt, daß ehrlich gespielt worden ist?

Zeuge: O, ich bitte, wenn jemand verliert, sagt er immer Falschspieler. Das beruht alles auf Hypnotisme und Suggestion. (Mit weinender Stimme): Ich bin entrissen meinem Kinde, meinen armen Eltern, schmachte hier in die Mauern. Aber in Preißen wird man human behandelt, vom ersten bis letzten Beamten, sonst müßte man sich erdrosseln. Ich kann nur sagen, es war alles ehrlich, parfaitement.

Vors.: Hat Stallmann für seinen Verlust auch einen Wechsel gegeben?

Zeuge: Jawohl, über 80000 Mark. Ich habe mit Stallmann ein großes Petroleumgeschäft vorgehabt. Stallmann hatte mich nach Paris eingeladen. Nach dem Spiel im „Fürstenhof“ in Berlin bin ich noch an demselben Abend nach Brüssel und von dort nach Paris gefahren. Richtig ist, daß man mich hat

ausgewiesen aus Paris.

Dort bin ich denunziert als deitscher Spion, hier als französischer Spion. Ich wurde denunziert von französischen Spitzeln, denen ich zu sehr auf die Finger gesehn habe. Jetzt wurde ich aber in Paris geduldet. Als ich zu v. König in Paris in die Wohnung kam, kann ich Ihnen sagen, j’etais baff. Frau v. König ist eine Dame, eine echte Edeldame. v. König lud mich ein zum Speisen. Ich sagte: Avec plaisier. Ich wurde aufgenommen wie bei einem Fürsten. Nach Essen gingen wir in Arbeitszimmer, und ich versprach ihm für gute Aufnahme Jubiläumsmarken vom Jubiläum des Königs vom Rumänien. v. König forderte, ihm für den Verlust im „Fürstenhof“ Revanche zu geben. v. König eigenen Wechselbetrag im Spiel zurückgewonnen und mir Dippeschen Wechsel diskontiert. Einzige Opfer bloß arme v. König.

Staatsanwalt: Hielten Sie es nicht für eigentümlich, daß ein Mann, der Sie doch nur oberflächlich kannte, Ihnen sofort einen Wechsel über 80000 Mark diskontierte?

Zeuge: Ihre Frage ist sehr lobenswert, Herr Prokureur, aber Herr v. König hat mich mit Dippe sehr intim gesehen und hat gehört, wie Dippe hat gesagt mon chere ami. Er wußte auch, daß ich war ein Freund des Bruders des

Präsidenten Gomez von Venezuela.

Staatsanwalt: Niemela hält Sie aber für so wenig reich, daß er der Meinung ist, wenn Sie 80000 Mark verlieren würden, dann hätten Sie gepfiffen.

Zeuge (entrüstet und höhnisch laut auflachend): Ich 80000 Mark verlieren, dazu bin ich viel zu schlau. (Große, allgemeine Heiterkeit, in die selbst die Mitglieder des Gerichtshofes und der Staatsanwalt einstimmten.)

Staatsanwalt: Sie haben doch aber in Paris an einem Tage 160000 Mark verloren.

Zeuge: Ja, sehen Sie, Herr Prokureur, das war leicht gewonnenes Geld.

Staatsanwalt: Sie sagen doch aber, Sie sind zu schlau, um zu verlieren?

Zeuge: Ja, sehen Sie, Herr Prokureur, auch die Klugen sind nicht immer geschützt vor Verlust Es hat gegeben in Deitschland eine sehr große Eisenbahnkönig, nig, der war sehr klug, er hat aber auch gehabt große Verluste.

Vors.: Niemela hat bereits im „Fürstenhof“ Verdacht gegen Sie gehabt und bloß auf die Gelegenheit gewartet, Sie zu entlarven.

Zeuge (in furchtbarer Erregung): Herr Président, ich will Ihnen ausschütten mein Herz. Herr Leitnant Niemela hat gespielt in Chiavenne. Haben außerdem gespielt Horvart, der sich genannt hat Baron v. Szegedin, haben weiter gespielt Newton, Pauly und Rohleder, hat aber deitsche Regierung nicht Auslieferung verlangt. Mich hat deitsche Regierung ausliefern lassen, ich habe niemals falsch gespielt und muß hier sitzen Jahre unschuldig.

Vors.: Darüber können wir hier nicht verhandeln.

Zeuge: Herr Président, treibe ich Wiederaufnahmeverfahren.

Vors.: Das können Sie tun, wir können uns aber hier damit nicht befassen.

Vert. R.-A. Bahn: Können Sie genau angeben, daß Niemela falsch gespielt hat.

Zeuge (sich verächtlich zum Verteidiger umdrehend): Herr Président, ist das ein Advokat, muß ich antworten?

Vors.: Gewiß.

Zeuge: Ich glaube, hat falsch gespielt.

Der Zeuge erzählte im weiteren, daß er mit Niemela la einmal in Monaco im Spielsaal gewesen sei. Niemela habe viel verloren und sich förmlich im Spielfieber befunden. Er habe ihm mehrere tausend Franken geliehen. In Florenz habe Niemela mit einem französischen Grafen, der eine bildschöne Mätresse hatte, gespielt. Niemela sei ihm feindlich, da er eifersüchtig war auf seine Braut, Fräulein v.R. Der Zeuge beschwerte sich zum Schluß, daß er im vorigen Jahre von der Presse verhöhnt worden sei, weil er am Schlusse gesagt habe: „Il y a des juges à Berlin.“ Er trat alsdann an den Berichterstattertisch und ersuchte die Vertreter der Presse, ihn anständig zu behandeln, seine Familie leide ohnedies schon genug.

Am siebenten Verhandlungstage fand zunächst eine längere Erörterung statt, ob der Angeklagte Niemela, als er durch Bergell Leutnant v. Dippe warnen ließ, auch den Angeklagten Stallmann unter der „Bande“ gemeint habe. Niemela erklärte: Er habe auf Stallmann nicht geschimpft, sondern zu Bergell nur gesagt, daß er allerlei mysteriöse Dinge über Stallmann gehört habe, z.B. daß dieser ungemein reich und ehemals

Kellner in Hannover

gewesen sei. Bujes habe er nicht für ganz „stubenrein“ gehalten und es deshalb für seine Pflicht erachtet, vor diesem v. Dippe zu warnen.

Hierauf wurde der 24jährige

Oberleutnant v. Dippe

vom 12. Ostpreußischen Ulanenregiment aus Insterburg als Zeuge aufgerufen. Er bekundete auf Befragen des Vorsitzenden: Er erinnere sich nicht mehr genau, wo er den damaligen Leutnant Niemela kennengelernt habe. Bujes habe er beim Rennen in Magdeburg durch einen Gutsbesitzer Wrede unter dem Namen v. Hennrichs kennengelernt. Irgendein freundschaftliches Verhältnis zwischen ihm und Bujes habe nicht bestanden. Im Sommer 1910 habe ihm Niemela geschrieben, er beteilige sich an der Prinz-Heinrich-Fahrt und möchte ihn deshalb einmal sprechen. Er habe Niemela telegraphisch mitgeteilt, daß er am 1. Juni nach Berlin komme und mit ihm eine Zusammenkunft im Hotel „Fürstenhof“ haben wolle. In dem Mittagsschnellzug, der von Stendal, seiner damaligen Garnison, gegen 10 Uhr vormittags abging und gegen 1 1/4 Uhr mittags auf dem Lehrter Bahnhof in Berlin eintraf, habe er plötzlich, kurz hinter Rathenow, Bujes, der sich ihm als v. Hennrichs vorgestellt hatte, im Zuge gesehen. Bujes habe ihm erzählt, er habe in Rathenow landwirtschaftliche Maschinen kaufen wollen und werde auf dem Lehrter Bahnhof in Berlin von einem Baron v. König erwartet. Als sie in Berlin ankamen, sei ihm von Bujes der Angeklagte Stallmann als Baron v. König vorgestellt worden. Sie seien darauf alle drei nach dem „Fürstenhof“ gefahren, dort habe er Niemela getroffen und diesem Stallmann und Bujes vorgestellt.

Vors.: Die Angeklagten bestreiten, daß eine Vorstellung stattgefunden habe.

Zeuge: Das weiß ich aber ganz genau.

Vors.: Die Angeklagten behaupten, sie hätten sofort gesagt: Eine Vorstellung ist nicht nötig, wir kennen uns schon. Sie haben sich alsdann wie alte Bekannte begrüßt.

Zeuge: Das ist entschieden unwahr.

Vors.: Ist es möglich, daß Sie das vergessen haben?

Zeuge: Die Möglichkeit besteht immerhin, da ich bereits stark angetrunken war. Der Zeuge bekundete im weiteren, Bujes habe damals sehr gut Deutsch gesprochen und sehr selten französische Ausdrücke angewandt. Jedenfalls sei es ihm nicht erinnerlich, daß er Bujes mit „Mon cher ami“ angesprochen habe. Nach gemeinsamem Frühstück habe man sich in einen Salon zurückgezogen, wo Schnäpse und Kaffee bestellt wurden. Es sei sehr bald über Kartenspiel gesprochen worden. v. König habe, soweit er sich erinnere, von einem Kellner ein Spiel Karten kommen lassen und ihm das Bridge-Problem gezeigt; er habe das nicht lösen können. Bujes und König haben Rouge et noire gespielt. v. König habe ihn sehr bald aufgefordert, sich an dem Spiel zu beteiligen und ihm zu helfen, da er Pech habe. Er habe geglaubt, es handele sich um eine Wette. Die Sätze hielten sich auch zunächst in sehr mäßigen Grenzen. Er habe mit v. König die Bank gehalten und kleine Beträge gewonnen. Sehr bald wurden jedoch die Einsätze wesentlich erhöht. Es wurden je 1000 Mark eingesetzt. Plötzlich sagte v. König: „Ich spiele nicht mehr mit, der Verlust ist zu groß.“ Dabei zerriß v. König die Karten. Nunmehr erfuhr er (J.) erst, daß er mit Stallmann zusammen 160000 Mark verloren habe. Das Spiel habe kaum 20 Minuten gedauert. Auf die Einzelheiten könne er sich nicht besinnen, da im Restaurant des Hotels „Fürstenhof“ mehrere Flaschen Weißwein und Sekt und oben im Zimmer Kaffee, Kognak, Chartreuse und Benediktiner getrunken wurden. Eigentümlich sei es ihm nur vorgekommen, daß, solange kleine Einsätze waren, er gewann und bei größeren Einsätzen regelmäßig verlor. Nach Beendigung des Spiels habe Bujes zwei Wechselformulare aus der Tasche gezogen und sie v. König und ihm zur Unterschrift gegeben. Sie haben beide die Wechsel unterschrieben.

Es wurde darauf der Wechsel mit dem Akzept v. Dippe vorgelegt. Daraus ergab sich, daß auf dem Wechsel steht 80 Tausend, Tausend-Mark. v. Dippe erklärte auf Befragen, daß sich dies nur durch seine Angetrunkenheit erklären lasse. Bujes habe beide Wechsel, nachdem sie unterschrieben waren, eingesteckt. steckt. Niemela sei während des Spiels eine Zeitlang weggewesen oder habe abseits gesessen und sich an dem Spiel nicht beteiligt. Niemela habe ihm über die Höhe des Spiels Vorwürfe gemacht und gesagt, er solle vorläufig den Wechsel nicht bezahlen. Die Angeklagten Stallmann und Niemela bestritten wiederholt, daß sie sich haben, vorstellen lassen und so getan haben, als ob sie sich nicht kannten.

Staatsanwalt Dr. Weismann: Ich lege auf die genaue Feststellung dieses Punktes den größten Wert und bin daher genötigt, noch weitere Fragen an den Zeugen zu stellen.

Beisitzer Landgerichtsrat Berlin: Der Zeuge hat bereits gesagt, daß er sich nicht mehr genau darauf erinnern könne.

Staatsanwalt (mit erhobener Stimme): Ich bitte doch dringend, mich nicht zu unterbrechen. Ich bin schon wiederholt in dieser Weise vom Herrn Landgerichtsrat unterbrochen worden; das Recht zu einer solchen Unterbrechung hat aber nur der Herr Vorsitzende.

Landgerichtsrat Berlin: Der Herr Vorsitzende hat mich beauftragt, die Aussagen genau aufzuschreiben und mitzuteilen, wenn eine Frage schon beantwortet ist. Es ist also kein Grund zu der etwas erregten Äußerung des Herrn Staatsanwalts vorhanden. Ich habe lediglich die Wiederholung konstatiert, unterbrochen habe ich den Herrn Staatsanwalt nicht.

Vors.: Damit ist wohl die Sache erledigt.

Verteidiger R.-A. Dr. Meyer I: Hat der Herr Zeuge irgend etwas von Falschspiel gemerkt?

Zeuge: Es ist mir damals nichts aufgefallen; allein der Umstand, daß ich bei kleinen Sätzen gewann und bei größeren regelmäßig verlor, war mir verdächtig. Oberleutnant v. Dippe bekundete ferner auf Befragen: Kurze Zeit nach dem Spiel habe sich bei ihm, als er sich in Stendal im Kasino befand, ein Assessor Bergell melden lassen. Dieser erklärte ihm, er komme im Auftrage des Leutnants Niemela, der ihn vor der „Bande“, mit der er im „Fürstenhof“ gespielt, warnen lasse. Auf keinen Fall solle er den Wechsel bezahlen, denn das Spiel sei nicht reell gewesen. Sehr bald darauf habe er mit Niemela eine Zusammenkunft in Berlin gehabt. Letzterer habe ihm geraten, sich an Justizrat Marcuse zu wenden. Der Justizrat habe ihm ebenfalls geraten, den Wechsel nicht zu bezahlen. Als er sich im September 1910 im Manöver befand, seien zwei Herren im Automobil angekommen, die sich als Graf Wolff-Metternich und Kapitän Newton vorstellten und den Wechsel präsentierten. Er habe beide Herren an Justizrat Marcuse gewiesen, der die Regelung der Sache übernommen habe. Der Justizrat habe den Wechsel beschlagnahmt. Niemela hatte ihn gebeten, wenn es nicht unbedingt nötig sei, seinen (Niemelas) las) Namen aus dem Spiele zu lassen. Justizrat Marcuse, den er deshalb fragte, habe ihm gesagt, wenn er nach Niemela gefragt werde, brauche er ihn nicht zu nennen, da dieser nicht mitgespielt habe. Er müßte ja dann auch die Kellner nennen, die in das Zimmer getreten seien.

Vors.: Ich stelle fest, daß der Zeuge bei seiner ersten Vernehmung den Namen Niemela nicht genannt hat.

v. Dippe bekundete ferner: Niemela habe ihm gewissermaßen Vorwürfe gemacht, daß er ihn mit „solchen Leuten“ bekannt gemacht habe. Es könnten ihm dadurch Unannehmlichkeiten erwachsen, zumal er sich in ein Kavallerieregiment versetzen lassen wolle, und er außerdem verlobt sei. Er bitte ihn deshalb, bei seiner Vernehmung nichts von seiner (Niemelas) Anwesenheit während des Spiels verlauten zu lassen.

Niemela bestritt, daß er so getan habe, als ob er Bujes und Stallmann nicht kenne.

Verteidiger R.-A. Dr. Schwindt: Ich halte dies auch nicht für wahrscheinlich, da Herr Niemela ja Herrn v. Dippe gesagt hat, Herr v. König heißt in Wirklichkeit Stallmann und v. Hennrichs in Wahrheit Bujes. Daraus hätte der Zeuge doch ohne weiteres ersehen müssen, daß Niemela die Leute kannte.

Zeuge: Mir ist genau erinnerlich, daß ich die Herren vorgestellt habe, und daß sie so taten, als ob sie sich nicht kennen.

Angeklagter Stallmann: Wenn der Zeuge nun hört, daß ich ja auch verloren, dem Bujes meinen Spielverlust bezahlt und ich mich bereit erklärt hatte, ihm Geld zur Verfügung zu stellen, würde er mich dann noch mit Bujes in einen Topf werfen, oder daraus schließen, daß ich ein anständiger Mensch bin und reell gespielt habe?

Zeuge: Das kann ich nicht sagen. Der Verdacht des Falschspiels ist mir erst gekommen, als die Strafsache schon im Gange war. Es ist doch auch möglich, daß Stallmann seinen Wechsel nur unterschrieben hat, um mich zur Unterschreibung des anderen Wechsels zu veranlassen. Im weiteren bekundete der Zeuge auf Befragen des Vorsitzenden: Er habe eines Tages von Kramer, der sich v. Bredow nannte, einen Brief aus London erhalten. In diesem wurde ihm mitgeteilt, er habe bei seiner eigentlichen Zeugenaussage etwas Falsches beschworen, da er verschwiegen habe, daß Niemela bei dem Spiel im Zimmer war. Es sei dies ein

wissentlicher Meineid.

Um alle Unannehmlichkeiten, die ihm daraus erwachsen könnten, aus der Welt zu schaffen, sei es ratsam, dem Niemela, dem es sehr schlecht gehe, 7000 Pfund Sterling – 140000 Mark – zu geben, um ihn nach Argentinien abzuschieben. Dort werde sich Niemela eine neue Existenz gründen. Die leidige Angelegenheit wäre alsdann aus der Welt geschafft, da der Hauptzeuge sich in Argentinien befinde. Er sei, da die Briefe Kramers sich häuften und er gerade Urlaub hatte, nach London gefahren und habe sich schließlich bereit erklärt, einen Schuldschein über 7000 Pfund Sterling auszustellen. Er habe sich in keiner Weise schuldig gefühlt, sondern in der Hauptsache den Schuldschein ausgestellt, um einem armen Kameraden zu helfen.

Verteidiger R.-A. Bahn: Ist Ihnen nicht bei Ihrer Vernehmung vom Untersuchungsrichter gesagt worden, daß Sie nichts verschweigen dürfen?

Zeuge: Das ist mir nicht erinnerlich, es liegt ja aber bereits in der Eidesformel, daß man nichts verschweigen darf. Ich hatte auch nicht das Bewußtsein, etwas verschwiegen zu haben, zumal mir selbst Justizrat Marcuse sagte, ich brauche es nicht zu sagen, wenn ich nicht ausdrücklich danach gefragt werde.

Verteidiger R.-A. Bahn: Es ist nicht alles richtig, was ein Rechtsanwalt sagt, jedenfalls müssen Sie ein Schuldbewußtsein gehabt haben, sonst wären Sie nicht nach London gefahren und hätten einen Schuldschein über 140000 Mark ausgestellt.

Staatsanwalt: Ich gebe ohne weiteres zu, daß nicht alles richtig ist, was ein Rechtsanwalt sagt. (Große Heiterkeit.) Der Zeuge hat doch aber ausdrücklich bekundet, kundet, daß er der festen Überzeugung war, er brauche der Namen Niemelas nicht zu nennen, da er sich nicht am Spiele beteiligt hatte, und daß Justizrat Marcuse ganz der selben Meinung war. In einem hiesigen Sensationsblatt das heute früh erschienen ist, steht: v. Dippe, der noch aktiver Offizier ist, ist gestern vernommen worden und hat sehr schlecht abgeschnitten. (Große Heiterkeit.)

Vors.: Ich habe schon einmal ein Gerichtsurteil mittags gelesen, das erst am Abend gesprochen wurde. (Große Heiterkeit.)

Oberleutnant v. Dippe erklärte auf Befragen, er habe für den Assessor Bergell eine Bürgschaft über 13000 Mark übernommen, diese aber noch nicht zurückerhalten.

Es erschien darauf als Zeuge

Rechtsanwalt Dr. Rosenstock:

Ich bin Rechtsbeistand des Vaters des Oberleutnants v. Dippe, des Landesökonomierats v. Dippe. Eines Tages meldete sich bei mir ein Agent Domarus. Er teilte mir mit, dem bekannten Gelddarleiher Pariser sei ein Schuldschein mit der Unterschrift des Leutnants v. Dippe über 140000 Mark zur Diskontierung gegeben worden, er (Domarus) solle sich über die Verhältnisse der Familie v. Dippe erkundigen. Ich habe sofort an Landesökonomierat v. Dippe telephoniert. Dieser antwortete: Wenn es richtig ist, daß der Schuldschein dem Pariser von Georg v. Dippe aus London zugegangen ist, so ist es Schwindel, denn Georg ist in Bonn. Ich bat den Ökonomierat, sich doch sofort in Bonn telephonisch zu erkundigen. Nach einer halben Stunde erhielt ich die Antwort, Georg sei soeben aus London in Bonn eingetroffen. Der Schuldschein habe seine Richtigkeit. Ich sagte dem Ökonomierat, ich werde die Bezahlung des Schuldscheins verhindern, und den Versuch unternehmen, ihn in die Hände zu bekommen, um den Grund der Ausstellung festzustellen. Ich telegraphierte sofort an Leutnant v. Dippe, er solle unverzüglich nach Berlin kommen. Aus der Unterredung erhielt ich die Überzeugung, daß es sich um eine Erpressung handelt. Ich schrieb sogleich an den angeblichen Herrn v. Bredow nach London. Dieser teilte mir mit, es handele sich nicht um einen fahrlässigen, sondern um einen

wissentlichen Meineid.

Ich telegraphierte darauf an v. Bredow: Der Schuldschein könne unter keinen Umständen bezahlt werden, der Vater sei aber zu einem Opfer bereit, um die Sache aus der Welt zu schaffen. v. Bredow telegraphierte zurück: „Opfer abgelehnt.“ Ich hatte sehr bald darauf beruflich in London zu tun. Ich fuhr deshalb nach London, um die Sache zu regeln und um festzustellen, inwieweit es sich um eine Erpressung handelte. Ich bemerke, daß ich, als ich nach London fuhr, bereits wußte, daß dieser angebliche v. Bredow Benno Kramer heißt. Ich hatte bereits vorher die Sache dem Staatsanwaltschaftsrat Dr. Portzelt und dem Untersuchungsrichter Landrichter Dr. Dreist mitgeteilt. Ich hatte außerdem mit dem Kriminalkommissar v. Manteuffel Rücksprache genommen. Zum Erstaunen dieser Herren telegraphierte mir Kramer, er komme in den nächsten Tagen nach Berlin und werde mich im Hotel „Esplanade“ erwarten. Wäre er nach Berlin gekommen, dann wäre er sofort verhaftet worden. Sehr bald erhielt ich aber ein weiteres Telegramm von Kramer, er könne nicht kommen, da er krank geworden sei. In London bot ich dem Kramer 1000 Pfund, wenn er mir die mit Leutnant v. Dippe gewechselten Briefe herausgebe. Kramer wollte sich aber darauf nicht einlassen und sagte, er wolle nichts für sich haben, sondern handele nur im Interesse des jungen v. Dippe und wolle außerdem dem armen Leutnant Niemela helfen. Ich bemerke, daß ich mit Kramer, dem ich im übrigen sehr bald sagte, daß mir bekannt sei, er heiße in Wirklichkeit Kramer, nur Komödie gespielt habe. Ich dachte nicht daran, ihm 1000 Pfund zu geben. Seine etwaigen Auslagen und Bemühungen hätte ich allerdings bezahlt. Kramer benahm sich ungemein geschickt und sprach in keiner Weise eine Drohung aus. Trotzdem erlangte ich die Überzeugung, daß eine vollendete Erpressung vorliege.

Verteidiger R.-A. Dr. Alsberg: Wenn keine Drohung ausgesprochen war, dann liegt doch auch keine Erpressung vor?

Zeuge: Der Herr Kollege weiß doch, daß es auch Drohungen gibt, die nicht ausgesprochen werden.

Angeklagter Kramer: Der Herr Doktor gab mir doch sein Ehrenwort, daß er mir nicht Ungelegenheiten bereiten und mich schützen wollte.

Zeuge: Ich habe Kramer kein Ehrenwort gegeben.

R.-A. Dr. Alsberg: In den Akten ist ein Brief enthalten, in dem der Zeuge schreibt: „Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß ich Sie schützen werde.“

Zeuge: Dann gebe ich das zu, ich habe auch Kramer insofern geschützt, als ich die Sache nicht in London anhängig gemacht habe. Dort steht auf Erpressung die Höchststrafe von lebenslänglichem Zuchthaus. Das Verfahren in Berlin habe ich nicht veranlaßt.

Angekl. Kramer: Was würde man sagen, wenn ich in dieser Lage Enthüllungen machte, die Herrn v. Dippe belasten und die Spielervereinigung entlasteten?

Staatsanwalt: Es wäre mir angenehm, Ihr Material kennen zu lernen.

Am achten Verhandlungstage erklärte Angeklagter Stallmann: Er müsse ganz entschieden gegen die von Rechtsanwalt Dr. Rosenstock ausgesprochene Vermutung tung protestieren, daß er an dem dem Angeklagten Kramer zur Last gelegten Erpressungsversuch beteiligt gewesen sei.

Auf Antrag des Staatsanwalts wurde ein Telegramm verlesen, das besagte, Kramer habe seinerzeit dem Rechtsanwalt Dr. Rosenstock mitgeteilt: Die von Paris aus eingeleiteten Verhandlungen wegen des Ankaufs des v. Dippeschen Briefes werden demnächst perfekt werden.

Alsdann bekundete Kriminalkommissar v. Manteuffel als Zeuge: Er sei seit 1892 Leiter des Spielerdezernats im Berliner Polizeipräsidium. Er sei zuerst durch ein Buch „Taschenspielerkunststücke“ auf das hier in Frage kommende Spiel „Rouge et noir“ gestoßen. Bei diesem fast ausschließlich von internationalen Falschspielern angewendeten Spiel, das sich von dem bekannten Bauernfängerspiel „Kümmelblättchen“ nur dadurch unterscheide, daß es noch leichter als dieses sei, lasse sich durch eine leichte Biegung der roten oder auch der schwarzen Karten ein betrügerisches Spiel bewerkstelligen. Als er an der Hand der von ihm von der englischen Polizei übersandten Meßkarte mit Photographie mitteilte, daß Kapitän Newton in England als Falschspieler bekannt und schon mit 20 Monaten Gefängnis wegen Betrugsversuchs bestraft sei, erklärte der Angeklagte Stallmann, daß diese Behauptung der englischen Polizei unrichtig sei. Newton sei weder bestraft noch überhaupt jemals wegen Falschspiels angeklagt gewesen.

R.-A. Bahn beantragte, für den Fall, daß das Gericht irgendwelchen Wert auf diese Feststellung lege, die Herbeiziehung der englischen Akten, oder durch eine Auskunft der deutschen Botschaft in London feststellen zu lassen, daß Newton, wenn überhaupt bestraft, nicht wegen Falschspiels bestraft sei.

Zu längeren Auseinandersetzungen kam es, als Kriminalkommissar v. Manteuffel angab, daß nach seinen Erfahrungen das Zerreißen der Karten immer auf Falschspiel hindeute.

R.-A. Dr. Frey wies darauf hin, daß zum Beispiel in dem bekannten Stück von Henry Bernstein „Bakkarat“ die Karten auch zerrissen werden, und zwar von einer Person, die weder gewerbsmäßiger Spieler noch Falschspieler sei. In Berlin werde augenblicklich ein Schauerfilm in den Kinematographentheatern gespielt, auf dem zur Darstellung gebracht wird, wie ein einfacher Arbeiter, nachdem er gespielt hatte, die Karten zerreißt. Das Zerreißen der Karten könne durch alle möglichen anderen Dinge erklärt werden und brauche nicht immer auf das Vorliegen eines Falschspiels hinzudeuten.

Kriminalkommissar v. Manteuffel äußerte sich alsdann ausführlich über die Personalien derjenigen Personen, die bei den in- und ausländischen Polizeibehörden hörden als gewerbsmäßige Spieler und als Falschspieler bekannt seien. Zu diesen Personen gehören Rohleder, der Holländer Kroth, der Buchhändler Maringer, der jetzige Angeklagte Kramer und andere. Kramer sei auch schon einmal, da er in den Verdacht des Falschspiels geraten war, aus Lugano ausgewiesen worden.

Staatsanwaltschaftsrat Dr. Weismann: Es ist hier wiederholt mit Emphase darauf hingewiesen worden, daß in dem Haus Stallmanns ein deutscher Thronfolger verkehrt habe. Ich erkläre, daß dies der frühere

Prinz von Sachsen-Weimar, jetzige Graf Ostheim

ist, der jetzt mit einem regierenden Hause nichts mehr zu tun hat und sogar in dem Verdacht steht, mit diesen Leuten hier unter einer Decke zu stecken.

v. Manteuffel: Ich habe von dem Grafen Ostheim einen Brief erhalten, in dem er sich über Stallmann äußert.

R.-A. Bahn: Wenn dieser Brief hier verlesen werden soll, bin ich gezwungen, die persönliche Ladung des Grafen Ostheim zu veranlassen.

Nachdem R.-A. Dr. Meyer 1 erklärt hatte, daß es sich gar nicht um den Grafen Ostheim, sondern um einen anderen Prinzen aus regierendem Hause handelt, wurde von der weiteren Erörterung dieses Punktes Abstand genommen. Auf dem Zeugentisch wurde im Anschluß an die Vernehmung dieses Zeugen von dem Staatsanwalt ein neues Spiel Karten ausgebreitet.

Der Staatsanwalt selbst spielte die Rolle des Falschspielers

und bewies dabei eine staunenswerte Geschicklichkeit, indem er jede umzuschlagende Karte vorher namhaft machte. Der Angeklagte Kramer stand kopfschüttelnd, gewissermaßen als Obergutachter dabei und äußerte sich dann mit großer Lebhaftigkeit. Als Kriminalkommissar v. Manteuffel eine auf das Spiel bezügliche Erklärung abgab, rief Kramer wie elektrisiert: „Jetzt habe ich Sie gefaßt, Herr v. Manteuffel!“ Kramer wurde vom Vorsitzendem wegen dieser Bemerkung zur Rechenschaft gezogen. Er entschuldigte sich mit einer leichten Verbeugung.

Das Gericht beschloß dann, den Oberleutnant v. Dippe nochmals telegraphisch laden zu lassen, ebenso soll von der deutschen Botschaft in London die von den Verteidigern beantragte Auskunft bezüglich Newtons eingeholt werden.

Am neunten Verhandlungstage wurde nochmals Oberleutnant Georg v. Dippe als Zeuge vernommen. Er gab auf Befragen des Vorsitzenden zu, daß er sich einmal kurze Zeit im Hotel „Adlon“ in Berlin an dem von Tartièrre arrangierten Spiel kurze Zeit beteiligt habe. Seiner Erinnerung nach sei auch Niemela zugegen gewesen. Es sei möglich, daß er den Niemela, der damals noch aktiver Offizier war, dem Tartièrre vorgestellt gestellt habe.

Vors.: Wußten Sie, daß Tartièrre ein

Falschspieler

war?

Zeuge: Damals noch nicht, später habe ich es allerdings erfahren.

Vors.: In welcher Weise haben Sie Tartièrre kennengelernt?

Zeuge: In derselben Weise, wie ich Herrn v. Hennrichs (Bujes) kennengelernt habe, nämlich in Magdeburg bei einem Rennen durch den Gutsbesitzer v. Wrede.

Vors.: Niemela behauptet, Sie hätten ihn nach Beendigung des Frühstücks im „Fürstenhof“ dem Stallmann und Bujes vorgestellt?

Zeuge: Das ist richtig.

Vors.: Ist darauf erwidert worden: „Das ist nicht nötig, wir kennen uns schon“, oder haben sie sich wie alte Bekannte begrüßt?

Zeuge: Ich habe davon nichts gemerkt.

Vors.: Hätte Ihnen dies entgehen können?

Zeuge: Es wäre mir zweifellos aufgefallen, ich habe aber nicht den Eindruck gehabt, daß die Leute sich schon kennen.

Verteidiger R.-A. Bahn: Herr Oberleutnant, Sie haben bereits angegeben, daß Sie damals stark angetrunken waren. Ist Ihnen vielleicht deshalb dieser Vorgang entgangen?

Zeuge: Das ist sehr leicht möglich.

Auf weiteres Befragen des Vorsitzenden bemerkte der Zeuge: Kurze Zeit nach dem Spiel im „Fürstenhof“ habe ihm Niemela den Vorwurf gemacht, daß er ihn mit „diesen Leuten“ bekannt gemacht habe. Niemela habe gesagt: Er habe mit den Leuten auch gespielt, es sei ihm nun sehr unangenehm, daß er schließlich als Zeuge vernommen werden könnte.

Angeklagter Niemela: Herr v. Dippe, hätten Sie Ihre Schuld bezahlt, wenn ich Sie nicht gewarnt hätte?

Zeuge: Jawohl, selbstverständlich.

Staatsanwalt: Das hat der Zeuge schon einmal gesagt.

Niemela: Herr Staatsanwalt, das ist für mich von großer Wichtigkeit, denn ich werde beschuldigt, mitgewirkt zu haben, Herrn v. Dippe um 80000 Mark zu betrügen. Ich habe aber im Gegenteil Herrn v. Dippe die 80000 Mark gerettet.

Auf Befragen des Verteidigers R.-A. Dr. Alsberg, ob Kramer als Deutscher oder Engländer betrachtet werde, bemerkte der Vorsitzende: Laut Akten gilt Kramer als Deutscher.

Staatsanwalt: Die englische Regierung hat die Staatsangehörigkeit Kramers bereits geprüft und war froh, daß sie Kramer als Deutschen nach Deutschland abschieben konnte. Wäre Kramer Engländer, dann wäre er niemals von England an Deutschland ausgeliefert worden.

Angeklagter Kramer: Ich bin schon 33 Jahre von Deutschland weg und bin jetzt heimatlos.

Staatsanwalt: Haben Sie denn eine andere Staatsangehörigkeit erworben?

Kramer: Nein.

Staatsanwalt: Dann sind Sie eben Deutscher geblieben.

Die Beweisaufnahme wurde darauf geschlossen und es nahm das Wort

Staatsanwaltschaftsrat Dr. Weismann:

Am 1. Juni 1910 hat im Hotel „Fürstenhof“ hierselbst Oberleutnant v. Dippe mit Stallmann, und Bujes gespielt und dabei 80000 Mark verloren. Ich behaupte, Herr v. Dippe ist, bzw. sollte um 80000 Mark betrogen werden. Das ist im übrigen bereits von derselben Strafkammer gegen Bujes im März 1912 festgestellt worden. Es ist nicht leicht, den Beweis zu führen, daß sich auch Stallmann und Niemela an diesem Betruge beteiligt haben, denn es sind Leute, die seit vielen Jahren das Handwerk als Falschspieler betreiben, und zwar in einer so raffinierten Weise, daß man nicht strikte behaupten kann, es ist ein Falschspiel nachgewiesen. Wenn es sich um Falschspieler handelte, die Karten aus dem Ärmel oder aus der Tasche ziehen, dann wäre der Beweis einfacher. Es handelt sich aber hier um weitgereiste, welterfahrene Leute, die mit allem Raffinement handelten. Es ist deshalb erforderlich, sich die Persönlichkeiten näher anzusehen. Der Angeklagte Stallmann hat in seiner Jugend nichts Rechtes gelernt. Er hat in Berlin das Gymnasium bis zur Obersekunda und alsdann kurze Zeit eine Handelsschule besucht. Er ist darauf in aller Welt umhergereist und hat niemals einen Pfennig durch ehrliche Arbeit verdient. Er hat selbst zugegeben, daß er schon als sehr junger Mann gewerbsmäßiger Glücksspieler war und von dem Erlös aus den Spielen gelebt hat. Er hat in London eine Zeitlang an der Börse und ganz besonders in Minenaktien spekuliert. Ehrlich gearbeitet hat er aber niemals. Er hat engste Beziehungen zu bekannten internationalen Falschspielern gehabt. Durch einen Zufall ist der Behörde ein Brief in die Hände gefallen, den Stallmann vor etwa 15 Jahren in Wiesbaden an Baron Kreininger in Paris geschrieben hat. In diesem Briefe sprach er das Bedauern aus, daß er das Darlehnsgesuch des Barons Kreininger ablehnen müsse. Er habe mit Bouche-Bohn einem Offizier am Abend vorher 10000 Mark abgenommen, „leider nicht in bar“. „Wir haben eine Wochenrechnung von 600 Mark, Bouche-Bohn läßt grüßen.“ Dieser Brief hat den Adressaten nicht erreicht, er ist an das Hotel Kaiserhof in Wiesbaden zurückgekommen und hat dort 15 Jahre gelagert. Als der Hotelbesitzer von der Verhaftung Stallmanns durch die Zeitungen Kenntnis erhielt, hat er mir den Brief geschickt. Auf die Frage, ob er Bouche-Bohn kenne, hat Stallmann geantwortet: Jawohl, es war eine vorübergehende Badebekanntschaft. Nach dem Briefe zu urteilen, war die Bekanntschaft mit diesem notorischen Falschspieler Bouche-Bohn eine sehr intime. Stallmann behauptet allerdings, unter dem „wir“ habe er die Dame seines Herzens gemeint. Das klingt aber sehr wenig glaubhaft. Der Angeklagte Niemela ist der Sohn eines einfachen Tierarztes aus Ratibor. Es hat mir nichts ferner gelegen, als den ehrenwerten Stand der Tierärzte irgendwie anzugreifen. Ich erkläre das, da ich mehrere anonyme Schreiben erhalten habe, in denen sich Tierärzte durch mich beleidigt fühlen. Ein nicht genannt sein wollender Tierarzt schreibt: Er habe ein größeres Einkommen als ein Richter oder Staatsanwalt, und er würde sich schön bedanken, mit mir zu tauschen. Ich bin der letzte, der das in Zweifel ziehen wollte. Niemela ist aber tatsächlich aus kleinen, bescheidenen, wenn auch sehr ehrenwerten Verhältnissen hervorgegangen. Nachdem er das Gymnasium bis zur Oberprima besucht hatte, trat er als Leutnant in ein württembergisches Infanterieregiment ein. Er erhielt einen monatlichen Zuschuß von 150 Mark, hielt sich aber ein eigenes, sehr elegantes Automobil und einen Chauffeur feur mit goldstrotzender Uniform. Er besuchte die feinsten Weltbadeorte, wo die vermögende Welt zusammenströmt. Er fuhr in einer Nacht von Paris nach Berlin, in der zweiten Nacht von Berlin nach Monte Carlo, in der dritten Nacht von Monte Carlo nach Rom und führte einen höchst luxuriösen Lebenswandel. Es ist kein Zweifel, daß Niemela die erforderlichen Geldmittel hierzu durch Spiel erworben hat. Der Angeklagte Kramer hat selbst zugegeben, daß er gewerbsmäßiger Spieler ist. Wer gestern gesehen hat, wie Kramer die Karten in seinen Fingern förmlich verschwinden läßt, der muß sagen, man hat es hier mit einem Manne zu tun, der geradezu

Kartenfinger

hat. Die vorgeführten Illustrationsfälle haben gezeigt, daß die Angeklagten ihren Opfern stets geistig überlegen waren. Ich kann nicht behaupten, daß die Falschspieler, die noch keineswegs sämtlich hier auf der Anklagebank sitzen, eine Vereinigung bildeten, deren Haupt Stallmann war, sie bildeten jedoch zweifellos feste Gruppen. Mit Kennerblick näherten sie sich in den eleganten Badeorten, in weltstädtischen Cafés mit Vorliebe deutschen Offizieren in Zivil, vermögenden Landwirten und ähnlichen Leuten, stellten sich ihnen unter adligen Namen vor, luden sie zu Ausflügen und zu gemeinsamen Diners ein, und schließlich wurde ein Spiel arrangiert, bei dem zunächst bei kleinen Einsätzen die Fremden gewannen. Alsdann wurden die Einsätze immer höher, und Schlag auf Schlag verloren die Fremden. Um jedes Mißtrauen zu beseitigen, erbot sich ein Spieler, mit dem Fremdem zusammen die Bank zu halten. Das schützte aber vor Verlust nicht, die Bankiers verloren, sobald der Fremde die Bank hielt, regelmäßig. Nach Beendigung des Spieles wurden die Karten gewöhnlich zerrissen, und da der Fremde zumeist nicht soviel Geld bei sich hatte, wie der Verlust betrug, so erbot sich ein Spieler sogleich, für den Fremden einzutreten, wenn er ihm einen Wechsel unterschrieb. Und ein Wechselformular war stets sofort bei der Hand. Dies alles läßt darauf schließen, daß das Spiel abgekartet war und daß der Mitbankhalter nur zum Schein verlor. Selbstverständlich wurden nach der bekannten Bauernfängermethode die Opfer durch Schlepper herbeigezogen. Einer dieser Schlepper war der bekannte

Graf Gisbert v. Wolff – Metternich,

dessen geistige Fähigkeiten, wie es in dem Urteil gegen Bujes heißt, allerdings nicht so bedeutend waren, daß er gemerkt hat, wozu er benutzt wurde. Ein anderer Schlepper war der jetzige Angeklagte Niemela. Dieser sollte als ehemaliger preußischer Offizier, der die Ehre hatte, des Königs Rock zu tragen, den Mut haben, ein offenes Geständnis abzulegen und zu sagen: Ich bin in die Falschspielerkreise geraten, sollte ich mich strafbar gemacht haben, dann will ich die Strafe auf mich nehmen. Ich wundere mich nicht, daß Stallmann und Kramer eine gewisse Angst vor Niemela hatten, daß er Enthüllungen machen könnte. Sie haben deshalb von vornherein erklärt, Niemela sei ein konfuser Kopf, ja halbverrückt. Der Staatsanwalt schilderte hierauf in eingehender Weise das Vorkommnis im Hotel „Fürstenhof“ und führte aus: Es ist undenkbar, daß ein Mann wie Stallmann, der sich seit Jahrzehnten das Spiel zum Gewerbe gemacht, innerhalb 20 Minuten im Rouge-et-noir-Spiel 80000 Mark verloren hat. Der angebliche Verlust Stallmanns war selbstverständlich eine Komödie. Er gibt selbst zu, daß das Rouge-et-noir-Spiel ein Bauernfängerspiel ist, das noch unter dem Kümmelblättchen steht. Ich erinnere an das Vorkommnis mit Bujes. Als ich diesem vorhielt, daß Niemela behauptet hat, er hätte, wenn er 80000 Mark verloren haben würde, nicht bezahlt, so lachte er laut auf und rief: „Mir kann es nicht passieren, daß ich 80000 M. verliere, dazu bin ich zu schlau!“ Es ist doch auch nicht denkbar, daß Bujes, der Stallmann schon sehr lange kannte, diesen von Paris nach Berlin gelockt haben würde, um ihn hier zu rupfen. Daß die ganze Sache ein abgekartetes Spiel war, geht doch auch schon daraus hervor, daß sich Niemela und Stallmann von v. Dippe vorstellen ließen und so taten, als ob sie sich im Leben niemals gesehen sehen hätten. Daß aber auch Niemela ganz genau gewußt hat, v. Dippe solle gerupft werden, geht doch aus dem Umstande hervor, daß Bujes zu ihm sagte: Nennen Sie mich v. Hennrichs, v. Dippe kennt mich nur unter diesem Namen, und als Niemela stutzte, sagte Bujes: „Das ist mein deutscher Journalistenname.“ Ich glaube kaum, daß die Herren Journalisten von der journalistischen Tätigkeit des Bujes irgendwelche Kenntnis gehabt haben. Es ist geradezu lächerlich, daß Stallmann behauptet: „Ich bin das einzige Opfer im ?Fürstenhof? gewesen, denn von Dippe war nichts abzugewinnen, er hatte nur einen Monatswechsel von 300 Mark.“ Die Spieler wußten ganz genau, daß die Familie v. Dippe

mehrere Millionen Vermögen

hatte und daß diese selbstverständlich die Schulden ihres Sohnes bezahlen würde, um ihm nicht die Karriere zu verderben; v. Dippe ist, um mich mild auszudrücken, sehr gutmütig und ist den Angeklagten gegenüber geistig nicht gewachsen. Der Staatsanwalt erörterte dann in eingehender Weise die

Anklage wegen versuchter Erpressung,

und fuhr darauf fort: Es ist festgestellt, daß v. Dippe keinen Meineid geleistet hat, trotzdem hat Kramer alles aufgeboten, um v. Dippe zu veranlassen, daß er 7000 Pfund Sterling opferte, um Niemela nach Argentinien abzuschieben. Und ohne das Dazwischentreten des Rechtsanwalts Dr. Rosenstock wäre es womöglich Kramer gelungen, die 140000 Mark zu erhalten, denn bekanntlich hatte v. Dippe bereits einen Schuldschein über 140000 Mark unterschrieben. Die Spieler hatten selbstverständlich auch das größte Interesse, Niemela abzuschieben. Ich beantrage deshalb gegen alle drei Angeklagten das Schuldig. Bei der Strafabmessung wird zu erwägen sein, daß das Falschspiel eine gemeingefährliche Handlung ist und daß es nur in den seltensten Fällen gelingt, die Falschspieler zu fassen und zu überführen. Es werden durch das Falschspiel ganze Familien um ihr Vermögen gebracht. Bei Niemela kommt noch hinzu, daß er deutscher Offizier war und sich dazu hergab, Schlepperdienste zu tun, um seine Kameraden den Falschspielern ins Garn zu führen. Niemela hat dadurch die Offiziersuniform beschmutzt. Alle drei Angeklagten haben lediglich vom gewerbsmäßigen Glücksspiel und Falschspiel lange Jahre gelebt und, als sie einsahen, daß sie die Spielschuld von v. Dippe nicht erlangen konnten, so versuchten sie es mit der Erpressung. Erpressung ist eins der gemeingefährlichsten Verbrechen, das in England bis zu lebenslänglichem Zuchthaus bestraft wird. In Anbetracht alles dessen beantrage ich gegen Stallmann zwei Jahre Gefängnis, wovon sechs Monate auf die Untersuchungshaft in Anrechnung zu bringen wären. Gegen Niemela und Kramer beantrage ich je drei Jahre Gefängnis. Ich beantrage außerdem, allen drei Angeklagten die bürgerlichen Ehrenrechte auf fünf Jahre abzuerkennen.

Verteidiger R.-A. Dr. Julius Meyer I: Es ist eine schwere Aufgabe, Stallmann zu verteidigen, und zwar um so mehr, als bereits derselbe Gerichtshof in dem Prozeß gegen Bujes festgestellt hat, daß Stallmann ein Falschspieler ist. Allein trotzdem bin ich überzeugt, der Gerichtshof wird nicht mit Voreingenommenheit an die Prüfung der Sache herangehen, sondern lediglich das seinem Urteile zugrunde legen, was tatsächlich in dieser Verhandlung vorgekommen ist. Und da bin ich der Meinung, daß ein Betrug meinem Klienten nicht nachgewiesen ist. Man hat Stallmann den „König der internationalen Falschspieler“ genannt, man hat ihn als einen Mann bezeichnet, der an der Spitze einer Bande gestanden hat, die nicht nur in aller Welt vermögende Leute im Falschspiel rupfen, sondern auch Taschendiebstähle, Einbruchsdiebstähle und Diebstähle in Luxuszügen begeht. Ja, es ist behauptet worden, Stallmann sei bereits mit Zuchthaus bestraft, es ist aber von alledem nicht das geringste bewiesen worden. Stände hier lediglich, ohne jeden Illustrationsfall, der Fall v. Dippe zur Verhandlung, dann bin ich überzeugt, der Gerichtshof würde nach kurzer Beratung auf Freisprechung erkennen, denn es ist in dieser Beziehung nicht der Schatten einer Schuld nachgewiesen worden. Der Verteidiger erörterte dies noch in eingehender Weise. Stallmann sei allerdings in jungen Jahren gewerbsmäßiger Spieler und wohl auch Falschspieler gewesen, er habe sich aber seit vielen Jahren nachweislich an einem Falschspiel nicht beteiligt, zumal er das gar nicht nötig hatte. Der Verteidiger schloß mit dem Antrage auf Freisprechung.

Am zehnten Verhandlungstage erhielt das Wort Rechtsanwalt Dr. Werthauer, zweiter Verteidiger Stallmanns: Ein strikter Nachweis für die Schuld des Angeklagten Stallmann ist in keiner Weise geführt. Die mühsam zusammengetragenen Indizien beweisen lediglich, daß ein Verdacht vorliegt. Das deutsche Strafgesetz kennt aber keine Verdachtsstrafen. Der Staatsanwalt hat auf die hohen Strafen in England verwiesen. Das kommt jedenfalls daher, daß in England eine Anklage wegen Verdachtes nicht möglich ist. Der englische Richter urteilt nicht auf Grund eines Verdachtes, sondern nur auf Grund einer bewiesenen Tat. Der Staatsanwalt beantragte gegen Stallmann das Schuldig auf Grund eines indirekten Beweises, der nichts anderes sein würde, als eine Verdachtsstrafe, diese ist aber nach dem Gesetz nicht zulässig. Die gerichtlichen Feststellungen im Urteil wider Bujes zeigen, wie unzuverlässig die indirekte Beweisführung ist. Der Angeklagte Niemela soll durch unfaires Vorgehen gehen das Offizierkorps geschädigt haben. Aber auch hier ist kein strikter Beweis geführt. Man ist sonst mit Indizienbeweisen, selbst wenn es sich um einen Zuchthäusler handelt, sehr vorsichtig. Um wieviel mehr muß es hier geschehen gegen zwei Leute, gegen die bisher nichts erwiesen ist. Gleiches Recht für Niemela wie für v. Dippe muß gefordert werden. Was der Kavallerie recht ist, muß der Infanterie billig sein! Die Bekundung des Oberleutnants v. Dippe ist objektiv unrichtig, denn er hat die Anwesenheit des Niemela während des Spiels verschwiegen. Allerdings trifft Herrn v. Dippe hieran keine Schuld, sondern lediglich den verstorbenen Justizrat Ernst Marcuse. Dieser hätte v. Dippe einen vorsichtigeren Rat geben müssen. Wäre dies geschehen, so hätte die Angelegenheit vielleicht eine andere Wendung genommen. Es ist sehr leicht möglich, daß sich alsdann die Sachlage so verschoben hätte, daß die Auslieferung Bujes verweigert worden wäre. Es gäbe alsdann kein Urteil gegen Bujes, das in diesem Prozeß verwertet werden könnte. Man macht Stallmann zum Vorwurf, daß er sich vielfach an Plätzen aufgehalten habe, wo das vermögende Publikum zusammenströmt. Wer aber nur einmal an diesen Orten flüchtig verkehrt hat, der weiß, daß es immer dieselbe Clique ist, die sich an diesen internationalen Orten des Amüsements aufhält. Es sind zum Teil gewerbsmäßige Spieler, teils Leute, die das tödliche che Gift der Langeweile in sich tragen. Das Spiel Rouge et noir ist entstanden aus der aus dem Auslande importierten, auf allen Gebieten wahrzunehmenden Wettleidenschaft. Bei diesem Spiel wird lediglich gewettet, ob die Gewinnfarbe oben oder unten liegt. Ob gezinkte Karten benutzt worden sind, ist nicht festzustellen. Der Herr Staatsanwalt verwechselt andauernd die Verdachtsstrafe mit der Tatstrafe. Selbst wenn man mit der Phantasie des Herrn Staatsanwalts begabt ist, ist es nicht möglich, die allgemeinen Beschuldigungen auf die den Angeklagten Stallmann betreffenden Einzelfälle anzuwenden. Man gewinnt immer nur den Eindruck, es kann so sein, aber es braucht nicht so zu sein. Auf einer solchen Unterlage läßt sich aber eine Verurteilung nicht begründen. Das auf schwankenden Füßen des Indizienbeweises stehende Gebäude der Anklage fällt vollständig in sich zusammen. Der Verteidiger machte alsdann noch längere juristische Ausführungen und gelangte zu dem Schluß, daß eine Verurteilung unmöglich sei.

Verteidiger R.-A. Bahn, als dritter Verteidiger des Angeklagten Stallmann, führte aus: Das, was der Herr Staatsanwalt vorgebracht, sei wohl ganz formvollendet gewesen, es sei aber nur Brillantfeuerwerk, das das Gericht für eine Verurteilung nicht verwerten könne. Der Verteidiger ging alsdann auf die Einzelfälle ein und bemerkte, daß Bouche-Bohn durchaus kein Falschspieler sei. Es sei ein 75jähriger Herr, der niemals als Falschspieler bekannt gewesen sei. Er beantrage, den Herrn eventuell als Zeugen zu laden. Daß die Polizei bisweilen falsch unterrichtet sei, beweise die Auskunft aus London, wonach Newton wegen Falschspiels nicht bestraft sei. Der Verteidiger beantragte außerdem, den Baron Kreininger als Zeugen zu laden. Dieser würde bekunden, daß der vor 15 Jahren geschriebene Brief nicht auf ein Falschspiel hindeute. Er (Verteidiger) sei jedoch der Meinung, daß die Ladung der Zeugen sich erübrigen werde, da ein Beweis für die Schuld Stallmanns nicht erbracht worden sei und deshalb die Freisprechung erfolgen müsse.

Staatsanwaltschaftsrat Dr. Weismann wies die Angriffe zurück, die einer der Verteidiger gegen den Rechtsanwalt Dr. Rosenstock erhoben habe. Er (Staatsanwalt) müsse Dr. Rosenstock gegen den Vorwurf in Schutz nehmen, daß er die Rolle eines „Agent provocateur“ gespielt habe. Für die Schuld Stallmanns spreche außerdem die Tatsache, daß er, wie alle Falschspieler, die Eintreibungsstelle von Fandreyer in Düsseldorf, benutzt habe. Ein reeller Mann bediene sich der Deutschen Bank oder der Dresdner Bank, nicht aber eines Mannes, der mit notorischen Falschspielern in unaufhörlicher Verbindung stehe. Er fühle sich außerdem genötigt, den Angriff zurückzuweisen, daß die deutschen Richter, im Gegensatz zu den englischen, auf Grund von Verdachtsgründen ein Urteil fällten.

Vors.: Ich habe in den Ausführungen des Herrn Rechtsanwalts Dr. Werthauer einen Vorwurf gegen den Richterstand nicht gefunden. Wäre das geschehen, dann hätte ich das zurückgewiesen. Im übrigen ist es Sache des Gerichtshofes, derartige Angriffe zurückzuweisen, es bedarf dazu keiner Anregung von anderer Seite.

Verteidiger R.-A. Dr. Schwindt (für Niemela): Es waren strenge und harte Worte, die der Staatsanwalt gegen den Angeklagten Niemela gebraucht hat. Der Herr Staatsanwalt hat betont, daß ein Mann, wie Niemela, nicht würdig sei, Mitglied des deutschen Heeres gewesen zu sein. Der „kleine Leutnant aus Weingarten“ ist viel zu bescheiden, um mit dem „König der Spieler“ auf die gleiche Stufe gestellt und sogar nach der strafrechtlichen Seite noch höher eingeschätzt zu werden, als der Spieler Bujes. Niemela verdient keineswegs die schroffe Beurteilung, die ihm der Staatsanwalt hat angedeihen lassen, denn er ist lange ein eifriger, tüchtiger, strebsamer Offizier gewesen, bis zu dem Tage, wo er in Paris Herrn Stallmann kennenlernte. Das bildete einen Wendepunkt in seinem Leben. Dieser Wendepunkt ist geeignet, unser Mitleid und Bedauern herauszufordern. Es ist eine eigentümliche Anklage: Es werden Leute mit großen Kosten und diplomatischen Anstrengungen vom Ausland ausgeliefert wegen eines einzigen Falles, bei dem auch nur künstlich zusammengetragene Indizien ins Feld geführt werden können. Und nun soll das schwankende Gebäude der Anklage durch allerlei Hilfskonstruktionen, d.h. durch andere Fälle gestützt werden, die gar nicht zur Anklage stehen. Diese Illustrationsfälle belasten den Angeklagten Niemela ganz und gar nicht. Gewiß, er hat verschiedentlich mit Leuten gespielt, aber diese waren gar nicht so unerfahren, sondern es waren

Spielratzen,

die gern ein Jeu machten und nie den Verdacht hatten, daß falsch gespielt wurde. Betrunken waren diese Leute durchaus nicht. Wie man beim Bakkarat überhaupt falsch spielen kann, ist ganz unerfindlich. Natürlich, wer Volte schlagen kann, kann auch beim Skat und beim Whist falsch, spielen! Nichts ist davon erwiesen, daß Niemela ein guter Bekannter und Genosse des Bujes war. Was den einzigen wirklichen Anklagefall v. Dippe betrifft, so muß man sich davor hüten, aus der großen Summe von 80000 Mark zu dem Trugschluß zu kommen, daß da doch falsch gespielt sein müsse. Es liegt nicht eine einzige Tatsache vor, die dies beweist. Nichts liegt vor, was beweist, daß Niemela mit Bujes und Stallmann unter einer Decke gesteckt hat. Alles, was in dieser Beziehung als verdächtig hingestellt wurde, ist ganz harmlos zu erklären. Es ist kein Beweis dafür erbracht, daß Niemela wirklich ein „Schlepper“ war, daß er Herrn v. Dippe nach Berlin gelockt hat, um ihn Falschspielern in die Hände zu spielen. Nichts ist dafür erbracht, daß er im „Fürstenhof“ irgendwie Mithelfer war. Er hat völlig unbeteiligt im Zimmer gesessen und Herrn v. Dippe bald geraten, mit der Bezahlung des Wechsels noch zu warten. Niemela hat nachgewiesen, daß zwischen ihm und Bujes keine andere Verbindung bestanden hat, als daß er mit ihm und anderen Personen manchmal zusammengewesen ist. Das könnte vielleicht kein besonders günstiges Licht auf ihn werfen, weiter aber nichts! Bei dem Mangel aller positiven Belastungsmomente muß Niemela freigesprochen werden. Und nun hat der Staatsanwalt gegen Niemela, der aus der ganzen Affäre Dippe nicht den geringsten Vorteil gehabt, sondern Herrn v. Dippe noch gewarnt hat, drei Jahre Gefängnis beantragt, während der Staatsanwalt gegen Bujes nur ein Jahr beantragt hatte. Niemela ist doch schließlich eine ganze andere Persönlichkeit er hat doch auch einige Meriten aufzuweisen. Nicht jeder, der den Helm mit dem Zylinderhut hat vertauschen müssen, beschreitet so

ernste Bahnen des Erwerbs,

wie Niemela, der sich einen Beruf erwählt hat, bei dem man vielleicht Ruhm ernten, aber doch auch schnell zu Tode kommen kann. Das Normale ist doch der Absturz und nicht das Fliegen. Niemela hätte es bequemer gehabt, wenn er sich aufs Glückspiel geworfen hätte, denn in den Spielsälen lebt es sich besser und bequemer, als auf einem unsicheren Flugapparat. Nein, in solchem Manne steckt noch ein guter Kern. Sein Charakterbild ist vielleicht vorübergehend verdunkelt durch Personen, in deren Gesellschaft er geraten ist, er ist dann aber als armer und nicht als verdammenswerter Mann zu betrachten.

Rechtsanwalt Dr. Frey, zweiter Verteidiger des Niemela: Wer die Beweisaufnahme objektiv würdigt, kann unmöglich zu einer Verurteilung kommen. Das Spiel hat eine verführerische, man kann fast sagen kupplerische Macht, gleichzeitig aber auch eine nivellierende Macht, und am Spieltisch sammeln sich oft Leute, die sich auf der Straße nicht gern kennen würden. Es gibt eben Passionsspieler, und zu diesen ist wohl Niemela zu rechnen, nimmermehr ist aber aus der Beweisaufnahme irgendwie der Schluß gerechtfertigt, daß er als Schlepper für angebliche Falschspieler gedient hat. Wenn Niemela gefehlt hat, so ist es vielleicht nur in dem einen Punkte, daß er nicht energisch genug das Hineinziehen des Herrn v. Dippe in ein so hohes Spiel verhindert hat.

Verteidiger R.-A. Dr. Alsberg (für Kramer): Der Staatsanwalt hat in seinem Plädoyer das ganze Schwergewicht auf den psychologisch glänzend durchgeführten Nachweis gelegt, daß die sämtlichen Angeklagten nichts Gutes im Schilde geführt haben. Der Beweis ist dem Staatsanwalt geglückt. Der Psychologe und nicht weniger der Ästhet müssen seiner Anklagerede Beifall spenden, nur einer nicht – der Jurist! Dieser fragt:

Was war vom Staatsanwalt zu beweisen?

Die Antwort lautet: Gerade das, was er nicht bewiesen hat! Nicht das betrügerische Verleiten zum Spiel, sondern der Betrug beim Spiel, nicht das Erschleichen der 7000 Pfund, sondern das Erzwingen. Über das, wogegen sich der Angeklagte Kramer allein zu verteidigen hat, daß er durch Drohung 7000 Pfund zu erzwingen versucht habe, hat der Staatsanwalt keine Silbe gesagt. Und die schwer, aber nach der Rechtsprechung des Reichsgerichts notwendig zu ziehende Grenzlinie zwischen Warnung und Drohung ist vom Staatsanwalt in einer Weise behandelt worden, daß man beinahe zu dem Verdacht kommen könnte, diese Grenzlinie ist dem Herrn Staatsanwalt unbekannt.

Der Verteidiger erörterte alsdann eingehend die einzelnen, Kramer zur Last gelegten angeblichen Erpressungshandlungen und kam zu dem Ergebnis, daß von Erpressung schon deshalb keine Rede sein könne, weil der Angeklagte weder ein von ihm zu bewirkendes Übel, noch die Beeinflussung eines Dritten zur Bewirkung eines Übels angedroht habe. Bei einer dem Angeklagten ungünstigen Auslegung aller Vorgänge könne man höchstens sagen, daß er vor einem Übel gewarnt, sich aber keinen Einfluß auf dessen Eintritt, sondern nur die Kraft zu seiner Beseitigung zugeschrieben habe. Nach der Rechtsprechung des Reichsgerichts genüge das aber nicht. Eine Bestrafung sei auch ausgeschlossen, weil, selbst wenn man einen Erpressungsversuch annehme, der Angeklagte vom Versuch zurückgetreten sei.

Am elften Verhandlungstage erhielt zunächst das Wort Angeklagter Stallmann. Er führte aus: Der beste Beweis, daß er mit einem Falschspiel nichts zu tun gehabt hat, sei, daß er tatsächlich bezahlt habe, wie aus den von ihm gegebenen Schecks hervorgehe. Mit bewegter Stimme erklärte Stallmann, daß er tatsächlich zu jener Zeit nur in Berlin gewesen sei, um das Grab seiner Mutter zu besuchen. In London habe ihn damals jeder gekannt, während ihn in Berlin niemand kannte; er hätte sogar mit Herrn v. Manteuffel, ohne erkannt zu werden, an einem Tisch sitzen und speisen können. Wenn jemand für einen unglücklichen Umgang, den er vor fünfzehn Jahren gehabt habe, schwer habe leiden müssen, so sei er es gewesen. Er habe fünfzehn Monate in Haft sitzen müssen, und als er 200000 Mark Kaution angeboten, habe man ihm geantwortet: „Nicht für eine Million lassen wir Sie frei!“

Auf eine Frage des Vorsitzenden, weshalb er die jetzt angebotenen Beweise nicht schon im Bujesprozeß zur Geltung gebracht habe, da er ja geäußert habe, Bujes’ Freisprechung sei auch seine Freisprechung, erwiderte der Angeklagte: Er habe es im Interesse seiner Frau verhindern wollen, daß sein Name in einem Skandalprozeß in den Vordergrund gestellt würde.

Die Rechtsanwälte Dr. Werthauer und Dr. Schwindt bestätigten, daß ihnen seinerzeit von dem englischen Anwalt Appleton Material angeboten worden sei.

Stallmann schloß mit den Worten: Und so lege ich denn mit der Bitte um Freisprechung mein Schicksal in die Hände des hohen Gerichts, zu dessen Gerechtigkeitssinn ich volles Vertrauen habe.

Auch Angeklagter Niemela wendete sich in längeren Ausführungen gegen die Anklagerede des Staatsanwalts, namentlich gegen die Behauptung, daß er als Offizier sich nicht gescheut habe, Kameraden den Spielern vorzustellen, damit sie im Spiel verlieren sollten. Er habe nicht einen einzigen Offizier Spielern vorgestellt und fordere den Staatsanwalt auf, auch nur einen Offizier vorzuführen, der das Gegenteil beweisen könnte. Auch die Behauptung des Staatsanwalts, daß er überschuldet gewesen sei, schwebe vollständig in der Luft; er habe im Mai 1910 nicht einen Pfennig Schulden gehabt. Der Staatsanwalt könne die Polizei der ganzen Welt bringen, er würde keine tatsächlichen Belege für seine gegen ihn vorgebrachten Anschuldigungen finden. Er habe nimmermehr Herrn v. Dippe zu unlauteren Zwecken nach Berlin gelockt und mit den Spielern nicht unter einer Decke gesteckt. Er erinnere nur daran, was man in London alles mit ihm habe machen wollen. Man habe ihn nach Argentinien schaffen, ja, sogar verhaften lassen wollen, schon daraus gehe wohl zur Genüge hervor, wie wenig er mit den Spielern im Zusammenhang gestanden habe. Bujes habe ihm direkt gedroht, ihn zu vernichten, er habe gewußt, daß Bujes Rache an ihm nehmen würde. Wenn er trotzdem Herrn v. Dippe gewarnt habe, so beweise das doch seine anständige Gesinnung. Er habe v. Dippe tatsächlich 80000 Mark gerettet. Er verstehe gar nicht, wie man gegen ihn habe vorgehen können, denn er habe nicht mitgespielt, keine Karten besorgt und auch noch gewarnt. Der Staatsanwalt habe mit seiner Anklage nur den Spielern genutzt, denn nach dem Schicksal, das man ihm bereitet, werde in Zukunft sich jeder hüten, einen anderen zu warnen.

Angeklagter Kramer versicherte kurz „auf sein Manneswort“, daß er sich vollständig unschuldig fühle.

Nach mehrstündiger Beratung des Gerichtshofes verkündete der Vorsitzende, Landgerichtsrat Lampe, folgendes

Urteil:

Der Gerichtshof hat den Angeklagten Stallmann wegen Betruges zu einem Jahr Gefängnis, unter Anrechnung von neun Monaten der Untersuchungshaft, sowie drei Jahren Ehrverlust; Kramer wegen versuchter Erpressung zu drei Jahren Gefängnis, fünf Jahren Ehrverlust, unter Anrechnung von drei Monaten der erlittenen Untersuchungshaft, verurteilt.

Der Angeklagte Niemela wird freigesprochen.

Nach Ansicht des Gerichts ist Herr v. Dippe planmäßig nach Berlin gelockt worden und im Zimmer Niemelas im „Fürstenhof“ ebenso planmäßig in das Glücksspiel verwickelt worden. Man hat zunächst das Spiel in der Weise begonnen, daß durch das Bridgespiel die Gedanken des Herrn v. Dippe auf das Kartenspiel überhaupt gelenkt wurden. Alsdann wurde Rouge et noir gespielt. Herr v. Dippe wurde zunächst in dem Glauben erhalten, daß es sich um eine Wette zwischen Stallmann und Bujes handele, bis er schließlich 80000 Mark verloren hatte. Das Gericht hält es für erwiesen, daß gegen v. Dippe falsch gespielt worden ist, und zwar aus folgenden Gründen: Die Zusammenkunft zwischen den vier Personen war keine zufällige, sondern sie war verabredet. Das folgt schon aus der Tatsache, daß Niemela später zu Bergell gesagt hat: „Wenn ich doch von den Hunden loskäme!“ Das beweist, daß er von jenen abhängig war und zu einer ihm widerstrebenden Handlung benutzt werden sollte. Diese Handlung aber kann nur Falschspiel gewesen sein. Auch die Tatsache, daß „Rouge et noir“ gespielt wurde, spricht dafür, ferner die Tatsache, daß Stallmann die Karten zerrissen hat und endlich die Äußerung Niemelas zu Bergell, daß er die Überzeugung gehabt habe, es sei im „Fürstenhof“ falsch gespielt worden, wobei er noch spezielle Kniffe der Falschspieler angegeben hat. Daß Stallmann auch verloren hat, schließt ein Falschspiel nicht aus; dies hat nur den Zweck gehabt, in dem Opfer keinen Verdacht aufkommen zu lassen. Ebensowenig spricht dagegen die Tatsache, daß Stallmann den Dippeschen Wechsel dem Bujes diskontiert hat. Stallmann wußte ja, daß v. Dippe aus sehr reicher Familie stammt, er wußte, daß er Offizier war und deshalb den Wechsel einlösen mußte. In welcher Art falsch gespielt wurde, hat allerdings nicht festgestellt werden können.

Niemela ist der Mittäterschaft des Betruges beschuldigt und auch von England ausgeliefert worden. Als Mittäter kann er nicht in Frage kommen, weil er am Spiel nicht beteiligt war. Die Handlungen aber, an denen er beteiligt war, könnten nur als vorbereitende Handlungen angesehen werden. Es mußte geprüft werden, ob Beihilfe vorliegt. Wenn auch ein erheblicher Verdacht in dieser Beziehung besteht, so sprechen doch andererseits manche Umstände zu seinen Gunsten, und seine Behauptung, daß er nur darauf gewartet habe, Bujes zu entlarven, erscheint nicht ganz unglaubwürdig. Es spricht vielmehr alles dafür, daß er mit einem Falschspiel nicht einverstanden war und dies auch nicht unterstützen wollte. Er ist deshalb freigesprochen worden.

Kramer wollte nach Ansicht des Gerichts seine Kenntnis von dem Dippeschen Brief an Niemela finanziell ausnutzen; er ist deshalb mit v. Dippe in Verbindung getreten und hat brieflich auf Meineid und auf die Möglichkeit erenwachsender Gefahren für Dippe hingewiesen. Die Briefe enthalten, wenn auch keine direkten, so doch versteckte Drohungen. Dazu kommt, daß Kramer dem Dr. Rosenstock bei dessen Abfahrt von London ein Telegramm gezeigt hat, nach dem für den Dippeschen Brief angeblich 100000 Franken geboten sein sollten. Dies ist nach Ansicht des Gerichts die versteckte Drohung, daß er den Dippeschen Brief den Gegnern, nämlich Stallmann und Bujes, zur Verfügung stellen würde, wenn man ihm nicht mindestens dieselbe Summe böte. Diese Drohung ist in einem folgenden Telegramm noch deutlicher geworden. Einen Rücktritt vom Versuch nimmt das Gericht nicht an.

Gegen Stallmann hat das Gericht lediglich mit Rücksicht darauf, daß auch Bujes nur ein Jahr Gefängnis erhalten hat, auf die geringe Strafe von einem Jahr erkannt. Kramers Handlungsweise erscheint ganz außerordentlich verwerflich, und dies mußte auch im Strafmaß zum Ausdruck kommen. Mit Rücksicht auf die bewiesene ehrlose Gesinnung ist auch gegen beide Ehrverlust ausgesprochen worden. Die Kosten des Verfahrens mußten diesen beiden Angeklagten auferlegt werden. Der Haftbefehl gegen den freigesprochenen Niemela wird aufgehoben.

Auf Befragen erklärte Stallmann: Er verzichte auf Rechtsmittel, um seine Haft nicht zu verlängern. Er werde aber Dokumente bringen, die beweisen, daß er unschuldig sei; Kramer erklärte, Revision einlegen zu wollen.

Ein Liebesdrama im Berliner Tiergarten

Die Liebesdramen des alten Homer beruhen bekanntlich nur auf einer Sage, die jedoch der unsterbliche klassische Dichter des grauen Altertums in herrlicher Weise besungen hat. Wem geht nicht noch heute das Herz auf, wenn er sich der schönen Jugendtage erinnert, an denen er als Primaner die Gesänge Homers gelesen hat. Wie schön schildert Homer den Trojanischen Krieg, der von 1193 bis 1184 vor Christo geführt wurde, weil Paris, der zweite Sohn des Königs Priamos von Troja, die schöne Helena, Gemahlin des Königs Menelaos von Sparta, entführt hatte und Priamos sich weigerte, die Helena herauszugeben. Auch die prächtige Schilderung Homers von den Sirenen, den drei reizenden Jungfrauen, die auf einem Eiland des Westmeeres zwischen der Insel der Kirke und der Szylla, auf einer blumigen Strandwiese, umgeben von bleichenden Menschengebeinen, weilten und durch ihren bezaubernden Gesang die Vorübersegelnden anlockten, um sie zu töten, ist selbstverständlich nur eine romantische Dichtung. Wenn es dem alten Homer vergönnt gewesen wäre, von den Toten aufzuerstehen und in der Nacht vom 7. zum 8. März 1913 den Berliner Tiergarten zu passieren, dann hätte er, in der Nähe der Lichtensteinbrücke, bei silberhellem Mondeslicht eine junge Dame, mit einem geladenen Revolver bewaffnet, gesehen, die unwillkürlich an die von ihm geschilderten Sirenen erinnerte. Wohl war es nicht bezaubernder Gesang, der den 19jährigen Georg Reimann zur späten Nachtstunde an die Stelle des Tiergartens führte, in deren Nähe ein Bach, leise rauschend, dahinfließt. Aber eine bezaubernd schöne Mädchengestalt hatte den ebenfalls entzückend schönen, schwärmerisch veranlagten Jüngling angelockt. Ein kurzer Blick in das engelschöne Antlitz des jungen Mädchens, das die Mordwaffe bereits schußbereit in ihrem Muff verborgen hatte, eine kurze Auseinandersetzung:

„Du oder ich, einer von uns beiden

ist zuviel auf der Welt“,

ein kurzes Ringen und – zwei Schüsse hallten durch die Stille der Nacht, ein junges Menschenleben, ein selten schöner, adretter Jüngling, ein zweiter Paris, lag entseelt am Boden. Das Blut sickerte in starken Strömen aus dem Hinterkopfe des jungen Mannes, in den er zwei tödliche Schüsse erhalten hatte. Das Erdreich färbte sich blutrot. Drei junge Leute waren, von den Schüssen aufgeschreckt, an den Tatort geeilt. Der 19jährige Hausdiener Georg Reimann lag entseelt auf dem feuchten Rasen, das Gesicht nach unten gekehrt. An einem gegenüberstehenden Baum lehnte die auffallend schöne 20jährige Hedwig Müller. Sie sah starr vor sich hin. „Er hat sich erschossen,“ stammelte sie, dann fiel sie in Ohnmacht.

In einer armseligen Hofwohnung der Weltstadt saß eine abgehärmte, ältere Frau und nähte emsig. Sie mußte die Nächte zu Hilfe nehmen, wenn sie den Lebensunterhalt für sich und ihre Tochter, die augenblicklich ohne Stellung war, verdienen wollte. Mit Entsetzen sah die fleißige Frau, daß die Uhr auf Mitternacht zeigte. Ihr einziges Kind Hedwig war von ihrem Stelldichein aus dem Tiergarten noch immer nicht zurückgekehrt. Nichts Gutes ahnend, kleidete sich Frau Müller an und steuerte dem Tiergarten zu. „Hede! Hede!“ rief Frau Müller aus vollen Leibeskräften in die Stille der Nacht hinein; alles Rufen und Suchen war aber vergebens. Frau Müller eilte weinend nach Hause; was mag der Hede passiert sein? sagte sie halblaut, als sie in die Wohnung zurückkehrte und von Hedwig noch immer keine Spur zu entdecken war. Da endlich, kurz vor zwei Uhr nachts, pochte es an der Tür. Hedwig trat mit furchtbar verstörtem Blick ins Zimmer, und noch ehe Frau Müller fragen konnte, was geschehen sei und weshalb sie so spät komme, brach Hedwig in die Worte aus:

„Georg ist tot!“

Hedwig konnte vor Aufregung die ganze Nacht kein Auge schließen. Am folgenden Tage beruhigte sie sich, da sie hörte: die Polizei sei zu der Überzeugung gelangt, daß Georg Reimann Selbstmord begangen habe und die Leiche zur Beerdigung freigegeben sei. Allein die Gerichtsärzte, Medizinalrat Dr. Hoffmann und Medizinalrat Dr. Störmer stellten bei der Obduktion fest, Reimann habe zwei Schüsse in den Hinterkopf erhalten, von denen jeder einzelne tödlich war, ein Selbstmord sei daher ausgeschlossen. Sei es schon unwahrscheinlich, daß der Getötete sich selbst in den Hinterkopf geschossen habe, so sei es jedenfalls unmöglich, daß er auch den zweiten Schuß auf sich abgegeben habe. Dieses Gutachten war die Veranlassung, daß die Staatsanwaltschaft die

Verhaftung der Hedwig Müller

verfügte. Das entzückend schöne Mädchen, das am 4. April 1893 geboren, also zur Zeit der Tat erst 19 Jahre alt war, mußte sich vom 3. bis 7. Oktober 1913

wegen Mordes

vor dem Schwurgericht des Landgerichts Berlin I verantworten. Dieses in den Annalen der Kriminaljustiz wohl einzig dastehende Vorkommnis hatte begreiflicherweise ein ungeheures Aufsehen nicht nur in Berlin, sondern im ganzen Deutschen Reiche und auch im Auslande hervorgerufen.

Den Vorsitz des Gerichtshofs führte Landgerichtsrat Schlichting. Die öffentliche Anklage vertrat Staatsanwaltschaftsrat Dr. Gysae. Die Verteidigung hatten Justizrat Leonhard Friedmann und Rechtsanwalt walt Dr. Ledermann übernommen. Als Sachverständige wohnten der Verhandlung bei: Medizinalrat Dr. Hoffmann, der Oberarzt der Irrenanstalt Dalldorf, Geh. Medizinalrat Professor Dr. Kortum, Nervenarzt Dr. Toby Cohn, praktischer Arzt Dr. G. Steinitz und als Schießsachverständige Major a.D. Berger und Hofbüchsenmacher Barella.

Die Angeklagte wurde in blauem, ausgeschnittenem Kleide aus der Untersuchungshaft auf die Anklagebank geführt. Es war begreiflich, daß sich die Blicke der zahlreichen Zuhörer und Zuhörerinnen der blendend schönen Hedwig zuwandten. Sie machte keineswegs den Eindruck einer Angeklagten, über deren Haupt

das Richtbeil

schwebte. Die Anklage lautete

auf Mord

im Sinne des § 211 des Strafgesetzbuches. Auch als die Mutter der Angeklagten und zwei Schwestern sowie der Bruder des Getöteten als Zeugen im Saale erschienen, blieb Hedwig Müller vollkommen ruhig. Sie beantwortete alle Fragen des Vorsitzenden mit einer geradezu erstaunlichen Gewandtheit. Sie verstand, ihre Rolle als die gekränkte Unschuld vortrefflich zu spielen. Die angeklagte junge Dame hatte ein so wohlklingendes, prächtiges Organ und verstand derartig logisch ihre Verteidigung zu führen, daß ihr bezauberndes Äußere ganz wesentlich noch beim Sprechen gewann. Auf Befragen des Vorsitzenden äußerte die Angeklagte: Sie bestreite, den Reimann erschossen zu haben. Reimann sei sterblich in sie verliebt gewesen, und zwar derartig, daß er sich im Packraum der Mittlerschen Buchhandlung, in der sie beide beschäftigt waren, den Kopf an der Wand einrennen wollte, weil sie seine Liebeswerbungen abwies. Nach längerer Zeit habe sie ihm Gehör geschenkt. Reimann habe sehr bald erfahren, daß sie mit einem Dr. Sternberg ein intimes Liebesverhältnis unterhalte. Reimann, der furchtbar eifersüchtig war, habe ihr deshalb die heftigsten Vorwürfe gemacht, sie beschimpft und ihr gedroht, von dem Verhältnis dem Chef Mitteilung zu machen. Sie habe alles mögliche aufbieten müssen, um den stürmischen Jüngling zu beruhigen. Er habe sie aber auf Schritt und Tritt verfolgt, und als sie eines Abends mehrere Stunden in der Wohnung des Dr. Sternberg zugebracht hatte, habe sie Reimann unten erwartet, sie wieder von neuem beschimpft und ihr Vorwürfe gemacht. Sie hatte aus Anlaß des Verhaltens von Reimann, der sonst ein sehr netter Junge war, den Entschluß gefaßt, sich das Leben zu nehmen. Sie hatte sich deshalb einige Tage vor dieser Begebenheit bei Wertheim in der Leipziger Straße einen Revolver gekauft. Als Reimann im Tiergarten wiederum Zank anfing, habe sie den Entschluß gefaßt, ihrem Leben ein Ende zu machen. Sie habe den Revolver aus der Tasche gezogen. Als Reimann dies gesehen, habe er ihr die Waffe mit Gewalt entrissen. Dadurch müsse entweder ein Schuß losgegangen und dem Reimann in den Kopf gedrungen sein, oder Reimann habe sich selbst erschossen. Genau wisse sie das nicht, sie sei in solcher Aufregung gewesen, daß ihr der ganze Vorgang nur noch dunkel in Erinnerung sei; sie hatte fast das Bewußtsein verloren gehabt.

Vors.: Es ist Ihnen doch bekannt, Angeklagte, daß Reimann zwei Schüsse im Hinterkopf hatte, die, wie die Sachverständigen begutachten, ihm von fremder Seite beigebracht sein müssen.

Angekl.: Ich habe jedenfalls Reimann nicht erschossen.

Vors.: Die Angeklagte hat auf Veranlassung des Untersuchungsrichters ihre Lebensgeschichte und auch das Vorkommnis vom 7. März 1913 in ausführlicher Weise geschildert. Da das Schriftstück ein Charakterbild der Angeklagten veranschaulicht, werde ich es, soweit es in öffentlicher Sitzung zulässig ist, zur Verlesung bringen. Das Schriftstück lautet: Ich Hedwig Lucie Marie Müller bin am 4. April 1893 geboren. Mein Vater war Architekt. Auf meine erste Kindheit, bis etwa zum 6., 7. Jahre, kann ich mich nur soweit besinnen, als ich durch Erzählungen meiner Mutter oder. Verwandten unterstützt werde, da eine mehrwöchige wöchige Nervenkrankheit im 12. oder 13. Jahre eine Gedächtnisschwäche für längere Jahre zurückliegende Ereignisse zur Folge hatte. Ich weiß aber aus Schilderungen, daß ich ein außerordentlich geistig reges Kind war, ich war auch ziemlich graziös und zeigte ungefähr im 5. Jahr ein auffallendes Talent zum Theaterspiel. Im Umgang mit Kindern hatte ich eine Art, mir möglichst die Herrscherrolle anzueignen und dachte und handelte stets für die mitspielenden Kinder, ohne aber zänkisch und trotzig zu sein. Lange machte mir jedoch solch Spiel nicht Spaß, ich zog Erwachsene Kindern, vor, da diese ja eher meiner Gedankenrichtung folgen konnten. Ich liebte es besonders, von Erwachsenen in Gespräche gezogen zu werden, was häufig geschah, da man sich an meiner anmutig bescheidenen, aber doch altklugen Art zu fragen oder Bemerkungen zu machen, belustigte. Im 6. Jahre weiß ich, daß meine Brüder vielfach in einer studentischen Verbindung verkehrten, die in den Vereinszimmern eines Familien-Stammlokales ihre Kommersabende und Sitzungen abhielt. Es war mir eine diebische Freude, mich dort gelegentlich einzuschmuggeln und hatte mir bald einen liebenswürdigen, netten Studenten herausgeangelt, den ich allen als ?meinen Freund? vorstellte. Ich war bald der erklärte Liebling sämtlicher Stammtische und durfte auch manchmal allen Anwesenden „mit dem ganzen Inhalt eines kleinen Himbeers“ kommen. Bald war jedoch die Zeit da, die dem Spiel ein Ende machte, indem ich zur Schule geschickt wurde, und zwar besuchte ich eine Charlottenburger Volksschule, in der ich mich zwar sehr wenig wohl fühlte, aber dafür die letzten Bänke drückte. Ich konnte mich absolut nicht an das aufmerksame Stillsitzen gewöhnen, sondern bevorzugte, da ich viel Schick zur Frisierkunst hatte, mich mit den Zöpfen meiner Vorsitzenden zu beschäftigen, was mir stets erforderliche Prügel einbrachte. Ich hatte absolut keine Zuneigung, weder zum Lehrer noch zu den Schularbeiten, und es verging kein Tag, daß dieselben ohne Tränen fertig wurden. Ich brachte es aber doch immer zur Versetzung, trotzdem noch einige Wochen Schulbesuch ausfiel wegen der üblichen Kinderkrankheiten Scharlach und Masern, der sich dann schließlich auch eine Umschulung wegen Verzuges nach Moabit in die dortige 199. Gemeindeschule anschloß. Gelegentlich dieser Umschulung wurde die Frage erörtert, ob man mich nicht in die Kgl. Elisabethschule in der Kochstraße stecken sollte, die bereits sämtliche weiblichen Verwandten meines Vaters besucht hatten. Klopfenden Herzens wurde ich auch von dem damaligen Schuldirektor examiniert, da aber eine augenblickliche starke Überfüllung in der Klasse, der ich hätte eingereiht werden müssen, herrschte, sollte ein Gesuch um Aufnahme ein Semester später wiederholt werden. Später wußte ich aber durch Bitten dahin zu wirken, daß dies unterblieb, da ich 1. eine ausgesprochene Abneigung gegen Zwang und Formen hatte, 2. aber mich für recht dumm hielt und ein Mich-lächerlich-Machen schwer überwinden konnte. Ich kam also in die genannte Schule, in der es mir ähnlich wie in der ersten erging. Ich kam zu einem alten Fräulein, das meinem einstmaligen Lehrer außerordentlich glich. Die ersten Zensuren fielen auch recht mäßig aus, ohne daß aber die Versetzung je ausblieb. Endlich kam ich in der 6. Klasse zu einem Fräulein gleichen Namens wie ich. Dieser Zufall ließ mich sie näher in Augenschein nehmen. Ich fand bald, daß sie weit netter denn die übrigen Lehrkräfte war. Es machte mir auch nichts aus, daß ich wegen meiner fürchterlichen Schrift Hiebe bekam. Bei der zweiten Zensur hatte ich mich so wesentlich heraufgearbeitet, daß es allgemein auffiel. War mir früher das Lernen eine Strafe gewesen, so war es mir jetzt eine Lust, und gleichzeitig wuchs eine an Verehrung grenzende Liebe zu diesem Fräulein in mir. Sie war uns nicht die „Paukerin“, sondern die herzlich interessierte Mitarbeiterin. Ich blieb zu meiner Freude während aller Versetzungen bis zur 1. Klasse, die der Rektor selbst in den Hauptfächern beaufsichtigte, bei ihr, und die Trennung wurde mir herzlich schwer. Sie hatte während dieser 5 Jahre mich auch privatim zu sich herangezogen gezogen und mir, da sie Blumenliebhaberin war, die Pflege derselben anvertraut. Dieser Umstand erlaubte es mir denn auch im letzten Halbjahr, in den Pausen zu ihr zu flitzen. Die erste Klasse brachte nicht viel Neues und ließ ich wieder etwas nach, zumal wir uns daheim entschlossen hatten, durch Eingabe an die zuständige Deputation Dispens vom 2. Halbjahr zu erlangen, um mich schneller an einen Geldverdienst zu bringen. Ferner ist man ja auch dann in dem Alter, in dem die Tollheiten ernstes Lernen aus dem Kopf treiben.

Die Zeit meiner Einsegnung war da und gleichzeitig legte sich die Schwester meines Vaters, ebenfalls eine H. Müller, die einige Monate vorher eine schwere Operation durchgemacht hatte, zu letzter Krankheit. Dieselbe Tante hatte seit 25 Jahren mit einer Freundin, der jetzigen Frau Lehmann, zusammengelebt und geschafft, war unverheiratet geblieben, hatte unter dem Zusammenbruch der Familie sehr gelitten, sich von der Welt sehr abgewendet und in aufrichtiger Liebe und selbstlosester Aufopferung an diese Freundin angeschlossen. Ihre Liebe zu meinem Vater hatte sich bereits in gesunden Tagen auf mich übertragen. Sie hatte mir oft in unvergeßlich schönen Stunden, die ich mit ihr in Niederschönhausen während meiner Ferienzeit verlebte, von unseren Voreltern erzählt. Unter anderem, daß zirka 4-5 Generationen zurückgegriffen, die Vertreter einer Linie Ratsämter am hiesigen Hofe bekleidet, eine andere Linie auf den Ende des 17. Jahrhunderts berühmt gewesenen Kupferstecher G. Müller zurückzuleiten ist. Noch mein Großvater und Urgroßvater seien ziemlich bedeutende Männer gewesen und nannte sie mir auch Kunststätten, deren Deckenmalereien von den Müllers ausgeführt waren. Die Vertreter der Künstlerlinie waren allmählich zur Porträtmalerei und später zur architektonischen Kunst übergegangen, durch Degeneration war die Familie von höchster Höhe zu dem jetzigen Stande heruntergekommen, und weil die außergewöhnliche Begabung und Intelligenz sämtlicher Männer ihnen hohe Einkünfte brachte und sie dem Leichtsinn nachhingen, Unsummen zu verspielen und zu vergeuden. Sie selbst hatte, zart besaitet, diesen Niederschlag schwer empfunden und ernst an sich gearbeitet, den eventuell ererbten Leichtsinn zu unterdrücken. Wiederholt hatte sie mich dringend gemahnt, daß ich auch eine Müller sei und meine Intelligenz nur zu gutem Tun verwenden dürfte. Diese Tante nun wünschte mich nach meiner Einsegnung bei sich zu haben, und so ging ich mit 14 Jahren zu ihr. Sie starb, nachdem sie ihre Freundin gebeten, mich im Auge zu behalten.

Aus Pietät der Toten gegenüber blieb ich ein halbes Jahr bei der neuen Tante, die dann auf Reisen ging. Ich sollte nun etwas lernen, und zwar wurde, da ich häufig ganz guten Geschmack bewiesen, die Schneiderei als günstiger Beruf angesehen. Ich arbeitete nun praktisch ein Jahr bei einem ersten Gesellen meiner Tante, die in den achtziger Jahren mit zu den Inhabern erster Ateliers gehörte. Es stellte sich aber bald heraus, daß die Entwürfe, die der Kopf brachte, von den Händen nicht ausgeführt werden konnten, also ein Brotverdienen damit, wenigstens in jungen Jahren, nicht möglich war. Inzwischen heiratete die Tante, die sich an ein Alleinsein nicht gewöhnen konnte, einen gleichaltrigen Jugendgespielen. Sie zogen nach Niederlehme bei Königswusterhausen in das Landhaus des Mannes und luden mich ein, mich bei ihnen, wenn ich wollte, zu erholen, da ich sehr durch meine Schneiderei körperlich heruntergekommen war.

Ich nahm die Einladung an und richtete mich sehr gut dort ein.

Hedwig Müller schilderte dann ihren Aufenthalt in Niederlehme und fuhr alsdann fort: Bei meinem Erscheinen trug man mir, da man viele auffallende Ähnlichkeiten mit der Toten bei mir entdeckte, die gleichen Gefühle wie seinerzeit ihr entgegen. Mir entgingen natürlich die Dinge nicht, und ich begegnete der falschen Freundlichkeit entweder mit burchikosem Berlinertum oder beißender Ironie, je nachdem man bei mir getippt hatte. Es dauerte nicht lange, da legte man mir Erbschleicherei zur Last und viele schöne Tugenden mehr. Ich wollte den Klatschmäulern den Sieg nicht ohne weiteres gönnen und hielt mit gekniffenen Zähnen durch. Endlich entschlossen sich meine Tante und deren Mann zu einem Hauskauf in Berlin. Ich nahm das als günstige Gelegenheit wahr, um, nachdem ich noch einen vierwöchentlichen Umzug durchgekostet, nach Hause zu gehen. Dort türmten sich auch dunkle Wolken zusammen. Meine Brüder aus erster Ehe meiner Mutter hatten nach dem Ausscheiden meines Vaters die Erhaltung des Hausstandes übernommen. Der eine hatte sich, um der Verpflichtung schnell zu entgehen, in eine Ehe gestürzt, bei der sich bald herausstellte, daß es mehr Hölle denn Ehe war. Er ging bald nach dem Rhein. Nun lagen die ganzen Sorgen auf meines ältesten Bruders Schultern. Beide Brüder haben eine Volksschule besucht, aber durch Fleiß, besonders der älteste, es als Ingenieur in der Brückenbaubranche zu ersten und gut bezahlten Stellungen gebracht. Diese zähe Energie, hochzukommen aus einem Nichts, hatte dem ältesten Bruder schwere Nervosität eingebracht, und so sehnte er sich, möglichst schnell ebenfalls die Last abzuschütteln. Ich ging also in diese wirren Verhältnisse zurück im Vertrauen auf einen glücklichen Zufall und meine wirtschaftlichen Kenntnisse. Das Glück ließ mich bald eine Stellung finden und es währte nicht lange, da sprang mein Bruder mit beiden Beinen, zugleich gleich von uns weg.

Wir waren nun, meine Mutter und ich, auf uns beide angewiesen. Wir vermieteten und schränkten uns äußerst ein, um mit meinem Gehalt von 45 Mark auszukommen.

Durch Zufall wurde noch die Kinderfräuleinstelle bei meinem Chef, dem Zahnarzt Dr. Oppler, bei dem ich als Empfangsfräulein tätig war, frei, und ich übernahm noch mehr Arbeit gegen eine monatliche Entschädigung von 10 Mark und Verpflegung. Es wird eigenartig klingen, daß zwei Menschen mit dem Geld auskamen, aber es ging, wenn auch gerade nur... Meine Garderobe stellte ich mir mit äußerst geringen Mitteln selbst her, und meine Mutter war noch versorgt. Ich hielt das vierzehn Monate durch und lernte in den letzten Monaten abends in einem Schnellkursus auf einer Handelsschule Stenographie und Schreibmaschine und suchte dann eine neue Stellung.

Ich fand solche bei Herrn Rechtsanwalt Dr. Freundlich, der eine kleine Praxis hatte und eine Anfängerin brauchte. Ich war drei Monate für ein Gehalt von 25 Mark bei ihm tätig. Da bot sich mir Juli 1911 die Stellung im Hause Mittlers Sort. (A. Bath), Mohrenstraße 19. Ich wurde dort mit einem Gehalt von 60 Mark als Expedientin engagiert. Nach einem halben Jahr bekam ich eine Zulage von 15 Mk. Ich war sehr stolz auf diese, wie mir schien, fürstliche Gage und fühlte mich recht wohl dort, zumal mein Chef, ein äußerst liebenswürdiger Herr, stets herzlich nett zu mir war. Ich darf wohl behaupten, mich einer gewisen Beliebtheit erfreut zu haben. Mein freies, heiteres Wesen sprach an, und selbst die Gattin meines Chefs, die häufig ins Geschäft kam, war stets recht liebenswürdig zu mir. In diesem Sommer, 1911, ging meine Mutter, die in den letzten Jahren so ungemein viele Entbehrungen erlitten, die einen alten Menschen von 56 Jahren, der im Leben unendlich schwere Schicksalsschläge ertragen, ja weit härter ankommen wie einem jungen, zu ihrer Schwester, die im Frühjahr in Fangschleuse eine Familienpension übernommen hatte, einer Frau Brachwitz. Auf dem Wege dorthin begleitete ich sie und sah dort Herrn Dr. Sternberg. Ich mußte abends allein nach Hause fahren, da meine Mutter auf Wochen dort bleiben sollte. Der Zufall wollte es, daß Herr Dr. Sternberg den gleichen Zug zur Rückkehr von seinem Ausfluge nach Berlin benutzte, wie ich, und so war bald eine Unterhaltung angeknüpft und weitergesponnen, da mich die Zufälle belustigten. Wir erzählten uns allerlei lustiges Zeug, und er brachte mich nach Hause. Beim Verabschieden die übliche Bitte um ein Wiedersehen, die sonst stets prompt von mir mit Lachen zurückgewiesen, war diesmal nicht vergebens, da mir seine zwanglose, natürliche Art riesig imponiert hatte. Ich verabredete tatsächlich sächlich ein Stelldichein mit ihm. Aber bereits in meiner Wohnung angekommen, ärgerte ich mich über mein Nachgeben und setzte mich sofort, nachts um 12 Uhr, noch hin und schrieb ihm wenige freundliche Zeilen, daß ich kein Wiedersehen wünsche, und brachte den Brief sofort zum Kasten. Ich war sehr stolz auf meine Überwindung, die im Grunde genommen eine sehr kleine war, da es mich nie schmerzte, kleine Abenteuer zu unterlassen.

Ich kann nicht sagen, daß ich je von Liebessehnen belästigt worden bin. Vielleicht lag es daran, daß man mir schon als dreizehn-, vierzehnjähriges, stark entwickeltes Mädchen nachgestellt und ich stets, wo ich auch hinkam, durch meine tolle Ausgelassenheit und schäumende Jugendlust einerseits und reifere Denkungsart andererseits zum Mittelpunkt des Interesses der Herren wurde, was mir ja a tempo die Wut und Eifersucht der Mädchen, ja Frauen eintrug, daß sich der Reiz des Umschwärmtwerdens sehr bald bei meiner nicht vorhandenen Arroganz vollkommen verlor, ich den Herren nicht als Dame, sondern den Menschen als wilder Übermut gegenüberstand. Es hätte wohl kaum eine angeregte Dummheit gegeben, der ich mich nach Aufforderung zur Beteiligung widersetzt hätte. Ich drängte mich nie Menschen auf, sondern wartete stets, selbst jüngeren gegenüber, bis man zu mir kam. Es geschah dies tatsächlich nicht aus Stolz, den man mir angedichtet, sondern aus dem persönlichen Gefühl heraus, nur nicht einem Menschen auf die Nerven fallen oder etwa als armes Mädchen Verbindungen heischen zu wollen. Daher ergab es sich, daß ich nie zu einer Freundin gekommen war.

Ich habe viele Herren kennengelernt, habe aber immer gesehen, alles möglichst vorübergehend zu behandeln. Sie waren ja alle so geckig, daß ich ihnen sehr bald die Wahrheit sagte, die natürlich wehtat.

Aus der ersten natürlichen Veranlagung heraus, mich nicht Menschen anzuketten, zweitens dem absoluten Nichtbegehren eines Mannes und drittens eingedenk der Worte, daß ich eine Müller sei, war es mir nie schwer, selbst goldenen Fallen zu entgehen.

Im Oktober führte der Zufall mich wieder mit Dr. Sternberg zusammen. Er war inzwischen verreist gewesen. Wir sahen uns häufig, aber nur kurze Zeit, da er sich neben seinem Beruf noch literarisch betätigte. Ich ging den Winter über auch in seiner Wohnung aus und ein und gewann ihn ganz langsam recht lieb. Er hatte eine überaus zarte Art, den Zwischenraum zwischen uns so gut zu überbrücken, daß er mir so bald zu einem Erzieher wurde, dem ich manches an Benehmen ablernte, und ich wurde ihm zu einer harmlosen Unterhaltung für wenige übrige Zeit. Es war noch immer ein Verliebtgetue, aus dem erst im April 1912 ein richtiges Liebesverhältnis wurde. Trotzdem auch hierbei mir das Herz nicht mit dem Verstand durchging, indem ich mich ganz in Liebesfesseln einwühlte, ließ ich manches, was ihm nicht behagte, und da ich merkte, daß es zu meinem Vorteil, gab ich vielfach meine Freiheitsbestrebungen auf, schloß mich ihm wohl auch an, ließ aber immer eine Schranke zwischen uns, die es uns in jedem Augenblick ermöglichen sollte, ohne jeden Mißklang einander freizugeben. Ich machte mich in keiner Beziehung von ihm abhängig und kam ihm auch nie mit irgendwelchen Miseren, deren ich so reichlich zu verzeichnen hatte. Ich kannte seine große Nervosität und seine starke Abneigung gegen Tratsch und Gewäsch, daß ich ihn nie hätte belästigen mögen. Ich war stets aufrichtig bemüht, ihm, so gut ich konnte, angenehme Gesellschafterin und Unterhaltung zu sein.

Unser Verkehr war uns beiden das naturgemäße Empfinden zweier Menschen, die, gesund und erwachsen, sich recht liebhaben. Er entbehrte jeder niederen Gesinnung zu irgendwelchen gemeinen Handlungen. Es war ein nicht alltägliches „Verhältnis“, sondern ein freies, sich gegenseitig Gutes und Liebes tun und stets aufeinander Rücksicht nehmen. Unsere Liebkosungen waren zahlreich, aber nicht auf geschlechtliche Erregung berechnet. Im übrigen war unser Geschlechtsverkehr normal und ruhig.

Über ihre Beziehungen zu Georg Reimann schrieb Hedwig Müller: Im Januar 1912 wurde ein neuer Bote bei meiner Firma eingestellt. Wir hatten bisher immer ein recht übles Menschenmaterial in dieser Stelle gehabt, aber ich war mit allen fertig geworden. Nun kam plötzlich ein manierliches Bürschchen, glatt und behende, und man freute sich bald allgemein über den ganz amüsanten, netten Jungen. Er begriff äußerst schnell, war zu allen Verrichtungen bereit und willig. Selbst Privatbesorgungen für sämtliche Angestellte erledigte er zu steter Zufriedenheit. Die meiste Zeit verbrachte ich mit ihm zusammen, da ich allein mit ihm meinen Platz im Packraum hatte. Ich merkte sehr bald, daß ich mir diesen Jungen nicht erst gefügig machen brauchte, denn ich hatte mitunter Wünsche oder Anordnungen kaum ausgedacht, so waren sie schon gemacht. Er erriet förmlich meine Gedanken, um sie auszuführen. Er naschte gern Süßigkeiten und kaufte sich täglich bestes Konfekt, ließ aber stets die Tüte von mir öffnen und den Inhalt anreißen. Kurz gesagt, er war ein Mittelding zwischen Kavalier und Pagen; ich fühlte mich genötigt, ihm öfter Belohnungen in Gestalt von Schokolade oder Obst zukommen zu lassen. Später wuchs das Verfahren dahin aus, daß eine stete Halbierung der Leckereien erfolgte. Hedwig Müller schilderte alsdann, daß sie im Sommer 1912 zu der Erkenntnis gekommen sei, Georg Reimann sei in einem ungünstigen Milieu groß geworden und lebe noch in diesem Milieu. Es tat ihr deshalb ungemein leid um den Jungen, den sie nicht einen Augenblick für schlecht gehalten habe. Sie fuhr dann fort: „Er hatte auf meine Veranlassung eine Sparkasse bei mir angelegt. Während des Sparens revidierte ich häufig scherzend seine Jackettasche. Bei dieser Gelegenheit gelangte ich in den Besitz seines Taschenbuches, das ein Sammelbuch der Erotik in Wort und Bild bot. In seiner Abwesenheit schnitt ich sämtliche Blätter heraus und zerschnitzelte dieselben ganz klein. Ich gab ihm das Buch nach seiner Rückkehr; er geriet in eine maßlose Wut. Ich nahm ihn mir an dem Tage vor und erklärte ihm, daß das doch sehr häßlich gewesen sei. Er versprach mir in die Hand, es zu unterlassen. Erst im Februar 1913 wollte es ein Zufall, daß ich sah, daß wieder eine der scheußlichsten Aufzeichnungen vermerkt war.“ Weiter hieß es: „Reimann hat oftmals meine postlagernde Korrespondenz befördert und abgeholt. Ich habe niemals geglaubt, Reimann könne an dem harmlosen Inhalt der Korrespondenz Interesse haben. Erst als ich meine Briefe wieder selbst beförderte, wollte er Einsicht in sie haben, was ich verwundert ablehnte. Da erst sagte er mir, daß er stets den Inhalt des Briefwechsels gebucht und mir eine Suppe einbrocken werde, an der ich zu löffeln hätte. Es war mir natürlich unangenehm, daß irgendein Gerede entstehen sollte, was meine Stellung beeinflussen könne. Ich bat ihn, doch vernünftig zu sein und den Mund zu halten. Er versprach dies gegen weitere Einsicht. Ich ging endlich darauf ein, wußte es aber so einzurichten, daß er meine Briefe überhaupt nicht sah. Die Briefe, die ich morgens abhob, verschwanden im Korsett oder Strumpf. Ein Knistern hatte aber einmal seinen Verdacht erregt, so daß er in Arndts Gegenwart (Oberpacker in der Mittlerschen Buchhandlung) über mich herfiel und mir gleichzeitig eine Bildserie, Aufnahmen von mir, vernichtete, die ich ebenfalls vor ihm versteckt hatte. Die Folge davon war, daß ich ihm das beste Bild geben mußte, um wieder Ruhe zu haben.

Ich wurde nun gleichgültig und ließ ihm seinen Willen, indem ich ihn meine Taschen revidieren ließ. Von Stund’ an begann er mir auf die Nerven zu fallen. Es waren dann wieder Tage, an denen es glatt verlief. Aber stets sah ich nur nach seinen Augen, um mich entsprechend einzuschalten. Es gab wiederholt Auftritte, wenn ich nur den leisesten Widerspruch wagte. Ich hatte das Gefühl, daß man bereits aufmerksam geworden war auf uns, und das jagte mich mehr ins Bockhorn. Inzwischen näherte sich meine Ferienzeit. Er jammerte häufig, daß er die 14 Tage kaum überleben werde und deshalb geneigt sei, die Stellung aufzugeben. Ich sah darin einen gewaltigen Nachteil für mich, da er mir dann an den Fersen gehangen hätte. Ich bewog ihn, doch zu bleiben. In den ersten Monaten hatte ich ihm wiederholt dargestellt, daß er nicht in solchen untergeordneten Stellungen steckenbleiben dürfte, daß er sich heraufarbeiten müsse. Darauf antwortete er mir, daß ein Mädel wie ich in solchem dr.... Verlag nichts zu suchen hätte und daß wir eigentlich zusammen kündigen und gemeinsam etwas unternehmen könnten. Ich sagte ihm, daß ich mich ganz wohl fühle. Da erklärte er, er würde nicht gehen, um sich meinem Einfluß zu entziehen.

Die Ferien waren vorbei. Ich merkte, daß eine Veränderung mit ihm vorgegangen. War sein Benehmen früher lächerlich verliebt, so war es jetzt brüsk und roh. Es kam wiederholt vor Arndt zu heftigen Auftritten. Es begann für mich eine Kette Aufregungen schwerster Natur neben einer angestrengten Tätigkeit. Ich führte in meiner biederen Rücksichtnahme gegen ihn seine heftigen Wortausbrüche auf zu große Überlastung, geringe Lebensfreude und Verdruß über die verschmähte Liebe zurück. Denn das war mir ja mittlerweile sehr klar geworden. Ich versuchte durch vergrößerte Freundlichkeit und Güte, ihn zu besänftigen, was auch gelang. Natürlich wurde er dadurch bei mir wieder mit mehr Mitleid umgeben. Ich hatte das Empfinden, daß es bei ihm genau so zerrissen aussehen mußte wie bei mir, und daß er nur roher und ein Junge sei, der nie versucht hatte, sich zu beherrschen. So kam der Oktober heran, der ein Jubiläum meines Chefs brachte. Gelegentlich dieses Festessens, zu dem ich eingeladen war, hörte ich plötzlich, daß man den Reimann stark im Verdacht hatte, Bücher beiseite geschafft zu haben. Das stieg mir doch in die Krone. Es schien mir unmöglich und brachte ihn mir wieder einen Schritt näher. Sowie Gelegenheit war, zog ich ihn ins Vertrauen und bat ihn dringend, mir die Wahrheit zu sagen. Ich bot ihm an, falls er es getan, Fürbitte für ihn einzulegen, aber er sollte es doch sagen, es würde sicher nichts geschehen. Er war sehr erregt, weinte heftig an meiner Schulter und versicherte, es nicht gewesen zu sein. Die Sache war für mich erledigt, und er blieb. Es dauerte aber nicht lange. Der Freudenrausch über ?meine unendliche Güte? war noch nicht vorüber, da begannen seine Roheiten wieder mit elementarer Gewalt. Es verging kein Tag ohne die widerwärtigsten Szenen. Er quälte mich mittags, wenn wir allein waren, mit seinem albernen Liebesgewäsch und schlug wie ein Toller mit dem Kopf auf den Packtisch, wenn ich nicht reagierte. Es brach natürlich bei mir die ganze Nervosität hervor und ließ mich dies Gebaren weit schmerzlicher empfinden. Es genügte eine augenblickliche Zärtlichkeit, ein Bedauern, wie z.B. ?mein armer Jörg?, oder ?dummer kleiner Junge?, um ihn wieder zu beruhigen.

Da plötzlich trat er mit der Forderung an mich heran, der Sache ein Ende zu machen mit einem einmaligen Schweigegeld in Gestalt meiner Person. Ich hielt ihn für bereits verrückt und wehrte mich dagegen entschieden. Kurz vor Weihnachten wurde er plötzlich gekündigt. Bereits nach zwei Tagen forderte er mich auf, die Kündigung rückgängig zu machen. Ich lehnte ab. Er legte mir zur Last, ihn aus dem Brot gebracht zu haben, da ich ihn los sein wolle. Ich tat trotzdem nichts in der Sache. Er selbst ging zum Chef betteln und durfte bleiben. Wie ein Irrsinniger kam er angestürmt, fiel mir vor Arndt um den Hals und würgte mich bald vor Seligkeit. Es gab nur noch zwei große Ungeheuerlichkeiten für mich: 1. wie lange wird es noch dauern, 2. wird es zu dem letzten Äußersten kommen? Tatsächlich entschloß ich mich, in aller Kürze in seine Wohnung zu gehen. Der Boden war mir ohnedies im Geschäft zu heiß geworden, meines Bleibens war nicht mehr, mochte nun kommen, was wollte. Ich teilte ihm meinen Entschluß mittags mit und erwartete ihn abends.“ (Die Schilderung über die Vorgänge in der Wohnung des Reimann muß aus Schicklichkeitsgründen unterbleiben.) „Die nächsten Tage verliefen ruhig“, so hieß es weiter in der Schilderung, „wir sprachen wenig miteinander. Bis plötzlich wieder ein Schauer einsetzte. Jetzt war das Maß bei mir voll, meine Beherrschung war zu Ende, ich stieß ihn grob zurück. Da verzog sich sein sonst verzweifeltes zweifeltes Gesicht zu höhnischem Grinsen. Er schlug mich in Gegenwart von Arndt und entwendete mir den Schlüssel zu Dr. St.s Haus aus meiner Handtasche. Ich forderte den Schlüssel zurück und ging ihm in der Erregung in die Haare. Ich fühlte aber bald furchtbare Schmerzen am ganzen Körper und wurde heftig schwindlig, so daß ich nicht wußte, wo ich mich befand. Die ganze Aufwallung löste sich in eine Art Weinkrampf auf. Die Angestellten wurden aufmerksam. Der Aufforderung des Prokuristen, den Hausschlüssel herauszugeben, kam er nicht nach. Erst am andern Morgen, nachdem ihm mein Chef den Kopf gewaschen, gab er ihn heraus. Am nächsten Tage flog er und ich durfte kündigen.“

Es hieß weiter in den Memoiren: Nachdem Reimann aus dem Geschäft entlassen war, habe sie ihn endgültig abschütteln wollen, es sei ihr aber nicht gelungen, denn als sie ihn in der Friedrichstraße traf, sei ein Rippenstoß die erste Begrüßung gewesen, und er habe verlangt, daß er sie besuchen dürfe. Trotz aller Mühe habe sie ihn nicht loswerden können. Eines Abends habe er sie mit Dr. St. in dessen Haus treten sehen, und dies habe dem Faß den Boden ausgestoßen. Reimann habe bis spät abends vor dem Hause gelauert, und als sie aus dem Hause trat, sei er sofort auf sie losgestürzt und habe sie am Arm gepackt. Plötzlich habe er ihre Handlasche ergriffen und ihr den Hausschlüssel des Dr. St. entrissen. Am nächsten Tage habe sie ihm einen fünf Seiten langen Brief geschrieben und darauf eine Antwort erhalten, in der er für sein ganzes Benehmen um Entschuldigung bat und ihr weitere Vorwürfe wegen ihres Umgangs mit Dr. St. machte. Als sie wieder zu Dr. St. kam, habe ihr dieser einen an ihn gerichteten Brief des Reimann gezeigt, der sie wie ein Keulenschlag getroffen habe. In dem Briefe stand: Dr. St. sollte nicht denken, er sei der einzige, der ihre Zuneigung habe, denn auch ihm, dem Briefschreiber, habe sie sich hingegeben. Dr. St. habe ihr gut zugeredet, sie sehr bedauert, er habe ihr seine Hilfe angeboten und gesagt, sie solle nicht den Kopf verlieren. An demselben Tage habe sie zufällig Reimann am Siegmundshof getroffen, und es hagelten wieder Vorwürfe auf sie nieder. Als sie dann nach Hause gekommen, sei sie ganz schwermütig gewesen, ihr ganzes bisheriges Leben sei kaleidoskopartig an ihr vorübergezogen, die Zukunft habe sich ihr grau in grau gezeigt, und sie habe beschlossen, aus dem Leben zu scheiden. Reimann habe sie zu einem Rendezvous am 7. März nach dem Tiergarten bestellt, wo er angeblich ihr den Hausschlüssel des Dr. St. wiedergeben wollte. Sie habe sich bei Wertheim einen Revolver und in einem Geschäft der Passage die Munition gekauft und sich dann zu Hause erst niedergelegt und über alles mögliche nachgedacht. Ihr sei alles durch den Kopf gegangen, sie habe

von ihrer Mutter zärtlich Abschied genommen

und sei dann zu dem Zusammentreffen mit Reimann gegangen. Auch da sei es wieder zu heftiger Aussprache gekommen und sie habe sich in verzweifelter Stimmung befunden. „Die ganzen unterdrückten Seufzer hätte ich hinausschreien mögen.“ Sie habe vergeblich um Rückgabe des Hausschlüssels gebeten und Reimann dann erregt verlassen. Dieser aber sei ihr nachgeeilt und habe sie gestellt: sie sollte mit ihm nach Hause gehen. Sie habe ihn abgewiesen. Da habe er zu weinen angefangen und sich selbst Vorwürfe gemacht, sie habe „sein Geflenne“ mit angehört, es habe sich bei ihr eine Schwäche bemerkbar gemacht, sie fühlte eine Leere im Kopf, so daß sie sich an eine Bank lehnen mußte. „Er setzte sich auf diese Bank und weinte erbärmlich“, und was dann kam, müsse eine Bestimmung des Geschickes gewesen sein. „Ich glaube an eine Art von Kismet, es sollte alles so kommen.“ Sie sei von einem leisen Schwindel erfaßt worden und habe sich an einen Baum gelehnt, er sei hinzugetreten, da habe sie die Waffe aus der Tasche gezogen. Er müsse wohl die Waffe gesehen haben, sei auf sie losgestürzt und habe ihr den Revolver entreißen wollen, indem er gerufen habe: „Um Gottes willen! Dann erschieße ich dich und komme nach!“ Dann habe sie ein Krachen gehört,

wahnsinniges Entsetzen

habe sie gepackt. Ihr erster Gedanke sei der an eine etwaige Verstümmelung ihres Körpers gewesen. Sie könne sich nur denken, daß, als er ihr den Revolver entrissen, sie in der Angst seine Hand gefaßt habe und dann die Schüsse losgegangen seien. In ihrem Kopfe sei ein wirres Durcheinander gewesen, als sie zur Besinnung gekommen.

Nach beendeter Verlesung bemerkte der Vorsitzende: Den Hintergrund der ganzen Sache bildet

die Sinnlichkeit, die Liebe und die Leidenschaft.

Allein die Angeklagte ist nicht wegen dieser Liebe, sondern wegen Mordes angeklagt. Auf verschiedene Vorhaltungen des Vorsitzenden erklärte die Angeklagte, daß sie zu Reimann nur eine Art mütterlicher Liebe gehabt habe. Reimann habe aber bald ihr Benehmen falsch verstanden und mehr von ihr verlangt. Bezüglich einiger zur Verlesung gebrachter Karten mit zärtlichen Liebesworten erklärte die Angeklagte, daß sie den Schein wahren wollte, da sie Angst hatte, Reimann würde ihr, wenn sie sich ablehnend verhielte, im Geschäft Unannehmlichkeiten bereiten. Eine derartige Karte begann mit den Worten: „Mein kleiner, lieber, dummer Junge! Warum habe ich keinen Glückwunsch zu der neuen Wohnung bekommen?“

Der Vorsitzende hielt der Angeklagten vor, daß sie, wenn sie nur den Schein habe wahren wollen, Reimann doch nicht zu einem „Kaffeeklatsch“ in ihrer Wohnung habe einzuladen brauchen, mit dem Hinweise, daß sie allein sei. In einem an Dr. St. gerichteten Brief bedauerte die Angeklagte, daß sie im Augenblick gerade „nichts zum Küssen“ habe. In einem von dem erschossenen Reimann in der Wut geschriebenen Briefe an die Mutter der Angeklagten, der aber nicht zur Absendung gekommen war, gestand er seine intimen Beziehungen zu der Angeklagten ein mit dem Hinweise, daß sie ihn, als sie in Fangschleuse allein auf Sommerwohnung war, aufgefordert habe, über Nacht dort zu bleiben. „Wann ist ein Tor nicht willig, wenn eine Törin will“, hieß es im Anschluß hieran in dem Briefe des Reimann. In einem Taschenbuch Reimanns, das fast ausschließlich Liebesgedichte enthielt, hatte er drei Daten besonders angegeben und unterstrichen, an denen er mit Hedwig Müller zusammengetroffen war. Ein Bild, das von der Angeklagten in nicht mißzuverstehender Weise mit drei Fragezeichen versehen war, veranlaßte den Vorsitzenden zu der Bemerkung: „Na, das geht doch über die ?mütterliche Liebe? etwas hinaus!“ Einige Briefe und Karten, die die Angeklagte an Reimann geschrieben hatte, begannen mit der Überschrift: „Mein kleiner artiger Lord!“ In einer dieser Karten bat sie Reimann, sie am Sonnabend nicht abzuholen, da sie mit einer Freundin in das Deutsche Opernhaus gehen wollte. Tatsächlich war sie an diesem Tage mit Dr. St. zusammengetroffen. Auf den Vorhalt des Vorsitzenden, daß aus allen ihren Karten an Reimann die Sinnlichkeit hervorblicke, erklärte die Angeklagte: „Das war alles nur ironisch gemeint.“

Es wurden alsdann mehrere Angestellte aus dem Geschäft vernommen, in dem die Angeklagte und Reimann tätig waren. Die Zeugen bekundeten, daß ihnen im Verkehr der beiden manches auffällig vorgekommen sei.

Die beiden Schwestern des Erschossenen bekundeten, daß ihr Bruder stets ein guter Junge gewesen und in die Angeklagte riesig verliebt gewesen sei. Er habe geglaubt, daß diese nur ihn wirklich lieb habe, während sie mit Dr. St. nur seines Geldes wegen in Beziehungen stehe.

Dr. St. bekundete: Hedwig Müller sei ein außergewöhnlich liebenswürdiges und ungemein intelligentes Mädchen.

Photograph Ritzer bekundete, daß seine Frau, der das hübsche Gesicht der Angeklagten aufgefallen war, sie eines Tages, als sie vor seinem Schaufenster stand, in den Laden gebeten und gefragt habe, ob sie Modell für Kopfaufnahmen stehen wolle. Die Angeklagte habe zugesagt und sich mehrmals photographieren lassen, wofür er Beträge bis zu 20 Mark an sie gezahlt habe. Als eines Tages Reimann für die Angeklagte klagte Bilder abholte und seine Frau im Scherz sagte, sie solle dem Reimann ein Bild schenken, habe die Angeklagte dies abgelehnt mit dem Bemerken, Reimann könne das Geschenk vielleicht falsch auffassen.

Als darauf

die Mutter der Angeklagten,

eine einfach gekleidete ältere Frau, den Saal betrat, weinte die Angeschuldigte. Die Zeugin bekundete: Sie habe eines Tages Georg Reimann kennengelernt. Ihre Tochter habe dabei gesagt, Reimann sei ein junger Mensch, der keine Stellung habe und dem man deshalb etwas helfen müsse. Einige Zeit darauf habe ihre Tochter während ihrer Abwesenheit in Begleitung des Reimann, der Mädchenkleider getragen habe, ihre Wohnung aufgesucht. Sie habe sich weiter keine Gedanken darüber gemacht, sondern geglaubt, daß es sich um einen Scherz handelte, Auf eine Frage des Vorsitzenden erklärte die Zeugin, daß sich einer ihrer Brüder aus Furcht vor einer Krankheit erschossen habe, ihr eigener Ehemann sei sehr leichtsinnig gewesen und habe sich nächtelang herumgetrieben. Auf weitere Fragen bezüglich des Charakters ihrer Tochter erklärte die Mutter: Sie kleidete sich nett, ohne große Ausgaben dafür aufzuwenden; sie wußte aus nichts etwas zu machen.

R.-A. Dr. Ledermann ließ sich durch die Zeugin bestätigen, daß ihre Tochter mehrfach ein gewisses, auf Gutmütigkeit zurückzuführendes Interesse für Reimann bekundet habe; beispielsweise habe sie der Mutter gesagt, daß Reimann gern Flammerie esse und gebeten, ihm doch etwas Flammerie zu machen. Die Zeugin hatte auch von ihrer Tochter gehört, daß Reimann ihr einmal Briefe habe entreißen wollen. Es sei nicht wahr, daß ihre Tochter sie schlecht behandelt habe.

Vors.: Sie scheinen keinen großen Einfluß auf Ihre Tochter gehabt zu haben, sonst hätten Sie doch später den Verkehr mit dem Dr. St. verhindern sollen.

Zeugin: Das kann man als Mutter nicht.

Vors.: Na, da haben Sie doch wohl nicht die richtige Vorstellung von dem Einflußgebiet einer Mutter. Sie hatten aber Ihrer energischen Tochter gegenüber nicht die genügende Stärke.

Zeugin: Wir haben uns gut verstanden; wir haben beide gearbeitet.

Die Angeklagte blieb auf Vorhalt dabei, daß sie die photographischen Bilder, die Reimann von ihr besaß, ihm nur auf dessen fortgesetztes Verlangen und wiederholte Drohungen überlassen habe.

Eine Schwester des Reimann: erklärte: Ihr Bruder habe mit der Angeklagten im besten Einvernehmen gelebt, das Zerwürfnis sei erst gekommen, als Dr. St. auftrat und von der Stunde an, als der Bruder außer Stellung war. Von da an habe er angefangen, das Fräulein zu verfolgen. Er sei auch nicht bloß einmal, sondern mehreremal in deren Wohnung gewesen.

Den Darstellungen dieser Zeugin widersprach die Angeklagte wiederholt energisch mit Zwischenrufen wie: „Absolut nicht!“, „Es ist gar nicht daran zu denken!“ Sie behauptete, daß Reimann ein Verhältnis mit einem jungen Mädchen gehabt habe, das in einer Erziehungsanstalt gewesen sei.

Medizinalrat Dr. Hoffmann bekundete: Die Obduktion der Leiche des Reimann hat ergeben, daß dieser zwei Schüsse erhielt, an denen er zugrunde gegangen ist. Beide Schüsse befanden sich am Hinterkopf, jeder einzelne war tödlich. Wer einen solchen Schuß bekommen hat, ist nicht imstande, selbst noch einen zweiten Schuß auf sich abzugeben. Die Schüsse sind mit Rücksicht auf die vorgefundenen Brandränder als Nahschüsse aufzufassen. Die Schußkanäle sprechen dafür, daß eine etwas kleinere Person geschossen hat.

Staatsanwaltschaftsrat Dr. Gysae: Der Getötete war 1,67 Meter groß, die Angeklagte ist 1,63 Meter groß.

Angekl. (unterbrechend): O bitte, 1,64 Meter – ohne Absätze!

Medizinalrat Dr. Hoffmann beantwortete noch verschiedene Fragen der anderen medizinischen Sachverständigen und erklärte schließlich: er habe noch keinen nen derartigen Selbstmord gesehen; nach Lage der Schußkanäle hätte der Selbstmörder seinen Körper ungewöhnlich verrenken müssen.

Verteidiger R.-A. Dr. Ledermann: Es kann nachgewiesen werden, daß Reimann eine ganz außerordentliche Elastizität der Gliedmaßen besaß; er konnte die Beine über die eigenen Schultern legen, die Arme verrenken usw.

Auf Vorhalt des Justizrats Friedmann bestätigte Medizinalrat Dr. Hoffmann, daß die Angeklagte auf seinen Antrag auf sechs Wochen zur Untersuchung ihres Geisteszustandes einer öffentlichen Anstalt überwiesen worden sei. Sie wollte gar keine Erinnerung an die Tat haben, behauptete, sie habe zwei Seelen in ihrer Brust und führe ein Doppelleben. Dazu kam eine anscheinend nicht unwesentliche erbliche Belastung und Erscheinungen nervöser und hysterischer Art. Im Untersuchungsgefängnis habe sie einen hysterischen Anfall nicht gehabt.

Staatsanwalt Dr. Gysae: Die Angeklagte hat sich den Verhältnissen in der Haft in sehr freundlicher und friedlicher Weise angepaßt.

Dr. Steinitz hatte die Angeklagte als zwölfjähriges Mädchen am Veitstanz behandelt; es handelte sich aber um keinen schweren Fall. Richtig sei es, daß Veitstanz bei psychopathischen Individuen häufiger vorkomme, als bei normalen. Im vorigen Jahre sei die Angeklagte einmal in seine Sprechstunde gekommen und habe über Nervosität, Schlaflosigkeit und dergleichen geklagt. Sie sei ihm so aufgefallen daß er sie fragte: „Was ist eigentlich mit Ihnen, haben Sie Ärger gehabt oder Kummer, oder haben Sie an der Börse spekuliert?“ Tatsächlich sei sie sehr nervös gewesen.

Am zweiten Verhandlungstage wurde zunächst eine volle Stunde unter Ausschluß der Öffentlichkeit verhandelt. Dem Vernehmen nach wurden die Beziehungen der Angeklagten mit dem Erschossenen und auch mit Dr. Sternberg in eingehender Weise erörtert. Nach Wiederherstellung der Öffentlichkeit äußerte der Vorsitzende: Sie sind, wie wir gestern gehört haben, in einem Zustand großer Erregung und seelischer Depression gewesen. Ihre Mutter hat uns gesagt, Sie seien heiter gewesen, es sei aber eine krampfhafte Heiterkeit gewesen; der Arzt hat gesagt, er habe sich gewundert, daß ein so junges Mädchen so nervös sei. Der Grund dieser seelischen Depression war doch darin zu finden, daß Sie das Doppelspiel mit den beiden Männern spielten. Wie Sie sagen, seien Sie durch Reimann dazu gezwungen worden, jedenfalls sagten Sie sich: dieses Doppelspiel geht nicht mehr. Reimann wurde von der Liebe zu Ihnen furchtbar erregt, er wollte wohl auch die Liebschaft mit Dr. St. zerstören?

Angekl.: Ich kann nicht sagen, welche Gründe Reimann bewogen haben.

Vors.: Sie geben doch selbst zu, daß Reimann Sie wahnsinnig liebte?

Angekl.: Wenn er gewußt hätte, daß ich von Dr. St. reiche Geldunterstützungen erhielt, dann würde er wohl ganz ruhig gewesen sein.

Vors.: Wollen Sie damit sagen, daß er bereit gewesen wäre, Ihr Zuhälter zu werden?

Hier sprang die Schwester des Getöteten auf und rief: Das ist nicht wahr!

R.-A. Dr. Ledermann: Reimann hat der Angeklagten wiederholt gesagt: „Du mußt aus dem Geschäft heraus. Das beste wäre, wenn wir beide kündigten, ich werde dir einen Strich ziehen, auf dem du laufen kannst.

Angekl.: Ich habe ihm oft gesagt, er sollte sich doch eine bessere Stelle suchen, die seinen Fähigkeiten besser entspreche, denn er sei doch ein ganz intelligentes Kerlchen. Er antwortete aber: Und wenn ich täglich die Dielen scheuern sollte, so würde ich doch nicht gehen, solange du hier bleibst.

Vors.: Das beweist doch wieder, daß Reimann zu Ihnen

in toller Liebe entbrannt

war.

Angekl. (verächtlich): Ach Liebe! Das war ja keine Liebe. Es ist ja Unsinn, so etwas als Liebe zu bezeichnen. zeichnen.

Vors.: Georg Reimann war doch von Ihnen als eine Kette betrachtet worden, die Sie durchs Leben schleifen sollten?

Angekl.: Ja!

Vors.: Und wie wollten Sie ihn loswerden? Sie behaupten: durch Selbstmord.

Angekl.: Ich wollte ihn durch gutes, immer wiederholtes, vernünftiges Zureden bewegen, sein unnützes Vorgehen zu unterlassen.

Vors.: Jedenfalls war Ihre Stimmung eine sehr ungleiche. Es war das heraufziehende Gewitter und die drohende Explosion. Wiederholen wir noch einmal die Vorgänge: Am 3. März hatten Sie bis 1/23 Uhr morgens Dr. St. besucht und bei Ihrem Weggehen spielte sich die Szene mit dem Wegnehmen des Hausschlüssels ab. Sie sind dann nach Hause gegangen und haben Reimann einen Brief geschrieben. Welchen Inhalt hatte dieser?

Angekl.: Daß ich es nicht länger aushalten kann, daß ich alles über mich zusammenbrechen lassen würde; ich wolle alle Konsequenzen tragen, ich wolle Schluß machen, sobald er meinen Leuten etwas sagen würde – ob er seinen Leuten etwas sagen würde, war mir ganz egal.

Vors.: In dem Brief steht aber: Du oder ich! Einer von uns beiden ist zuviel auf der Welt.

Angekl.: Ich weiß es nicht mehr, aber ich bestreite es nicht.

Vors.: Von den Leuten, die es anging, ist es so aufgefaßt worden, daß Sie Selbstmord begehen wollten, denn wenn man jemand töten will, zeigt man es ihm nicht vorher an.

Angekl.: Ich wollte ihm nur sagen, daß wir beide zusammen nicht mehr so weiter leben könnten, da ich das nicht mehr aushalte.

Vors.: Dann kam folgender

Brief des erschossenen Reimann:

Kleine Müllern! Wie konntest Du so einen Brief mit derartigem Inhalt schreiben! Das war zuviel, immer Ölins Feuer, wo es schon so furchtbar brennt. Nur alles, weil Du es so haben willst. Hast Du es gewagt, mich so lasterhaft und gemein in Deinem Schreiben hinzustellen, wie ich es in Wirklichkeit nicht war, so will ich es jetzt mit Gewalt versuchen, es zu werden. Denn Du treibst mich ja dazu. Dein Verkehr mit St. ist vielleicht nicht so gemein und ekelhaft wie unserer gewesen ist, was? Nur der eine Unterschied, daß er ein Mann von Bildung, einen Titel und die Hauptsache, wohl Geld hat, und ich in Deinen Augen nur ein Kuli bin. Das ist der eine Unterschied und möchte ich nur wissen, warum Du in erster Zeit so an mir gehangen, mich immer hinbestellt hast und ich mich jedesmal gesträubt hatte, weil ich immer dachte, Du bist keine Dirne. Und dennoch habe ich mich fangen lassen und warum? Weil ich Dir nicht widerstehen konnte! ?Ja, wann ist ein Tor nicht willig, wenn eine Törin will?? Kleine Hulde, ich tu’ Dir weh, das weiß ich, solche Opfer sucht sich nur eine Kokotte, denn diese Erfahrungen hat man leider schon sooft gemacht. Nun befinde ich mich in Deinen Krallen, jetzt kann und will ich nicht mehr raus. Magst Du jetzt nichts mehr von mir wissen, so sollst Du doch ewig an mich denken. ?Die Zeit kann Furchen schreiben ins Gesicht, doch daraus vertreiben kann sie nicht?, ?O Rache, Du kennst sie, ihr Genuß ist Mord und ihre Sättigung das Grausen?. Hole Dir Freitag den Schlüssel; es war ja verrückt, daß ich mich so habe hinreißen lassen, brauche derartige Zeugen nicht. Also, ich erwarte Dich um 1/28 Uhr.“

Vors.: Sie haben ihm darauf eine Antwort geschrieben. Was machten Sie dann?

Angekl.: Ich kann mich auf keine Einteilung besinnen.

Der Vorsitzende ging dann nochmals auf die Entwicklung der Dinge kurz vor dem kritischen Abend ein und hob verschiedene Momente hervor, die darauf schließen lassen konnten, daß die Angeklagte kurz vor der Tat doch nicht so furchtbar erregt und sinnlos gewesen sei, wie sie es darstellte, da sie noch verschiedene Handlungen vorgenommen hatte, die auf ganz ruhige Überlegung hindeuteten. Die Angeklagte trat allen diesen Verdachtsmomenten mit großer Energie, staunenswerter Schlagfertigkeit und oftmals mit stark erhobener Stimme und lebhaften Gestikulationen mit den Händen entgegen.

Vors.: Wie war denn nun das Verhallen des Dr. St., als er von Reimann den ominösen Brief erhielt und Ihnen davon Mitteilung machte?

Angekl.: Dr. St. fragte, ob das wahr ist, was in dem Brief steht.

Vors.: Und was antworteten Sie darauf?

Angekl.: Ich sagte nur: Ja! – erledigt!

Vors.: Sie haben gar kein Wort der Rechtfertigung gesagt?

Angekl.: Ich sagte nur: es ist ein Mann, der mich verfolgt. Was sollte ich sagen? Er hatte doch geschrieben, daß ich mich ihm wie eine Dirne hingegeben habe, ich konnte mich ja doch nicht rechtfertigen, denn es war ja doch wahr! Mir blieb eben nichts übrig, als aus dem Leben zu scheiden.

Vors.: Nun hat Ihnen ja Dr. St. noch sehr gut zugeredet und Ihnen offenbar verziehen; es lag doch also eigentlich für Sie kein Grund zum Selbstmord vor. Hat nicht Dr. St. auch über Ihre Zukunft mit Ihnen gesprochen?

Angekl.: Ja, er wollte mich aus Berlin wegbringen, ich schlug diesen Vorschlag aber ab.

Vors.: Sie konnten Dr. St. also ganz beruhigt verlassen und brauchten nicht aus dem Leben zu scheiden.

Angekl.: Ich hatte mich über die ganze Sache furchtbar geschämt und war darüber so verzweifelt, daß mir einer sonst was hätte bieten können – für mich gab es kein Zurück, der Gedanke des Selbstmordes stand unwandelbar bei mir fest. Ich mußte mir eine Kugel durch den Schädel jagen.

Vors.: Sie haben anderen Leuten aber gar nichts von Ihren Selbstmordgedanken verraten.

Angekl.: Nein! Ich werde doch nicht dritten Personen sagen, daß ich mich totschießen werde. Das wäre doch von mir blödsinnig gewesen.

Der Vorsitzende kam noch einmal darauf zurück, daß Reimann das letzte Rendezvous auf 8 Uhr vorgeschlagen, die Angeklagte aber die Zeit auf 10 Uhr abends verschoben habe, indem sie ihm schrieb: „Ich habe keine Lust, mich noch mit Dir sehen zu lassen und werde Dich heute um 10 Uhr erwarten: Wullenweber-, Ecke Jagowstraße.“ Ferner gelangte ein Brief zur Verlesung, den Reimann an die Mutter der Angeklagten geschrieben hatte.

Auf eine weitere Frage des Vorsitzenden erklärte die Angeklagte: Ich weiß wohl, daß alles gegen mich spricht, ich kann mir doch aber nicht helfen.

Vors.: Es ist jedenfalls auffällig, daß sowohl Sie als auch Reimann am 7. März Briefe geschrieben haben, aus denen absolut nicht auf einen Selbstmord zu schließen war. Sie haben an Dr. St. einen Brief geschrieben, der am Morgen nach der Tat eingetroffen ist. Der Brief beginnt mit den Worten: „Mein lieber, lieber Leo! Ich gehe jetzt den Schlüssel holen und hoffe, die häßliche Sache endlich aus der Welt zu schaffen, wenn ich nicht morgen abend bei Dir bin, dann weißt Du ja meine Adresse.“ Sie äußerten nicht, daß Sie Selbstmordgedanken hatten?

Angekl.: Ich wollte dies dem Dr. St. nicht mitteilen. Der Brief ist in einer Art Galgenhumor geschrieben worden.

Vors.: Reimann hatte Ihnen am 7. März folgendes geschrieben. „Na, Kleines, wie geht’s, hat Dir Dein Doktorchen verziehen? Das wäre doch nett von ihm, oder willst Du Dich noch totschießen? Geh nur wieder hin zu ihm, das verdunkelte Licht an seinem Fenster wird es ja verraten, wie weit Du wieder mit ihm bist. Ich weiß ja doch, Du kannst ihn nicht lassen. Aber was ich bis jetzt getan habe, ist ja eine Kleinigkeit, es kommt noch viel schlimmer.“

Vors.: Was hat Sie eigentlich veranlaßt, nachdem Reimann Sie um 1/28 Uhr nach dem Tiergarten bestellt hatte, ihm schleunigst zu schreiben, er solle erst um 10 Uhr kommen?

Angekl.: Reimann hatte mir zwei Tage vorher auf der Straße einen Auftritt gemacht, ich fürchtete, daß er dies wieder tun werde. Ich weiß, daß auch dies gegen mich spricht. Wenn ich auch vielleicht nicht sehr klug bin, so dumm wäre ich doch nicht gewesen, wenn ich Reimann hätte erschießen wollen, von vornherein alle Verdachtsmomente zu beseitigen.

Vors.: Das sollen Sie auch getan haben. Sie sollen den Brief, in dem Sie Reimann zu dem verhängnisvollen nächtlichen Rendezvous bestellten, zurückgefordert und zerrissen haben?

Angekl. (sehr erregt): Das ist nicht wahr! Es ist gesagt worden, ich hätte den Brief in zwei Teile zerrissen. Das wäre ja furchtbar töricht gewesen. Jeder Straßenkehrer hätte zwei so große Stücke aufgehoben und gelesen. Es gibt doch auch noch eine Kriminalpolizei, die sehr bald den Brief erhalten hätte. Es wäre ja Wahnsinn, wenn ich so etwas getan hätte.

Die Angeklagte erzählte alsdann, wie sie den Revolver gekauft hatte. Sie habe dabei gescherzt und gelacht, um bei dem Verkäufer den Gedanken zu verbergen, daß sie Selbstmordabsichten habe.

Vors.: Haben Sie nicht auch an eine andere Todesart gedacht, junge Mädchen springen doch eher ins Wasser?

Angekl.: Nein.

Staatsanwalt: Es ist jedenfalls auffällig, daß die Angeklagte, die ein Dutzend Patronen gekauft hatte, die Waffe nur mit drei Kugeln geladen hatte.

Angekl.: Ich habe immer, wenn ich nicht wußte, wieviel ich nehmen sollte, die Zahl drei gewählt. Ich dachte, die erste Kugel kann fehlgehen, dann nimmst du die zweite und eventuell die dritte.

Vors.: Fräulein Müller, wenn Sie sich erschießen wollten, dann brauchten Sie doch Reimann nicht dazu hinzubestellen.

Angekl.: Ich weiß selbst nicht, wie das gekommen ist; ich war ganz verwirrt und wollte auch den Schlüssel des Dr. St. haben.

Vors.: Das ist doch aber mehr wie merkwürdig, daß Sie in dieser Situation noch an den Schlüssel gedacht haben?

Angekl.: Ich war damals so verwirrt, daß ich gar nicht wußte, was ich tat.

Die Angeklagte bemerkte ferner auf Befragen des Vorsitzenden: Reimann fing, als er ankam, sofort wieder gemein zu schimpfen an. Es fiel mir auf, daß sehr viele Leute vorübergingen, so daß ich dachte, Reimann habe sich seine Schwestern und andere Bekannte hinbestellt, zumal die Leute mehrmals an uns vorübergingen.

Vors.: Ganz unrecht hatten Sie mit diesem Gedanken nicht, denn tatsächlich hat Reimann zu seiner Schwester geäußert, die späte Stunde des Rendezvous sei ihm auffällig.

Gertrud Reimann bekundete auf Befragen: Ihr Bruder habe beim Weggehen gesagt, es komme ihm komisch vor, daß er so spät von Fräulein Müller bestellt worden sei. Sie habe darauf versetzt: Na, dann gehe doch nicht hin. Der Bruder habe aber geantwortet: Dann denkt vielleicht Fräulein Müller, ich bin feige.

Es erschien darauf als Zeuge Hausdiener Erich Reimann, der Bruder des Erschossenen, ein 16jähriger, körperlich sehr entwickelter, sehr hübscher junger Mann. Er soll dem Erschossenen sehr ähnlich sehen, nur soll der Erschossene noch bedeutend hübscher als dieser gewesen sein. Der Zeuge erzählte in gewählter Sprache auf Befragen des Vorsitzenden: Sein Bruder war wahnsinnig in Fräulein Müller verliebt. Sein Bruder habe ihm geschrieben, er wolle nicht allein zum Rendezvous gehen, er solle mitkommen, er werde ihn am Bahnhof Tiergarten erwarten. Er (Zeuge) sei pünktlich am Bahnhof Tiergarten gewesen und aus Neugierde mitgegangen. Sein Bruder und Fräulein Müller hätten sich zwar nicht begrüßt, aber freundschaftlich die Hand gereicht. Sehr bald sei es zwischen beiden zum Streit und Ringen gekommen. Fräulein Müller wollte seinem Bruder einen Brief entreißen und verlangte außerdem den Hausschlüssel. Er habe etwas entfernt gestanden. Plötzlich habe aber die Angeklagte ihn bemerkt und zu ihm gesagt: Gehe nach Hause, morgen kommt dein Baron!

Verteidiger R.-A. Dr. Ledermann: Wer war denn der Baron?

Zeuge: Das war ein Engländer.

Vert.: Wie alt war der Herr?

Zeuge: Etwa 30 Jahre.

Vert.: Es ist ein besserer Herr?

Zeuge: Ja.

Vert.: Sie sind homosexuell veranlagt?

Vors.: Herr Rechtsanwalt, wir können unmöglich jeden Zeugen fragen, ob er homosexuell veranlagt ist, ich kann diese Frage nicht zulassen.

Vert.: Der Herr war Ihr Freund?

Zeuge: Ja.

Vert.: Ist Ihnen vielleicht bekannt, ob Ihr erschossener Bruder anormal veranlagt war?

Zeuge: Das weiß ich nicht.

Auf weiteres Befragen bekundete der Zeuge: Er habe sich auf die Aufforderung von Fräulein Müller entfernt. Sein Bruder habe niemals Selbstmordgedanken geäußert, er könne auch nicht glauben, daß er sich erschossen habe. Soweit ihm erinnerlich, habe Fräulein Müller den Brief, den sie seinem Bruder weggenommen, sofort zerrissen.

Die Schwestern des Erschossenen bekundeten ebenfalls auf Befragen: Ihr Bruder habe niemals Selbstmordgedanken geäußert.

Der Vorsitzende teilte darauf mit: Der Gerichtshof hat beschlossen, nachmittags

einen Lokaltermin am Tatort

abzuhalten.

Alsdann wurden drei Junge Leute vernommen, die am Abend des 7. März, kurz nach 10 Uhr, den Tiergarten, unweit der Lichtensteinbrücke, in unmittelbarer Nähe des Kanals, passiert haben. Sie bekundeten übereinstimmend: Sie hätten in Abständen von wenigen Sekunden hintereinander drei Schüsse gehört. Nach dem dritten Schuß seien sie eiligst nach der Richtung, woher die Schüsse gekommen waren, geeilt. Dort hätten sie auf dem Rasen die Leiche eines jungen Mannes, die auf dem Bauche lag, gesehen. Aus dem Kopfe rieselte Blut. Dicht neben der Leiche lag ein Revolver. Gegenüber der Leiche, etwa einen Schritt entfernt, stand die Angeklagte, ganz starr vor sich hinsehend, ohne einen Laut von sich zu geben. Als die Zeugen sie fragten, was geschehen sei, fiel sie in Ohnmacht. Sie erholte sich aber in wenigen Sekunden. Bald darauf seien mehrere Leute und auch Polizeibeamte hinzugekommen.

Der Lokaltermin.

Ein prachtvolles Herbstwetter lachte über Berlin. Die Angeklagte war in der Nachmittagssitzung bereits reisefertig gekleidet. Sie erschien auf der Anklagebank mit einem schicken Hut; ihr Gesicht verdeckte ein dünner, durchsichtiger weißer Schleier. Neben ihr hatte eine Gefangenaufseherin Platz genommen. Nachdem die vorerwähnten Zeugen vernommen waren, begaben, sich die Mitglieder des Gerichtshofes, die Geschworenen, der Staatsanwalt, die Verteidiger, die Sachverständigen und eine große Anzahl Zeugen in vorher bestellten Autodroschken nach dem Tatort. Auch die Angeklagte, begleitet von der Gefangenaufseherin, den Gerichtsdienern Hermann Emmerich und Albert Böhme, wurde in einer Autodroschke nach dem Tatort transportiert. Eine ungeheure Menschenmenge hatte sich vor dem Gerichtsgebäude eingefunden. Die Angeklagte bestieg das Auto mit lachendem Gesicht, nicht als ob es sich um eine Fahrt handelte, wo unter Umständen über ihr Lebensschicksal entschieden werden sollte, sondern als ob sie eine Spazierfahrt antreten würde. Die Angeklagte zeigte sehr bald den Ort des verhängnisvollen Rendezvous, das zwischen zwei Bäumen stattgefunden habe. Sie bemerkte: Es sei sehr leicht möglich, daß sie nach dem Ringen mit Reimann, der ihr den Revolver entreißen wollte, zur Erde gestürzt sei; sie wisse sich aber nicht mehr darauf zu erinnern.

Vors.: Das ist ja möglich.

Angekl. (in erregtem Tone): Ich weiß nicht, weshalb man mir das nicht glaubt.

Vors.: Die Möglichkeit ist von niemandem bestritten werden.

Die letzten drei Zeugen wurden darauf vom Vorsitzenden ersucht, sich auf die Stelle zu begeben, von der aus sie die Schüsse gehört haben.

Gerichtsdiener Böhme werde, von Sekunden unterbrochen, mit einer schrillen Pfeife drei Pfiffe abgeben. Alsdann sollten sie in schnellem Trabe, wie sie es an jenem Abend getan, an den Tatort eilen. Dieses Experiment wurde zweimal vorgenommen, die Zeugen kamen aber beide Male etwa 30 Sekunden nach dem letzten Pfiff.

Die Angeklagte wiederholte, daß, als sie den Revolver zog, um sich zu erschießen, Reimann sich auf sie stürzte und ihr mit Gewalt den Revolver zu entreißen suchte. Es kam zu einem gewaltsamen Ringen. Bei dieser Gelegenheit müsse sich entweder die Waffe entladen haben und zwei Schüsse in den Hinterkopf des Reimann gedrungen sein, oder Reimann habe ihr die Waffe entwunden und sich selbst erschossen. Als sie sah, daß Reimann am Boden lag, habe sie die Waffe gegen ihre Schläfe gerichtet, sie habe aber leider nur ihren Hut getroffen; eine vierte Kugel habe sie nicht gehabt. Genaues könne sie hierüber nicht sagen, da ihr das Bewußtsein geschwunden sei.

Zwei Geschworene markierten hierauf ein gewaltsames Ringen. Einer hatte den Revolver, mit dem Reimann seinen Tod erlitten hatte, in der Hand. Der andere machte den Versuch, den Revolver seinem Gegner gewaltsam zu entreißen. Bei dieser Gelegenheit kam wohl die Hand, in der der eine Geschworene den Revolver hatte, in eine Richtung, daß, wenn der Revolver sich entladen hätte, eine Kugel vielleicht in den Hinterkopf hätte dringen können. Das Experiment, das zweimal vorgenommen wurde, war jedoch so zweifelhaft, daß alle Anwesenden die Überzeugung hatten, auf diese Weise könnte Reimann nicht zweimal in den Hinterkopf geschossen worden sein. Es wurde auch von Kennern behauptet, dies könnte höchstens mit einer Browningpistole geschehen sein, nicht aber mit einem so minderwertigen Revolver, der 4,50 Mark gekostet hat. Nach diesem Ringen der Geschworenen erklärte der Vorsitzende den Lokaltermin für beendet.

Am dritten Verhandlungstage überreichte der Verteidiger R.-A. Dr. Ledermann eine Photographie, die den erschossenen Reimann in Frauenkleidern, in Begleitung seines Bruders Erich darstellte. Alsdann schilderte Malergehilfe Ziebell nochmals die ganze Situation, die er am Tatort vorfand. Auf die Frage an die Angeklagte, was denn passiert sei, habe diese geäußert: „Ich habe ihn doch lieb gehabt, und er hat mich auch geliebt!“ Die Angeklagte sei völlig niedergebrochen gewesen und habe zusammenhängend überhaupt nichts erzählen können. Unterwegs habe die Angeklagte nochmals geäußert: „Er hat mich doch auch gern gehabt, ich habe kein Stückchen Kuchen, kein Stückchen Schokolade essen können, ohne ihm ein Stückchen abzugeben.“

Vors.: Haben Sie denn etwas Derartiges gesagt? Das würde doch mit Ihren gestrigen Angaben nicht übereinstimmen.

Angekl.: O doch, das war innere Überzeugung.

Vors.: Das war Ihre Überzeugung, und trotzdem haben Sie Georg Reimann so schlecht gemacht.

Angekl.: Es hat tatsächlich einmal eine Zeit gegeben, in der das, was ich zu dem Zeugen gesagt haben soll, zutraf. Später ist es eben anders geworden.

Vors.: Es ist doch eigentümlich, daß Sie nur Gutes von Reimann erzählt haben, nachdem er, wie Sie doch behauptet haben, kurz vorher Erpressungen gegen Sie begangen hatte.

Angekl.: Reimann war mitunter auch sehr lieb und nett, dann aber wurde er plötzlich gemein zu mir. Reimann ist auch kein schlechter Mensch gewesen, er befand sich nur in schlechter Gesellschaft.

Vors.: Hat die Angeklagte erzählt, daß sie Selbstmordabsichten habe?

Zeuge: Ja, direkt aber nicht. Sie erzählte, daß sie Reimann im Geschäft schlecht gemacht habe, auch habe er an ihren Freund, Dr. St., einen gemeinen Brief geschrieben. Dr. St. stehe aber für sie viel zu hoch, der solle mit diesem Schmutz nichts zu tun haben. Durch diese Dinge sei sie völlig zusammengebrochen.

Vors.: Hat sie Ihnen erzählt, daß ein Ringen zwischen ihr und Reimann stattgefunden hat?

Zeuge: Jawohl. Sie erzählte, daß er ihren Arm zurückgedrängt habe, daß sie beide gerungen hätten und daß sie dann plötzlich einen Schuß krachen hörte.

Auf einige Fragen und Vorhaltungen des Sachverständigen Dr. Toby Cohn erklärte der Zeuge: Die Angeklagte stand seitwärts von der Leiche. Als sie gefragt wurde, was denn geschehen sei, erklärte sie zunächst, indem sie nach dem Herzen faßte: Ich fühle keine Schmerzen. Sie war

in keinem normalen Zustande.

Die Augen waren ganz starr. Er (Zeuge) habe einen solchen Ausdruck noch niemals in den Augen eines Menschen gesehen. Der Zeuge wurde von dem Vorsitzenden darauf aufmerksam gemacht, daß er seine in der Voruntersuchung betonte Überzeugung, daß der dritte Schuß nicht von der Angeklagten abgegeben sei, nach den Ergebnissen des Lokaltermins doch wohl nicht aufrechterhalten könne.

Der Zeuge gab dies zu.

Vors.: Man sieht, daß mitunter ein Lokaltermin sehr nützlich ist.

Justizrat Friedmann: Aber alles, was Sie, abgesehen von dieser Ihrer Überzeugung, ausgesagt haben, halten Sie aufrecht?

Zeuge: Jawohl!

Vors.: Nun, Angeklagte, wie stellen Sie denn nun die Sache dar; meinen Sie, daß Reimann sich selbst erschossen hat oder daß beim Ringen um den Revolver die tödlichen Schüsse losgegangen sind?

Angekl.: Ich mußte annehmen, daß er einen Selbstmord begehen wollte, aber da ich nicht zur Überlegung kam und Angst hatte, faßte ich irgend etwas, und es entstand das Ringen zwischen uns.

Vors.: Was für ein seltsamer Mann muß doch Reimann gewesen sein. Erst machen Sie ihn schlecht und behaupten, daß er sogar die Absicht gehabt habe, sich durch Sie ernähren zu lassen und Zuhälter zu werden, und nun soll er plötzlich ein Held geworden und zu Ihnen gesagt haben: „Wenn du stirbst, komme ich nach!“

Angekl.: Reimann war immer voller Widersprüche.

Vors.: Die Wendung: „ich komme nach“ entspricht eigentlich mehr Ihrer Ausdruckweise.

Angekl.: Er hat immer in überschwenglicher, in Gedichtform gesprochen und Pose gemacht.

Rechtsanwalt Dr. Ledermann: Es kann bewiesen werden, daß Reimann ein ganz phantastischer Mensch war.

Vors.: Es ist doch ein Widerspruch: wenn ein Mensch wie Reimann Selbstmord begehen will, dann schießt er ganz sicher auf sich los.

Angekl.: Ich kann nur sagen: die Waffe entglitt meiner Hand, ich ging der Waffe nach und faßte danach. Was durch meine Bewegung veranlaßt worden ist, kann ich nicht sagen.

Der zweite Zeuge, der mit dem Vorzeugen auf den Knall des Revolvers sofort an den Tatort geeilt war, Werkführer Tuchel, schloß sich dem Vorzeugen an. Er sei der Meinung, daß die Angeklagte den dritten Schuß nicht abgegeben haben könne, da sie drei schon zu nahe herangekommen gewesen seien und es hätten sehen müssen. Die Angeklagte habe auf dem Wege nach der Polizeiwache von den Vorgängen dieselbe Darstellung gegeben, wie sie sie hier vor Gericht und in ihren Memoiren gegeben hat. Sie erzählte, sie habe den Getöteten recht lieb gehabt und alles aufgewendet, um durch ihren Einfluß ihn zum ordentlichen und brauchbaren Menschen zu machen, und nun habe er sie so schlecht gemacht, daß sie sich habe das Leben nehmen wollen. Als der Wachtmeister auf der Polizeiwache sie fragte, warum sie sich denn gewehrt habe, wenn sie sich doch selbst erschießen wollte, erklärte sie, sie habe Angst vor einer Verstümmelung gehabt.

Vors.: Hat sie erzählt, wie sie in der Nacht nach dem Tiergarten gekommen ist?

Zeuge: Sie sagte, sie wollte sich das Leben nehmen und von dem Getöteten den Hausschlüssel des Dr. St. zurückhaben.

Vors.: Hier in der Verhandlung hat die Angeklagte zuerst gesagt, sie wisse nicht, wie sie dahin gekommen sei.

Angekl.: Ich bin in einer begreiflichen Erregung gewesen und weiß nicht jede Einzelheit.

Vors.: Nun, die Leute, die ihr Leben wegwerfen wollen, die denken doch an etwas anderes, als an die Herausgabe eines Hausschlüssels.

Angekl.: Ich war an jenem Tage überhaupt nicht fähig, zu denken. Ich folgte ganz mechanisch dem, was mir in den Kopf kam, und da Reimann mich zu der Begegnung aufgefordert hatte, bin ich hingegangen.

Vors.: So viel Gedanken hatten Sie aber doch, daß Sie die Zeit des Stelldicheins von 8 Uhr auf 10 Uhr verschoben.

Angekl.: Das habe ich getan, weil ich mich schämte, den Leuten ein Schauspiel durch meinen Selbstmord zu geben. Das wollte ich nicht, und deshalb habe ich eine Zeit gewählt, wo es menschenleer im Tiergarten ist.

Verteidiger Justizrat Friedmann: Hat denn die Angeklagte den Reimann bei ihrer dem Zeugen gemachten Erzählung schlecht gemacht?

Zeuge: Nein, sie erklärte nur wiederholt, daß es ihr sehr leid tue.

Rechtsanwalt Dr. Ledermann: Hat der Zeuge damals den Eindruck gehabt, daß alles Lüge sei, was sie erzählte. oder ob alles, was sie unmittelbar nach der schrecklichen Katastrophe sagte, wahr sei?

Zeuge: Ich hatte den Eindruck, daß alles wahr sei.

Bureaudiener Kistenberger bekundete im allgemeinen dasselbe wie die Vorzeugen. Auch zu diesem Zeugen hatte die Angeklagte geäußert: „Wir haben uns sehr lieb gehabt!“ Als sie die Waffe hervorholte, habe Reimann sie ihr entrissen. Sie habe Reimann dann umarmt und ihm den Arm nach hinten gedrückt.

Dr. St. bekundete noch, daß er

am Morgen nach der Tat

telephonisch nach der Wohnung der Mutter der Angeklagten bestellt worden sei. Da er erst aus den Reden nicht klug werden konnte, habe er ihr gesagt: Du bist wohl wahnsinnig geworden, so etwas zu machen. Die Angeklagte habe sofort auf das entschiedenste bestritten, etwas Unrechtes getan zu haben und habe auch sogleich erklärt, Reimann habe Selbstmord begangen. Die Angeklagte habe sich dann im Bett herumgeworfen und immer gerufen: „Nur nicht reden, nur nicht fragen!“

Um zu erfahren, was aus der ganzen Affäre werden würde, sei er (Zeuge) zu seinem Freunde, dem jetzigen Verteidiger Dr. Ledermann, gegangen, der bei der Polizei Erkundigungen anstellte. Es habe sich ergeben, ben, daß von der Polizei Selbstmord angenommen wurde und daß die Leiche zur Beerdigung bereits freigegeben sei. Beide seien dann zu der Angeklagten gefahren, wo es bald sehr vergnügt und lustig zugegangen sei. Auch die Angeklagte habe dabei wieder gescherzt und gelacht. Die Angeklagte habe auf seine Frage, weshalb sie, wenn sie Selbstmord verüben wollte, überhaupt noch mit Reimann zusammengetroffen sei, geantwortet, sie habe erst den Schlüssel holen müssen.

Staatsanwaltschaftsrat Dr. Gysae: Die Angeklagte ist wahrscheinlich deshalb so vergnügt gewesen, weil sie von Rechtsanwalt Dr. Ledermann erfahren hatte, daß die Polizei Selbstmord annehme und die Leiche bereits zur Beerdigung freigegeben habe.

Frau Müller,

die Mutter der Angeklagten,

bekundete auf verschiedene Fragen: Die Beziehungen meiner Tochter zu Reimann sind mir immer ganz unerklärlich gewesen. Meine Tochter hatte, wie sie stets sagte, Mitleid mit diesem Jungen; daß in letzter Zeit der Grund ihres Zusammenhaltens mit Reimann darin lag, daß sie ihn durch Freundlichkeit abhalten wollte, seine Drohungen auszuführen, wußte ich nicht. Ich wußte auch nichts davon, daß, wie Reimann behauptete, Intimitäten mit meiner Tochter vorgekommen seien, und daß sie ihn in seiner Wohnung besucht haben sollte. Reimann hatte offenbar einen schlechten Einfluß auf sie, sie war sonst immer gut und lieb zu mir, seit der Bekanntschaft mit Reimann aber war ihr Wesen ganz verändert. Sie sprach auch mehrmals von der Absicht, Selbstmord zu begehen, worauf ich ihr sagte: „Aber Hede, wir haben doch schon traurigere Zeiten durchgemacht, jetzt sind wir aus dem gröbsten heraus und du hast eine gute Stellung!“ Die Zeugin fuhr alsdann fort: Selbst wenn ich ausgelacht werden sollte, muß ich doch sagen: Nach meiner Meinung hat der Junge sie suggeriert. Die Tochter hat mir oft erzählt: Wenn Reimann nicht auf der Tour ist, um Gänge zu besorgen, hat er manchmal eine halbe Stunde lang vor ihr auf den Knien geruht und sie unentwegt angestarrt. Ich bin deshalb der festen. Überzeugung, daß er sie suggeriert hat, denn es ist von Tag zu Tag schlimmer mit ihr geworden und ich hatte keine Gewalt mehr über sie. So hatte sie einmal erzählt: Reimann habe einen Brief gesehen, den Dr. St. an sie geschrieben hatte. Diesen wollte er haben; sie habe den Brief rasch in die Bluse gesteckt, er habe aber im Befehlston gesagt, daß er den Brief haben müsse, da habe sie ihn auch herausgegeben. Zu einem anderen hätte sie sicher gesagt: Sie sind wohl verrückt! Der Junge hatte zweifellos eine große Macht über sie; sie sagte oft auf meine erstaunte Frage, warum sie dies oder jenes tue: „Ich muß!“ Als sie am Abend der Tat gegen 1/210 Uhr wegging, sagte sie, sie gehe nach dem Tiergarten, um eine Aussprache mit Reimann zu halten; sie sagte, sie habe das Zusammentreffen auf 10 Uhr vertagt, weil sie in der Tiergartengegend recht bekannt sei und nicht wollte, daß sie mit Reimann gesehen würde. Als sie um 12 Uhr noch nicht wieder zu Hause war, wurde ich ängstlich, machte mich auf nach dem Tiergarten. Ich irrte dort wie im Traum umher und rief nach ihr, jedoch ohne Erfolg. Dann eilte ich wieder nach Hause und habe mir gleich gesagt: irgend etwas muß passiert sein. Zu Hause angelangt, sah ich ein Papier mit einem schwarzen Fleck. Da schoß mir der Gedanke durch den Kopf: „Herrgott, sie hat einen Revolver!“ Dann bin ich wieder nach dem Tiergarten gegangen, ging ausrufend durch die Gänge, dann ging ich wieder nach Hause, weil man mich belästigte. Gegen 1/22 Uhr wurde meine Tochter mir dann nach Hause gebracht. Ich war ganz entsetzt und fragte sie: „Hede, was hast du gemacht?“ Da stand sie wie entgeistigt und sagte mir leise:

„Georg ist tot!“

In demselben Augenblick fiel sie zusammen. Ich brachte sie in das Bett – es war eine furchtbare Nacht! Dann phantasierte sie allerlei Zeug zusammen und stöhnte mehrmals auf: „Das Feuer!“, „Es knallt ja so!“, „Laß doch die Uhr stillstehen, sie schlägt ja immerzu“, „Ich werde noch verrückt und komme ins Irrenhaus!“ renhaus!“

Ich mußte mich zu ihr ins Bett legen und die Lampe brennen lassen. Sie hat auch im Halbschlummer wiederholt: „Georg! Georg!“ gerufen. Am nächsten Tage hat sie mir gesagt: sie habe den Revolver, mit dem sie Selbstmord verüben wollte, in dem Muff gehabt, er habe ihn wahrgenommen, ihn ihr entrissen und auf sie geschossen. Dann habe sie noch einen Knall gehört, und habe auf der Leiche gelegen.

Kriminalschutzmann Wendt: Die Sache ist zuerst als Selbstmordsache bearbeitet worden. Als der Gedanke an Selbstmord schwand, sei er beauftragt worden, die Angeklagte nach dem Polizeipräsidium zu holen. Er fand sie im Bette liegend vor. Sie erklärte, sie sei zu schwach, um nach dem Präsidium zu kommen. Bei der daran sich anschließenden Befragung der Angeklagten habe sie ihre Mutter aus dem Zimmer gewiesen und gesagt: Sie würde nicht aussagen, wenn die Mutter im Zimmer bliebe. Alsdann habe sie geäußert: Reimann habe im kritischen Augenblick ihr den Revolver entrissen und auf sie geschossen, indem er ausrief: „Erst du, dann ich!“ Dann habe er auch einen Schuß auf sie abgegeben, der den Hut, den sie trug, durchlöchert habe. Tatsächlich zeigte der Hut auch ein durch einen Schuß hervorgerufenes Loch.

Vors.: Welchen Eindruck machte denn die Angeklagte bei dem Verhör?

Zeuge: Sie machte einen unheimlich ruhigen Eindruck, so daß ich gar nicht wußte, was ich dazu sagen sollte. Sie machte ihre Äußerungen in lächelndem Tone und verschiedene Bemerkungen, die zu der Sache schlecht paßten. Als ich ihr andeutete, daß sie eventuell festgenommen werden würde, antwortete sie: „Machen Sie mit mir, was Sie wollen!“

Machen Sie Hackepeter aus mir,

vergessen Sie aber nicht

das Gewürz dazu!

Mir ist alles gleich; wenn ich nachher daliege mit dem Kopf zwischen den Beinen, dann ist ja doch alles aus!

Vors.: Also Redensarten, wie „Recht muß doch Recht bleiben“, oder „ich werde fälschlich verdächtigt“ und dergleichen machte sie nicht?

Zeuge: Nein. Das Verhältnis der Angeklagten zu ihrer Mutter muß sehr komisch gewesen sein, denn sie gab der Mutter bezüglich der Kleider, die sie ihr reichen sollte, in einem Ton Anweisungen, die sich kein Dienstbote gefallen lassen würde. Es fehlte bloß noch, daß sie die Sachen der Mutter an den Kopf warf. Als Medizinalrat Dr. Hoffmann die Obduktion vorgenommen hatte, hat er erklärt, daß Selbstmord ausgeschlossen sei.

Justizrat Friedmann hielt dem Zeugen verschiedene Momente vor, die darauf hindeuteten, daß er stark animos gegen die Angeklagte sei. Unter anderem rem habe der Zeuge auf dem Korridor zu einer anderen Zeugin gesagt: Die gute Situation, in der sich die Angeklagte vor Gericht zu befinden scheine, werde sofort ein Ende nehmen, wenn er vernommen werde.

Der Zeuge erklärte hierauf, daß er nur die Wahrheit gesagt habe.

Krankenpflegerin Kreutz bekundete: Die Angeklagte erzählte mir eines Tages, sie habe geschossen, der Mann sei sofort auf das Gesicht gefallen. „Fräulein Müller erzählte mir dann, sie habe zwei ?Bräutigams? gehabt, einen konnte sie nicht leiden, sie habe deshalb darauf gesonnen, einen loszuwerden.“

Vors.: Es ist doch auffällig, daß Ihnen die Angeklagte so ohne weiteres etwas Derartiges erzählte. Wie kamen Sie denn überhaupt zu einem derartigen Gespräch?

Zeugin: Die Angeklagte erzählte es einer anderen Patientin und da hörte ich zu.

Vors.: Angeklagte, erinnern Sie sich eines solchen Gesprächs?

Angekl.: Wie ich zur Untersuchung meines Geisteszustandes nach Dalldorf kam, wurde ich in einem unfreundlichen, dunklen Raum einquartiert, zwischen wirklich Geisteskranken; es war für mich ein entsetzlicher Anblick und ich habe schreckliche Dinge erlebt. Bei jenem Gespräch mit einer Patientin, die mir völlig klar vorkam, habe ich dieser erzählt, daß „man behaupte“, haupte“, ich habe Reimann erschossen, die Verdachtsgründe gegen mich seien sehr schwer, da die Schüsse sehr unglücklich sitzen.

Vors.: (zur Zeugin): Sie hören, die Angeklagte behauptet, sie habe nur gesagt, man werfe ihr das vor, sie solle das so und so gemacht haben.

Zeugin: Nein, sie hat ganz bestimmt gesagt, sie selbst hat geschossen!

Justizrat Leonhard Friedmann: Keine Polizei, kein Untersuchungsrichter, kein Staatsanwalt hat es fertiggebracht, die Angeklagte zu einem Geständnis zu veranlassen, und da soll die Angeklagte der Wärterin gegenüber ein Geständnis abgelegt haben? Das wäre doch etwas sehr auffällig.

Geheimer Medizinalrat Dr. Kortum bestätigte, daß ihm die Zeugin Kreutz sofort nach dem Gespräch jene Mitteilungen gemacht habe. Die Zeugin sei in ihrem Beruf zuverlässig und fleißig, allenfalls sei bei ihr eine leichte Beschränktheit feststellbar.

Auf eine Frage eines Geschworenen, ob sie gewußt habe, was der Angeklagten zur Last gelegt werde, erklärte die Zeugin Kreutz, daß ihr gesagt worden sei: „Das ist die, die einen erschossen hat!“

Zeuge Kaufmann Biede, der bei der Mutter der Angeklagten wohnte, bekundete: Das Verhältnis der Tochter zur Mutter war ein gutes. Die Angeklagte habe ihm mehrfach erzählt, daß Reimann sie mit Liebesanträgen besanträgen verfolge. Er riet ihr, sich doch zur Wehr zu setzen; sie meinte aber, sie könne die Sache nur mit Güte zum Austrag bringen, denn er wolle sie bei Herrn Dr. St. und in ihrem Geschäft unmöglich machen.

Staatsanwaltschaftsrat Dr. Gysae: Sie hat doch wohl nicht Dr. St. gesagt, sondern den vollen Namen genannt?

Vors.: Sie haben sich wohl hier nur so ausdrücken wollen, weil Sie diese Bezeichnung in den Zeitungsberichten gesehen haben. Für die Öffentlichkeit hat ja dieser Name auch wirklich kein Interesse, und deshalb begnügen sich die Zeitungen mit Recht nur mit dem Anfangsbuchstaben. (Zur Angeklagten): Sie haben immer gesagt, Sie hätten sich Reimann hingegeben, um ihm einen Schweigesold zu geben. Was hätte denn Reimann tun können, wenn Sie ihm diesen Sold nicht bewilligt hätten?

Angekl.: Er hätte gewiß im Geschäft Radau gemacht und ich würde meine Stellung losgeworden sein.

Vors.: Dann hätten Sie sich eine andere Stellung gesucht, so fürstlich war doch Ihre Stelle auch nicht. Sie hatten doch Treupflichten gegen Dr. St., und ein Mädchen, das behauptet, daß es so sehr auf Ehre hält, wie Sie, wird sich dann doch nicht einem anderen Manne hingeben!

Angekl.: Ich habe überhaupt nicht gewußt, was ich damals alles tat.

Zeuge Biede bekundete noch auf Befragen, daß er wiederholt Selbstmordgedanken von der Angeklagten gehört habe, weil Reimann sie so quäle und peinige und sie fortgesetzt verfolge. Die Frage des Vorsitzenden, ob er gesehen, daß Reimann einmal in Frauenkleidern bei der Angeklagten war, verneinte der Zeuge.

Angekl.: Reimann begegnete mir eines Tages auf der Straße in Frauenkleidern und forderte mich auf, mit ihm in ein Kino zu gehen. Ich erklärte ihm, daß ich in solchem Aufzuge nicht mit ihm gehe, denn er sehe ja aus wie eine Dirne. Er erklärte aber: „Ich gehe nicht von deiner Seite und wenn du mich totschlägst!“ Um kein Aufsehen zu erregen, sagte ich: er solle schleunigst von der Straße weg und in meine Wohnung kommen. Da Biede in seinem Zimmer war, öffnete ich seine Tür, bat ihn, mir Hilfe zu leisten und sich Reimann anzusehen, der nun schon in Frauenkleidern ankomme.

Der Zeuge erklärte, daß er sich darauf nicht besinnen könne, daß es aber möglich sei. Als die Angeklagte ihm Vorhaltungen machte, wurde der Zeuge unsicher. Als er vereidet werden sollte, bat er um Bedenkzeit, da er zu aufgeregt sei. Nach einiger Zeit erklärte der Zeuge: Er besinne sich darauf, daß die Angeklagte geklagte ihm einmal zugerufen habe, er solle sich Reimann in Frauenkleidern ansehen.

Vors.: Also sie hat nicht etwa ihrer Empörung Ausdruck gegeben und Ihre Hilfe erbeten, sondern nur ganz obenhin gesagt, Sie sollten sich Reimann mal in Frauenkleidern ansehen.

Zeuge: Jawohl.

Über die Photographie, die den Georg Reimann in Frauenkleidern und neben ihm seinen Bruder Erich zeigte, wurden die Mitglieder der Familie Reimann vernommen. Sie erklärten, daß es sich um einen Silvesterscherz gehandelt habe, bei dem Georg Reimann ein Kleid seiner Schwester angezogen habe. Der Photograph habe ihm – wie die Photographie zeige – auch noch eine große Sektflasche in den Arm gegeben.

Vorsteher des Leichenschauhauses, Dr. med. Röske, bekundete: Er habe den Kopf des Getöteten eingehend untersucht. Ein und derselbe Mensch könnte sich diese beiden Schüsse nur dann selbst beigebracht haben, wenn er den Revolver zuerst in die eine und dann in die andere Hand genommen hätte. Jeder Schuß muß an sich schon tödlich gewesen sein. Der Schuß in den Hut der Angeklagten muß in einer Entfernung von 12 Zentimetern abgegeben worden sein. An der Hand der Leiche haben sich Spuren von Pulverschleim vorgefunden.

Hierauf gab

der Schießsachverständige, Major a.D. Berger,

ein längeres Gutachten ab auf Grund der eingehenden Schießversuche, die er mit dem Revolver angestellt hatte. Der Sachverständige erörterte die verschiedenen geltend gemachten Möglichkeiten, die bei der Schießaffäre in Frage kommen konnten. Der Revolver sei ein mehr als minderwertiges Fabrikat, dessen Treffsicherheit sehr zweifelhaft sei. Die Beschaffenheit des Revolvers bewirke, daß eine große Menge von Pulvergasen nach hinten entweiche und ein Teil der Gase als Verblakung von der Hand des Schützen aufgefangen werde. Unter Umständen werde die ganze Hand von Pulvergasen verblakt werden, doch sei es nicht ausgeschlossen, daß die Hand auch rein bleibe. Nach dem Befund seien die Schüsse auf Reimann in den Hinterkopf aus einer Entfernung von einem bis allerhöchstens fünf Zentimetern abgegeben. Die Schüsse müssen abgegeben sein aus einer Deckung, doch sei es nicht wahrscheinlich, daß vielleicht die Schüsse aus dem Muff der Angeklagten herausgedrungen sein könnten, denn dann würde der Muff unbedingt Feuer gefangen haben. Der Umstand, daß das Aufblitzen von den Hinzueilenden nicht wahrgenommen worden sei, zeuge dafür, daß die Schußrichtung den Zeugen entgegengesetzt gewesen sei. Daß der erste tödliche Schuß bei einer Umarmung abgegeben worden, sei so gut wie ausgeschlossen. Nach den weiteren schußtechnischen Ausführungen des Sachverständigen, an die sich zahlreiche Fragen des Vorsitzenden, des Staatsanwaltschaftsrats Dr. Gysae und der Verteidiger schlossen, und die durch Vorführung der verschiedenen Stellungen des Revolvers bei den in Frage kommenden Möglichkeiten illustriert wurden, bemerkte der Sachverständige: Es sei möglich, aber nicht wahrscheinlich, daß Reimann geschossen habe. Es sei ausgeschlossen, daß sich Reimann die beiden Schüsse mit derselben Hand beibringen konnte, ganz abgesehen davon, daß nach medizinischem Gutachten jeder dieser Schüsse tödlich war. Dagegen spreche auch die Tatsache, daß

zwei entgegengesetzte Schußkanäle

vorhanden seien. Die Frage, ob die Schüsse bei einem Ringen losgegangen sein könnten, bildete den Gegenstand zahlreicher Versuche, ebenso die Frage, ob der Schuß durch den Hut der Angeklagten von ihrer Hand oder von der Hand Reimanns abgegeben worden sei. Der Sachverständige hielt die letzte Annahme nicht für wahrscheinlich, aber auch nicht für unmöglich. Der Sachverständige erläuterte seine Ansichten durch die Darstellung eines Ringens, zu dem sich der Zeuge Zibell wiederholt bereit erklärte.

Der Vorsitzende gab schließlich ein Resümee der Darstellungen des Sachverständigen, das dahin ging: Die Möglichkeit, daß die Angeklagte den Reimann erschossen hat, ist gegeben, die zweite Möglichkeit, daß die Angeklagte während eines Ringens Reimann erschossen hat, ist auch gegeben, allerdings mit weit geringerer Wahrscheinlichkeit.

Wenn man alle nur irgendwie zweifelhaften Punkte ausschaltet, so muß man, da beide Schüsse von hinten in den Kopf gedrungen sind, annehmen, daß ein glatter Meuchelmord vorliegt.

Justizrat Leonhard Friedmann wies darauf hin, daß es eigentlich selbstverständlich sei, daß ein Meuchelmörder von hinten schießen werde. Die Anklage behaupte ja, daß Mord vorliege, und wenn man alles, was zugunsten der Angeklagten spreche, ausschalten wolle, so bleibe natürlich ein Meuchelmord übrig.

Der Sachverständige erklärte auf eine große Anzahl von Fragen: Wenn man annimmt, daß die Angeklagte Reimann getötet habe, dann stehe der objektive Befund dieser Annahme nicht entgegen. Es folgten

die Gutachten der medizinischen Sachverständigen.

Nervenarzt Dr. Toby Cohn: Die Angeklagte ist eine erblich stark belastete Person. Ihr Vater ist der Geisteskrankheit verdächtig gewesen, ein Halbbruder ist sehr nervös, ein anderer Verwandter hat sich erschossen, die Mutter hat einen Selbstmordversuch gemacht. Es sind bei der Angeklagten eine ganze Reihe von Krankheitszeichen beobachtet worden: Zwangsvorstellungen, stellungen, Zitteranfälle, ohnmachtsähnliche Anfälle, gesundheitliche Erscheinungen, die man den hysterischen Globus, die hysterische Kugel nennt. Die Angeklagte hat gezeigt, daß sie einen nicht alltäglichen, außergewöhnlichen Charakter hat; sie ist sehr intelligent, vielleicht scheint sie intelligenter, als sie wirklich ist; sie liebt die Pose unter Benutzung von sprachlichen Klischees, die sie vielleicht aus der Literatur, und vielleicht nicht aus der besten Literatur entlehnt hat. Ihr Charakterbild ist schwankend. Ihrem Krankheitsbilde entspricht aber die eigentümliche Gelassenheit, Gleichgültigkeit und unverständliche Ruhe in Momenten, die zu solcher keinerlei Veranlassung gegeben haben. Der objektive Befund ist eine Störung der Reflexe, Störung des Hautgefühls, außerdem ist die eine Körperhälfte weniger empfindlich wie die andere. Wenn man alles zusammenfaßt, so handelt es sich hier um das Krankheitsbild einer schweren Hysterie. Die Hysterie ist nicht, wie vielleicht von Laien geglaubt wird, eine eingebildete Krankheit; es gibt allerdings Hysterische, die sich eine Krankheit einbilden. Das ist aber gerade ein Symptom der Hysterie. Diese sogenannte Neuropsychose weist kaleidoskopartig wechselnde Symptome auf, daran wieder ist die Flüchtigkeit der Symptome, das plötzliche Kommen und Gehen und die Abhängigkeit der Symptome von seelischen Einflüssen charakteristisch. Einige dieser Krankheitstypen werden von der Angeklagten auch in ganz charakteristischer Weise geschildert. Man müsse sich nun die Frage vorlegen, ob zwischen einer so schwer hysterischen Person und der Tat Zusammenhänge bestehen. Nach dem ganzen Ergebnis der Verhandlung und des körperlichen Befundes liegt eine hohe Wahrscheinlichkeit vor, daß die Angeklagte in einem hysterischen Dämmerzustand gehandelt hat. Ein derartiger Zustand ist etwa mit den Phantasien eines Fiebernden oder den Handlungen eines Nachtwandlers zu vergleichen. In einem derartigen Zustand ist das Bewußtsein nicht ausgeschaltet, sondern nur eingeengt. Die Person nimmt nur Bruchstücke des Außenlebens in sich auf; es handelt sich gewissermaßen um ein gefälschtes Bild des Außenlebens, da entweder Halluzinationen oder Illusionen hier eine Rolle spielen. Nach den Schilderungen der drei Zeugen, die die Angeklagte 30 Sekunden nach der Tat gesehen hatten, hat sich die Angeklagte in einem Zustand befunden, der als typischer Dämmerzustand bezeichnet werden muß. Aus den Bekundungen des Dr. St. und des Rechtsanwalts Maretzky ist erkennbar, daß sie schon am Tage vor der Tat sich in einem Zustande befunden hat, der als „niedergebrochen“ bezeichnet wurde und sich dann wieder durch sinnloses Lachen und krampfhafte Lustigkeit bemerkbar machte. Das Abgeben eines Schusses kann bei einer so schwer hysterischen sterischen Person einen Dämmerzustand zweifellos hervorrufen. Die Angeklagte hat also während des Schießens schon in einem Dämmerzustand sich befunden und damit in einem Zustande der Geistestätigkeit, der die freie Willensbestimmung ausschloß.

Vors.: Vielleicht erweitern Sie Ihre Ausführungen noch nach der Richtung, ob ein normaler Mensch in einer solchen Situation, wie die Angeklagte, sich anders benehmen würde, oder ob nicht auch ein normaler Mensch starr vor Entsetzen über das Geschehene dastehen würde.

Sachverständiger Dr. Cohn: Ich habe einen normalen Menschen in solcher Situation noch nicht gesehen. Wenn eine Person in solchem Zustande sich befindet, wie die ersten drei hinzueilenden Zeugen die Angeklagte gefunden haben, würde ich sagen: Es handelt sich nicht um einen normalen Menschen, sondern um Dämmerzustand.

Vors.: Aber es kann doch, wie wir in einem anderen Prozesse gehört haben, eine solche Tat auch aus normalen Motiven heraus erfolgen, und wenn sich der Betreffende an Einzelheiten noch erinnert, ist keine Geistesstörung anzunehmen.

Staatsanwaltschaftsrat Dr. Gysae: Schließt ein solcher Dämmerzustand nicht aus, daß die betreffende Person nach kurzer Zeit so viele Einzelheiten über die Vorfälle erzählt, wie es die Angeklagte den drei Zeugen gen gegenüber getan hat, die sie zuerst nach der Tat befragt haben?

Sachverst.: Nein, das schließt sich nicht aus.

Staatsanwaltschaftsrat Dr. Gysae: Ist die Angeklagte in ihrer schweren Hysterie gemeingefährlich? Sie könnte doch jeden Augenblick solche Tat wiederholen. Ich denke da an eine von dem Sachverständigen veröffentlichte Schrift: „Schutz der Allgemeinheit gegen Geisteskranke“.

Sachverst.: Bei solchen Hysterischen liegt es ähnlich wie bei Trunksüchtigen und Epileptischen, die an sich auch nicht für gemeingefährlich gelten können.

Justizrat Friedmann: Hält es der Sachverständige nicht für viel wahrscheinlicher, daß ein Dämmerzustand vorlag und nicht bloß eine Aufgeregtheit der Angeklagten?

Sachverst.: Jawohl.

Sachverständiger Geh. Medizinalrat Dr. Kortum,

dirigierender Arzt der Anstalt Dalldorf: Er habe die Angeklagte vom 26. Juli bis 7. August in Dalldorf zur Beobachtung gehabt. Auf Grund dieser Beobachtung und der Ergebnisse dieser Verhandlung sei er zu dem Schluß gekommen, daß die Angeklagte eine hysterische Person sei, die zurzeit nicht als geisteskrank und unzurechnungsfähig anzusehen sei. Er stimme aber mit Dr. Cohn darin überein, daß sie zu der Zeit, als die beiden letzten Schüsse fielen, sich in einem Zustande stande befand, der die freie Willensbestimmung ausschloß. Er gebe die bedingte Möglichkeit zu, daß sich die Angeklagte beim Abgeben der letzten beiden Schüsse in einem Dämmerzustande befunden habe – vorausgesetzt, daß ihre Darstellung der Vorgänge wahr sei; er halte sie für wahr. Diese seine Erwägung sei durch die mit der medizinischen Erfahrung übereinstimmende Tatsache unterstützt, daß sie, als sie aus dem Dämmerzustande beim Erscheinen der drei ersten Zeugen erwachte, an den Augenblick anknüpfte, wo das Bewußtsein zu dämmern anfing, denn das erste, was sie sagte, war: Er hat mich geschossen! Ein normaler Mensch würde in solcher Situation nicht geistesabwesend dastehen und zunächst nichts antworten, sondern man würde Entsetzen und Verzweiflung in seinen Mienen lesen. Auch die Tatsache, daß sie am nächsten Tage den Zeugen Tuchel, der am Abend vorher nach dem Vorgang lange Zeit mit ihr gesprochen, zunächst nicht wiedererkannte, spreche für den Dämmerzustand. Sollte die Voraussetzung der Wahrheit ihrer Angaben ausgeschlossen werden, so würde er (Sachverständiger) unter diesen Umständen keinen Ausschluß der freien Willensbestimmung, aber wohl eine verminderte Zurechnungsfähigkeit annehmen müssen.

Auf die Frage des Staatsanwaltschaftsrats Dr. Gysae, ob die Angeklagte als gemeingefährlich geisteskrank steskrank anzusehen sei, erklärte der Sachverständige, daß er auf die Frage zurzeit eine konditionelle Antwort nicht geben könne.

Am vierten Verhandlungstage äußerte sich nochmals der Schießsachverständige, Major a.D. Berger: Er habe gestern sagen wollen, daß, wenn ein Mord angenommen werden sollte, es unwahrscheinlich sei, daß hier ein Mörder die Waffe nach dem Kopf des Getöteten gerichtet hat. Der Sachverständige begründete dies mit der Entfernung, in der die Waffe gehalten worden sein muß, denn der Mörder hätte sich sagen müssen, daß bei einer solchen Entfernung die kleinste Seitwärtsbewegung des Opfers ein Verfehlen des Zieles zur Folge haben würde.

Vors.: Jeder Fall liegt doch anders, sie spielen sich doch nicht nach einem bestimmten System ab. Es können solche Taten nicht bloß von einem kühl berechnenden Meuchelmörder, sondern auch im Affekt begangen werden, es kann doch Totschlag vorliegen.

Sachverst.: Auf Totschlag hat sich mein Gutachten nicht bezogen. Im übrigen bleibe ich bei meiner Überzeugung, daß der erste Schuß.... Vors.: (unterbrechend): Herr Major, wenn Sie nicht neue Momente vorführen können, würde ich weitere Ausführungen nicht zulassen, denn ich müßte dann jedem der anderen Sachverständigen zur Wiederholung ihrer Aussagen das Wort geben müssen.

Sachverständiger: Neue Momente will ich nicht beibringen, ich will nur betonen, daß ich bei meiner gestrigen Ausführung bleibe.

Justizrat Friedmann: Der Herr Vorsitzende hat wiederholt betont, daß alles getan werden solle, um mögliste Aufklärung zu schaffen, da bitte ich doch, dem Sachverständigen das Wort zu gestatten.

Vors.: Selbstverständlich ist die Aufklärung nach allen Richtungen hin wünschenswert, doch kann ich Wiederholungen nicht zulassen.

Justizrat Friedmann: Dann erlaube ich mir die Frage an den Sachverständigen, ob er bei seiner Meinung verbleibt, daß der zweite und dritte Schuß in den Kopf des Getöteten gegangen ist und der erste Schuß den Hut der Angeklagten getroffen hat?

Vors.: Ich muß dabei bleiben, daß ich dem Sachverständigen nur zur etwaigen Vorbringung neuer Momente das Wort geben kann.

Justizrat Friedmann: Nach der Prozeßordnung sollen nur solche Fragen abgelehnt werden, die als ungeeignet erachtet werden.

Vors.: Ungeeignet sind solche Fragen, die nur Wiederholungen zur Folge haben können.

Justizrat Friedmann bat um Gerichtsbeschluß, nahm den Antrag aber wieder zurück und fügte hinzu: Die Geschworenen würden ja wissen, woran sie sind.

Ein Geschworener wünsche zu wissen, wo eigentlich lich der Hut des getöteten Reimann geblieben ist, den er doch bei dem Zusammentreffen im Tiergarten auf dem Kopf gehabt habe.

Staatsanwaltschaftsrat Dr. Gysae: Auf den Hut sei von der Anklagebehörde keinerlei Wert gelegt worden.

Zeuge Zibell: Er könne sich nicht besinnen, ob der Hut neben der Leiche gelegen habe.

Anna Reimann: Der Hut, der keine Brandspuren aufwies, habe im Leichenschauhause bei der Leiche gelegen.

Der Vorsitzende verlas darauf die von ihm entworfenen Schuldfragen, die auf Mord oder Totschlag lauteten und die Unterfragen enthielt, ob der Totschläger ohne Schuld durch Mißhandlung oder schwere Beleidigung von dem Getöteten zum Zorn gereizt und hierdurch auf der Stelle zur Tat hingerissen worden ist (§ 213), oder ob andere mildernde Umstände vorhanden sind.

Hierauf erhielt

Staatsanwaltschaftsrat Dr. Gysae

das Wort zur Schulfrage: Meine Herren Geschworenen! Als wir am Sonnabend in dem herbstlichen Tiergarten die Örtlichkeit besichtigten, wo sich die Tat abgespielt hat, bot diese Örtlichkeit doch ein anderes Bild, als in der Märznacht, in der drei Männer auf den Knall eines Revolvers dem Schall nachliefen und einen jungen Menschen tot am Boden liegend und in der Nähe der Leiche eine gut gekleidete junge Dame vorfanden. Es handelte sich wieder um das Opfer einer verhängnisvollen Revolverschießerei, von der die Spalten der Zeitungen und die Gerichtssäle jetzt so häufig widerhallen, und mit der auch Sie sich in der arbeitsvollen Sitzungsperiode sehr viel zu beschäftigen hatten. Auch hier handelt es sich um einen jener Fälle, in denen das Schießeisen eine verhängnisvolle Rolle gespielt hat. Sie, meine Herren Geschworenen, sind nun berufen, das letzte Wort zu sprechen in dem Drama, und zwar als Richter. Eine ganze Reihe von Momenten hatte die Möglichkeit nahegelegt, daß in der Tat ein Mord vorliege, und daher war es notwendig, in diesem Rahmen die Tat der Angeklagten Ihrer Entscheidung zu unterbreiten. Die Hauptverhandlung hat dies aus einem richtigen und tatsächlichen Grunde nicht bestätigt. Wenn man einen Mord annehmen will, so muß nach dem Standpunkt des Reichsgerichts die Überlegung für alle Teile der Tat gefordert werden, nicht bloß für die Vorbereitung, sondern auch für die Ausführung der Tat, so daß der Mörder sorgsam gezielt haben muß, um sein Opfer zur Strecke zu bringen. Ich stehe nicht an zu erklären, daß in vorliegendem Falle im Augenblick der Tat keinesfalls die Überlegung vorhanden gewesen ist. Es handelt sich also, wie vorweg zu bemerken ist, nicht um den Kopf der Angeklagten! Ich will gleich hinzufügen: Ich werde beantragen:

die Frage nach Totschlag zu bejahen,

ferner die Frage zu bejahen, daß die Angeschuldigte zum Zorn gereizt war und endlich die Frage nach mildernden Umständen zu bejahen, denn diese sind im weitesten Maße vorhanden. Sie werden vielleicht einen anderen Antrag von mir erwartet haben mit Rücksicht auf das Gutachten des Sachverständigen Dr. Cohn. Ich würde diesem Gutachten entschieden folgen, wenn ich es für berechtigt hielte. Gewiß ist Herr Dr. Toby Cohn ein Mann von anerkannter wissenschaftlicher Bedeutung, er hat aber trotzdem ein Gutachten abgegeben, an dem ich die schärfste Kritik üben muß, denn es ist abgegeben ohne ausreichende Unterlage, ohne ausreichende Vergleichsmäßigkeit und ohne den Mut der Konsequenz. Das Gutachten des Geh. Rats Dr. Kortum klang Ihnen vielleicht ähnlich, in Wahrheit aber war es grundverschieden. Unser langjähriger, verdienter Gerichtsarzt, Herr Medizinalrat Dr. Hoffmann, der leider von Berlin abwesend ist, hat nicht die Meinung gehabt, daß die Angeklagte geisteskrank sei, er hat es aber doch für seine Pflicht gehalten, wegen einiger Krankheitserscheinungen der Angeklagten, den Antrag aus § 81 zu stellen. Herr Dr. Cohn hat die Angeklagte einmal gesehen und gesprochen. Sein Gutachten beruht auf den eigenen Angaben der Angeklagten, die er alle als wahr annimmt, obwohl die Angeklagte doch ausgesprochen hysterisch ist. Hysterische sind aber bekanntlich zur Unwahrhaftigkeit und zur Lüge geneigt. Es hat mir fast einen körperlichen Schmerz bereitet, daß ein Mann von der wissenschaftlichen Bedeutung des Herrn Dr. Cohn „Zwangsvorstellungen“ feststellen zu können glaubt, lediglich auf die Angaben der Angeklagten hin. Er hat die Zwangsvorstellungen mit der Platzfurcht verglichen. Es ist auffallend, daß der Sachverständige eine Zwangsvorstellung feststellen zu können glaubte. Es wird auf die Verfassung verwiesen, in der die drei Zeugen, die auf den Knall hinzugeeilt waren, die Angeklagte gefunden haben. Ja, würde denn ein normaler Mensch, nachdem er in das Medusenhaupt einer so entsetzlichen Tat geschaut, sich anders verhalten? Dr. Cohn sagt: er habe einen normalen Menschen in einer solchen Situation noch nicht gesehen. Es fehlt ihm also die Vergleichsmöglichkeit.

Die Herren Psychiater

walten gewiß sehr gründlich und sehr gewissenhaft ihres Amtes, sehen aber fast nur Kranke und vergessen ganz, daß Gott sei Dank ein größerer Prozentsatz der Menschen noch normal ist. Der Sachverständige hat ja auch die Angeklagte nach der Tat nicht gesehen, sondern nur die Darstellung gehört, die die drei braven Männer, die als die ersten hinzugeeilt waren, nach ihrem besten Wissen gegeben haben. Es ist doch selbstverständlich, daß ein 20jähriges junges Mädchen nach einer solchen furchtbaren Szene ganz erschüttert und sprachlos dasteht, dazu braucht man nicht an einen Dämmerzustand zu denken. Herr Dr. Cohn müßte doch die Konsequenzen seines eigenen Artikels ziehen, den er im Anschluß an den Fall Ritter geschrieben hat, in dem er einen Schutz vor Geisteskranken fordert. Einem solchen Gutachten kann ich also keinesfalls folgen. Auf eine Zwischenbemerkung des Justizrats Friedmann habe ich gestern keineswegs mit einer für die Angeklagte noch fühlbareren Strafe drohen wollen; es kann gar keine Rede davon sein, daß ich die Angeklagte als Geisteskranke ins Irrenhaus schicken will.

Ganz anders lautet das Gutachten des Geheimrats Dr. Kortum, der als Voraussetzung hinstellt, daß die Angaben der Angeklagten wahr sind und bei Wegfall dieser Voraussetzung die Verantwortlichkeit der Angeklagten bestehen läßt. Ich behaupte, daß das letztere der Fall ist und daß die Angeklagte über die Vorgänge nicht die Wahrheit sagt. Sie ist eine außerordentlich begabte Person, ihre Niederschrift ist außerordentlich geschickt gemacht, klingt etwas hochtrabend. Ihre werte Person ist in den Vordergrund gestellt. Sie haben selbst gehört, wie sie in fabelhaft geschickter schickter Weise immer wieder eine Antwort fand und von dem Rechte des Angeklagten, zu leugnen und zu lügen, ausreichend Gebrauch machte. Der Staatsanwalt ging dann ausführlich auf den Entwickelungsgang der Angeklagten und ihre ganze Persönlichkeit ein. Er wies darauf hin, daß sie aus einer guten und früher gutsituierten Familie stamme, die durch den trunksüchtigen und liederlichen Vater herabgekommen sei. Die Angeklagte sei eine frische, zur Fröhlichkeit hinneigende Person, die in nicht alltäglicher Weise frisch und freudig den Kampf mit dem Leben aufgenommen und in jungem Alter tapfer mitgearbeitet habe, um ihre Mutter mit zu erhalten. Sie ist ja erblich belastet, aber nirgends hat sich gezeigt, daß sie mehr als hysterisch ist. Das hat sich so wenig gezeigt, daß der Zahnarzt Dr. Oppler dieser angeblich „Fallsüchtigen“ seine Kinder zur Obhut anvertraute. Als ihr dann der Dr. St. seine Freundschaft und seine Liebe schenkte, wurde dieses Verhältnis für sie und für den Dr. St. eine Quelle des Glücks, denn das Verhältnis war nicht alltäglicher Art. Sie kam in einen neuen Daseinskreis, dem sie sich durch Erweiterung ihrer Bildung und Festigung ihrer ganzen Persönlichkeit gern anzupassen suchte. Sie haben zusammen Bücher gelesen, lasen die Reisebeschreibungen, die der oft beruflich auf Reisen befindliche Dr. St. ihr gegeben hat, sich vor, besuchten gute Opern und gute Theater. Die Angeklagte war nicht bestrebt, aus diesen Beziehungen finanzielle Vorteile zu erzielen. Da kam das Verderben über sie in dem Augenblick, als ihre Beziehungen zu Georg Reimann begannen, einem jungen Mann, auch aus besserer Familie stammend, auch ein Sohn eines verarmten Architekten aus Glatz, auch ein Mann, der eine bessere Bildung genossen hatte. Das „mütterliche“ oder „schwesterliche“ Verhältnis, das die Angeklagte glauben machen will, konnte in dieser Form nicht lange bestehen bleiben. Reimann war, wie die Angeklagte sagte, „halb Kavalier, halb Page“, aber der Page begann bald die Augen zu erheben zu seiner Herzogin, er dachte daran, daß er ein Mann geworden, und als er erfuhr, daß sie mit einem anderen Manne in Verkehr stand, wurde ihm sofort klar, daß dies nicht bloß ein schriftlicher Verkehr sein könne. Als er die briefliche Bestätigung davon vor Augen sah, da begann für ihn die Eifersucht, da wurde er liebesrasend. Sie hat in frevelhafter Weise mit dem jungen Manne

gespielt wie die Katze mit der Maus.

Nach und nach ist aus dem liebesrasenden ein ganz gemeiner Erpresser geworden. Die Angeklagte ist ein gewecktes Mädchen, jeder Situation gewachsen, sie ist ein Berliner Kind im besten Sinne des Wortes, und sie mußte sich von selbst sagen, daß, wenn sie sich dem Reimann hingab, für diesen der Appetit mit dem Essen kommen mußte. Dieses Doppelspiel, das die Angeklagte spielte, hätte jeden normalen Menschen schließlich in den Zustand bringen können, in dem sich die Angeklagte befand, als sie nach und nach bis zu dem Grade der Verzweiflung kam, wo sie dem Reimann schrieb: „Du oder ich; einer von uns ist zuviel auf der Welt.“ Als dann Reimann den anonymen Brief an den Mann schrieb, der ihr ganzes Glück war, als Reimann diese letzte, gemeinste Waffe aller Schwächlinge in Anwendung gebracht hatte, da reifte in ihr der Entschluß, der Sache ein Ende zu machen, so oder so! Die Situation für sie war unhaltbar, sie setzte ihr eigenes Leben ein, wollte aber auch den Vernichter ihres Lebensglückes mit aus dem Leben nehmen. Wenn ein Mädchen, das so drangsaliert und zum äußersten getrieben wird, zur Selbstbefreiung schreitet, so ist das erklärlich, aber strafbar. Es ist geradezu unheimlich, wie Reimann sie gequält und verfolgt hat. Er hatte ihr mit der Vernichtung ihrer Existenz gedroht, sie stand dem schonungslos vorgehenden Manne machtlos gegenüber. Da ist der übervolle Becher zum Überlaufen gekommen. Ihr Plan ging nicht mehr dahin: „Du oder ich“, sondern „du und ich“. Die Angeklagte hat die Tat ganz planvoll vorbereitet. Man denke nur daran, daß sie das Zusammentreffen mit Reimann von 8 auf 10 Uhr verlegt, und daß das Mädchen, das in den Tod gehen wollte, auch noch daran dachte, den Hausschlüssel des Dr. St. zurückzuverlangen, und die Verlegung der Zeit damit erklären will, daß sie sich schämte, mit dem R. sich noch sehen zu lassen. Es wäre ja doch unerhört, wenn jemand straflos bleiben sollte, weil er es versteht, über die entscheidenden Minuten den Schleier des Vergessens zu breiten, und einfach sagt: er weiß davon nichts mehr. Sie weiß sicher mehr, als sie sagen will. Man kann sich die Vorgänge an dem Orte der Tat recht klar zeichnen. Der Mann, der vorher schon sich gemein und bedrohend gezeigt hat, der wird sie bei dem Geplänkel um den Brief in derselben Weise beschimpft und schlechtgemacht und den aufgespeicherten Zorn entladen haben. Und da setzte die Angeklagte die Waffe dem jungen Manne an den Hinterkopf, gab zwei Schüsse auf ihn ab und den dritten auf sich selber, der bei ihrer Aufregung sein Ziel verfehlte. Alsdann stand sie da in voller Verzweiflung, als sie dies Furchtbare erlebt hatte. Der altbewährte und zuverlässige Medizinalrat Dr. Hoffmann, der die Obduktion vorgenommen, hat klipp und klar erklärt, daß nach dem Ergebnis der Obduktion

ein Selbstmord ausgeschlossen

ist. Auch die Möglichkeit, daß beim Ringen die tödlichen Schüsse losgegangen sein sollten, ist undenkbar, alle sonst vorgeführten Möglichkeiten erscheinen absurd. Wenn Justizrat Friedmann die Möglichkeit, daß der Getötete sich beim Hinfallen gedreht habe, durch den Hinweis bekräftigen wollte, daß eine solche Drehung auch bei den auf dem Theater „Sterbenden“ üblich ist, so stimmt dies nicht, denn auf dem Theater erfolgt diese Umdrehung, weil man den Schauspieler nicht in der schwierigen Lage lange liegen lassen will. Ein altes Wort sagt „Die Szene wird zum Tribunal.“ Hüten Sie sich aber, auch hier die Szene zum Tribunal werden und einen Theatergebrauch als Beweis dienen zu lassen. Denken Sie auch an das ganze Verhalten der Angeklagten nach der Tat, an ihre Bemerkungen, die sie dem Polizeibeamten machte, als sie zur Haft gebracht wurde. Solche Witze und solche Bemerkungen wird in einem so bedeutungsvollen Moment doch gewiß kein Mensch machen, der sich unschuldig fühlt, selbst wenn man einen guten Prozentsatz von den schnoddrigen Berliner Redensarten in Abzug bringt. Alles, was die Angeklagte über die Vorgänge bei der Tat gesagt hat, ist nach meiner festen Überzeugung nicht wahr. Erklären Sie die Angeklagte des Totschlags schuldig, aber bewilligen Sie ihr mildernde Umstände. Folgen Sie der zweiten Alternative des Geheimrats Kortum, der da sagte: Wenn die Behauptungen der Angeklagten nicht wahr sind, ist sie für ihre Tat verantwortlich. Aber sie ist hysterisch und bis zur Vernichtung ihres eigenen Lebens bis aufs Blut gepeinigt worden. Reimann war in der letzten Zeit kein besonders achtungswertes Mitglied der Menschheit. Sie werden das Richtige finden, wenn Sie die Schuldfragen in meinem Sinne beantworten.

Verteidiger R.-A. Dr. Ledermann wies an einzelnen Punkten nach, daß Reimann nicht wahrheitsliebend war, daß er ein phantastischer Phrasenheld gewesen sei, der von sich selbst renommierte. Nicht Liebe habe der Angeklagten ein größeres Interesse für Reimann eingeflößt, sondern ein gewisses Mitleid. Er sei ihr als ein netter, guter Kerl erschienen, bis er nach und nach seine wahre Natur zeigte. Wenn sie ihn geliebt hätte, dann würde sie doch niemand gehindert haben, ihm allein anzugehören. Sie liebte ihn nicht, sondern hatte Angst vor ihm, der alles daran setzte, sie ganz unter seine Macht zu bekommen; sie hatte Angst um ihre Stellung, Angst um ihre Mutter, deren Ernährerin sie war. Auch Reimann liebte die Angeklagte nicht, sonst wäre er nicht so gemein gegen sie vorgegangen; denn es ist nicht mehr als wahrscheinlich, daß er sie nicht nur beschimpft, sondern auch daran gedacht hat, sie zur Dirne zu machen und ihr Zuhälter zu werden. Die Angeklagte sei keine Person, der man die Absicht zu morden oder zu töten zutrauen könne. Sie sei

ein lustiger, fröhlicher Kerl

gewesen, ein Sonnenschein für alle, die mit ihr zu tun gehabt haben, deren Gutmütigkeit, Stolz und deren Ehrgefühl von den verschiedensten Zeugen bekundet wurde. Die Angeklagte habe nie die Absicht gehabt, zu töten, sondern nur die, sich selbst das Leben zu nehmen.

Die Darlegungen des Staatsanwalts über die vermeintliche Entwickelung der Dinge an dem Tatort treffen gegenüber den Tatsachen nicht zu. Jemand, der einen Menschen tötet, bleibe doch sicherlich nicht bei der Leiche stehen. Nach dem Gutachten der Sachverständigen sei gar kein Zweifel, daß die Angeklagte zu der Zeit, als die Schüsse fielen, sich in einem Dämmerzustand befand. Ganz entschieden müsse sich die Verteidigung gegen die Kritik verwahren, die der Staatsanwalt dem von ihr gestellten Sachverständigen habe zuteil werden lassen. Es handle sich hier um einen wissenschaftlich anerkannten Sachverständigen, der aus seiner reichen ärztlichen Erfahrung heraus seine mit guten Gründen belegte Überzeugung klargelegt habe. Nach diesem Gutachten müssen die Geschworenen die Angeklagte freisprechen. Die Geschworenen mögen eindringen in die komplizierte Psyche des Mädchens und in die komplizierten Vorgänge. Zuzugeben sei, daß der Verdacht groß sei, aber die Angaben der Angeklagten seien nicht widerlegt und auch wahrscheinlich. Geben Sie, so schloß der Verteidiger, die Angeklagte dem bürgerlichen Leben wieder, dem sie schon 6 Monate entzogen ist, geben Sie sie ihrer Mutter wieder, der sie eine Stütze im Alter sein muß!

Verteidiger Justizrat Friedmann: Nicht bloß Sie, meine Herren Geschworenen, werden erstaunt sein, daß der Staatsanwalt einen Antrag auf schuldig gestellt hat, sondern von diesem Erstaunen werden weitere Kreise erfaßt werden, ebenso wie die Männer auf der Verteidigerbank. Ein solcher Antrag ist nach dem Gutachten der psychiatrischen Sachverständigen kaum verständlich und ist mit dem ganzen Gange der Verhandlung, der Vorgeschichte des Prozesses und den Ergebnissen der Verhandlung nicht vereinbar. Nach diesen Ergebnissen kann man unmöglich zu einer sicheren Entscheidung kommen. Der Verteidiger richtete alsdann an die Geschworenen die ernste Mahnung, über den Einzelheiten, auf die so großes Gewicht gelegt sei, über den Details nicht den großen Gesichtspunkt zu verlieren, der allein sie leiten könne, wenn sie die Wahrheit finden wollen. Nach einem längeren geistvollen Hinweis auf Wesen und Bedeutung der Geschworenengerichte und auf die manchmal nicht unberechtigte Furcht vor gelehrten Richtern, ersuchte der Verteidiger die Geschworenen, nicht nach Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten zu urteilen, sondern sich einzig und allein zu fragen: Was ist erwiesen?

Im weiteren ersuchte der Verteidiger die Geschworenen, renen, sich auch von keiner Seite außerhalb des Saales irgendwie beeinflussen zu lassen und nicht darauf zu achten, wenn in der Öffentlichkeit dieser oder jener seine Meinung über die Schuld oder Unschuld der Angeklagten kundgebe. Den Geschworenen müsse als einziger Leitfaden die freie Beweiswürdigung dienen, und wenn diese freie Beweiswürdigung und ihre Grenzen richtig eingeschätzt würden, müßten sie zu einem Nichtschuldig kommen. Die Tatsachen treiben zu diesem Schluß. Aber die Angeklagte sei auch nicht eine Persönlichkeit, der man ohne weiteres ein solche Tat zutrauen könne. Der Verteidiger nahm den Sachverständigen Dr. Toby Cohn nachdrücklich gegen die Ausführungen des Staatsanwalts in Schutz und führte aus, daß dessen Gutachten ein in jeder Beziehung wohlbegründetes und durchaus nicht im Gegensatz zum Kortumschen Gutachten stehendes war. Es erübrige sich daher, alle vorhandenen Möglichkeiten noch einmal durchzugehen und die Schlußfolgerungen des Staatsanwalts zu widerlegen, denn schon nach diesem Gutachten müßten die Geschworenen zu einem Nichtschuldig kommen, da danach die freie Willensbestimmung der Angeklagten in den kritischen Augenblicken ausgeschlossen war. Zu den „Möglichkeiten“ würde schließlich auch die noch gar nicht berührte Frage der Notwehr gehören. Wenn man annehme, daß der erste Schuß derjenige gewesen, der den Hut der Angeklagten durchbohrte, so sei die weitere Tätigkeit der letzteren auch aus dem Gesichtspunkte der Notwehr diskutabel. Die Geschworenen dürften nicht das Unwahrscheinliche ohne weiteres als unwahr betrachten, denn oft sei gerade dieses Unwahrscheinliche die Wahrheit. Die ganze Vorgeschichte des Prozesses zeige ja auch, daß man ursprünglich an eine Schuld der Angeklagten überhaupt nicht dachte. Der Verteidiger schloß mit der Bitte, sämtliche Schuldfragen zu verneinen. (Bravo im Zuhörerraum.) Der Vorsitzende bemerkte, daß alle Beifalls- oder Mißfallsbezeugungen im Gerichtssaale unzulässig seien.

Die Angeklagte, die am letzten Tage der Verhandlung sehr niedergeschlagen war und fast den ganzen Tag den Kopf zur Erde senkte, so daß das schöne Gesicht nicht zu sehen war, erklärte auf Befragen des Vorsitzenden: Ich habe nichts mehr zu sagen. Der Vorsitzende gab alsdann den Geschworenen die Rechtsbelehrung. Auf Wunsch der Geschworenen wurde ihnen der Revolver, die Patronen, der Muff der Angeklagten und deren durchschossener Hut in das Beratungszimmer mitgegeben.

Nach etwa 2 1/2 stündiger Beratung verkündete der Obmann, Professor Dr. Kühne: Die Geschworenen haben die Angeklagte des

Totschlags,

unter Zubilligung mildernder Umstände,

für schuldig

erkannt.

Staatsanwaltschaftsrat Dr. Gysae: Die mildernden Umstände fließen aus zwei Quellen: Einerseits aus der Erwägung, daß die Angeklagte infolge ihrer Veranlagung minder zurechnungsfähig bei der Ausführung der Tat war: andererseits, daß die Angeklagte sich in einer Lage befand, nicht ganz ohne ihre Schuld, aber doch nicht ganz durch ihre Schuld, von der sie nicht wußte, wie sie anders enden solle. Andererseits handelt es sich um ein Menschenleben; man muß aber berücksichtigen: um welches Menschenleben; um einen Menschen der die Angeklagte bis aufs Blut gepeinigt und verfolgt hat. Unter Berücksichtigung auch der Jugend der Angeklagten beantrage ich ein Jahr sechs Monate Gefängnis und Anrechnung eines Teiles der Untersuchungshaft.

Verteidiger Justizrat Friedmann: Falls der Gerichtshof nicht den § 317 der Strafprozeßordnung anwenden will, habe ich keine Ausführungen zu machen. Das Gericht wird wissen, welche Strafe es nach dem Spruche der Geschworenen zu finden hat. Jedenfalls beantrage ich die Haftenlassung der Angeklagten.

Nach kurzer Beratung des Gerichts verkündete der Vorsitzende, Landgerichtsrat Schlichting, folgendes

Urteil:

Innerhalb des Rahmens, den der Spruch der Herren Geschworenen gezogen, hatte das Gericht die Strafe festzustellen. Das Gericht hat folgendes geprüft: Die Angeklagte hatte vom Vater nicht nur die Intelligenz, sondern auch den Leichtsinn geerbt, und so war es für sie notwendig, daß sie eine besonders starke moralische Stütze durch ernste und sorgsame Erziehung erhielt. Ihr fehlte das gute Elternhaus, die sorgfältigen Eltern, die einem jungen Mädchen einerseits eine gewisse Freiheit lassen, andererseits aber auch mit Strenge darauf sehen, daß die Grenzen dieser Freiheit nicht überschritten werden. Sie kam in die Großstadt, wo die Verlockungen an sie herantraten und wo eine besondere Kontrolle durch zuverlässige Freundinnen besonders notwendig gewesen wäre. Der Boden für sie war vorbereitet; sie ging ein Liebesverhältnis ein mit einem Mann, der in anderen Kreise wie sie lebte. So ideal das gewesen sein mag, es bestand doch eine Kluft zwischen ihnen. Bei der sinnlichen Natur und der ihr innewohnenden Erotik blieb noch ein Platz für einen Zweiten. Georg Reimann war das Gegenstück von Dr. St., und wenn er etwas Lasterhaftes an sich hatte, so war dies vielleicht das, was die Angeklagte reizte. „Einen Kuß auf deinen losen, frechen Mund!“, so schrieb sie und dies beweist, daß sie sich nicht immer so brav und gebildet unterhalten wollte, wie mit Dr. St. Sie sagte selbst: Eine Doppelnatur wohne in ihr, wie ja wohl in jedem Menschen etwas von einer solchen steckt. Sie liebte es, sich mit Reimann etwas nachlässiger und weniger ernst zu unterhalten. So kam eine gewisse Neigung zu ihm. Bei Dr. St. hatte sie einen gewissen Respekt zu bewahren, bei dem jungen Menschen war sie die Königin allein. Dieses Doppelspiel war eine Lage, der sie nicht gewachsen war, denn nun zeigte sich Reimann von der schlechten Seite. Er hatte sie, nach dem letzten Brief zu urteilen, auf alle Art bedroht und geängstigt. Bei ihrer hysterischen Natur entschloß sie sich zu dem Schritt, der sie von dieser Fessel befreien sollte. In dieser Verfassung hat sie die Tat begangen, die die Herren Geschworenen als Totschlag erkannt und für die sie ihr mildernde Umstände bewilligt haben. Danach hat der Gerichtshof, in Erwägung, daß sie trotz ihrer Intelligenz eine mangelhafte moralische Bildung besaß und sich in einer Notlage befand, da sie ein Erpresser in ihre Gewalt gebrach hatte, in fernerer Erwägung, daß sie geistig dem Dr. St. nahe-, moralisch aber dem Reimann näherstand, gemeint, eine Strafe mittlerer Art verhängen zu sollen.

In Erwägung aller dieser Umstände hat der Gerichtshof auf zwei Jahre und sechs Monate Gefängnis erkannt, wovon sechs Monate auf die Untersuchungshaft angerechnet werden.

Die Angeklagte nahm das Urteil mit ziemlichem Gleichmut entgegen.

Irrenhausvorgänge vor Gericht

Den Fortschritten der medizinischen Wissenschaft im besonderen und den Fortschritten der Kultur im allgemeinen ist es zu danken, daß Irrsinnige als kranke Menschen und nicht mehr, wie in früherer Zeit, als vom Teufel Besessene behandelt werden. Ich nehme an, daß die mittelalterliche Anschauung, Irrsinnigen muß der böse Geist durch heftige Prügel ausgetrieben werden, nirgends mehr angewendet wird.

Vor achtzehn Jahren, in dem Prozeß wider Mellage und Genossen, der vom 30. Mai bis 8. Juni 1895 die Strafkammer zu Aachen beschäftigte (siehe Band 1), wurde festgestellt, daß in dem Laien-Mönchskloster „Mariaberg“ bei Aachen Irrsinnige, wenn auch nicht verbrannt, aber heftig geschlagen, zum Teil sogar totgeschlagen wurden, weil die Klosterbrüder, die sich „Alexianer“ nannten, der Ansicht waren, die Kranken seien vom Teufel besessen. Der damalige Aachener Regierungspräsident hatte gegen die Kritiker dieser schauderhaften mittelalterlichen Vorkommnisse nichts Besseres zu tun, als den Strafantrag wegen Beleidigung zu stellen. Die Humanität hat jetzt zweifellos auch in den Irrenanstalten eine Stätte gefunden. Ich nehme an, daß die vielfachen Klagen über schlechte Behandlung in den Irrenhäusern sern zumeist auf Einbildung der Kranken beruhen. Jedenfalls ist ein Reichsirrengesetz, das selbst von hervorragenden Psychiatern, wie von dem Oberarzt an der Irrenheilanstalt „Berolinum“ in Steglitz bei Berlin, Herrn Dr. Otto Juliusburger u.a. gefordert wird, eine dringende Notwendigkeit. Wenn ich es auch für ausgeschlossen halte, daß Ärzte materieller Vorteile wegen geistig Gesunde in Irrenanstalten schicken und Irrenhausärzte geistig Gesunde in Irrenhäusern festhalten, so herrscht jedenfalls im Volke vielfach ein großes Mißtrauen gegen das Irrenhauswesen. Die ungeheuerlichen Vorkommnisse im Alexianerkloster „Mariaberg“, an denen die dort angestellten Ärzte Sanitätsrat Dr. Capellmann und Dr. Chantraine und auch der damalige Aachener Kreisarzt, Geh. Medizinalrat Dr. Kribben, einen ganz wesentlichen Teil der Schuld trugen, aber auch verschiedene Vorkommnisse in anderen Irrenanstalten haben dies Mißtrauen erzeugt. Es ist dringend notwendig, gesetzliche Bestimmungen zu schaffen, daß die Überführung geistig Gesunder in eine Irrenanstalt nicht mehr möglich ist. Andererseits sind gesetzliche Bestimmungen erforderlich, die die rechtzeitige Überführung gemeingefährlicher Geisteskranker in eine geschlossene Irrenanstalt und deren dauernde Festhaltung zur Pflicht machen. Wenn das Gericht einen Angeklagten freisprechen muß, weil es die Überzeugung erlangt hat, daß zur Zeit der Tat die freie Willensbestimmung des Angeklagten ausgeschlossen war, so verläßt dieser alsdann doch offenbar gemeingefährliche Geisteskranke die Anklagebank und kann im nächsten Augenblick dasselbe Verbrechen begehen. Der Gerichtshof muß das Recht, ja, die Pflicht haben, einen Angeklagten, den er auf Grund des § 51 des Strafgesetzbuches freispricht, ohne Verzug in eine geschlossene Irrenanstalt überführen zu lassen. Es gibt Verbrecher, die, sobald sie in Freiheit sind, alle möglichen Verbrechen begehen, weit sie den Irrenschein in der Tasche haben. Diese Leute sagen sich: Wenn ich gefaßt werde, so kann mir ja nichts weiter passieren, ich muß auf alle Fälle freigesprochen werden. In den Vorstadtkneipen Berlins wird von Komikern schon seit Jahren ein Lied mit folgendem Schlußrefrain vorgetragen:

„Gott schütze die Psychiater

und erhalte uns den Paragraphen 51.“

Es ist zweifellos ungemein schwierig, festzustellen, ob ein Verbrecher, der womöglich unter der Einwirkung des chronischen Alkoholismus gehandelt hat und noch obendrein erblich belastet ist, vollständig zurechnungsfähig ist. Wenn aber hervorragende Psychiater einen Angeklagten, wie den Knabenmörder Ritter für geistesgestört erklären, dann sollte der Gerichtshof, wenn er auch dieser Auffassung nicht beitritt, doch in der Lage sein, dafür zu wirken, daß der Angeklagte nach beendeter Strafverbüßung einer geschlossenen Irrenanstalt überwiesen wird. Auch sollte kein Geisteskranker, selbst wenn er oder seine Angehörigen nicht in der Lage sind, das Pensionsgeld zu zahlen, aus der Irrenanstalt entlassen werden, solange die Wiedererlangung seiner geistigen Gesundheit nicht außer Zweifel steht. Es ist auch dringend notwendig, das Entweichen verbrecherischer und gemeingefährlicher Geisteskranker aus einer Irrenanstalt unmöglich zu machen und dem Wärterpersonal einzuschärfen, daß Geisteskranke als Kranke zu behandeln sind. Es ist ferner erforderlich, ehe eine Person auf Antrag eines oder mehrerer Familienmitglieder wegen Irrsinnsverdachts einer Anstalt überwiesen wird, in genauester Weise nachzuforschen, ob dem Antrag irgendwelche andere Ursachen, Erbschafts- oder unliebsame eheliche Verhältnisse zugrunde liegen.

Der Fabrikbesitzer und Stadtverordnete Emanuel Lubecki in Beuthen, Oberschlesien, hatte Ursache, auf seine 13 Jahre jüngere Frau eifersüchtig zu sein. Frau Lubecki, eine sehr hübsche Frau, soll mit einem Angestellten ihres Mannes ein sträfliches Verhältnis unterhalten haben. Aus diesem Anlaß kam es zwischen den Eheleuten vielfach zu argen Auftritten. Lubecki geriet schließlich in derartige Aufregung, daß er oftmals heftig weinte. Die Gattin hatte keinen sehnlicheren Wunsch, als den Mann, auf eine bequeme Art loszuwerden. zuwerden. Sie verstand es, dem in ihrem Hause wohnenden Dr. med. Locke, zu dem sie ebenfalls unlautere Beziehungen unterhalten haben sollte, zu bestimmen, ein ärztliches Attest auszustellen, in dem es hieß: Lubecki leide an aktueller Geistesgestörtheit. Dieser Arzt hatte Lubecki weder jemals untersucht, noch mit dem Hausarzt des letzteren Rücksprache genommen. Dr. Locke wußte aber auch den Kreisarzt Dr. la Roche zu bestimmen, das von ihm ausgestellte Attest gegenzuzeichnen. Der Kreisarzt soll außerdem Lubecki zugeredet haben, im Interesse seiner Gesundheit sich in ein Sanatorium zu begeben. Durch List gelang es der Gattin, den Mann nach der Provinzial-Irrenanstalt Leubus in Schlesien zu locken. Lubecki glaubte, in ein Sanatorium zu kommen. Als sich die Pforten des Irrenhauses hinter ihm geschlossen hatten, sah der Mann, der noch am Tage vor seiner Einlieferung als Schöffe in einer anstrengenden Gerichtssitzung mitgewirkt hatte, daß er sich in einem Irrenhaus befinde. Lubecki versuchte die Ärzte zu überzeugen, daß er nicht geisteskrank und nur durch Intrige seiner Frau ins Irrenhaus gekommen sei. Die Ärzte beachteten dies aber nicht, sondern behandelten ihn als Trinker und Paralytiker, obwohl er nachweislich niemals Trinker war.

Nach vollen fünf Monaten gelang es dem Bruder Lubeckis, ihn aus der Irrenanstalt zu befreien. Der durch die fünfmonatige Gefangenschaft finanziell ruinierte Mann versuchte seine Rehabilitierung bei den Ministern des Innern und der Justiz. Er wandte sich schließlich, aber ebenfalls ohne Erfolg, an das Zivilkabinett des Königs. Die „Zeit am Montag“ brachte schließlich am 25. November 1907 mit der Überschrift:

„Moderne Irrenhausfolter“

einen Leitartikel. In diesem wurde der Vorfall eingehend besprochen und

die Notwendigkeit einer gründlichen Irrenhausreform

betont. Es wurde in dem Artikel erwähnt, daß der maßgebende Oberarzt der Provinzial-Irrenanstalt Leubus, Dr. v. Kunowski, der Schwiegersohn des Direktors Geh. Medizinalrats Dr. Alter und der erste Assistenzarzt der Sohn des Direktors sei. Es wurde daher in dem Artikel von einer famosen „Ärzte-Dreifaltigkeit“, brutaler Vergewaltigung usw. gesprochen. Der Landeshauptmann der Provinz Schlesien stellte gegen den Verfasser des Artikels, damaligen Chefredakteur der „Zeit am Montag“, Karl Schneidt, Strafantrag wegen Beleidigung der genannten Irrenhausärzte.

Schneidt hatte sich deshalb vom 8. bis 11. November 1908 vor der siebenten Strafkammer des Landgerichts Berlin I zu verantworten. Den Vorsitz des Gerichtshofes führte Landgerichtsdirektor Splettstoeßer. Die Anklage vertrat Staatsanwalt Dr. Rasch. Die Verteidigung führte Rechtsanwalt Dr. Halpert.

Als Sachverständige waren geladen: der Direktor der Irrenanstalt Herzberge, Geh. Medizinalrat Professor Dr. Moeli, Geh. Medizinalrat Dr. Arthur Leppmann und Medizinalrat Dr. Hoffmann.

Der Angeklagte Schneidt bemerkte nach Verlesung des zur Anklage stehenden Artikels: Er übernehme für den Artikel die volle Verantwortung. Er hatte nicht die Absicht, jemand zu beleidigen. Er wollte nur einen öffentlichen Mißstand rügen. Er habe im übrigen in Wahrnehmung berechtigter Interessen gehandelt, denn das, was Lubecki passiert sei, könne jedem Menschen, auch ihm, widerfahren. Es wurde alsdann Kaufmann Emanuel Lubecki, ein sehr intelligent aussehender Mann von 51 Jahren, als Zeuge vernommen. Er bekundete auf Befragen des Vorsitzenden: Er sei seit vielen Jahren und noch heute Stadtverordneter in Beuthen, Oberschlesien. Er habe lange Zeit eine geradezu mustergültige Ehe geführt. Plötzlich habe er wahrgenommen, daß seine Frau intimen Verkehr mit seinem Buchhalter unterhalte. Dadurch und auch infolge von Zerwürfnissen mit seinem Bruder Paul und geschäftlicher Aufregungen sei er sehr nervös geworden. Auf Veranlassung seines Bruders Paul und seiner Frau wurde ein Familienrat berufen. Ein Justizrat erklärte im Familienrat, er (Zeuge) sei geisteskrank und müsse in ein Irrenhaus. Am folgenden Tage sei der Kreisarzt Medizinalrat Dr. la Roche zu ihm gekommen mit dem Bemerken: Herr Lubecki, Sie arbeiten Tag und Nacht, für Ihre Gesundheit tun Sie aber gar nichts. Ich rate Ihnen, gehen Sie auf einige Wochen nach Leubus. Er erwiderte: Sie muten mir doch nicht etwa zu, ins Irrenhaus zu gehen? Sie sollen nicht ins Irrenhaus, sondern in das Leubuser Pensionat gehen, das ist ein sehr gutes Sanatorium, in dem Sie volle Bewegungsfreiheit haben, erwiderte der Kreisarzt. Nach langem Zureden habe er sich schließlich entschlossen, dem Rate Folge zu leisten, er habe aber sofort gesehen, daß er sich in einer Irrenanstalt befinde. Seine Einwendungen, daß er doch nicht geisteskrank sei und nicht ins Irrenhaus gehöre, wurden mit Hohnlachen beantwortet. Der Zeuge schilderte alsdann eingehend die lieblose Behandlung, er sei geschlagen, ins Wasser gesteckt worden usw. Depeschen, die er an den Landeshauptmann und den Minister des Innern gerichtet hatte, seien nicht abgeschickt worden. Ein Pfleger habe ihm gesagt, die Ärzte verständen keinen Spaß, es werde jeder Widerstand gebrochen. Der Oberarzt Dr. v. Kunowski verordnete ihm Beruhigungspillen. Dadurch geriet er in noch viel größere Erregung. Er lehnte es daher ab, die Pillen weiter zu nehmen. Der Oberarzt bedeutete, wenn er die Pillen nicht nehmen wolle, dann lasse er ihn zwölf Stunden ins Wasserbad stecken. „Wir werden Sie schon kirre kriegen.“ Ein Pfleger, der die Pillen nahm, wurde krank. Einmal wurde er zwangsweise dreizehn Stunden lang ins Wasserbad gesteckt. Eines Tages, so fuhr Lubecki fort, lag ich auf einem Rohrstuhl vor dem Anstaltsgebäude. Da kam der Mann, den ich zur Wahrnehmung meines Geschäfts während meiner Abwesenheit eingesetzt hatte, und sagte mir: Er sei hinausgeworfen worden und Herr Dietrichs, der mit meiner Frau Ehebruch treibe, dominiere wieder. Ich wurde darüber sehr erregt. Als ich wiederum meine Freilassung verlangte, hieß es:

„Ins Wasser!“

Ich bin lange Zeit immer nur vom Bett ins Wasser und vom Wasser ins Bett gekommen. Eines Tages sagte mir Dr. Alter junior: „Ich werde Ihnen einen väterlichen Rat geben, lassen Sie sich entmündigen.“ Als ich mich entschieden weigerte, sagte er: „Sie werden schon zahm werden, hier wird alles folgsam und zahm.“ Ich wurde darüber ungemein aufgeregt. Einige Tage später sah ich den Geheimrat Alter, der bis dahin verreist war, zum ersten Male. Ich wollte mit ihm sprechen, er winkte aber ab. Dann kam ein Brief meines Bruders Paul, dessen Inhalt mich wiederum sehr erregte. Ich unternahm schließlich einen Fluchtversuch, der aber mißlang.

Am 2. Oktober 1905 kam der Landeshauptmann der Provinz Schlesien, v. Richthofen, zur Inspektion in die Anstalt. Ich hatte mir vorgenommen, recht zurückhaltend zu sein, denn ein Wärter hatte mir einmal gesagt: „Machen Sie mit den Ärzten keine Geschichten, sonst kann es Ihnen hier bitter gehen!“ Die Bedeutung dieser Worte war mir ganz klar, denn ich dachte an das Wasserbad! Einen Tag vor der Ankunft des Landeshauptmanns war ich aus dem Gemeinschaftszimmer in ein anderes Zimmer gebracht worden. Ich verlangte, den Landeshauptmann zu sprechen. Dr. Alter junior aber sagte: Ja, Sie wollen! Sie haben nichts zu wollen, hier haben nur wir zu wollen! Ich wurde dann

ohne Kleidung in einen verschlossenen Raum

gesteckt, bis der Landeshauptmann die Anstalt wieder verlassen hatte. Am 9. kam meine Frau mit Herrn Dieterichs zu mir und bot mir zu meiner Verwunderung an, daß ich mich entmündigen lassen solle, damit die Fabrik verkauft werden könnte. Dies hat mich natürlich sehr mißtrauisch gemacht.

Eines Tages kam Geheimrat Dr. Alter zu mir und zog mich in ein Gespräch über Politik. Ich habe den Eindruck gehabt, daß der Geheimrat aus mir

eine Majestätsbeleidigung herauswinden

wollte, um mich dann mit Recht einsperren zu können. Am 9. Oktober schrieb ich einen Brief an die Staatsanwaltschaft, in dem ich um Befreiung bat. Als ich diesen Brief einem Wärter zeigte, sagte dieser: „Wenn Sie Geschichten machen, Sie wissen doch – die Bäder, die werden Sie schon beruhigen und zur Räson bringen!“ Zwei Tage später schrieb ich einen zärtlichen Brief an meine Frau. Ich bemerkte in dem Briefe, daß ich mich nicht mehr in dem eifersüchtigen Wahn befinde und wegen der verschiedenen Dinge, die ich in meiner Krankheit, die nun geheilt sei, begangen habe, um Entschuldigung bitte.

Auf eine Frage des Vorsitzenden, ob dies auch seine wirkliche Anschauung war, erklärte der Zeuge, daß er selbstverständlich nur so getan habe, da er auf Lebenszeit in der Irrenanstalt eingesperrt worden wäre, wenn er seine wahren Gedanken geäußert hätte. Als er sich an den Landtagsabgeordneten Geh. Justizrat und Verwalter der gräflich Schaffgotschschen Güter, Dr. Stephan, brieflich um Hilfe gewendet hatte, sei ihm dies von Dr. Alter junior als „Rückfall“ angerechnet worden. Er sei daraufhin

dreizehn Stunden in die Badewanne

gesteckt worden. Ein Wärter habe ihm hierbei erzählt, daß ein anderer Kranker sogar drei Tage und drei Nächte im Wasser gelegen habe. Bei der Aufnahme habe seine Frau angegeben, er sei starker Alkoholiker, während sie genau wußte, daß er beinahe Abstinenzler sei und höchstens bei Festlichkeiten ein Glas Wein trinke.

Geh. Medizinalrat Dr. Leppmann: Wie ist jetzt das Verhältnis des Zeugen zu seiner Familie?

Zeuge: Ich habe sofort nach meiner Entlassung die Pflegschaft aufheben lassen und meine Geschäfte weitergeführt. Mein Bruder Paul hatte mir sofort den Kredit entzogen; die Wechsel wurden protestiert, und damit war mir der Kredit dermaßen abgeschnitten, daß man mir selbst Kundenwechsel nicht mehr diskontierte. Die Lebensader wurde mir vollständig unterbunden; ich habe deshalb meine Fabrik notgedrungen aufgeben müssen. Mein Bruder Paul hatte alles pfänden lassen, Pferde, Maschinen usw. Er hat sogar den Gerichtsvollzieher beauftragt gehabt, daß

die Pferde die Pfändungsscheine am Halse

tragen sollten.

Der Vorsitzende stellte fest, daß in der Ehescheidungsklage am 6. November 1907 in erster Instanz die Ehe auf Klage und Widerklage geschieden worden und beide Teile als schuldig erklärt worden seien. Die Ehescheidungsklage schwebe in der Berufungsinstanz.

Auf weiteres Befragen des Geh. Medizinalrats Dr. Leppmann bemerkte Lubecki: Er habe die Überzeugung, daß die Ärzte in Leubus bestochen waren.

Hierauf wurde Frau Lubecki, eine kleine, nicht unschöne, dunkelblonde Frau von 38 Jahren, als Zeugin vernommen. Sie bemerkte auf Befragen des Vorsitzenden: zenden: Sie halte ihren Mann noch für geisteskrank, denn sie könne jederzeit schwören, daß sie nicht Ehebruch begangen habe. Sie sei der Überzeugung, der Mann leide noch heute an Eifersuchtswahn, deshalb habe sie es veranlaßt, daß ihr Mann in eine Irrenanstalt gehe.

Auf Befragen des Verteidigers R.-A. Dr. Halpert gab schließlich die Zeugin zu, daß, während ihr Mann in Leubus war, sie sich mit dem Buchhalter Dieterichs geküßt habe. Dieterichs habe sie auch um die Taille gefaßt, sonst sei aber nichts zwischen ihnen vorgekommen.

Sodann wurde Kreisarzt Medizinalrat Dr. la Roche, Beuthen, Oberschlesien, als Zeuge vernommen: Auf Grund der ihm gewordenen Mitteilungen und eigenen Beobachtungen habe er es für dringend erforderlich erachtet, Lubecki in eine geschlossene Irrenanstalt zu bringen. Die Irrenanstalt Leubus liege so schön an der Oder und sei eine so ausgezeichnete Pflegeanstalt, daß sie jedem Geisteskranken nur empfohlen werden könne. Er habe nicht gesagt, Leubus sei ein Privatpensionat, sondern nur: Es herrsche in Leubus volle Bewegungsfreiheit, d.h. man könne jederzeit entlassen werden.

Beisitzer Landgerichtsrat Kämpfe: Der Mann konnte doch nicht jederzeit die Anstalt verlassen.

Zeuge: Aber er konnte jederzeit entlassen werden.

Beisitzer: Das ist doch aber etwas ganz anderes.

Vors.: Haben Sie den Mann körperlich untersucht?

Zeuge: Nein, er war ja körperlich gesund.

Vors.: Sie haben den Mann für geistesgestört erklärt hauptsächlich auf Grund von Mitteilungen seiner Frau.

Zeuge: Allerdings.

Vors.: Haben Sie diese Mitteilungen auf ihre Wahrheit geprüft?

Zeuge: Ich nahm an, daß sie wahr sind.

Vors.: Haben Sie dem Mann das, was Ihnen die Frau mitgeteilt, vorgehalten?

Zeuge: Nein.

Vors.: Das ist doch aber die Grundlage aller Rechtsprechung. Man kann doch niemand verurteilen, ehe man ihm nicht das, was gegen ihn vorgebracht wird, vorhält und ihm zur Verteidigung Gelegenheit gibt. Nun hat sich ergeben, daß das meiste, was die Frau vorgebracht hat, unwahr ist.

Zeuge: Ich würde ihn trotzdem für geisteskrank erklären, da er unaufhörlich von Verfolgungen und Komplotten sprach. Das ist ein Schulbeispiel für Geistesgestörtheit.

Es wurde darauf das Attest des Kreisarztes verlesen, auf Grund dessen die Aufnahme in das Irrenhaus erfolgte.

Kreisarzt Dr. la Roche wiederholte: Lubecki habe auf ihn einen psychopathischen Eindruck gemacht.

Vert.: Haben Sie Veranlassung genommen, mit dem Hausarzt des Herrn Lubecki, der ihn seit 17 Jahren behandelte, Rücksprache zu nehmen?

Zeuge: Nein, ich war der Meinung, Sanitätsrat Dr. Locke sei der Hausarzt, dieser war aber nicht zu Hause.

Vert.: Herr Medizinalrat! Jeder Arzt kann sich irren. Haben Sie kein Bedenken, wenn Sie hören, daß der langjährige Hausarzt niemals das geringste an Lubecki wahrgenommen hat, das auf Geistesgestörtheit schließen ließ?

Zeuge: Das kann mich in meinem Urteil nicht beeinflussen.

Vert.: Das sagen Sie, obwohl Sie den Mann niemals körperlich untersucht haben?

Zeuge: Jawohl.

Vert.: Haben Sie nach der Krankheitsgeschichte des Lubecki gefragt?

Zeuge: Das hielt ich nicht für notwendig, ich wußte, daß Lubecki aus einer gesunden Familie stammte.

Vert.: Haben Sie die Pupille des Lubecki untersucht, haben Sie Sprachstörungen oder Schreibfehler festgestellt?

Zeuge: In dieser Beziehung war alles ausgezeichnet.

Vert.: Und trotzdem hielten Sie den Mann für derartig geistesgestört, daß er aus der Liste der Lebenden gestrichen werden sollte?

Zeuge: Jawohl.

Angeklagter Schneidt: Aus der Vernehmung des Herrn Medizinalrats ist zu entnehmen, daß Lubecki wider seinen Willen in die Irrenanstalt gesperrt worden ist; etwas anderes habe ich in dem Artikel nicht behauptet.

Am zweiten Verhandlungstage wurde nochmals Frau Lubecki als Zeugin vernommen. Sie bekundete auf Befragen des Vorsitzenden: Sie habe lediglich die Verpflegungskosten für ihren Mann in der Irrenanstalt Leubus bezahlt. Sie hatte auch nur das Interesse, ihren Mann so schnell als möglich wieder herauszubekommen. Nochmals versicherte sie, daß es erst, nachdem ihr Mann in Leubus war, zu Liebeleien zwischen ihr und Dieterichs gekommen sei. Es seien aber nur Zärtlichkeiten ausgetauscht worden. Sie habe am Tage vor der Entlassung ihres Gatten aus Leubus mit Dieterichs einen Vertrag geschlossen, wonach letzterer, im Falle er von ihrem Gatten entlassen werde, von ihr eine Remuneration erhalten solle.

Verteidiger R.-A. Dr. Halpert: Er wolle glauben, daß zwischen der Zeugin und Dieterichs nur Zärtlichkeiten ausgetauscht worden seien. An der Aufklärung dieser Frage habe er nur das Interesse, um den angeblichen lichen Eifersuchtswahn des Lubecki festzustellen.

Es wurde alsdann Geschäftsführer Dieterichs, Beuthen, Oberschlesien, ein großer, stattlicher, dunkelblonder Mann mit schöngepflegtem Schnurrbart, als Zeuge in den Saal gerufen. Er sei Geschäftsführer bei Lubecki gewesen. Als Lubecki nach Leubus kam, sei er (Zeuge) 25 Jahre alt gewesen. Frau Lubecki habe, nachdem ihr Mann nach Leubus gekommen war, heftig geweint und große Besorgnis wegen der Fortführung des Geschäfts geäußert. Er habe Frau Lubecki getröstet. Bei dieser Gelegenheit sei es zwischen ihm und Frau Lubecki zu Zärtlichkeiten gekommen.

Vors.: Sie sollen zu einem Freund gesagt haben: „Ich kann mich vor der Frau gar nicht retten!“

Zeuge: Das ist mir nicht erinnerlich, ich glaube auch nicht, daß ich das gesagt habe.

Vors.: Der betreffende Mann ist Ihr Freund, er hat doch kein Interesse, in dieser Beziehung eine Unwahrheit zu sagen?

Zeuge (zögernd): Ich glaube nicht, eine solche Äußerung getan zu haben.

Vors.: Sie können sich also an eine solche Äußerung nicht erinnern?

Zeuge: Nein.

Vors.: Hielten Sie Lubecki, ehe er nach Leubus kam, für geistesgestört?

Zeuge: Das kann ich nicht sagen, jedenfalls war Herr Lubecki in einer Weise nervös, wie es mir noch niemals vorgekommen war.

Vors.: Befand er sich nach Ihrer Meinung in einem Zustande, daß er für seine Handlungen nicht verantwortlich gemacht werden konnte?

Zeuge: Jawohl.

Vors.: Ist Ihnen bekannt, daß Herr Lubecki mit 50 Mark angefangen und in verhältnismäßig kurzer Zeit ein Vermögen von 2-300000 Mark hatte?

Zeuge: Das habe ich gehört. Als Herr Lubecki aber nach Leubus kam, war das Geschäft schon sehr wesentlich zurückgegangen.

Auf Befragen des Verteidigers R.-A. Dr. Halpert gab der Zeuge zu: Am Tage vor der Entlassung des Lubecki aus Leubus habe er mit Frau Lubecki einen Vertrag geschlossen, wonach er im Falle seiner Entlassung von seiten des Ehemannes das Gehalt für vier Monate und eine Entschädigung von 500 Mark zu erhalten habe.

Kaufmann Erdrink: Dieterichs habe ihm einmal erzählt, Frau Lubecki verfolge ihn mit Liebesanträgen. Wenn sie wenigstens ein hübsches Weib wäre, würde er darauf eingehen, er könnte alsdann alles erreichen. Dieterichs galt allerdings in dieser Beziehung als großer Renommist.

Direktor der Leubuser Provinzial-Irrenanstalt, Geh. Sanitätsrat Dr. Alter bekundete auf Befragen des Vorsitzenden: sitzenden: Er sei, als Lubecki am 7. September 1905 nach Leubus kam, auf Urlaub gewesen. Daß die Aufnahme in vollständig korrekter Weise erfolgt sei, werde Landesrat Schölzel, Breslau, der im Auftrage des Landeshauptmanns der Provinz Schlesien der Verhandlung beiwohnte, zweifellos bestätigen.

Verteidiger R.-A. Dr. Halpert: Nach dieser Bemerkung halte ich es für wahrscheinlich, daß Herr Landesrat Schölzel als Zeuge vernommen werden wird. Da laut Strafprozeßordnung die Beweisaufnahme in Abwesenheit der Zeugen geführt werden muß, beantrage ich, den Herrn Landesrat zu ersuchen, den Saal zu verlassen.

Angeklagter Schneidt: Ich schließe mich dem Antrage meines Herrn Verteidigers an, da ich ausdrücklich die Vernehmung des Herrn Landesrats beantrage, um festzustellen, ob Herr Lubecki in korrekter Weise in die Irrenanstalt Leubus eingesperrt worden ist.

Der Gerichtshof beschloß, den Landesrat Schölzel sofort als Zeugen zu vernehmen.

Landesrat Schölzel: Er sei 23 Jahre praktischer Jurist gewesen und seit fünf Jahren Mitglied der Provinzialverwaltung der Provinz Schlesien. Die öffentlichen Irrenanstalten unterstehen, laut gesetzlicher Bestimmungen, den Provinzialverwaltungen. Die Bestimmungen über die Unterbringung Geisteskranker in die Irrenanstalten sind in jeder Provinz verschieden. den. In der Provinz Schlesien gibt es augenblicklich über 9000 Geisteskranke. Die große Mehrheit der Geisteskranken werden vom Landarmenverband bzw. Ortsarmenverband überwiesen. Die Aufnahme in eine Irrenanstalt darf nach den gesetzlichen Bestimmungen nur erfolgen, wenn entweder der Kranke oder dessen gesetzlicher Pfleger damit einverstanden ist. Beides ist aber fast niemals der Fall, da einmal der Kranke fast niemals in der Lage ist, eine solche Erklärung abzugeben und ein gerichtlicher Pfleger fast niemals bei der Aufnahme vorhanden ist. Wir veranlassen die Aufnahme, sobald sie von seiten des Landarmen- oder Ortsarmenverbandes und der Polizeibehörde als dringend bezeichnet wird. Wir veranlassen alsdann ungesäumt die Ernennung eines gerichtlichen Pflegers und holen die Genehmigung des letzteren ein. Bei vermögenden Geisteskranken genügt die Zustimmung des Kranken oder seines gesetzlichen Pflegers. Wenn der Kranke nicht mehr in der Lage ist, eine solche Erklärung abzugeben und ein gesetzlicher Pfleger noch nicht vorhanden ist, dann kann die Aufnahme erfolgen, wenn ein Physikatsattest und ein Polizeiattest die Aufnahme als notwendig bezeichnen. Im vorliegenden Falle hatte der Kranke selbst sein Einverständnis mit der Aufnahme gegeben.

Vert.: Hatte der Schwager, der Herrn Lubecki nach Leubus gebracht hatte, die Berechtigung, die Aufnahme me zu beantragen?

Zeuge: Keineswegs. Mit dem Schwager wurde ja auch nur ein Vertrag geschlossen, um eine Person zu haben, an die man sich wegen der zu zahlenden Verpflegungskosten halten konnte.

Vert.: Herr Landesrat, Sie haben der Verhandlung beigewohnt und gehört, daß die Eheleute Lubecki beide der Ansicht waren, Leubus sei ein Privatpensionat. Halten Sie alsdann nicht eine Täuschung für vorliegend?

Zeuge: Ich nehme an, daß die Genehmigung von seiten Lubeckis in Leubus erfolgt ist. Lubecki hat doch wohl gesehen und sehen müssen, daß Leubus eine Irrenanstalt ist.

Vert.: In dem Physikatsattest wird Lubecki als geisteskrank erklärt, durfte alsdann seine Erklärung um Aufnahme als gültig angesehen werden?

Zeuge: Lubecki war vollständig verfügungsfähig.

Vert.: Ist die Verwaltung einer Irrenanstalt befugt, Briefe und Anträge eines Kranken zurückzuhalten?

Zeuge: Über die Beförderung von Briefen von Kranken hat die Irrenhausverwaltung zu befinden. Dagegen müssen Anträge, wenn nicht etwa eine Querulanz festgestellt ist, weitergegeben werden. Nur wenn alle Instanzen aus den gestellten Anträgen die Gewißheit erlangen, daß der Kranke Querulant sei, ist die Irrenhausverwaltung berechtigt, die Anträge zurückzubehalten. rückzubehalten.

Vert.: Sachgemäße Anträge müssen also unter allen Umständen weitergegeben werden?

Zeuge: Jawohl.

Der Verteidiger richtete noch eine Reihe Fragen an den Zeugen, wobei die Ansichten beider auseinandergingen.

Vors.: Sie sind ja beide Juristen, da ist es eigentlich selbstverständlich, daß die Ansichten zwischen beiden Herren verschieden sind. (Allgemeine Heiterkeit.)

Landesrat Schölzel bemerkte im weiteren auf Befragen des Vorsitzenden: Leubus gelte allgemein als die beste Irrenanstalt in Schlesien.

Geh. Sanitätsrat Dr. Alter bekundete darauf: Der Zustand des Lubecki war derartig, daß Bettruhe und Bäder geboten waren. Das ist die mildeste Form von Beruhigungsmitteln. Ich muß es als vollständig unwahr bezeichnen, daß Bäder als Strafmittel verordnet und von den Kranken als besonderes Strafmittel gefürchtet werden. Die Bäder werden lediglich als therapeutische Mittel angewendet. Im Oktober besserte sich der Zustand Lubeckis; es wurde daher in Aussicht genommen, ihn Ende November zu entlassen. Wir rieten der Frau Lubecki, den Mann in ein offenes Sanatorium zu geben und schlugen Wölfelsgrund vor. Weshalb Lubecki nicht den Landeshauptmann zu sprechen bekam, ist mir nicht mehr erinnerlich. Der Landeshauptmann inspiziert alljährlich zweimal die Anstalt. Sobald der Besuch angekündigt ist, werden die Oberpfleger aufgefordert, eine Liste derjenigen Kranken aufzustellen, die den Landeshauptmann, zu sprechen wünschen. Wenn aber der Landeshauptmann von einzelnen Kranken zu lange in Anspruch genommen wird, dann kann er aus Mangel an Zeit nicht zu allen Kranken kommen, die ihn zu sprechen wünschen. Er kann auch nicht immer alle Abteilungen inspizieren. Daß Lubecki während der Anwesenheit des Landeshauptmanns extra eingeschlossen wurde, ist unwahr. Lubecki hatte am 30. September einen Fluchtversuch unternommen; es wurden ihm deshalb, wie dies bei Fluchtversuchen immer geschieht, die Kleider fortgenommen und er in eine besondere Beobachtungsstation gebracht. Das geschah aber keineswegs aus Anlaß des Besuches des Landeshauptmanns.

Vors.: Der Oberarzt Herr Dr. von Kunowski ist Ihr Schwiegersohn und Herr Dr. Alter junior Ihr Sohn?

Zeuge: Jawohl, mein Sohn ist inzwischen Direktor der Fürstlich Lippe-Detmoldschen Landes-Irrenanstalt geworden.

Vors.: Ich bin zu meinem Bedauern genötigt, Ihnen die Frage vorzulegen: Erhalten die Ärzte außer ihrem Gehalt eine Remuneration?

Zeuge: Keinen Pfennig. Ich will mitteilen, daß eines Tages meinem Sohn von Angehörigen eines Pensionärs (nicht von der Familie Lubecki) 500 Mark zugesandt wurden. Mein Sohn hat das Geld sofort zurückgesandt. Auf weiteres Befragen bemerkte der Zeuge: Ein Pfleger komme bei den Pensionären, d.h. den Kranken, die aus eigenen Mitteln Bezahlung leisten, gewöhnlich auf drei Kranke. Pfleger seien zumeist Reservisten, die, sobald sie vom Militär kommen, in der Anstalt ausgebildet werden. Die Pfleger der Pensionäre seien aber zumeist ältere Leute.

Briefe von Kranken werden von diesen dem Oberpfleger übergeben, letzterer übergibt sie der Verwaltung. Die Briefe werden gewöhnlich befördert; wenn sie aber geschrieben sind, um die Entlassung zu bewirken und letztere in Aussicht genommen ist, dann werden sie zumeist nicht befördert.

Hierauf wurden die Briefe verlesen, die Lubecki an den Landeshauptmann, an den Justizrat Kaiser in Beuthen, Oberschlesien, und an seinen Schwager, den Rittergutsbesitzer Albrecht, gerichtet hatte. In allen diesen Briefen beteuerte Lubecki, daß er widerrechtlich in Leubus interniert, und, da er nicht geisteskrank sei, bitte er, seine Freilassung zu bewirken.

Geheimrat Dr. Alter: Da die Ankunft des Landeshauptmanns angekündigt war, wurden die Briefe nicht befördert.

Vors.: Weshalb sind die Briefe an Justizrat Kaiser und den Rittergutsbesitzer Albrecht nicht befördert worden?

Zeuge: Weil die Ankunft des Herrn Landeshauptmanns angekündigt war.

Vors.: Das ist doch aber absolut nicht gerechtfertigt, der Mann verlangte doch Hilfe von außen. Sie haben also auch den Brief an Justizrat Kaiser nicht befördert?

Zeuge: Nein, das hielt ich aus den angeführten Gründen nicht für nötig. (Heiterkeit im Zuhörerraum.)

Vors.: Ich muß dringend um Ruhe bitten. Sollte sich ein derartiger Vorgang wiederholen, dann werde ich den Zuhörerraum sofort räumen lassen. Herr Geheimrat, wenn die Ankunft des Herrn Landeshauptmanns nicht angekündigt gewesen wäre, wären die Briefe alsdann befördert worden?

Zeuge: Jawohl.

Vert.: Weshalb ist nun Herr Lubecki dem Herrn Landeshauptmann nicht vorgestellt worden?

Zeuge: Das weiß ich nicht mehr.

Angeklagter Schneidt: Wäre es nicht besondere Pflicht der Anstaltsverwaltung gewesen, gerade Herrn Lubecki, der so viele Anträge auf Entlassung gestellt hatte, dem Herrn Landeshauptmann vorzuführen?

Vors.: Der Herr Zeuge hat bereits erklärt, er erinnere sich nicht, weshalb dies nicht geschehen sei.

Auf weiteres Befragen des Verteidigers bemerkte der Zeuge: Lubecki habe an Affektpsychose auf neuropathischer Grundlage gelitten. Es sei wohl der Verdacht der Paralyse entstanden, dieser Verdacht habe sich aber nicht bestätigt.

Vert.: Sie haben in der Hauptsache die Verrücktheit des Herrn Lubecki auf den Eifersuchtswahn aufgebaut?

Zeuge: Für uns war in der Hauptsache maßgebend, in welcher Weise sich der Eifersuchtswahn äußerte.

Vert.: Wenn Sie nun hören, daß die Eifersucht berechtigt war, halten Sie alsdann an dem Krankheitsbild fest?

Zeuge: Ich habe bereits gesagt, wir haben der Eifersucht wenig Wert beigelegt.

Vert.: Haben Sie an Lubecki einmal einen Tobsuchtsanfall wahrgenommen?

Zeuge: Lubecki war wohl sehr aufgeregt, einen direkten Tobsuchtsanfall haben wir nicht wahrgenommen.

Vert.: Sie sollen einmal angeordnet haben, daß Lubecki mit Schwerkranken zusammen ins Bad gesteckt werde? Diese Kranken sollen Lubecki mit ekelhaftem Schmutz beworfen haben. Lubecki soll aus diesem Anlaß geweint haben. Darauf sollen Sie gesagt haben: Ein Mann, welcher weint, gehört ins Irrenhaus. (Große Bewegung im Zuhörerraum.)

Zeuge: Ich glaube nicht, daß ich das gesagt habe.

Vert.: Sie geben aber die Möglichkeit zu, eine solche Äußerung getan zu haben?

Zeuge (nach einigem Zögern): Nein, ich halte es für ausgeschlossen. Der Zeuge bekundete im weiteren auf Befragen: Die Bäder haben einen Wärmegrad von 340 C. Lubecki wurde im Höchstfalle 13 Stunden im Bad gehalten, andere Kranke bisweilen mehrere Tage und Nächte. Die Kranken essen, schlafen, lesen und spielen Skat in der Wanne. Er gebe zu, daß den Kranken das Baden oftmals unangenehm sei. Es gebe eben verschieden ärztliche Verordnungen, die Kranke unangenehm berühren. Medizin sei zumeist bitter.

Auf Befragen des Verteidigers bemerkte der Zeuge: Man kann den Krankheitszustand des Lubecki mit Stimmungsirrsinn übersetzen.

Staatsanwalt Dr. Rasch: Er sei der Meinung, daß die Beförderung der Briefe vom Irrenhausinsassen der diskretionären Gewalt der Direktion unterstellt sei.

Verteidiger R.-A. Dr. Halpert (mit erhobener Stimme): Ich protestiere mit voller Entschiedenheit gegen diese Behauptung des Herrn Staatsanwalts. Das Gesetz bestimmt ausdrücklich, daß Briefe von Irrenhausinsassen auf alle Fälle befördert werden müssen. Es ist ein Irrtum von Herrn Medizinalrat Dr. Leppmann, wenn er diese Verpflichtung nicht anerkennt, weil im Reglement hierüber keine Bestimmung enthalten ist. Wo eine klare gesetzliche Bestimmung vorhanden ist, bedarf es keiner Reglementsbestimmung. Herr Geheimrat, sind Sie der Meinung, daß es dem Kranken zur Beruhigung dient, wenn er wider seinen Willen stundenlang in ein Bad gesteckt wird, das er als Strafmittel betrachtet?

Zeuge: Ich habe bereits gesagt, daß das Bad kein Strafmittel ist, wenn es auch von den Kranken als solches angesehen wird, es ist trotzdem ein Beruhigungsmittel.

Vert.: Haben Sie Wahrnehmungen gemacht, daß Lubecki Trinker war?

Zeuge: Nein.

Vert.: Hätten sich nicht Abstinenzerscheinungen ergeben müssen, wenn Lubecki Trinker gewesen wäre?

Zeuge: Bei nur mäßigen Trinkern sind Abstinenzerscheinungen nicht wahrzunehmen.

Vert.: Ist auch ein mäßiger Trinker als Alkoholiker zu bezeichnen?

Zeuge: Das kommt ganz auf die körperliche Beschaffenheit des Individuums an.

Dr. med Przybilski, Beuthen, Oberschlesien: Er sei 17 Jahre Hausarzt bei Lubecki gewesen und habe niemals irgendeine Wahrnehmung gemacht, die auf Geistesgestörtheit schließen ließ. Er sei daher ungemein erstaunt gewesen, als er hörte, Lubecki sei nach Leubus gebracht worden. Auf weiteres Befragen, des Verteidigers äußerte der Zeuge: Lubecki sei wohl sehr lebhaften Temperaments, von einem Irrsinn habe er aber niemals das geringste wahrgenommen. Auf Befragen des Vorsitzenden bestritt der Zeuge, mit Frau Lubecki irgendwelche unlautere Beziehungen unterhalten zu haben. Auf Ansuchen der Frau Lubecki habe er an die Anstaltsdirektion in Leubus geschrieben: Auf Grund von Mitteilungen der Frau Lubecki und seiner eigenen Beobachtung fühle er sich veranlaßt, der Anstaltsdirektion anzuzeigen, daß Lubecki ungemein nervös, sinnlich erregt, Trinker sei und an Eifersuchtswahn leide. Lubecki habe auch an Tobsuchtsanfällen gelitten. Ein anderes Mal habe er der Anstaltsdirektion geschrieben: „Ich höre von den Angehörigen Lubeckis, daß letzterer entlassen werden solle; ich kann dies nicht billigen.“

Vors.: Diese beiden Briefe haben Sie nicht auf Grund Ihrer eigenen Beobachtungen geschrieben?

Zeuge: Nein, lediglich auf Grund von Mitteilungen der Frau Lubecki. (Große Bewegung im Zuhörerraum.)

Vors.: Sie hielten die Angaben der Frau Lubecki für wahr?

Zeuge: Allerdings.

Vert.: Und Sie hielten es mit Ihrem Gewissen für vereinbar, auf bloße Angaben der Frau Lubecki derartige Briefe an die Anstaltsdirektion zu schreiben?

Dr. Przybilski: Ich hielt eben die Angaben der Frau Lubecki für wahr.

Vert.: Der Anstaltsdirektion war es bekannt, daß Sie 17 Jahre Hausarzt des Lubecki waren; hat die Direktion jemals Veranlassung genommen, sich bei Ihnen nach dem Krankheitszustande des Lubecki zu erkundigen?

Zeuge: Nein.

Oberarzt Dr. v. Kunowski: Am 7. September 1905 habe er Lubecki aufgenommen. Als Grundlage galt ihm das Physikatsattest, das Polizeiattest und insbesondere das Einverständnis Lubeckis selbst. Dieser konnte über den Charakter der Anstalt nicht einen Augenblick im Zweifel sein. Die Leubuser Anstalt sei in Schlesien ebenso als Irrenanstalt bekannt, wie in Berlin Dalldorf. Lubecki habe auch sofort sehen müssen, daß er sich in einer geschlossenen Irrenanstalt befinde. Er hatte sich ausdrücklich einverstanden erklärt, in der Anstalt zu bleiben. Bisweilen war Lubecki sehr niedergeschlagen, wälzte sich an der Erde, weinte wie ein Kind, klagte, daß er finanziell ruiniert sei und daß er seiner Frau schweres Unrecht getan habe; seine Frau sei ein Engel. Bald darauf schimpfte er wieder auf seine Frau. Dann war er wieder in ungemein gehobener Stimmung, er hatte die kühnsten Pläne. Außerdem belästigte er vielfach die anderen Kranken mit seinen Klagen, so daß sich diese beschwerten. Die ganze Physiognomie und das Verhalten des L. ließen keinen Zweifel, daß der Mann geistesgestört war. Zur Beruhigung mußten ihm Bettruhe und warme Bäder verordnet werden. Weshalb er nicht dem Landeshauptmann vorgestellt wurde, sei ihm nicht erinnerlich; irgendein Grund habe jedenfalls nicht vorgelegen. Er müsse hierbei bemerken, daß er niemals von irgendeiner Seite eine Remuneration erhalten habe. Die Anstaltsverwaltung habe nicht die Verpflichtung, sämtliche Briefe der Kranken zu befördern. Wenn die Anstaltsverwaltung wisse, daß die Behörden von Kranken mit Briefen überschwemmt werden, oder wenn Aussicht vorhanden sei, daß der Kranke bald entlassen werde, dann werden Briefe nicht befördert.

Vert.: Diese beiden Fälle treffen aber zum mindesten bei den Briefen an Justizrat Kaiser und den Rittergutsbesitzer Albrecht nicht zu. Weshalb sind nicht wenigstens diese Briefe befördert worden? Dagegen ein Brief Lubeckis an seine Frau, in dem er zugab, geisteskrank zu sein und in der Anstalt bleiben zu wollen? In diesem Briefe hatte Lubecki nämlich simuliert.

Zeuge: Ich kann nur wiederholen, die Verwaltung hat nicht die Pflicht, alle Briefe von Kranken zu befördern.

Oberarzt Dr. Blumreich, Sorau, Oberschlesien Lubecki sei freiwillig zwecks Beobachtung seines Geisteszustandes in seine Anstalt gekommen. Er habe ihn vierzehn Tage lang beobachtet und weder eine Wahnidee noch Halluzinationen an ihm wahrgenommen.

Rittergutsbesitzer Albrecht: Er sei der Schwager Lubeckis. Er habe eine Schwester des letzteren zur Frau. Lubecki habe sich in der letzten Zeit derartig aufgeführt, daß er ihn für geistesgestört gehalten habe. Er habe geradezu an Eifersuchtswahn gelitten und befürchtet, seine Frau könne ihm den Hals abschneiden oder ihn vergiften. Er habe weder geschlafen noch etwas in seiner Behausung gegessen. Deshalb habe er den Kreisarzt rufen lassen und sei auch damit einverstanden gewesen, daß Lubecki in eine Irrenanstalt komme. Medizinalrat Dr. la Roche habe ausdrücklich gesagt: Gehen Sie nach Leubus, das ist eine Provinzial-Irrenanstalt, von dort können Sie jederzeit entlassen werden, da die Leute nicht so interessiert sind als Privatanstalten. Sie können ja ins Pensionat gehen, ein solches ist mit der Irrenanstalt verbunden. Lubecki, der ehemals ein sehr reicher Mann war, habe, als er nach Leubus ging, weder Holz noch einen Pfennig Geld im Hause gehabt. Er habe dem Lubecki 20000 Mark geliehen und ihn, da er das Geld nicht zurückerhalten konnte, verklagt. Lubecki habe eine Gegenklage auf Zahlung von 51000 M. gegen ihn angestrengt, da er ihn dadurch, daß er seine Unterbringung in Leubus veranlaßte, finanziell ruiniert habe.

Am dritten Verhandlungstage wurde nochmals Frau Lubecki vernommen. Ihr Mann habe sie im Juni 1905 sehr heftig geschlagen, so daß ihr die Haarnadeln verbogen wurden und sie aus Nase und Mund heftig geblutet habe. Am folgenden Tage habe ihr Mann sie unter Weinen und in kniefälliger Weise

um Verzeihung gebeten.

Am dritten Tage habe er sie wieder heftig geschlagen. Bei diesen Vorkommnissen habe er zugegeben, mit dem Dienstmädchen Verkehr gehabt zu haben. Das Mädchen habe behauptet, er habe sie gezwungen. Das Verhalten des Mannes war derartig, daß sie und viele andere Leute an seiner geistigen Gesundheit zweifelten. Sie habe dem Manne gesagt, es müsse ein Arzt zu Rate gezogen werden. Ihr Mann habe versetzt: Aber lasse um Gotteswillen nicht Dr. Przybilski holen, der läßt mich sofort ins Irrenhaus sperren. Ihre Verwandten sagten zu ihr: Du wirst noch so lange warten, bis ein Unglück passiert sein wird. Sie habe sich schließlich an den Kreisarzt gewandt. Als ihr Mann aus Leubus kam, habe er sie wiederum heftig geschlagen. Dasselbe habe er getan, als er aus Sorau kam, und zwar habe er damals ein Verhalten an den Tag gelegt, daß sie ernstlich in Erwägung gezogen habe,

ob sie nicht von neuem den Antrag stellen solle, ihn ins Irrenhaus zu bringen.

Der Mann habe sie alttestamentarische H ... genannt, die auf dem Ringe von zwei Pferden auseinandergerissen werden müßte. Er habe ihr ins Gesicht gespuckt und gesagt: „Der kleine Paul muß sterben, denn sein Vater hat mit dir H ..... getrieben.“ Einige Tage darauf stand ihr Mann am Fenster. Als sie vorüberging, steckte er ganz weit die Zunge heraus. Von diesem Augenblick hatte sie die Überzeugung, daß es mit ihrem Manne noch viel schlimmer geworden sei.

Vert.: Ich beantrage, zunächst Herrn Lubecki bezüglich dieser Aussagen zu vernehmen und ferner: das Dienstmädchen, das damals bei Lubecki war, als Zeugin zu laden. Ich werde dieser betreffs der Glaubwürdigkeit der Frau Lubecki eine Reihe Fragen vorlegen.

Lubecki bestritt die Richtigkeit der Aussagen seiner geschiedenen Frau. Als ich aus Leubus kam, fragte ich meine Frau, ob sie mich noch liebe; da sie dies verneinte und offen bekannte, sie liebe Dieterich, habe ich ihr ins Gesicht gespuckt und gesagt: Du bist nicht wert, daß ich dich Frau nenne. Geschlagen habe ich meine Frau überhaupt nicht, zumal ich gar kein Interesse mehr an ihr hatte. Aber ich muß bekennen, daß ich, wo ich sie auch traf, ihr ins Gesicht gespuckt habe. Im November 1905 sollte ich aus Leubus entlassen werden. Als mir der Oberarzt, Dr. v. Kunowski, auf mein Befragen erklärte: der Beschluß bezüglich meiner Entlassung sei aufgehoben, sagte ich: Aber, Herr Oberarzt, ich bin doch nicht verrückt. Der Oberarzt erwiderte: Das wissen Sie eben nicht und Unkenntnis des Gesetzes schützt vor Strafe nicht! (Bewegung im Zuhörerraum.) Herr Oberarzt, versetzte ich, ich bin doch kein Verbrecher; ich habe doch zum mindesten den Anspruch, als Kranker und nicht als Sträfling behandelt zu werden. Der Oberarzt drehte mir den Rücken und entfernte sich.

Angeklagter Schneidt: Frau Lubecki, ist es Ihnen nicht aufgefallen, daß Ihr Mann während der ganzen Verhandlung, selbst als die schlimmsten Dinge über ihn und seine Familie vorgebracht wurden,

eine eisige Ruhe

bewahrt hat, während Sie mehrfach dazwischenriefen, so daß Sie wiederholt vom Herrn Vorsitzenden zur Ruhe ermahnt werden mußten?

Zeugin: Davon verstehe ich nichts, ich bin nicht Psychiater.

Schneidt: Ist es wahr, daß, obwohl Sie gehört haben, Dieterichs habe gesagt: Frau Lubecki verfolgt mich mit Liebesanträgen, sie ist mir aber zu häßlich, Sie trotzdem Freitag und Sonnabend während der Pausen mit Dieterichs in einer gegenüber dem Gerichtsgebäude gelegenen Restauration zusammen gegessen und sich freundschaftlich unterhalten haben?

Zeugin: Das ist richtig, freundschaftlich habe ich mich aber nicht mit Dieterichs unterhalten.

Kaufmann Paul Lubecki, Beuthen, Oberschlesien: Er habe längere Zeit mit seinem Bruder einen Kolportage-Buchhandel betrieben. Das Geschäft sei sehr gut gegangen; durch politische Gegensätze sei er mit seinem Bruder auseinandergekommen. Nachdem er aus dem Geschäft ausgeschieden war, habe sein Bruder eine Möbelfabrik errichtet, obwohl er absolut nichts davon verstanden habe. Es hatte den Anschein, daß sein Bruder mit der Möbelfabrik gute Geschäfte machte. Als aber sein Bruder nach Leubus gebracht wurde, sei nicht ein Pfennig im Hause und auch kein Holz vorhanden gewesen. Er bestreite, mit seiner Schwägerin irgendwelche unlauteren Beziehungen unterhalten zu haben. Sein Bruder habe kurz vor seiner Einlieferung nach Leubus auf seine (des Zeugen) damals 19jährige Tochter in seiner Wohnung ein Sittlichkeitsattentat unternommen. Er habe selbst beobachtet, daß sein Bruder, insbesondere kurz vor seiner Überführung nach Leubus, mehrere Tobsuchtsanfälle gehabt habe. Um das Geschäft weiterführen zu können, sei Frau Lubecki genötigt gewesen, beim Vormundschaftsgericht die Entmündigung ihres Mannes und ihre Ernennung als Pflegerin zu beantragen. Einige Zeit, nachdem sein Bruder aus Leubus zurückgekehrt war, habe er ihn besucht, da er gehört hatte, daß er wieder sehr aufgeregt sei. Er hatte deshalb die Absicht, ihn zu beruhigen. Der Bruder habe ihn aber sofort, ohne jede Veranlassung, gewürgt, geschlagen und geschrien: „Du Schuft, du Schurke! Dein Junge muß sterben!“ Sein kleiner Sohn lag damals schwer krank. Lediglich in der Notwehr habe er mit seinem Stock den Bruder über den Kopf geschlagen. Darauf habe ihm sein Bruder ein Auge ausdrücken wollen. Er habe damals sofort die Empfindung gehabt, daß sein Bruder geistesgestört sei. Er halte seinen Bruder noch heute für geisteskrank.

Direktor Dr. Alter jr.: Er habe sich ein Urteil über Emanuel Lubecki gebildet, und zwar vollständig unabhängig von jedem ärztlichen Zeugnis und ebenso unabhängig von jeder Mitteilung der Angehörigen. Er habe Lubecki sofort nach seiner Einlieferung eingehend untersucht und alle Merkmale einer Geisteskrankheit an ihm festgestellt. Der Mann sei von einem Extrem ins andere gefallen. Zunächst klagte Lubecki über das Verhalten seiner Frau. Am folgenden Tage war er wie umgewandelt. Der Mann fühlte sich außerdem verfolgt; er behauptete: es wäre der Versuch gemacht, durch die Türritze auf ihn einzuwirken, die Pfleger seien gegen ihn voreingenommen. Er lärmte und schrie bisweilen derartig, daß nicht ein Wort zu verstehen war.

Vors.: Benahm er sich wie ein Geisteskranker?

Zeuge: Genau wie ein Geisteskranker.

Vors.: Haben Sie von jemandem irgendeine Vergütung empfangen?

Zeuge: Ich habe weder jemals Geld noch ein Angebot empfangen. Was nun die Beförderung der Briefe anlangt, so bestand bei uns der Grundsatz, Briefe an Staatsanwaltschaften sämtlich zu befördern. Wir sind in dieser Beziehung sogar so weit gegangen, daß wir von Staatsanwaltschaften ersucht wurden, dafür zu sorgen, daß sie nicht mit Briefen gar zu sehr überschwemmt werden. Alle Briefe von Lubecki sind nicht befördert worden, zumal er oftmals hinterher sagte: Ich bin ein Schuft, ein Schurke, es ist sehr gut, Herr Doktor, daß die Briefe nicht abgeschickt worden sind. Daß Lubecki den Wunsch geäußert hat, den Landeshauptmann sprechen zu wollen, kann ich nicht glauben; hätte er einen solchen Wunsch geäußert, dann würde ich ihm gesagt haben: „Teilen Sie dies dem Oberpfleger mit.“ Es lag absolut keine Ursache vor, Herrn Lubecki dem Landeshauptmann nicht vorzustellen. Wir haben so viel Kranke, daß wir froh sind, wenn wir einen weniger haben.

Vors.: Wohl ebenso, wie wir froh sind, wenn wir einen Prozeß weniger haben? (Allgemeine Heiterkeit.)

Angeklagter Schneidt: Weshalb wurde aber der Mann trotz aller Bitten nicht entlassen?

Zeuge: Darüber hatte ich nicht zu befinden, das war Sache des Direktors.

Auf weiteres Befragen bekundete der Zeuge: Lubecki habe ohne jede Scham von den intimsten Vorgängen gängen seines Ehelebens gesprochen. Oft sei er verstört gewesen, er bezog jede Äußerung von Pflegern und anderen Leuten auf sich und bildete sich ein, daß an den Wänden gehorcht werde. Er sah in jeder Maßnahme eine ungeheuerliche Beeinträchtigung seiner Person. Bald lachte er und sprang im Zimmer umher, bald warf er sich auf die Knie, rang die Hände und geriet in Verzweiflung. Er vernachlässigte auch sein Äußeres, so daß es den übrigen Insassen, die den besseren Ständen angehörten, unangenehm war. Er lief in Strümpfen oder Pantoffeln umher, oft in Hemdärmeln. Er hatte verschiedene Eingaben an den Landeshauptmann, an den Staatsanwalt u.a., verfaßt, bald darauf kam er aber immer und sagte: „Ich bin der größte Narr und Dummkopf gewesen, daß ich so etwas geschrieben habe. Bitte, halten Sie doch die Sachen zurück, schicken Sie sie nicht ab!“ Unwahr ist es, daß Herrn Lubecki infolge des Badens die Haut in Fetzen abgegangen sei. Die Behandlung mit Dauerbädern wird in chirurgischen Anstalten bei Verbrennungen auch in Anwendung gebracht. Es ist bedauerlich, daß die öffentliche Meinung in bezug auf die Dauerbäder so falsch beeinflußt wird.

Die Behandlungsmethoden,

die der Krankheitszustand des Lubecki erforderlich machte, sind in der humansten Weise angewendet worden. Wenn die Bäder länger als drei Stunden verordnet ordnet wurden, so ist dies eben erforderlich gewesen.

Angeklagter Schneidt: Mir ist von verschiedenen Seiten mitgeteilt worden, daß die Kranken gerade durch die sogenannte Dauerbadbehandlung, die sie als einen Ersatz für die Prügelstrafe bezeichnen, in eine kolossale Aufregung versetzt werden und entsetzliche Qualen ausstehen.

Dr. Alter: Man kann doch nicht einen Geisteskranken so behandeln, wie er es wünscht. Im übrigen hat Herr Lubecki die Badebehandlung selbst gelobt und wiederholt geäußert, daß ihm die Bäder sehr wohltun.

Rechtsanwalt Dr. Halpert: Es liegt aber doch die Möglichkeit vor, daß Herr Lubecki auch dies nur vorgetäuscht hat, genau so, wie er, um endlich aus der Anstalt herauszukommen, sich als von schwerer Krankheit genesen bezeichnet hatte. Wie kommt es denn aber, daß von allen Dingen, die Sie hier zum Vortrag gebracht haben, so gut wie gar nichts in der Krankengeschichte steht?

Zeuge Dr. Alter: Man darf auf eine derartige Krankengeschichte nicht allzuviel Gewicht legen. Es sind dies nur Stichproben und Bruchstücke, die aus dem Vollen herausgegriffen sind. Man kann eine Krankengeschichte mit einzelnen Mosaiksteinen vergleichen, die erst nach kunstgerechter Zusammensetzung durch einen Arzt ein vollkommenes und wahrheitsgetreues Bild geben.

Oberarzt Dr. Kunowski: Wenn ein Zweifel obwaltet über die wohltätige Wirkung der Dauerbäder, und daß die Kranken sie nicht als Ungemach empfinden, so gebe ich anheim, einen zufällig im Zuhörerraum anwesenden ehemaligen Insassen der Anstalt Leubus darüber zu befragen.

Vors.: Das wird nicht für notwendig erachtet.

Angeklagter Schneidt: Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer!

Vorsitzender Landgerichtsdirektor Splettstoeßer: Wollen Sie nach alledem, was wir heute hier gehört, nicht die Erklärung abgeben, daß Sie Ihr Unrecht einsehen und um Entschuldigung bitten?

Angekl.: Das kann ich im gegenwärtigen Stadium nicht!

Rechtsanwalt Dr. Halpert: Der Angeklagte hat nicht entfernt die Absicht gehabt, der Verwaltung der Anstalt irgendwelchen Vorwurf zu machen oder mit dem Artikel die Anstaltsärzte zu beleidigen. Er hat nur beweisen wollen, wie reformbedürftig der jetzige Zustand, namentlich in rechtlicher Beziehung, ist. Als Gentleman hält sich der Angeklagte für verpflichtet, zu erklären, daß er der Provinzialverwaltung nicht das mindeste am Zeuge habe flicken wollen; dies erklärt er aber nicht in Form einer Entschuldigung.

Hierauf gab Geh. Medizinalrat Dr. Leppmann folgendes Gutachten ab: Ich habe mich über folgende Punkte zu äußern: 1. War Lubecki zu der Zeit, als er nach Leubus kam, geisteskrank?

2. Waren Gründe vorhanden, die die Aufnahme in die Anstalt notwendig machten? 3. War die Behandlung in der Anstalt eine sachgemäße? 4. Inwieweit ist Lubecki gegenwärtig so geistesklar, daß er vom Wesen und der Bedeutung eines Eides eine Vorstellung hat? Niemand dürfte im Saale sein, der nicht überzeugt ist, daß Lubecki damals ein bestimmtes Krankheitsbild dargeboten hat, so daß kein Zweifel obwalten konnte, er war geisteskrank. Er hat viele krankhafte Eigenarten. Seine Eifersucht hatte sowohl nach dem Umfange als auch nach ihrer Betätigungsform einen krankhaften Charakter. Auf solchem Boden, Mangel an Harmonie im Seelenleben, bauen sich akute Geisteskrankheiten auf, die dann zuzeiten eine gewisse Höhe erreichen. Das Gesamtbild, das er darbot, war das eines Tollen, es setzte sich zusammen aus krankhaften Stimmungen und krankhaften Vorstellungen. Wenn eine einzelne Handlung des Mannes zu beurteilen wäre, könnte man die Möglichkeit eines Irrtums annehmen, aber das Gesamtbild zeigt, daß der Mann krank war. Mit der Diagnose der Geisteskrankheit ist noch nicht die Notwendigkeit der Aufnahme in eine Anstalt erwiesen, eine solche hängt vielmehr ab von dem Interesse des Kranken selbst und der Öffentlichkeit. Wir wissen, daß akute Geisteskrankheit, die mit starken Erregungen verbunden ist, unter fremder Pflege und in der Abgeschiedenheit der Irrenanstalt am ehesten zur Beruhigung kommt. Früher brachte man die Irren in ein Kloster; die Irrenanstalt ist gleichsam ein Gesundheitskloster. Keine Liebe zu Hause kann erreichen, was die Irrenanstalt erreicht. Lubecki war in so großer Erregung, daß sich sein Bewußtsein verwirrte, und man muß sagen, hier lag eine akute Störung vor, so daß im Interesse des Kranken die Aufnahme nötig war. Er war aber auch gemeingefährlich, denn er bedrohte die Sicherheit seiner Umgebung und seiner eigenen Person. Was die Behandlung betrifft, so habe ich ein gewisses Vorurteil gegen die lange Badebehandlung. Ich teile den Fanatismus dafür nicht, muß aber sagen, daß mit jeder irrenärztlichen Sorgfalt und nach allen anerkannten Regeln der Heilkunst verfahren worden ist. Als ich noch Assistenzarzt in Leubus war, war die Abgeschlossenheit der Kranken noch größer als jetzt, und diese hat nach meiner Meinung mehr gewirkt als die jetzige mildere und laxere Praxis. Was den jetzigen Zustand des Lubecki betrifft, so wird es jedem klar sein, daß er gegenwärtig noch ein geistesgestörter Mann ist. Seine Krankheit ist in ein neues Stadium getreten. Das akute Stadium ist vorüber, und es ist

ein Zustand chronischer geistiger Schwäche

geblieben. Bei ihm spielt eine ganze Reihe wahnhafter ter Vorstellungen noch immer eine Rolle; auch seine Erinnerung hat sich entschieden geschwächt. Deshalb resümiere ich mich dahin: 1. Lubecki war geisteskrank, als er nach Leubus kam, 2. seine Aufnahme in die Anstalt war notwendig, 3. er ist nach den anerkannten Regeln der Heilkunde behandelt worden und 4. er ist nicht fähig, das Wesen und die Bedeutung eines Eides zu würdigen.

Sanitätsrat Dr. Locke (Beuthen), der das Attest zum Zwecke der beantragten Pflegschaft ausgestellt hatte, bekundete, daß er nach den Vorgängen in den letzten Tagen vor der Internierung des Lubecki ihn zweifellos für irre gehalten habe.

Medizinalrat Dr. Hoffmann schloß sich dem Gutachten des Geh. Medizinalrats Dr. Leppmann vollkommen an. Man dürfe nicht ein einzelnes Symptom herausgreifen und an diesem Kritik üben, vielmehr müsse das Gesamtbild wirken. Da habe die Verhandlung doch so viel Beweise des Vorhandenseins von Wahnideen, Überschätzung der eigenen Person ergeben, daß an dem Vorliegen einer Geisteskrankheit kein Zweifel sein könne. Seine Behandlung in einer geschlossenen Anstalt war die allein richtige. Lubecki habe auch gewußt, daß er in eine geschlossene Anstalt komme. Seine Gemeingefährlichkeit habe er verschiedentlich dokumentiert; er sei heute noch krank, seine Erinnerung sei getrübt und er verstehe die Wahrheit nicht.

Am vierten Verhandlungstage wurde ein Attest des Professors Dr. Bonhoefer, Direktors der Psychiatrischen Nervenklinik in Breslau, verlesen. Es hieß in dem Attest: Es sei ausgeschlossen, daß Lubecki an progressiver Paralyse leidet oder gelitten hat. Es fehlten jedwede Anhaltspunkte dafür. Das Verhalten seiner Frau mag ihn wohl zu Eifersuchtsideen gebracht haben, die bei seinem an sich lebhaftem Temperament zeitweise sich sehr gesteigert haben. Sein Verhalten ist besonnen und der jeweiligen Situation angemessen, er besitzt ein gutes Urteil. Zeichen von Erregung sind nicht wahrzunehmen, selbst nicht, wenn die Rede auf seine Frau, seinen Bruder und auf seinen Aufenthalt in der Anstalt kam. Die Erregung des Herrn Lubecki hat abgenommen, er befand sich in einer normalen Affektlage und war imstande, seine geschäftlichen Angelegenheiten selbst wahrzunehmen. Dieses Attest datierte vom 5. Februar 1907.

Professor Dr. Nissel (Heidelberg) kam in seinem Attest, das er nach eingehender Untersuchung des Lubecki ausgestellt hatte, zu dem Schluß, daß bei dem Patienten, dessen Gedächtnis vorzüglich sei, keinerlei Symptome für eine progressive Paralyse festgestellt werden konnten.

Hierauf nahm Staatsanwalt Dr. Rasch das Wort zur Schuldfrage: Wer den Artikel der „Zeit am Montag“, tag“, in dem das Schicksal des Herrn Lubecki geschildert wurde, gelesen hat, der mußte sich fragen: wie ist so etwas in einem modernen Rechtsstaate möglich? Heute, wo der Fall in dreitägiger Verhandlung bis in die entferntesten Winkel beleuchtet worden ist, wird jeder, der der Verhandlung unbefangen gefolgt ist, fragen: Wie war es möglich, gerade diesen Fall Lubecki zu so schweren Angriffen gegen die Handhabung des Irrenwesens im allgemeinen, gegen die Provinzialverwaltung und gegen die Leiter und Ärzte der Anstalt zu Leubus im besonderen zu benutzen? Die Angriffe sind völlig unberechtigt, das wird jeder, der die Beweisergebnisse unbefangen auf sich wirken läßt, zugeben. Von den Angriffen hat sich auch nicht ein einziger als berechtigt herausgestellt. Es ist gar kein Zweifel, daß Herr Lubecki aufnahmebedürftig war, die polizeiliche Zustimmung dazu lag vor. Lubecki war zu jener Zeit eine Gefahr für sich und seine Umgebung. Die Pflegschaft der Frau war gleichfalls durchaus erforderlich und nach den gesetzlichen Vorschriften zustande gekommen. Was die Behandlung in der Anstalt betrifft, so haben die Ärzte dort alles in Anwendung gebracht, was nach dem heutigen Stande der Wissenschaft möglich ist. Das viel besprochene Wasserbad ist, nach dem heutigen Stande der Wissenschaft, als bestes Mittel zur Beruhigung der Kranken anzusehen, wenn auch die Ansichten der Sachverständigen digen in diesem Punkte verschieden sind. Ebensowenig kann die Rede davon sein, daß böswillig eine Zwiesprache des Angeklagten mit dem Landeshauptmann verhindert worden sei. Was in aller Welt hätten denn auch die Ärzte für einen Grund und Interesse, Herrn Lubecki zurückzuhalten? Die heute noch vorgeführten Atteste der beiden Professoren ändern den Tatbestand gar nicht, denn aus ihnen geht doch lediglich hervor, daß Herr Lubecki nicht an Paralyse leidet, und daß diese Diagnose, die anfangs auch einmal als möglich hingestellt worden, nicht aufrechterhalten werden kann. Aus dem Artikel ist herauszulesen, daß die Anstellung zweier Ärzte als Schwiegersohn und Sohn des Leiters in der Anstalt ein Unding sei, und daß die Provinzialverwaltung die Ärzte angestellt habe aus Familienrücksichten, ohne auf die Interessen der Kranken zu achten. Über die Opportunität eines solchen Verhältnisses können Zweifel entstehen, aber davon, daß aus diesem Verhältnis eine Gefahr für die Behandlung der Kranken entstanden sei, kann keine Rede sein. Weder den Leiter noch die Ärzte trifft der geringste Vorwurf. Die Vorwürfe in dem Artikel sind geeignet, die angegriffenen Herren in der öffentlichen Meinung stark herabzusetzen. Es sind aber auch formelle Beleidigungen in dem Artikel. Die Beleidigungen sind außerordentlich schwer, sie betreffen Ärzte und Anstalt, die das höchste Ansehen genießen, auf die die Provinzialverwaltung besonders stolz ist. Der Angeklagte behauptet, daß er nur auf eine Lücke in der modernen Irrengesetzgebung hinweisen wollte. Er hätte sich dazu kein ungeeigneteres Objekt auswählen können, und er ist nicht mit genügender Vorsicht vorgegangen. Er (Staatsanwalt) beantrage drei Monate Gefängnis, Vernichtung der noch vorhandenen Exemplare sowie der zur Herstellung gedienten Platten und Formen und Publikationsbefugnis für die Beleidigten.

Verteidiger R.-A. Dr. Halpert: Der Vertreter der Anklagebehörde ist bei seinem ganz maßlosen Antrag von drei Monaten Gefängnis von einer grundfalschen Annahme ausgegangen. Gerade der Schlußpassus des Artikels, auf den der Staatsanwalt jetzt soviel Gewicht legt, ist gar nicht auf die Ärzte in Leubus bezogen, sondern eine allgemeine Betrachtung. Schneidt bezweckte mit seinen Artikeln nur, die Reformbedürftigkeit der Irrenhauszustände nachzuweisen, niemals aber in personeller Hinsicht den Herren Ärzten einen Vorwurf zu machen. Herr Lubecki, über den hier gestern die Psychiater das Urteil gesprochen haben, das ihm hoffentlich nicht den Lebensmut rauben wird, fühlte sich verpflichtet, das Material, das er gesammelt hatte, zur Reform der bestehenden, unzureichenden Einrichtungen in der Irrenpflege zu verwenden. Es ist immer das zweckmäßigere Vorgehen, mit der Regierung und den Behörden zu gehen, als wider den Stachel zu lecken. Großen Wert lege ich auf die Tatsache, daß im Laufe der Verhandlung die Gefechtslinie unmerklich, aber in sehr zäher Weise verschoben worden ist. In dem Artikel ist nie behauptet worden, daß Lubecki völlig gesund war. Es ist vielmehr gesagt worden, daß Lubecki in der Irrenanstalt zu streng interniert worden war. Wenn man dann hier so tut, als ob der Mittelpunkt der ganzen Sache wäre, daß wir behauptet hätten, Lubecki wäre geistig gesund gewesen, so heißt das die eigentliche Tendenz des Artikels verkennen. Ich behaupte im Gegensatz zu dem Staatsanwalt, daß die Aufnahme des Lubecki zu Unrecht erfolgt ist. Ich erkläre, daß ich die Gutachten der Psychiater nicht als ein unfehlbares Etwas anerkennen kann, vor dem man sich unbedingt zu beugen habe.

Der Verteidiger schloß mit dem Antrage, den Angeklagten, unter Zubilligung des § 193, höchstens zu einer geringen Geldstrafe zu verurteilen.

Angeklagter Schneidt führte etwa folgendes aus: Seit zwei Jahrzehnten sind mir fast täglich Briefe von Patienten aus Irrenanstalten zentnerweise zugesandt worden. Alle waren durchgeschmuggelt. Ich könnte ein Archiv dafür anlegen, aus dem ersichtlich wäre, welcher Schmugglerlisten sich die Irrenhausinsassen bedienen, um ihre Briefe an die Außenwelt zu befördern. Die Verhandlung hat den klaren Beweis geliefert, daß eine Reform des Irrenwesens dringend notwendig wendig ist. Der Angeklagte versicherte nochmals, daß ihm jede persönliche Beleidigung ferngelegen habe, es sei ihm lediglich darauf angekommen, Mißstände, die doch zweifellos im Irrenwesen vorhanden seien, an das Licht der Öffentlichkeit zu ziehen und für die Beseitigung dieser Übelstände zu wirken.

Nach längerer Beratung des Gerichtshofes verkündete der Vorsitzende, Landgerichtsdirektor Splettstoeßer, folgendes

Urteil:

Wenn man den beanstandeten Artikel unbefangen liest, so wird jeder Leser die Empfindung haben, daß sich einem das Herz zusammenkrampft über die Vorwürfe, die den Anstaltsärzten gemacht sind. Der Artikel enthält eine Anzahl wörtlicher Beleidigungen; er spricht von der „famosen Ärztedreifaltigkeit“ und von der „Leichtfertigkeit pflichtvergessener Mediziner“. Eine üble Nachrede im Sinne des § 186 findet das Gericht in dem Vorwurf, daß in der Anstalt die Bäder als beliebtes Straf- und Zwangsmittel an der Tagesordnung gewesen sind. Das Gegenteil ist erwiesen. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme besteht für das Gericht auch nicht der geringste Zweifel: Lubecki durfte nicht nur, sondern mußte festgehalten werden. Das ergeben die Gutachten der Medizinalräte Dr. Hoffmann und Dr. Leppmann sowie des Geh. Rats Moeli, die das Gericht gegenüber den Anstaltsärzten geladen hatte. Hier war ein Sachverständigenkollegium, wie es besser auf der Welt kaum gefunden werden kann. Sie sagten übereinstimmend, daß Lubecki bei der Einlieferung geisteskrank und gemeingefährlich gewesen ist. Dem wird sich kein Richterkollegium verschließen können. Außerdem hat sich auch hier im Saale jeder einzelne durch den Augenschein überzeugen können, daß diese Gutachten wirklich das Richtige treffen. Darauf deutet auch die Geschichte von den Erregungspillen. Man konnte es in gewissen Momenten den Augen des Lubecki ansehen, daß der Mann, der noch heute Stadtverordneter in Beuthen ist, noch nicht gesund ist. Lubecki ist nicht meineidig, aber ein unglücklicher Mensch, der von Wahnideen erfüllt ist. Der Beweis ist vollständig gegen den Angeklagten geführt. Es handelt sich nun um die Strafe. Da mag dem Angeklagten zugegeben werden, daß er zunächst wohl getrieben wurde von der Idee, Gutes zu schaffen. Er ist ein Phantast und steht vielfach nicht auf dem Boden realer Wirklichkeit. Andererseits haben wir zu schützen die Ehre von hochverdienten Beamten, namentlich des Geheimrats Dr. Alter. Die Kammer hat mehrfach keinen Zweifel darüber gelassen, daß sie es für ihre Pflicht hält, in solchen Fällen mit erheblichen Strafen vorzugehen. Wenn in diesem Falle die Strafe nicht so erheblich ausgefallen ist, so ist es geschehen, weil nach dem Aktenmaterial Herr Schneidt zu der Annahme gedrängt werden konnte, daß Lubecki nicht so geisteskrank sei, als es sich wirklich herausgestellt hat. Das Aktenmaterial legte die Vermutung nahe, daß dem Lubecki doch etwas zu nahe getreten sein konnte. Es hat sich herausgestellt, daß dies nicht der Fall, sondern in jeder Beziehung zu Recht verfahren worden ist. Der Gerichtshof hat deshalb den Angeklagten zu sechs Wochen Gefängnis verurteilt.

Den drei beleidigten Ärzten wird die Publikationsbefugnis in der „Zeit am Montag“, dem Breslauer Generalanzeiger und in der Lippeschen Landeszeitung zugesprochen. Ferner wird die Einziehung der vorhandenen Exemplare und die Vernichtung der zu ihrer Herstellung benutzten Platten und Formen angeordnet.