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Besuch einer Großgeschäfts-Phalanstere zu London

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Textdaten
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Titel: Besuch einer Großgeschäfts-Phalanstere zu London
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 38, S. 514
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1856
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Besuch einer Großgeschäfts-Phalanstere zu London.

Jeder hat wohl seine Vorstellung von „London“, dem größten Städteungeheuer ohne Grenzen, gehüllt in ewigen Rauch, aus welchem die Kuppel der Paulskirche wie der Riesenkönig aller Hunderttausende von Schornsteinen hervorraucht, dem unentwirrbaren Labyrinthe von Buden und Geschäften, von Gasflammen, Backsteinen und Fenstern, Wagen, Kutschen, Karren, Droschken, Omnibussen, Spitzbuben, Ausrufern, Leierkasten, zerrissensten Lumpen und solidesten Krösusreichthums. Diese und ähnliche Ingredienzien bilden stets die Hauptbestandtheile in den verschiedenen Vorstellungen, die von London im Umlaufe sind.

Aber das ist noch lange nicht London. Man kann sich überhaupt von London eben so wenig eine Gesammtvorstellung machen, wie von Deutschland. Beide Größen, London und Deutschland, sind nichts im Allgemeinen, weil beide im Allgemeinen eben alles Mögliche sein können, sondern Alles im Besondern. Wer von London im Allgemeinen sprechen wollte, würde nicht aus der Verlegenheit herauskommen, eben so wie Jeder, der in Deutschland von einem großen, allgemeinen Deutschland spricht, nicht blos in Verlegenheit, sondern auch innerhalb neununddreißig verschiedener Grenzen in’s Gefängniß kommen kann. In Deutschland schützt die Polizei den Unterthanenverstand vor solchen Verirrungen in die Labyrinthe des Allgemeinen hinein, in London muß man sich selbst Schranken, Schloß und Riegel schaffen. Die Polizei fragt hier weder nach Stadt-, noch nach Vorstellungsmauern.

So irren und wirren sich die Straßen von London nach allen Seiten in’s Grenzenlose und bereits in ganz ferne Städte hinein, und Niemand weiß mehr zu sagen, wo es anfängt und aufhört. Aus Mangel an polizeilichen Bezirken schuf sich das Volk längst selbst Grenzen. Wie es nur den, der innerhalb der Schallstrahlen der „Bow“-Kirchenglocke in Cheapside (mitten in der City, unweit der Paulskirche) geboren ward, als „Cockney“ – oder echten Londoner anerkennt, schließt es auch, wenn es von „London“ im Allgemeinen spricht, jede Allgemeinheit aus und versteht darunter nur die „City“, den Mittelpunkt Londons, der sich mit einem Radius von etwa einer englischen Meile ziemlich kreisförmig um die Paulskirche herumlegt. Alle anderen Bestandtheile Londons haben zu ihrem allgemeinen Namen, der unter „London“ verschwindet, noch ihren bestimmten alten Dorf- oder Stadttitel beibehalten.

So gibt es ein „London Westminster“, ein „London Pimlico“, ein „London Camden Town“, ein „London Censington und Islington“ und ein Schock andere Londons, jedes eine Stadt mit 100,000 bis 3–400,000 Einwohnern. London ohne Nebentitel ist die City mit der großen, dicken, rauchverschleierten Paulskirchenkuppel in der Mitte, worin niemals Gottesdienst gehalten wird, da der Mammonsdienst in der benachbarten Börse und Bank und den umliegenden Großgeschäften auch alle unsterblichen Bestandtheile der Seelen ausschließlich in Anspruch nimmt.

Die City ist nur Großgeschäft, Weltbörse, Weltmarkt, Handel und Spekulation mit Schiffsladungen, Ernten, Produkten, Waaren und Fabrikaten großer Völker und Erdtheile. Niemand wohnt in der City außer den Katzen und den Haushälterinnen. Jeder ist blos jeden Tag von 10 bis 4 – 5 Uhr ein seelen- und herzlos getriebenes Rad (oder ein Zahn in demselben) seines Geschäfts und der Conjuncturen, in welche es durch das Eingreifen von tausend andrer Räderwerke, Kurbeln und Kolben gerissen wird. Um 5 Uhr gibt er erschöpft, seinen Schlüssel an die Haushälterin und ihre Katze ab, wirft sich in einen Omnibus, auf eine Eisenbahn, ein Dampfschiff, die alle jederzeit abgehen und ankommen, läßt sich so in seine Villa außerhalb treiben und fällt hier so über sein „Mittagbrot“ her, daß er bis 10–11 Uhr hingestreckt liegt, wie eine Boa-Constrictor, die einen großen Ochsen verschlungen. Am folgenden Morgen hat er nicht mehr Geist, als an sein Rasirmesser zu denken, sich zu schaben, in Vatermördern einzumauern und wieder in sein „Bureau“ zu eilen, wo er wieder bis 5 Uhr von der großen Geschäfts- und Welthandelsmaschine getrieben wird, daß ihm Hören und Sehen vergehen. Nur zuweilen fällt er rasend in eins der Frühstückslokale ein, um stehend mitten unter 2–300 andern stumm und stehend Essenden und Trinkenden ein fertiges, belegtes Butterbrot ungekaut zu verschlingen, ein Glas Flüssigkeit hinterher zu stürzen und dann mit verdoppelter Wuth hinter dem versäumten Geschäfte herzugapsen.

Aber um 5 Uhr schlägt ihm doch jeden Tag eine Erlösungs- d. h. eine Stunde, in welcher er sich noch zum Essen und Trinken setzen kann. Unterwegs und Sonntags bekommt er auch statt des Goldes und der Armeen von Zahlen zwischen öden, geraden Linien grüne Bäume und Blumen zu sehen und frische Luft einzuathmen.

Dieser Kaufmann und Diener des Großgeschäfts ist noch ein Glücklicher zu nennen, gegen die, welche sich in der City selbst mit Geschäft, Leib und Seele, Wohnung und Schlafstelle, polizeilicher Aufsicht und moralischer Controle mußten einschnallen lassen. Es ist eine verhältnißmäßig neue Erscheinung in der City, Großgeschäft und die Leute dazu mit Leib und Seele in [515] allumfassende socialistische Phalansteren zusammenwachsen zu sehen, für viele mehr wohlmeinende, als wohlwissende Leute eine erfreuliche Erscheinung, für uns aber, die wir Menschen gern menschlich sehen möchten, ein furchtbares, entsetzliches Grab aller Individualität, alles Charakters und moralischer wie physischer Selbstständigkeit. Die Socialisten und Communisten mögen hier einen Triumph ihrer Lehren bewundern, müssen sich aber auch zugleich gefallen lassen, den Menschen dabei untergehen und dafür einen von außen getriebenen Automaten entstehen zu sehen.

Treten wir in ein solches Großgeschäfts-Phalansteren-Automatenwerk ein, in das berühmteste Muster derselben.


Die Phalanstere zu London.


Ungefähr in der Mitte dieser steinernen Lager- und Geschäftspaläste, der City, an einer schneidenden Straßenecke, Woodstreet (Holzstraße), fällt ein besonders stattlicher und neuer Steinkoloß auf, das Großgeschäft von John und Richard Morley, Strumpfwaaren- und Handschuhgroßhändlern, wie man ihren Titel wörtlich übersetzen muß. Das Gebäude des Geschäfts, wie wir es von außen in der Abbildung sehen, nimmt auf dem Boden, der beinahe mit dichten Goldstücken belegt werden muß, Zoll für Zoll, wenn man ihn nur nackt als Baustelle kaufen will, 8250 Quadratfuß. ein und wurde 1849 vollendet. Es ist seitdem nicht nur eins der größten Privatgebäude in der City geblieben, sondern auch das berühmteste und ausgedehnteste Geschäft seiner Art und ein social-ökonomisches Wunder geworden.

Wir treten durch große Flügelthüren ein. Ein ganzer Jahrmarkt, eine Messe rings um uns, über uns, unter uns, ein industrielles Labyrinth ohne Ariadnefaden auf den ersten Blick. Gott sei Dank, daß wir keinen Leitfaden brauchen, der uns hier wenig helfen würde, sondern uns ein grauhaariger Herr mit wohlwollendem und nicht dem so häufigen kaufmännischen, englischen Geschäftsgaunerblick in Empfang nimmt, uns führt und so das räthselhafte Geschäftsgewimmel erklärt. Wir bemerken nur flüchtig auf beiden Seiten des Haupteinganges die Hauptbureaux zum Eintragen der aus- und eingehenden Güter, die Menge Träger und Packer, unter deren Händen die verschiedensten Waarenhaufen sich mit hexereiartiger Geschwindigkeit in die regelmäßigsten Ballen und Packete verwandeln, die von Andern gezeichnet und adressirt, von Andern davon getragen, von Andern ausgerufen und von Andern gebucht werden, Alles wie von Theilen einer rastlos und seelenlos arbeitenden Maschine. Gerade vor uns dehnt sich das Muster- und Probendepartement auf endlos langen, polirten Tafeln und in eben so unabsehbaren Fachwerken und Gesimsen hin, Centnerlasten von Handschuhen, wollenen und baumwollenen Waaren aller Art, Reisetaschen, Regen- und Sonnenschirmen, Zwirnen und Schnuren und tausenderlei Kleinigkeiten, in denen unsere Frauen und Töchter so viel Geld „verposamentiren“. Und diese Massen, mit denen man anscheinend die ganze schöne Welt von Europa verposamentiren könnte, sind blos Proben und Muster der Waaren. Die eigentlichen Vorräthe derselben lagern unter uns in unabsehbaren Mauern von Ballen und Packeten. Große Kettenkrahne winden stets andere Ballen herunter, wie sie eben aus den Fabriken kamen, oder herauf zum Leben in den Kleinhandel aller Weltgegenden. Wir blicken auf, emporgelockt durch lange Reihen schlanker Eisensäulen, die durch alle Etagen des Gebäudes die verschiedenen Galerien und Abtheilungen tragen, keine schwere dorische, keine leichte corinthische Säulenordnung, sondern eine moderne, praktische Architektur und Aesthetik in eigener Melodie. Ungeheure Flaschenzüge, Schafte und Krahne knattern und raffeln immerwährend Waarenballen auf und ab, die in verschiedene Etagen vertheilt und dort geordnet und aufgeschichtet werden. Diese ganze reinliche, elegante, wimmelnde Geschäftsverkettung raffelt und rädert sich fortwährend ab, als würden alle Menschen und Waaren zugleich von einem einzigen, ungeheuren Dampfmaschinenkolben getrieben, so seelenlos und regelmäßig arbeiten die Krahne und die Arme und Beine und Federn. Es wurde mir manchmal ganz unheimlich zu Muthe, weil ich kaum unterscheiden konnte, was Mechanismus und Maschinerie und was Mensch war. Die Einzelnheiten dieser Menschen- und Sachen- Maschinerie lassen sich nicht schildern, ohne in’s Technische zu gehen. Deshalb heben wir nur noch einiges Neue und Eigenthümliche hervor.

Was soll die große Bibliothek dort in der einen Ecke? Lesen die Herren, in Musestunden Romane? Die Bibliothek besteht [516] blos aus Contobüchern. Sie sind das Geschäft schwarz auf weiß zwischen geraden Linien mit ungeheuren Summen und Transports unten und oben. Durch eine geheime Thür auf Steintreppen wurden wir in die „Festung“ des Geschäfts geführt, einem feuer- und bombenfesten Raum, in welchem jede Nacht alle werthvollen Papiere und Bücher aufbewahrt werden, obgleich das ganze Gebäude schon „feuerfest“ gebaut ist. Durch verschiedene Stockwerke hindurchgeführt, die alle wie besondere Straßen und Balkone nach der Mitte offen sind, und von dem ungeheuren Glasdache oben ihr hübsches, malerisches Licht erhalten, auf frei sich schlängelnden, geradlinig aufsteigenden und doch in bequemen Schraubenwindungen laufenden Treppen kamen wir endlich auf die oberste Galerie und sehen mit Staunen, wie ein Mann einen Waarenballen auf ein außerhalb schwebendes Brett wälzt, sich selbst darauf setzt, und geschwind und geschmeidig hinabsinkt. Unterwegs hält er einmal neben einer Etage an, ohne daß ich erfuhr, wie er’s machte, sinkt dann weiter, übergibt seine Fracht an einen andern Mechanismus, und windet sich wieder herauf, ohne daß er das Geringste dabei thut. Wenn wir heut zu Tage nicht so aufgeklärte Leute wären, würde ich mir und dem Leser weiß zu machen suchen, das Geschäft habe sich dem Teufel verschrieben, der dafür Faust’sche Zaubermäntel liefern müsse, auf welchen Menschen und Waaren auf- und abfliegen. Wie die Sachen aber jetzt stehen, glaub’ ich, daß Alles natürlich und mechanisch zuging. Ueberhaupt kann hier der Teufel schwerlich eine Seele fangen. Erstens gibt’s gar keine unter den 150 Dienern, als die des Geschäfts, und wenn sie nach dem Schlusse desselben Dinge thun wollen, wofür man in die Hölle kommt, geht’s gar nicht. Die Leute gehören dem Geschäft mit Leib und Seele und wohnen in demselben, wie die Herren Morley auch in ihrer Fabrik zu Nottingham ihre 3000 Arbeiter mit Weib und Kind in Schutz und Aufsicht nehmen.

Das ökonomische Departement des Geschäfts ist von diesem selbst nur durch eine Thür und Treppe geschieden. Es ist ein prächtiges Hotel, eine Phalanstere mit einem Speisesaale, durchweg mit einem brüsseler Teppich belegt, voller Mahagonitische und Mahagonistühle, worin die „Beamten“ des Geschäfts, vierzig auf einmal, frühstücken, diniren und soupiren, um hernach ihre Mußestunden in einer anstoßenden Bibliothek mit mehr als tausend Bänden und allen gangbaren Zeitungen und Zeitschriften zuzubringen. Wöchentlich zweimal finden Discussionen statt und werden Vorlesungen gehalten. Für die Träger und groben Arbeiter gibt’s noch eine aparte Bibliothek. Speisen, und Getränke, Teller und Schüsseln kommen und gehen durch Maschinerie von Unten. Ueber Bibliothek und Speisesaal reihen sich die Schlafstellen, mit allen Bequemlichkeiten niedlich ausgestattet, für je zwei Mann, einer besondern Abtheilung für Kranke, denen die Firma einen Arzt hält, und Anstalten für kalte, warme, Sturz- und Dampfbäder. Diener, d. h. Beamte des Geschäfts von besonderen Verdiensten haben Schlafräume für sich einzeln. Kurz, es fehlt nichts, den Bewohnern ihr Hotel so komfortabel und bequem und wohlfeil zu machen, wie sie es an einem selbstständigen Herde wohl kaum ermöglichen würden, nichts als dieser eigene Herd, das Gefühl und das Zeug der Selbstständigkeit, der Hausstand, die Familie, das freie Menschliche mit seinen Sorgen und Segnungen. Tausende fliegen jeden Tag aus der Hitze ihres Geschäfts bis zwanzig Meilen weit in lustige umgrünte Villen und ihre blühenden Familien hinaus; diese wohlthätig und wohlwollend Ummauerten aber gehen blos durch eine Thür aus der Maschinerie ihres Geschäfts in den eleganten, aber gemüthlosen Mechanismus ihrer controlirten Häuslichkeit ein. Das ist echt socialistisch, aber langweilig und geistlos, unmännlich und unmenschlich, wenn auch in der humansten Form.