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Bilder aus dem jüdischen Leben/1. Polnische Schnorrer

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Autor: H. Cohn
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Titel: Bilder aus dem jüdischen Leben/1. Polnische Schnorrer
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 28, S. 472–474
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1875
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Bilder aus dem jüdischen Leben.
1. Polnische Schnorrer.

Wer kennt sie nicht, jene langaufgeschossenen Gestalten in den herabwallenden Gewändern, wie sie alljährlich Deutschlands Gauen bettelnd und schachernd durchwandern!

Wer hätte sie nicht schon gesehen, jene stereotypen, scharf geschnittenen Gesichter mit den wirr gelockten Haaren und den mächtigen Bärten, mit den hell blitzenden Augen und den kühn hervortretenden Nasen! Jahraus, jahrein, ununterbrochen durchwandern sie gleich unermüdlichen Touristen die Städte und Dörfer Deutschlands bis zu den äußersten Grenzen und darüber hinaus; ganze Carawanen, Vertreter jedes Alters und Geschlechts, Frauen, Kinder, Männer und Greise durchziehen sie von jenseits der Wolga bis zur Weichsel, von der Weichsel bis zum Rhein die Gelände des gottgesegneten Deutschland, als sollten an ihnen erfüllt werden die Worte des Herrn: „Unstät und flüchtig sollst du sein auf Erden.“

Fragen wir uns nach den Ursachen, die den polnischen Juden veranlassen, den Wanderstab zu ergreifen und sein Heimathland zu verlassen, so drängt sich uns die Frage auf: ist es eigenes Verschulden, Scheu vor Arbeit und Verdienst, oder eine äußere Macht, der Trieb der Selbsterhaltung, der Kampf um’s Dasein, der ihn zwingt, seine heimathliche Stätte zu verlassen? Beide Fragen haben ihre entschiedene Berechtigung, und doch dürfen wir uns nicht verhehlen, daß den größten Theil der Schuld die gesellschaftlichen Zustände Polens und Rußlands tragen, die in ihrer Ungewöhnlichkeit geradezu erschreckende Menschenbilder zu Tage fördern.

Vergegenwärtigen wir uns den Lebensgang eines polnischen Juden, wie er sich im Allgemeinen gestaltet. Schwächlichen und unreifen Eltern entstammend, verbringt er seine Kindheit in Schmutz und Elend, wächst er auf in der Gesellschaft corrumpirter

[469]

Polnische Schnorrer.
Nach der Natur in Leipzig aufgenommen von G. Sundblad.

[470] und bigotter Menschen. Ohne die geringsten positiven Kenntnisse erworben zu haben, wird er vom sechsten oder siebenten Jahre an in den talmudischen Wissenschaften unterrichtet; man lehrt ihn Dinge, denen ein reifer Kopf kaum gewachsen. Es kann nicht verwundern, daß der zum Jünglinge gewordene Knabe bald Meister in der Talmudweisheit, daß er mit unnachahmlichem Scharfsinne der schwierigsten und verwickeltsten Stellen mit Leichtigkeit Herr wird, Dinge versteht, die für seine künftige Existenz und Lebensstellung oft vollkommen unergiebig und werthlos sind. Für die Ausbildung des Geistes, was jüdisches Wissen anbetrifft, mit größter Peinlichkeit besorgt, verwahrlost man vollständig die körperliche Ausbildung und zieht Menschen heran, die vor dem Eintritt der Reife schon schwach und hinfällig sind. Kaum ist er dem Knabenalter entwachsen, so verheirathet man ihn mit Eintritt des siebenzehnten oder achtzehnten Jahres an ein ebenso verwahrlostes junges Mädchen, das als künftige Mutter die Erziehung ihrer Kinder zu leiten und ein eigenes Hauswesen zu gründen bestimmt ist. So vererben sich diese verrotteten Sitten von Geschlecht zu Geschlecht, und es kann nicht befremden, wenn wir Menschen aufwachsen sehen, die, marklos und unfähig zur körperlichen Arbeit, gleich menschlichen Schmarotzern auf den Erwerb ihrer Nebenmenschen angewiesen sind und dem Laster des Müßiggangs anheimfallen.

Bei dem großen Gewichte, das die polnischen Juden auf die Fähigkeit zum „Lernen“, das heißt zum Talmudstudium legen, kommt es nicht selten vor, daß bei Heirathen die Tüchtigkeit des betreffenden Candidaten im „Lernen“ der einzig und allein bestimmende Factor ist. Wohlhabende und reiche Leute verheirathen ihre Töchter an arme junge Leute, deren einziger Empfehlungsbrief in dem Satze besteht: „er kann gut lernen.“ So lange der Schwiegervater lebt oder im Stande ist, seinem Geschäfte vorzustehen, lebt der Schwiegersohn in dessen Hause und beschäftigt sich ausschließlich mit „Lernen“. Bald aber tritt an ihn die Aufgabe, das bisher in kundiger Hand ruhende Geschäft selbstständig fortzuführen, und da kann es denn nicht ausbleiben, daß dasselbe unter der Leitung des früheren „Bachurs“, der sich zeitlebens nur mit „Lernen“ beschäftigt und von den Kniffen und Praktiken des Handelsstandes nicht die geringste Ahnung hat, immer mehr zurückgeht und daß zuletzt kaum soviel bleibt, um die nothwendigen Lebensbedingungen zu erfüllen. Bar aller materiellen Mittel, ohne die Fähigkeit, in anderer Weise den Lebensunterhalt für seine allzu zahlreiche Familie zu beschaffen, was bleibt ihm übrig als Frau und Kind zu verlassen und in gesegneteren Ländern sein Leben zu fristen? – er wird ein „Schnorrer“!

Das ist ein Fall. Ein anderer nicht minder häufiger Fall tritt ein in Folge von Steuerdefraudation, deren Entdeckung sie auf ewig von der heimathlichen Stätte bannt, und noch häufiger kommt es vor, daß junge Leute aus Furcht vor schwerem Militärdienste sich demselben durch Ueberschreiten der russischen Grenze zu entziehen suchen. Rechnet man hierzu die Ungunst der gesammten Lebensverhältnisse, die dichtgedrängte Bevölkerung und die „Intoleranz“ der russischen Behörden, so wird man es erklärlich finden, wenn alljährlich ganze Schaaren von polnischen Juden den Wanderstab ergreifen und wie Heuschrecken die Städte und Dörfer Deutschlands durchziehen.

Diese Reise eines polnischen Juden ist eine Kunstreise im wahren Sinne des Wortes. Ausgerüstet mit Empfehlungsbriefen von Rabbinen und Capacitäten seiner Heimath, die entweder lauten: „Ich bezeuge hiermit, daß N. N. ein heruntergekommener frommer und der Unterstützung bedürftiger Mann ist, den ich der Berücksichtigung meiner Glaubensgenossen dringend empfehle“, oder aber die Bestätigung der Angabe enthalten, daß der zu Empfehlende im Begriffe stehe, seine Tochter zu verheirathen, ihm aber die dazu erforderlichen Mittel abgehen, verläßt der Jude seine Heimath und wendet sich zuvörderst zu den nächst gelegenen Orten. Betritt er das Weichbild einer Stadt, so ist sein erster Gang zu dem Geistlichen oder Beamten der Gemeinde, der entweder sich selbst für ihn verwendet oder ihm über alles Wissenswerthe die gewünschte Auskunft ertheilt. Auch giebt er ihm wohl selbst etwas aus seiner eigenen Tasche und ladet ihn bei sich zu Gaste, da es ihm darum zu thun ist, sich in seinem Umkreise durch den Leumund der polnischen Juden einen guten Ruf zu verschaffen. Ist der Fremde ein „Lamden“, das heißt ein Gelehrter, so wird ihm auch seitens der Gemeinde Unterstützung zu Theil, und reich beschenkt und geehrt verläßt er die fromme Gemeinde. Das ist der „anständige“ Bettler.

In eine andere, tiefer stehende Kategorie fällt der Straßen- oder Hausbettler. Von Haus zu Haus wandernd, entwickelt er im Laufe seines Bettelganges eine Virtuosität und Unverschämtheit, die geradezu erstaunlich ist. Zuerst kriechend und demüthig, steigern sich seine Forderungen weniger grobkörnigen Personen gegenüber, und je mehr man seiner Unverschämtheit nachsieht, mit rapider Schnelligkeit. Giebt man ihm Geld, so bittet er um Mittags- oder Abendtisch; gewährt man ihm auch diesen, so kommen alte Kleider an die Reihe, die wieder irgend einem anderen Wunsche Platz machen. Reißt Einem endlich dabei die Geduld, so mache man sich gefaßt, noch Grobheiten und unverschämte Zurechtweisungen mit in den Kauf nehmen zu müssen. Dabei sind diese Leute oft durchaus nicht Das, was sie scheinen. Viele besitzen Mittel genug, um sich zu Hause anständig zu ernähren, und betteln nur aus Gewohnheit.

Ein seiner Heimath entlaufener polnischer Jude ist wie ein dem Käfige entsprungener Vogel. Zu Hause ein durch den Glauben und die Sitten seines Landes in seinem Thun eingeschränkter Mensch, streift er in der Fremde alles Ueberflüssige und Sittlich-Religiöse ab und wird in letzterer Beziehung ärger denn die von ihm verketzerten Juden Deutschlands. Den ihn kennzeichnenden Jargon und die Tracht, „Schubbeze“ (das schwarze Gewand), „Peies“ (die Locken) und lange Stiefel, behält er zwar bei, sonst aber erinnert nichts mehr an den früheren in Frömmigkeit und Demuth ersterbenden polnischen Juden. Nur Eines ist ihm heilig: der „Schabbes“, der einen Ruhepunkt bildet in dem Einerlei seines Bettelhandwerks, an dem er Station macht auf seiner Geschäftsreise, die, mühe- und dornenvoll wie sie ist, doch eines gewissen poetischen, an die Zeit der Romantik gemahnenden Reizes nicht entbehrt.

Zu den letzteren Erscheinungen gehört unzweifelhaft die Gabe, selbst in den verwickeltsten Lagen des Lebens den Humor nicht zu verlieren. Daß diese Gabe den polnischen Juden in hohem Maße eigen, ist eine notorische Thatsache, die nicht weiter bewiesen zu werden braucht. Wir wollen jedoch dem Leser einige Beispiele polnisch-jüdischen Witzes, zugleich zur näheren Charakteristik der Art und Weise, wie die polnischen Juden ihr Handwerk verstehen, hier vorführen.

Wie alle populären Persönlichkeiten im Laufe der Zeit vom Volke mit einem dichten Mythenkranze geschmückt worden, so erzählt man sich auch von Baron Anselm von Rothschild allerlei Schnurren, bei denen er entweder activ oder passiv betheiligt ist. Zu den letzteren gehört folgende: Ein im Innern Polens wohnender Jude, zu dem der Ruf von dem Reichthume und der Wohlthätigkeit des Barons gedrungen war, machte sich auf gen Frankfurt und erreichte nach vielfachen Mühen und Anstrengungen glücklich das Ziel seiner Wanderung. Wie er nach langem Umherirren die Wohnung Rothschild’s erreicht hatte und in seiner wenig ansprechenden Tracht in dieselbe einzudringen im Begriffe stand, trat ihm ein wachsamer Cerberus entgegen und bedeutete ihm, daß der Eintritt in die Gemächer seines Herrn Leuten seines Schlages nicht gestattet sei.

Der Jude, der seine ganze Hoffnung in seinen reichen Glaubensbruder gesetzt und direct um Rothschild’s willen die lange und mühevolle Wanderung nach Frankfurt unternommen hatte, betheuerte und beschwor den Lakaien, ihn um seiner Seligkeit willen zu seinem Herrn zu führen, da er ihm nur ein einziges Wort zu sagen habe und seine Zeit nicht im mindesten in Anspruch nehmen wolle. Der Lakai, der ein menschliches Herz hatte, ging zu seinem Herrn und kam mit dem befriedigenden Bescheide zurück, daß der Jude eintreten, aber nur ein einziges Wort sprechen dürfe. Als der Jude die Thür geöffnet und des Barons ansichtig geworden war, sagte er nichts als: „Gemara!“[1]

Verwundert schaute sich Rothschild um und fragte den ruhig stehen gebliebenen Juden, was er damit sagen wollte?

Dieser erwiderte, indem er jedes Wort stark betonte, so daß die Identität der vier Anfangsbuchstaben des Wortes „Gemara“ herauszumerken war: „Guten Morgen, Reb Anschel (Herr Anselm)!“

[471] „Was hätte Er aber gesagt, wenn Er zu Mittag gekommen wäre?“

„Gesegnete Mahlzeit, Reb Anschel!“

„Wenn Er nun aber des Abends zu mir gekommen wäre?“

„Dann hätte ich gesagt: ‚Gebt Moos, Reb Anschel!‘“

Vollkommen befriedigt und reichlich mit „Moos“ versehen, verließ der Jude das Haus des wohlthätigen „Reb Anschel“.

Zeigt schon diese Anekdote, mit welcher Schlauheit die polnischen Juden bei Ausübung ihres Bettlerhandwerks zu Werke gehen, so läßt auch die folgende an Raffinement nichts zu wünschen übrig.

Zu einem Berliner Banquier, Namens Mann, kam ein polnischer Jude und bat um ein Almosen. Trotz wiederholten Bittens abgewiesen, rief der Jude, indem er die Thür in die Hand nahm, dem Banquier zu: „Gott soll Euch segnen mit dem Segen, mit dem er unsern Erzvater Abraham gesegnet hat!“ Neugierig gemacht und durch die Liebenswürdigkeit des polnischen Juden, zu der Anlaß gegeben zu haben er sich nicht bewußt war, frappirt, rief der Banquier den forteilenden Juden schnell zurück und bat ihn, indem er ihm eine anständige Gabe reichte, um Aufschluß über den ihm ertheilten Segen. Wieder nahm der Jude die Thür in die Hand und wieder sprach er: „Gott soll Euch segnen, wie er Abraham gesegnet hat! Gott hat Abraham dadurch gesegnet, daß er ihm, dem früher Abram Geheißenen, in seinem Alter ,ha’ zugelegt hat. Ihr heißet Mann; wenn Gott wird Euch zulegen ein ,ha’, so werdet Ihr heißen ,Hamann’; man wird Euch aufhängen, wie man Haman aufgehängt hat.“

Ohne eine Antwort abzuwarten, machte sich der Jude aus dem Staube und kam nie mehr zum Banquier Mann.

Ein etwas harmloserer Fall trug sich vor Jahren in Breslau zu. Dorthin war auch ein bettelnder Jude aus Polen gekommen und hatte die Bekanntschaft eines unbedeutenden jüdischen Maklers gemacht, welcher namentlich polnisch-jüdischen Kaufleuten bei ihren Einkäufen als Vermittler und Führer beistand, um durch die bei diesen Geschäften abfallende Courtage seinen kargen Lebensunterhalt zu verdienen. Aus Mangel an anderer augenblicklicher Beschäftigung begleitete jener Makler obigen Schnorrer (Bettler) jetzt auf dessen Bittgängen und führte ihn hauptsächlich zu denjenigen Kaufleuten der Stadt, wo am sichersten auf ein Almosen zu rechnen war. So kamen die Beiden auch zu dem Kaufmann D., welcher jedoch den ziemlich unverschämt auftretenden Bettler endlich unbeschenkt und energisch zur Thür hinaus wies. Der Führer des polnischen Juden war indeß in dem Geschäftslocal zurückgeblieben und stand mit abgezogenem Hute erwartungsvoll und bescheiden in einer Ecke. Als D. ihn so nach einiger Zeit bemerkte, fragte er, was Jener hier noch zu suchen habe. –

„Ich wollte mer nur ausbitten de Kortasch’, Herr D.,“ entgegnete sich verbeugend der Makler.

„Courtage?“ rief D. erstaunt und seinen Ohren kaum trauend. – „Ihr wollt Courtage von mir? Und wofür denn, wenn ich fragen darf?“

„Hob ich denn nicht gebrongen (gebracht) den Mann, wos Se eben hoben nausgewiesen ßur Thür, Herr D.?“

„Und Ihr seid jetzt unverschämt genug,“ rief D. sich ereifernd, „dafür auch noch Courtage zu fordern?“

„Erlaaben Se, verßeihn Se, gitigster Herr D.,“ begütigte der Makler in vollem Bewußtsein seines guten Rechtes; „wenn Sie hätten gegeben eppes (etwas) dem Schnorrer, so hätte doch der gemacht ahn gutes Geschäft un ich hätt gekriegen mahne Kortasch vun den Schnorrer. Nu hoben Sie aber gegieben dem Schnorrer gor nix, un dorüm hoben doch Sie gemacht ahn gutes Geschäft, Herr D., un dorüm bitt ich mer noch aus de Kortasch für dies Geschäftche vun Ihnen.“

D. konnte sich des Lachens nicht enthalten, und gut beschenkt ging der arme Makler von dannen.

Daß die polnischen Juden auch in astronomischen Dingen eine Stimme haben, zeigt folgendes wahrheitsgetreue Histörchen.

Bei Gelegenheit eines Hochzeitsschmauses, den ein reicher jüdischer Kaufmann ausrichtete und wozu geschäftlicher Rücksichten halber auch ein polnischer Jude geladen war, kamen die zum Theil aus wissenschaftlich gebildeten Männern bestehenden Gäste auch auf die viel ventilirte Frage zu sprechen: „Dreht sich die Erde um die Sonne, oder die Sonne um die Erde, oder beide um sich selbst?“ Die Debatte spielte herüber und hinüber, ohne daß eine Einigkeit in den Ansichten hergestellt worden wäre. Als sich die streitenden Parteien erschöpft hatten, erhob sich der an dem entgegengesetzten Ende der Tafel sitzende Jude, dem man die schlechtesten Speisen und Weine vorgesetzt hatte, und sagte:

„Mahne Herren! Se werden gitigst verßaihn, wenn ich hob’ von dieser Sach’ ahne andere Ansicht. Ich sog: de Erd’ dreiht sich nischt um de Sunne, aber de Sunne dreiht sich um de Erd’. Worüm? Dorüm: Ass sich wollte dreihn de Erd’, un de Sunn’ sollte staihn stille, so müßten sich user (wahrhaftig) dreihn alle Baißim (Häuser), was senn ohf der Erd’, un es müßte sich dreihn aach Alles hier in diesem Bajes (Haus) un müßte sich dreihn hier bei unsern Balbos (Wirth) de Tofel, wodrüm mer itzt ßu sitzen hoben die graußmächtige Ehr’. Un dann müßten sich noch dreihn ahf der Tafel de Tellern un de Flaschen und dann müßten kimmen all die feinen Broten un Waine von die Herren dort droben in ihre Umdreihung aach ahnmal ßu mir. Ass dies aber is nischt der Fall, wie Se doch können Alle selbst hier sehen, so sog’ ich: de Sunn’ dreiht sich um die Erd’ und de Erd’ bleibt steihn stille.“

Allgemeine Heiterkeit und die sofortige Servirung der besten Weine und Speisen belohnte diese humoristische Rede des astronomisch gebildeten Juden. –

Wir haben gesehen, wie in der Lage der gesellschaftlichen Zustände Polens und Rußlands die Ursache zu suchen ist von den jährlichen Wanderungen der polnischen Juden, wie die Art der Jugenderziehung, der allgemein-sittliche Zustand der Bevölkerung in innigem Zusammenhang stehen mit dem immer mehr überhand nehmenden Schnorren, welches die Juden Deutschlands als eine ihrer größten Plagen mit Recht betrachten dürfen. Die vielfachen Bestrebungen der letzteren, die sich in jüngster Zeit besonders in den süddeutschen Staaten durch Bildung von Vereinen gegen die Wanderbettelei geltend machten, sind zwar sehr löblich, indessen die damit erzielten Erfolge sind weit hinter der Erwartung zurückgeblieben. Ohne näher auf die Frage einzugehen, von wannen Hülfe kommen müsse, glauben wir doch nicht irre zu gehen, wenn wir sagen, daß seitens der russischen Regierung Schritte zur Abhülfe gethan werden müssen, wenn anders dieser trostlose und unserer Zeit unwürdige Zustand ein Ende nehmen soll, daß es an ihr ist, eingreifende Maßregeln zur Hebung dieses Uebelstandes zu ergreifen. Eine Besserung der von uns gekennzeichneten Erscheinung kann aber nur von der Besserung der gesammten gesellschaftlichen Zustände Polens und Rußlands erwartet werden und dazu ist für jetzt noch wenig Aussicht vorhanden. Die Frage aber ist eine hochernste, nicht blos für die jüdischen Gemeinden Deutschlands – von welchen nur die an Rußland grenzenden Bezirke noch übermäßig von jenem Elende heimgesucht sind – sondern vor Allem im Hinblicke auf diese Tausende von unstreitig hochbefähigten Menschen, die der Cultur gewonnen werden und Ausgezeichnetes leisten könnten, während sie jetzt als ein verkümmertes, verschrobenes und verwildertes Element nur auf das Mitleid ihrer auswärtigen Glaubensgenossen und auf die Brandschatzung derselben angewiesen sind. Ist aber hier von polnischen Juden gesprochen worden, so ist selbstverständlich darunter immer nur eine bestimmte Classe in ihrer Mitte, das professionsmäßig auf die Bettelreise ziehende Schnorrantenthum verstanden. Daß es in Polen und Rußland auch zahlreiche seß- und ehrenhafte Judenfamilien giebt, die höchstens durch ihre Geschäfte in’s Ausland geführt werden, braucht wohl nicht erst gesagt zu werden. Häufig genug findet man ihre Söhne als Lehrlinge oder Gehülfen in deutschen Handelshäusern, oder dieselben besuchen deutsche Gymnasien und Universitäten, wo sie durch Talent, sowie durch ein eigenthümliches, energisches Streben sich auszeichnen und den Beweis liefern, was aus ihren bettelnden Heimathsgenossen werden könnte, wenn hier einmal eine planmäßige Culturarbeit Wandel schaffen und diesen Schandfleck beseitigen möchte.
H. Cohn.



  1. Dieses mit den vier Buchstaben G, M, R, A geschriebene Wort ist eine hebräische Bezeichnung für den Talmud.