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Blut um Blut

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Autor: Herman Schmid
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Titel: Blut um Blut
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 41–44, S. 625–628; 644–646; 657–660; 673–677
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1862
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[625]
Blut um Blut
Eine oberbairische Geschichte.
Von Herman Schmid.

Wo die Isar aus dem tiefen Thaleinschnitt, den sie sich auf ihrer Gebirgswanderung gegraben, bei München in die Ebene tritt, kann sie als die Grenze gelten, die das Hochland von dem übrigen Theile Oberbaierns scheidet, in welchem sich, anschließend an die Münchner Hochebene, zuerst tagelange Moosstrecken von Fürstenfeldbruck über Dachau und Schleißheim bis hinunter gegen Freising ausdehnen. Es wird wohl noch Jahrzehnte dauern, bis es der vordringenden Cultur gelingen wird, den Torfgehalt des ehemaligen Seegrundes zu erschöpfen und diesen selbst trocken zu legen – jetzt bietet die weite wellige Ebene, nur von trägen Moosbächen durchschnitten, kaum hie und da von graugrünem Weidengebüsch unterbrochen und noch seltener von einer menschlichen Ansiedelung belebt, einen traurigen, wenn auch nicht unschönen Anblick, dessen braunrothe Farbentöne und duftige Linien, vielleicht an jene der römischen Campagna erinnernd, schon manchen Maler begeistert und unter dem Pinsel eines Zwengauer und Morgenstern ihre künstlerische Verherrlichung gefunden haben. Als Grenze blickt von links her in blauer Ferne der Schluß der Bergkette des bairischen Hochlandes mit dem Herzogenstand, dem Heimgarten und der scharf abfallenden Zugspitze, die in’s Land hinaus ragt, wie der leergelassene Thronsessel eines Riesen, den die niedrigern Algäuer Berge wie dienende Vasallen umdrängen; zur rechten Seite zieht abschließend eine anmuthige Hügelkette dahin, auf welcher dunkle Tannenwälder mit braunen Ackerstreifen und grauen Wiesflecken wechseln, und bald ein freundliches Dorf mit stattlicher Kirche und Sattelthurm das heitere Leben der Gegenwart verkündet, bald das Schloß der alten Grafen von Dachau oder das ehrwürdige Stift von Weihenstephan von vergangenen Jahrhunderten und ihrer Herrlichkeit erzählen.

Auf dieser Höhe, zu deren Füßen sich die braune Amper aus dem weiten glänzenden Silberbecken des Ammersees heranschlängelt, ist wieder schönes fruchtbares Land, und während unten die Moosbäuerlein mit ihrem kleinen Vieh und ihren unscheinbaren Pferden mühsam um dem kargen Boden und der sauren Weide um ein kümmerliches Leben ringen, hat eine Stunde weiter der Wohlstand seinen behäbigen Wohnsitz aufgeschlagen. In leichten angenehmen Hügelwellen zieht reiches Fruchtland sich bis gegen Friedberg hin, mit zahllosen Dörfern, Hofmarken und Märkten, mit ergiebigem Boden, saftigen Wiesen und stattlichen schützenden Tannenwäldern, mit kleinen Flüßchen und Bächen dazwischen, so erquickend und mild, als die Luft, die darüber heimisch ist. Eine Eigenthümlichkeit der Gegend sind die vielen Einzelhöfe, eine Erinnerung, daß wir uns auf dem Boden echt germanischer Ansiedlung befinden, denn der Bajuvare liebte es, sich einzeln anzubauen und sein Gehöfte an einen möglichst freien und beherrschenden Punkt zu stellen.

Auf einer dieser Einöden begab sich die Geschichte, die wir erzählen; möge aber darum Niemand nach ihren örtlichen Spuren suchen, es würde vergebens sein, denn ein Theil der mithandelnden Personen lebt vielleicht noch, und dies gebot uns, die Spuren zu verwischen und zu verwirren: Niemand wird und soll unterscheiden können, was davon in’s Bereich der Dichtung gehört; daß sie wahr sei, wird nur derjenige bezweifeln, der das Volk nicht kennt, und über der idyllisch heitern Seite des Bauernlebens vergißt, daß hart daneben auch Abgründe liegen, wie kein städtisch verfeinertes Treiben sie schauriger und finsterer zeigt. Der Kern des Bauernthums ist unverdorbene Kraft: es ist nur natürlich, wenn sie nicht blos zum Guten drängt, sondern auch in maßloser Leidenschaft ausbricht – zumal im Flachlande, wo Luft und Lebensweise beitragen, das Blut minder leicht fließen zu machen, als in den Bergen des Hochlandes.

Auf grasigem Hügelabhang, mit der Giebelspitze gegen Sonnenaufgang gewendet, liegt der Stürzerhof, ein stattliches Bauerngut in Mitte einer mächtigen breiten Ackerflur, die nach allen Seiten von dunklem Tannenwalde bekränzt wird. Der Umkreis ist nicht groß; keine Fernsicht reicht über den Waldgürtel hinaus, und auch innerhalb desselben bietet sich dem Auge keine andere Abwechselung, als die leichten Hebungen und Senkungen des Geländes, als die sich in Braun, Gelb und Grün abstufenden Farben der Ackerstreifen. Das war besonders bei Beginn der Erzählung der Fall, denn der Wind wehte schon lange über die Stoppeln und über die grünen Schöpfe der Halmrüben, und der erste Sonntag im October ging in prachtvoller goldener Abendbeleuchtung zu Ende. Im Wiederscheine desselben stand der Stürzerhof mit seinen weißen Mauern wie ein Schlößchen da, an welches sich zur einen Seite ein langgestreckter Baumgarten schmiegte, während gegenüber der Wald eine grüne Spitze den Hügel herab vorschob und den natürlichen Park des Schloßherrn zu bilden schien. Zwischen der Spitze und dem Hofe stand auf grüner Wiesenfläche eine mächtige, dichtbelaubte Eiche, vor ihr ein über den Baum hinaus ragendes, roth angestrichenes Kreuz mit drei Armen – ein sogenanntes Schauerkreuz, dem man die Kraft zuschreibt, den Hagelschlag von der Flur abzuwenden, die es überschaut.

Beim Nähertreten verlor sich das gute Aussehen des Hofes beträchtlich, denn da war nicht zu verkennen, daß ein Theil desselben etwas verkommen aussah und das Eine sich nicht zum Andern [626] schickte. Die Thüren und Fenster des Erdgeschosses waren nach der Sitte der Gegend rothbraun angestrichen und mit einem weißen Andreaskreuz bemalt; die Fenster waren klein, niedrig, breit und mit Blei in runde Scheiben gefaßt; im auffallenden Gegensatze dazu waren Fensterstöcke und Läden des obern Stocks mit freundlichem Grün bemalt, die Fenster selber aber geräumig und mit breiten hellen Scheiben besetzt, hinter denen sich bescheidene Anfänge von Vorhängen blicken ließen. Hart an die linke Wand des Hauses schloß sich eine hohe Planke und theilte den Raum von der Einfahrt her in zwei streng geschiedene Hälften; auch hinter dem Hause durch den Obstgarten setzte sich die Scheidewand fort und verwandelte sich am Ende desselben in einen Feldzaun, der sich erst am Waldsaume verlor.

Der Stürzerhof war offenbar getheilt und im Besitze zweier Herren, die nicht eben gute Freunde und Nachbarn zu sein schienen, und alle möglichen Anstalten getroffen hatten, einander nicht zu begegnen.

An jenem Abend schritt ein junges Bauermädchen in der eigenthümlichen Tracht jener Gegend zur rechten Seite der Planke durch den Garten. Es war eine groß und schlank gewachsene Gestalt, auf deren Hüften der schwarze gelbgesäumte Rock mit seinen unzähligen dicht gelegten Falten bequem und natürlich ruhte, und nur etwas über’s Knie fallend ein ungemein zierliches Bein in weiß und blau geflammten Strümpfen und einen Fuß erblicken ließ, den selbst die rund ausgeschnittenen Schuhe mit ihren plumpen Bandrosen nicht zu entstellen vermochten. Um den Oberkörper schmiegte sich ein schwarzes Mieder mit einem leicht vor die Brust geschnürten Vorstecker aus Goldstoff; den schlanken Hals umgab das feingefältete Hemd in zierlicher Krause, und mit gleichen Fälteln und Krausen waren auch die Hemdärmel besetzt und hoben, nur bis an die Hälfte des Oberarmes reichend, dessen kräftige Rundung angenehm hervor. Auf dem Kopfe saß das unvermeidliche Spitzenhäubchen mit Draht, das sich um das schöne feingeröthete Angesicht des Mädchens wie ein duftiger Rahmen anschmiegte, während das durch Haar und Zöpfe über die Stirne gebundene rothwollene Band den Ausdruck der feurigen nußbraunen Augen noch entschiedener machte. Das Mädchen war unbestreitbar von hoher Schönheit, und dennoch konnte das holde Gesicht in Augenblicken des Nachdenkens einen so harten, ja beinahe wilden und trotzigen Ausdruck annehmen, daß man nicht glauben konnte, das seien dieselben Züge, die noch eben so kinderhaft freundlich zu lächeln vermocht hatten.

Das Mädchen ging langsam; es hatte ein Körbchen am Arme, mit überreifen aufplatzenden Bohnenhülsen gefüllt, und machte sich an den Gemüsebeeten des Gartens zu schaffen. Es gab aber dort so viel wie nichts zu thun, denn der Garten war herbstlich verwildert und schien sich keiner besonders sorgsamen Hand zu erfreuen. Auf den Beeten standen die Strünke der abgeräumten Kohlköpfe zwischen den Stengeln hoch aufgeschossener Samenpflanzen; nur hie und da ragte ein unordentlicher Büschel Bandgras oder ein Geniste von Nelken und Rittersporn. Es gab ein kümmerliches Sträußchen, das die schöne Bäuerin sich zusammenlas und hinter den Goldlatz steckte; fast hatte es den Anschein, als suche sie nur einen Vorwand, um länger im Garten zu bleiben und dem Gesange zuhören zu können, der aus dem feindlichen Gebiete jenseits der Planke herübertönte.

In den Zweigen eines großen alten Baumes stand dort ein Bauernbursche in blauem Staubhemd, einen Gürtel um die Mitte, ein leicht umgeschlagenes schwarzes Tuch um den Hals und auf dem schwarzen Krauskopf einen hellen Strohhut, dessen breiter Rand ihm gestattete, unbemerkt in den Nachbargarten zu schielen. Konnte er auch von dem Mädchen, das sich immer in der Nähe des Zaunes hielt, nicht viel sehen, so war doch klar, daß seine Aufmerksamkeit nicht dem verwilderten Garten galt, obwohl der von ihm gepflegte dagegen allerdings wie eine fürstliche Anlage anzusehen war. Die Wege durch den Obstgarten waren so rein, wie gescheuert; die Baumscheiben zierlich ausgehoben und frei gehalten; die Kronen der Bäume verriethen die sichtende Hand des kundigen Gärtners, und in der Rabatte die Breterwand entlang leuchtete ein prachtvoller Herbstflor von Astern, Monatrosen, Georginen und andern Spätblumen. Der Bursche war mit dem Abpflücken von Zwetschgen beschäftigt, die er in ein am Baume befestigtes Körbchen legte und dazu mit heller Stimme sang:

„Jetzund lad’ ich zwei Pistolen,
Thu’ vor Freuden einen Schuß,
Der Herzliebsten zu gefallen,
Weil’s die Schönste ist von Allen,
Die ich jetzund meiden muß!“

Er machte einen kleinen Absatz, blickte fest in die andere Abtheilung hinüber und schien seinen Muth zu einem besondern Anlauf zusammen zu fassen. „Einmal muß es sein,“ brummte er vor sich hin und rief dann laut: „Ich kann schon all’s aufhör’n mit meinem Kreische’, wenn’s der Jungfer Nachbarin nicht gefällt …“

„Meint Ihr mich, Nachbar?“ sagte das überraschte Mädchen und blickte erröthend auf. „Von wegen meiner könnt Ihr immer fortsingen, mir gefällt’s ganz wohl!“

Der Bursche erwiderte nichts und sang weiter:

„Jetzund geb’ ich meinem Pferd die Sporen,
Reite zu dem Thor hinaus,
Hab’ vor Allen Dich erkoren,
Schönster Schatz, Du bleibst mir unverloren,
Bis ich wied’rum komm …“

Das Krachen des Astes, auf dem er stand, unterbrach ihn: das Mädchen drüben schrie laut auf und war mit einem Sprunge an der Planke, als wenn sie ihm zu Hülfe kommen wollte – sie hatte in der Eile nicht an die Scheidewand gedacht, die es unmöglich machte. Die Sache war indeß nicht so gefährlich, denn der gewandte Bursche hatte sich gerade im rechten Augenblick vom Baume niedergeschwungen und stand wohlbehalten an der andern Seite des Zaunes, einige im Sprunge entfallene Früchte wieder auflesend.

Keines sprach ein Wort, Keines sah das Andere, und dennoch blieben Beide an ihrem Platze stehn, als müßten sie noch etwas Besonderes erwarten, das sie kommen sahen, wie das langsame Aufschließen einer Blumenknospe. Der Bursche ermannte sich zuerst. „Wenn die Jungfer Nachbari’ noch drüben ist, möcht ich ihr wohl was sagen … Ich hab’s schon oft auf der Zung’ gehabt und hab’s Ihrem Vater und Ihrem Bruder sagen wollen, aber ich hab’s nie anbringen können, denn sie sind immer fuchsteufelswild, wenn sie mir begegnen, und schauen drein, als wenn sie all’s anfangen wollten zu krakehle…“

„Und was wär’ denn das?“ klang’s von drüben etwas beklommen; „ich will’s dem Vater wohl ausrichten …“

„Dann will ich der Jungfer Nachbarin sagen,“ begann der Bursche rasch, „daß ich … daß sie …“ Er stockte und setzte dann langsam hinzu: „… daß dort an der Planken ein paar Breter losgeworden sind …“

„Ist das die Möglichkeit! Davon hab’ ich noch nie was bemerkt …“

„Ja, es ist schon so,“ fuhr der Bursche geläufig fort, „da seh’ die Jungfer Nachbarin nur selbst … an den beiden Läden da sind die Pfostennägel ausgefault, es braucht nur einen Druck, so liegen sie unten …“ Im Eifer, seine Entdeckung nachzuweisen, gerieth der Druck etwas zu stark, die beiden Breter lösten sich von dem Pfosten ab und senkten sich schräg zu Boden.

In der blitzschnell entstandenen Lücke standen sich Bursche und Mädchen hart gegenüber, beinahe Gesicht an Gesicht, daß ihre Athemzüge sich streiften. Beide waren wie mit Blut übergossen und vermochten keinen Laut hervor zu bringen. „Das muß ich gleich dem Vater sagen, daß er’s wieder vermacht …“ stammelte endlich das Mädchen.

„Wenn die Jungfer will,“ entgegnete der Bursche, „mir thät’s nicht pressire’, und wenn’s nach meinem Kopf ging, ich ließ’ den ganzen Zaun einreißen …“

„Ich hätt’ auch nichts dawider… dann könnt’ ich besser in Euren Garten sehn, der gefällt mir einmal zu gut. Da ist Alles so sauber wie in einer Kapellen, und Ihr habt so schöne Blumen. Bei uns sind Distel und Brennnessel das Meiste, und Hennendarm und Taubenkropf – kaum daß ein armseliges Nagerl (Nelke) und ein Rosmarin fortkommt …“

„Das ist eine besondere Sach’,“ rief der Bursche lachend, „wie die Geschmäcker verschiede’ sind! Mir gefallt Ihr Garte’ viel besser als der unsrige, und ich hab’ in der ganzen Welt nirgends solch’ eine schöne Blum’ gesehen, wie sie da wachsen … Wenn ich ein solches Sträußle hätt’, wie die Jungfer Nachbarin da am Mieder stecken hat, ich thät’ einen Kreuzsprung machen vor Vergnüge’!“

[627] „Die paar Blümeln sind net so viel werth,“ sagte das Mädchen, indem sie ihm das Sträußchen mit niedergeschlagenen Augen hinreichte. Der Bursche ergriff es hastig, als ob er daran riechen wolle, und drückte einen leichten Kuß darauf. „Da muß aber die Jungfer Nachbarin,“ rief er, „von mir auch ä Gegengeschenk annehme’ und sich von meine Zwetschge’ da was aussuche’ …“

Dem Mädchen war der geheime Kuß nicht entgangen, in der Verwirrung darüber kam ihr der Vorwand gelegen, sich bewundernd über das Körbchen zu beugen. „Was Ihr für wunderschöne Zwetschgen habt!“ rief sie. „Wir haben doch die nämlichen Bäume und bekommen nur kleine und saure Dinger, wie die Schlehen!“

„Das kommt davon, daß Ihre Bäume nicht geputzt werden und den Brand und den Schorf haben … hätt’ ich was dreinzureden, so was ließ ich nicht aufkommen!“

„Und wie schön die Frucht in dem Körbel geordnet ist! Die Weinblätter machen eine prächtige Einfassung, und die Astern, die dazwischen gesteckt sind, lassen erst recht sehen, wie duftig und blau die Früchte sind, es wär’ schade, wenn man sie herausnehmen wollt’!“

„Davor kann man helfe’! Behalt’ die Jungfer Nachbarin das ganze Körbche’ – aber jo das Körbche’ nicht, das könnt’ eine schlimme Bedeutung habe’ … wenn Sie ’s einmal nicht mehr braucht, kann Sie mir das Körbche’ über’n Zaun werfe’!“

„Das wär’ doch zu grob – ich werd’ Euch wohl einmal wieder hören, daß ich’s zurückgeben kann!“

„So ist es also der Jungfer nit zuwider, wenn sie mir begegnet?“

„Warum sollt’s mir zuwider sein? Ihr habt mir ja nichts zu leid gethan!“

„Und könnt’ der Jungfer auch nix zu leid thun, nit vor mei’ Lebe’! Ich hab’ nur gemeent, weil doch Ihr Vater und Ihr Bruder und die Bauern alle in der Gegend uns Pälzer nit leide könn’ … es könnt bei der Jungfer auch so sein! Und das freut mich, daß es nicht so ist, denn weeß Gott, die Bauern haben kee’ Ursach’, wir sind nit zu neiden, daß wir haben fortgemußt aus der schöne Palz!“

„ … Ihr seid also nit gern bei uns?“

„O wohl gern – aber das muß die Jungfer Einem nit übel nehmen, wenn man sich daran erinnert, es ist gar zu schön drüben über’m Rhein! Die Jungfer sollt’ nur einmal die schöne Wiese und Felder, und die Laubwälder mit denen prächtigen Eichen und Buchen sehn, und die Mandle und die Käste, die all’s im Freien wachse’, und die Weingarte mit den schönste Traube’ … sie sollt’ Augen machen!“

„Euer ganzes Herz muß noch dort sein, so verzückt redt Ihr davon!“

„Meine Gedanken reisen wohl all’s noch manchmal hinunter in die Palz – aber mei’ Herz ist nicht dort, das ist in der Dachauer Revier daheim!“

Das Mädchen kam aus der Verwirrung nicht heraus; welche Ausflucht sie auch versucht hatte, immer nahm das Gespräch schon nach wenigen Worten eine verfängliche Wendung. „Aber warum,“ sagte sie ausweichend, „seid Ihr Ueberrheiner daheim fort und zu uns gekommen?“

„Weil dort all’s zu viel Leut sind, und Grund und Boden ist einmal zu theuer. Drum gehn alle Jahr Viele, die keinen Platz und keine Arbeit mehr finden, über’s Meer nach Amerika; mein Vater aber hat gesagt, wir wollen lieber hinüber in Baiern, da is all’s noch Platz genug, und der König Max Joseph ist ein guter Mann und is auch ein Pälzerkind, und wir bleiben wenigstens auf dem lieben deutschen Erdboden. … Warum betrachtet die Jungfer meine Blus’ so besonders?“ unterbrach er sich selbst. „Es ist eine kommode Tracht und zur Arbeit gut …“

„Ich hab’ mir die feine Nähterei auf Eurem Gürtel betrachtet …“ Was bedeutet der Buchstab’, der eingenäht ist?“

„Das ist so Gebrauch bei uns: es ist der Anfangsbuchstab’ von meinem Namen – ich heiß’ Adrian …“

„ … Ein schöner Nam’ … es heißt Niemand so bei uns in der ganzen Gemein.“

„Für mich aber hat das A noch eine besondere Bedeutung: es heißt auch – Ameile …“

„Ameile? Was ist das?“

„Das ist der Namen von dem Mädle, das ich gern hab’ …“

„Ich glaub’, der Tyras meld’t sich,“ sagte das Mädchen, indem sie ihr Körbchen zu sich nahm, „ich muß fort …“

Adrian faßte sich ein Herz und hielt sie am Arme fest. „Bleib’ die Jungfer Nachbarin doch – der Hund hat sich ja gar nicht gerührt; ich möcht’ gar zu gern mit ihr von dem Mädle schwätze, das ich gern hab’ … von meinem Ameil …“

„Ameile …“ flüsterte das verlegene Mädchen, „das lautet recht schön, aber wir haben keine solche Heilige im Kalender …“

„O doch, doch! Es ist nur ein Schmeichelwörtle, eine Abkürzung … für Ihren Namen, Jungfer … Ameile ist bei uns Annemarie! “

„Ich muß wahrhaftig fort,“ rief das Mädchen und wollte sich losmachen, „es fängt schon an, dunkel zu werden …“ Adrian aber hielt sie fester, faßte ihre Hand und fuhr fort: „Findet die Jungfer, daß das gut lautet? Mir geht es auch so, das Herz geht mir aus, wenn ich den Namen höre … und wenn ich erst sagen dürfte: mein schönes, gutes, mein liebes Ameile! … O mach’ sich die Jungfer nicht los, ich muß es Ihr einmal sagen, wie ’s mir um Herz ist, daß Sie mir’s angethan hat im ersten Augenblick, wie wir vor anderthalb Jahren auf den Hof gekommen sind, daß ich Sie mit jedem Tag lieber bekommen hab’ und daß ich mich schon lange nach einer Gelegenheit sehn’, es Ihr zu sagen! Sie allein und keine Andere ist meine Ameile – was wär’ ich für ein glücklicher Mensch, wenn die Jungfer mir auch ein wenig gut sein könnte!“

Annemarie sah zu Boden; sie lächelte, und dennoch trat in ihrem Gesichte der finstere Zug hervor, der es hart und beinahe unheimlich machte. „Verlangt das net, Adrian,“ sagte sie dumpf, „es wär’ nur ein Unglück für uns alle Beide …“

„Ein Unglück? Und warum?“

„ – Weil mein Vater niemals seine Einwilligung dazu geben thät’ … Ihr wißt, er kann die Ueberrheiner nit ausstehen … er hat gar keinen andern Gedanken, keine andere Kümmerniß, als wie er Euch wieder aus dem Hofe bringen kann …“

„Wir haben ihm doch nie was zu leid gethan! Wenn er uns nicht im Hof haben will, warum hat er ihn dann verkauft?“

„Das will ich Euch sagen, Adrian, wenn ich auch selbiger Zeit, wie das geschehen ist, noch ein halbes Kind gewesen bin. Der Vater hat sich hart gehaust in den Kriegszeiten, dann hat ein paar Mal hintereinander der Schauer Alles in Grund und Boden hineingeschlagen, der Viehstall ist dazu gekommen … es ist ihm nichts übrig ’blieben, als den halben Hof zu verkaufen. Es hat sich auch gut getroffen, daß ihn ein Vetter gekauft hat, der hat ihm versprochen, er wollt’ ihm den halben Hof wieder ablassn, sobald er’s im Stand wär, ihn hinauszuzahlen. Und der Vater hat sich geschunden und geplagt, damit er das Geld zusammenbringen soll, und er hätt’ es wohl noch zusammenbracht, und der Vetter wär’ seinem Wort auch nit umgestanden – da ist er aber geschwind weggestorben, und die Erben und Befreund’ten haben nicht nach dem Vater gefragt und haben das Gut verkauft …“

„Gott sei Dank, so sind wir hereingekommen!“ rief Adrian.

„Und wollen auch drinnen bleiben und wollen es versuchen, gut freund zu werden mit dem Vater! Sollte es denn gar nicht möglich sein, ihn auszusöhnen? “

„Ich glaube ’s nicht,“ sagte sie mit traurigem Kopfschütteln, „der Vater ist gar streng und hart! Hätt’ er sonst Haus und Garten und Feld abgetheilt, als wenn eine Mauer dazwischen wär’? Der Stürzerhof muß wieder ganz sein werden – das ist sein einziges Trachten … eh’ er das aufgiebt, läßt er Alles zu Grund geh’n!“

„Ich kann mir’s nicht so gefährlich vorstellen,“ erwiderte Adrian. „Du bist so gut, Ameile, und Dein Vater sollt’ gar kein Fleckle habe, wo man ihm beikomme könnt’? Ich will’s doch versuchen, wenn ich nur erst weiß, wie ich mit Dir daran bin!… Lieb’s herziges Ameile … sag’, ob Du mich nicht auch ä Bißle lieb habe’ kannst?“

Annemarie wurde des Geständnisses, dessen Ahnung auf ihren Wangen brannte, durch den Hofhund überhoben, der laut bellend anschlug. „Ich muß fort,“ sagte sie, „der Vater kommt zurück …“

„Das ist der Vater noch nicht! Ist er nicht nach München hinein zum Octoberfest? Der meinige ist ja auch hin … bis das Pferderennen vorbei ist, wird’s immer viere, und unmittelbar darnach wird Dein Vater auch nicht aufgesessen sein … er kann noch nicht zurück kommen …“

„Ich bitt’ recht schön, Adrian, daß Ihr mich gehen laßt …“ bat das Mädchen herzlich; er aber hielt ihre Hand noch fester und [628] fuhr dringender fort: „Ich halt’ Dich nicht auf, Ameile, aber die Antwort auf meine Frage ist ja so kurz … oder wenn Du mir nicht so antworten willst, thu’s auf eine andere Weis’ … Du hast ein Nelkenstöckle mit wunderschöne rothe Blume am Fenster· in der Stub’ … gieb mir Eene davon! Im Hausplatz, wo die Welt mit Bretern verschlagen ist, daß wir nicht hinein können zu Euch, ist ein Spalt gerade über’m Schloß … ich steh’ oft davor, Ameile, weil ich Dich gerade sehn kann, wenn Du in der Küche am Heerde stehst. … Durch diesen Spalt gieb mir Antwort; ist’s Nein, so schiebe mir ein Nelkenzweiglein durch; ist’s Ja, so nimm Eine von den schöne’ feurige’ Blume’ … Willst Du, Ameile?“

Das Mädchen erwiderte nichts, sondern eilte durch die stark einbrechende Dämmerung dem Hofraume zu, von welchem Hundegebell immer lauter hörbar wurde. Adrian sah ihr einen Augenblick betreten nach, dann machte er sich daran, die losgegangenen Breter wieder an der Planke zu befestigen. „Ich wollte, der alte Stürzer hielte in seinem Eigensinn nicht fester als diese verrosteten Nägel,“ brummte er dabei, „dann wär’ Alles gut!“

Annemarie war hastig und ohne sich umzusehen, in der Wohnstube angekommen und hielt das Körbchen mit den Pflaumen und Blumen behutsam mit der Schürze bedeckt. Sie hatte kaum so viel Zeit gefunden, dem an der Kette lärmenden Hofhunde ein beruhigendes Wort zuzurufen, auf das er wedelnd in die Hütte kroch, und öffnete das in der Ofenecke befindliche altersbraune Wandschränkchen, um ihr Kleinod im obern Fache vor uneingeweihten und feindseligen Blicken zu verbergen. Hochaufathmend war sie eben damit zu Ende gekommen, als es von außen an’s halbgeöffnete Fenster pochte. Erschrocken schlug sie das Schränkchen zu und wandte sich nach dem Fenster, durch welches ein stämmiger Bursche von fast verwegenem Aussehn hereinlugte. Der runde niedrige Filzhut auf dem kurz geschorenen Haar und die rothe, statt der Knöpfe mit Silbermünzen besetzte Weste zeigten, daß er zu den eingebornen Bewohnern der Gegend gehörte. Er hatte die Jacke über die eine Schulter geworfen, während auf der andern der Lauf eines Gewehres sichtbar wurde. Das Gesicht des Burschen war schön, vielleicht schöner als das Adrian’s, aber es war etwas Kühnes und Wildes darin, was eher zurückschreckte, als anzog. „Was rennst denn, als wenn Dir der Kittel brennte, Mirl,“ rief er, „daß man Dich nicht erschreien und einholen kann?“

„Ich hab nichts von Dir gehört und gesehen,“ erwiderte das Mädchen kurz.

„Dann muß Dir schon bei dem kühlen Abend ein Fluß auf’s Gehör gefallen sein!“ höhnte der Bursche. „Was hast denn noch so spät im Garten zu schaffen gehabt?“

„Geht’s Dich was an, Melcher? Ich hab’ Bohnen gebrockt.“

„Bohnen gebrockt? Um die Zeit? Und an der Planken? Die Bohnen stehn ja auf der andern Seit’, so viel ich weiß! Das kommt mir ganz eigen vor, Mirl!“

„Ich glaube gar, Du laß’st Dir einfallen, mir aufzupassen! Und damit Du’s nur weißt … ich heiß’ Annemarie, nicht Mirl, ich wüßt’ nicht, warum ich mir meinen Namen sollt’ verhunzen lassen!“

„So? Das ist ja wieder was Neues! Hat Dich ja Deiner Lebtag noch kein Mensch anders geheißen als Mirl, und jetzt ist Dir’s auf einmal zu gering? Du solltest aber nit so reden, Mirl – Du weißt ja, wie ich gesinnt bin mit Dir!“

„Was ist’s dann? Hab’ ich Dir merken lassen, daß ich von derselbigen G’sinnung bin?“

„Das hast nicht gethan, aber Du hast mich doch merken lassen, daß es Dir nit zuwider ist … Das kannst nicht leugnen, Mirl! Soll’s mir jetzt gleich sein, soll mir nicht der Zorn aufsteigen, wenn ich seh’, daß ein Andrer …“

„Ach was!“ unterbrach ihn Annemarie unsicher, „wo sollt’ in der Einöd’ ein Andrer herkommen?“

„Man sollt’s freilich nit glauben, ich seh’s selber ein, daß es eine Dummheit ist, so was zu denken … und doch wollt’ ich darauf wetten, ich hätt’ vorhin an der Planken den Rheinschnaken bei Dir stehn sehn, den nothigen Ueberrheiner, der das Hemd übers Gewand tragen muß, weil er sich keinen Janker vermag ...“

„Ich hab’ Dir schon gesagt, Melcher,“ rief das Mädchen zornig, ich verbitt’ mir das Ausspioniren! Wenn’s nochmal geschieht, sag’ ichs dem Vater, und Du mußt aus dem Haus!“

„Hoho,“ entgegnete der Bursche, „pfeift der Wind aus dem Loch? Dann weiß ich, wie ich daran bin … dann sei nur froh, wenn ich dem Bauern nichts sag …“

„Zankt Ihr Zwei wieder einmal miteinander?“ rief ein Dritter dazwischen, ein Bursche in Bauerntracht, den die Aehnlichkeit des Gesichts auf den ersten Blick als Annemarie’s Bruder erkennen, ließ. Es waren ganz dieselben Züge, nur in männliche Formen übergetragen und mit stärkerem Hervortreten des finstern Ausdrucks um Mund und Augen. „Ihr exercirt Euch ein bissel früh ein auf den heiligen Ehstand!“

„Da bist bös auf dem Holzweg, Sepp!“ rief Annemarie, „so weit ist’s nit mit mir und dem Melcher!“

„Wirst schon so weit kommen, Schwester … kannst keinen bessern Mann finden, ich versteh’ mich drauf!“

„Kümmre Dich um Dich selber! Hast schon wieder den Stutzen auf dem Buckel? Willst nie gescheidt werden und das Wildschießen aufgeben? Laß Dich nit verleiten von dem Melcher, es ist noch einmal Dein Unglück! Wenn Dir einmal der Förster begegnet …“

„Dummheiten!“ rief Melcher dazwischen. „Dann kommt’s eben drauf an, bei wem’s zuerst knallt! Komm, Sepp, laß Dir nix einreden; wir vertragen die schönste Zeit mit dem öden Gered … ich weiß einen Platz droben im G’ramp (geräumter Schlag), wo noch der Sommerhaber steht. Ein Zwölfender wechselt alle Tag um die Zeit heraus … sollen wir unsern Haber ruhig abweiden lassen? Nein – ich will unsere Flur hüten, und was mir ins Gäu geht, das brenn’ ich nieder …“

[641] Die Bursche verschwanden in der Dämmerung; das Mädchen zog das Fenster zu, indeß ihr über Melcher’s Drohung ein Schauder über den Leib lief. Während es draußen noch dämmerte, war es in der Stube schon völlig dunkel geworden, und sie eilte, das Oellämpchen anzuzünden und dadurch die Unannehmlichkeit der Finsterniß und der Einsamkeit wenigstens in etwas zu verscheuchen. Dann nahm sie den Haspel zur Hand, um das Garn, das sich den Tag über auf der Spule angesammelt hatte, abzuwinden, aber der daran angebrachte Schneller, welcher jedes Hundert von Fäden durch einen kleinen Krach anzeigen sollte, bekam wenig zu thun, denn die sonst so rührigen Hände sanken immer wieder lässig herab, und das Köpfchen mußte sich unter der Last der Gedanken beugen, die sich darin hin und wieder trieben. Von Zeit zu Zeit blieb ihr Blick an dem Nelkenstock im Fenster haften; denn sie gedachte der Blumen-Antwort, die sie auf eine so wichtige und dringende Frage zu geben hatte und – geben mußte, das stand klar und deutlich vor ihrer Seele. Sie war auch schnell entschlossen, Adrian das Zweiglein zu geben; warum sollte sie dem guten Burschen Dinge in den Kopf setzen, die doch, wie das Volk sich ausdrückt, „keine Heimath hatten“? Sie konnte auch nicht anders, als Nein sagen; denn wenn ihr auch die aus der Ferne dargebrachten Huldigungen des hübschen Ueberrheiners seit langer Zeit nicht entgangen waren, wenn sie auch insgeheim ihr Wohlgefallen daran gehabt und ihm nicht feind war, konnte sie doch, nicht sagen, daß sie ihn liebe. – Dann aber sah sie Adrian wieder vor sich, wie er ihr so gar treuherzig in die Augen sah; sie hörte, wie er sie sein liebes herziges Ameile nannte, und in ihrem Herzen quoll es so heiß empor, daß sie zusammenbebte und sich gestehen mußte, das sei doch eine andere Empfindung, als die mehr leidend gleichgültige gegen Jemand, dem man blos „nicht feind“ ist. Konnte sie dem braven Menschen solches Herzeleid anthun? Und wenn sie auch wußte, daß der Vater nie seine Zustimmung geben würde, was konnte es schaden, wenn er wenigstens zum Troste erfuhr, daß sie ihm auch gut war? Sie hatte das früher selbst nicht gewußt; sie hatte nicht geahnt, was sich schon seit geraumer Zeit in ihrem Herzen vorbereitete, und war nahe daran, das frei geglaubte Herz an Melcher’s stürmische Bewerbungen zu verschenken – aber das erste Wort aus Adrian’s Munde hatte sonnengleich den Nebel, der sie vor sich selbst verhüllte, niedergedrückt, und das Paradies der Liebe lag weit geöffnet vor ihrer Seele, wie eine schöne Morgenlandschaft, golden und hell, wenn auch schimmernd in den Thautropfen künftiger Thränen. – Sie war noch unentschlossen, als sie schon am Fenster stand und die Scheere an den Nelkenstock setzte, und hätte vielleicht noch länger gezögert, aber sie hörte aus der Entfernung Adrian’s Gesang; sie wußte, daß er um diese Zeit die Pferde in einen kleinen Weiher unweit des Hofes zur Schwemme zu reiten pflegte; er hoffte gewiß, bei der Rückkehr die erbetene Antwort zu finden, und diese Hoffnung sollte ihn nicht täuschen. Rasch schnitt sie Zweig und Blume ab und stand mit glühenden Wangen und hochklopfender Brust im dunklen Hausfletz vor der Breterwand, die dasselbe theilte und hinter welcher die Stiege in das von den Ueberrheinern bewohnte obere Stockwerk führte. Mit merkwürdiger Schnelligkeit hatte sie die Spalte gefunden und wollte das Zweiglein durchschieben … da kamen Adrian’s Stimme und Tritte näher – und die entscheidende Blutnelke lag als beredtes Zeichen der Versöhnung drüben im feindlichen Gebiete …

Annemarie war in die Stube geflohen, aber bis dorthin drang Adrian’s Jubelruf, dessen Stimme noch nie so hell geklungen hatte, als er die Stiege hinauf sang:

„Schön und reich, das bin ich nicht,
Das kannst Du Dir wohl denken;
Aber mein Herz ist reich an Lieb’ und Treu,
Mein Herz will ich Dir schenken!“

Peitschenknall, Hundgebell und Rädergerassel tönte in den Liebesgruß und scheuchte Annemarie hinaus auf die Gräd vor dem Hause, um mit hochgehaltener Oellampe dem heimkehrenden Vater zu leuchten. Als sie dort ankam, hatte der Bauer die Zügel dem Roßknecht zugeworfen und kam der Tochter schon fluchend und scheltend entgegen. „Himmelsacrament,“ schrie er, „ist das eine Art, mich eine halbe Stunde hinstehn zu lassen ohne Licht? Bist auf den Ohren gesessen, daß Du mich nit hast kommen hören? Meinst vielleicht, weil ich nur einen halben Hof hab’, es langt schon für mich mit dem halben Respect? “

„Aber Vater …“ wollte das Mädchen begütigend einwenden, der Alte aber fuhr sie noch wilder an. „Das Maul gehalten!“ schrie er, indem er in die Stube trat und Peitsche und Hut in die Ecke schleuderte. „Ich will nichts hören von Dir! Wo ist der Bub?“

„Aus,“ sagte Annemarie kurz, indem sie das Licht auf den großen Tisch in der Ecke mit dem Hausaltare stellte, wo der Vater sich breit und plump niedersetzte. Der Schein des Lämpchens fiel auf beide Gesichter und erklärte, woher der finstere harte Zug in dem Gesichte Annemarie’s und ihres Bruders stammte: der Bauer war das scharf und hart geprägte Urbild desselben. Der alte Stürzer [642] war ein hagerer, hoch aufgeschossener Mann mit wohlgeformten, aber strengen Zügen, deren Ausdruck sich noch durch den hohen kahlen Schädel und die dichten Augenbrauenbüschel steigerte, die über lebhaften, aber scharfen Augen saßen.

„Wo ist er hin?“ rief er wieder. „Bring nur mein Nachtessen.“

„Weiß nicht,“ erwiderte die Tochter wie zuvor, indem sie einen Teller mit geräuchertem Schweinefleisch und eine steinerne Flasche auf den Tisch stellte, zugleich aber den großen Laib Schwarzbrod, in welchem das Messer stak, daneben legte. „Wird wohl wieder in’s Wildern gegangen sein!“

„Himmelsacrament,“ schrie der Bauer, indem er dröhnend mit geballter Faust auf den Tisch schlug, „ich will’s ihm vertreiben, dem Tagdieb! Ich will einmal andere Saiten aufziehn – ich will Euch Allen miteinander zeigen, daß ich in meinem halben Hof ganz und gar Herr bin! Mein Geduldfaden ist ab!“

Annemarie stand dem Tobenden gerade gegenüber und sah ihm fest in’s Gesicht; wer sie so erblickte, hätte das kindlich einfache, fast schüchterne und weiche Mädchen an der Gartenplanke und am Nelkenstock nicht wieder erkannt. Es war die zweite Hälfte ihrer Natur, das Wesen ihres Vaters, das in ihr hervortrat und sich trotzig der verwandten und eben darum sie abstoßenden Gemüthsart gegenüber stellte. Milde liebevolle Güte und strenge grollerfüllte Härte lagen als gleichmäßig entwickelte Keime in ihr – noch war es unentschieden, welcher davon den andern überwuchern oder ersticken sollte. „Gieb’s nach, Vater,“ sagte sie schneidig, „ich glaub’, Du hast ’trunken!“

„’Trunken!“ lachte der Stürzer auf. „Wär’ kein Wunder, wenn Einem das Tröpfel Bier in Kopf steigen thät bei all’ dem Aerger, den man mit hinunterschlucken muß! Himmelsacrament, ist das auch ein Essen für den Stürzerbauern? Geselchtes und Scheps (Nachbier), und der Ueberrheiner-Lump da droben sauft vielleicht Wein und speist ein Schweinsbratel, wie ein Graf!“

„Aber was hast denn, Vater? Was giebt’s denn schon wieder!“

„Was wird’s geben! Der Nothleider da droben hat auf dem Fest drinnen einen Preis gekriegt und ein Fahn’l voll Baierthaler, weil er den schönsten Hanf gehabt hat und das schönste Obst!“

„Das wundert mich nit, Vater … solches Obst, wie der Nachbar hat, ist weit und breit nicht zu sehn!“

„Nichts ist damit! Ein Gelump’ ist’s … ein ordentlicher Bauer hat keine Zeit, daß er sich mit solchem Larifari abgiebt! Und da hat der König mit ihm geredt, und ich hab’ daneben stehn müssen in dem Gedräng’ und hab’s mit ansehn müssen, wie er ihn auf die Achsel geklopft und gelobt hat … aber ich mach’ der Geschicht’ ein End’! Hinaus muß der Kerl, oder ich will nicht der Stürzerbauer sein!“

„Du sollt’st Dich schämen, Vater,“ sagte Mirl und war wieder zu ihrem Haspel getreten, „die Ueberrheiner sind ordentliche, stille Leut’ …“

„Duckmäuser sind’s, die’s faustdick hinter den Ohren haben!“ polterte der Alte noch heftiger. „Red’ ihnen das Wort nit, Mirl, wenn Du’s nit auf ewige Zeiten bei mir verschütten willst! … Oder hätt’ etwa der Nachbar vom Walser-Schlag droben Recht? “

„…Was sagt der Walser?“

„Daß der Sohn von dem Hungerleider sich untersteht, nach Dir zu schauen! Daß er neulich zu Inzemoos am offnen Wirthstisch geprahlt hat, der alte Stürzer müßt’ noch sein Schwiegervater werden und wenn er die Kränk’ kriege’ sollt’!“

„Das hat der Adrian gewiß nit gesagt – und wenn’s wahr wär’, könn’st Du’s ihm auch nit verbieten: es wär’ keine Schande für mich – der Adrian ist ein braver, ordentlicher Bursch …“

„Ein Lump’ ist der Hadrian, oder wie er heißt! Ein Lump wie sein Alter! Und wie gut Du seinen Namen weißt! Thätst Dir wohl was einbilden auf die Ehr’, wenn der Rheinschnack’ sich bei Dir einnisten wollt’? Dafür will ich schon sorgen, daß ihm die Lust vergeht …“

Unsicher und taumelnd hatte er sich erhoben und wankte durch die Stube dem Wandkästchen zu. „Was willst denn, Vater?“ rief Annemarie und vertrat ihm ängstlich den Weg. „Was suchst?“

„Meine Pfeif’,“ erwiderte er, sie beiseite drängend. „Wo ist denn der Kloben?“

„Du wirst sie in der Stadt gelassen haben,“ stammelte das Mädchen, während er lachend das Kästchen aufriß, darin herum störte und im nächsten Augenblick das Körbchen mit den Blumen und Früchten in der Hand hatte. „Was soll denn das bedeuten?“ rief er. „Wie kommt das Gelump da herein?“

Das Mädchen stand todtenbleich und brachte keine Erwiderung hervor.

„Das sind ja Zwetschgen, wie wir sie gar nicht im Garten haben!“ schrie der Bauer wüthend. „Und auch solche Blumen haben wir nicht! Himmelsacrament, wie kommt das Körbel da herein? Wirst reden, Mirl, oder soll ich Dir die Zung’ lösen?“

Annemarie hatte sich gesammelt; entschlossen trat sie auf den Vater zu, nahm ihm das Körbchen aus der Hand und stellte es an den vorigen Ort. „Der Adrian hat mir’s über den Zaun herüber gegeben,“ sagte sie und schob ruhig den Schlüssel des Wandschrankes in die Schürzentasche.

„Der Adrian? Uebern Zaun?“ rief der Alte, vor Ingrimm bebend. „So bekannt seid Ihr miteinander? Und Du hast es angenommen? Hast es ihm nicht in’s Gesicht geworfen?“

„Ich wüßt’ nit warum … der Adrian ist ein seelenguter Mensch …“

„Du weißt nit warum, Mirl? Du weißt nit, daß Dein Vater die ganze liederliche Sippschaft nit leiden kann? Du unterstehst Dich, mit einem Menschen zu reden und Dir schön thun zu lassen von Einem, der Deinen Vater in die Grube bringt?“

„Vater,“ entgegnete Mirl, indem die Augen aus dem bleichen Gesicht den seinigen noch trotziger entgegen funkelten, „ich bin Dir in keinem Stück entgegen … aber Du mußt die Leut’, die ich gern hab’, nit in Tag hinein schimpfen … Du mußt mich nit peinigen: ich leid’s nit, Vater … ich hab’ meinen Kopf so gut wie Du!“

„So will ich ihn Dir wieder zurecht rücken, Deinen Kopf!“ schrie der Bauer außer sich, riß das Brodmesser vom Tisch und stürzte auf Annemarie zu, die ihn entschlossen erwartete … ehe er sie erreichte, hielt er inne, ließ das Messer fallen und sah knirschend zu der holzgetäfelten Stubendecke empor.

Geräusch von dort hatte ihn aufmerksam gemacht: es kam von oben aus der Wohnstube der Pfälzer Familie, aus der Gegend des Ofens, neben welchem ein bei der Abtheilung des Hofes vergessenes Wärmeloch angebracht war.

„Rührt sich da droben auch was?“ brüllte der Bauer, „bin ich verkauft und verrathen in meinem eigenen Haus? … Das Horchen will ich Euch vertreiben, Ihr Himmelsacrament …“ Im Augenblick hatte er das an der Nebenwand hängende Hausgewehr herabgerissen und, ehe die Tochter abwehrend herbeispringen konnte, in den Deckenschlauch losgedrückt…

Ein gellender Schrei und ein dumpfer Schlag ertönten von oben in den Schuß. „Jesus Maria, Vater… was hast gethan?“ rief das Mädchen, der Alte aber taumelte auf die Bank und lallte: „Ich hab’ angefangen, das Lumpengesind aus dem Hof zu treiben. … Ich muß den ganzen Stürzerhof wieder haben, oder es soll auch den halben der Teufel holen!“




2.

Allerheiligen war vorüber; der Jahreszeit nach war es längst Winter geworden, aber in Wirklichkeit wollte er nicht kommen. Der Herbst brachte noch spät eine Reihe schöner Tage nachgetragen, und wenn es auch stark reifte, wenn manchmal der Morgen auf kleinen Wässern eine leichte Eisdecke und den weichen Boden überfroren fand, der Mittag ließ Alles wieder verschwinden; der härtende und kältende Schnee blieb aus, und waren auch die Obstbäume in den beiden Gartenabtheilungen des Stürzerhofs lang schon entblättert, hatte doch die Eiche am Schauerkreuz den ganzen gebräunten Blätterschmuck ihrer Krone behalten.

In einem ähnlichen widerstreitenden Zustande befand sich der alte Stürzerbauer; er rang sich täglich matter zwischen seiner gewohnten Kraft und der unerklärlichen Hinfälligkeit, die ihn befallen hatte. Jeden Morgen erhob er sich mit dem Gedanken und Vorsatz, wie sonst seiner Arbeit nachzugehen; aber nach kurzer Zeit war es ihm, als ob alle Glieder und Sehnen nachließen, matt und fröstelnd suchte er den Lehnstuhl am Ofen auf, um in Kissen gehüllt über seine Schwäche zu brüten und sich in bittern Gedanken zu verlieren. Manchmal tobte und schalt er in alter Wildheit über die Dummheit des Baders, der ihn so dahin leiden lasse und die [643] Last nicht abnehmen könne, die ihm fast das Herz abdrücke; dann ward er wieder kleinlaut und jammerte ungestüm, daß er sterben müsse, lange vor der Zeit und in der Fülle der Kraft. Heftig und maßlos in Allem zerstörte er sich selbst, und wenn er sich auch den Anfang seines Uebels nach der Stunde berechnen konnte, wollte er sich doch nicht gestehen, daß es der Abend des ersten Octobersonntags gewesen, der ihn zu Boden geworfen.

Es war Sanct Martini, und nach Landessitte duftete die gebratene Gans im Ofen, die auch an dem abgewürdigten Festtage dieses Heiligen in keinem Hause fehlen durfte, aber den Kranken widerte der Geruch an und sich unruhig im Lehnstuhle herumwerfend rief er seine Tochter herbei. Sie kam nicht; statt ihrer aber steckte nach einiger Zeit Melcher, der Knecht, den Kopf zur Thüre herein: „Ich hab’ Dich schreien hören, Bauer,“ sagte er. „Was willst? Es ist wohl die Zeit, daß Du die Latwerg’ einnehmen mußt, die Dir der Bader vom Simmertshausen verschrieben hat? Ich will sie Dir eingeben!“

„Wo ist Mirl?“ fragte der Bauer, indem er die vom Knechte dargebotene Arznei hinunterwürgte. „Warum kommt sie nicht?“

„Wie magst so fragen, Bauer!“ entgegnete Melcher tückisch. „Wo wird sie sein, als wo sie alleweil ist! Sollst es wahrhaftig nicht leiden, Bauer, daß sie Deinem Wort so gerad’entgegen ist!“

Der Alte winkte ihm zu schweigen. „Sie läßt sich’s nit wehren, Melcher,“ sagte er, „und ich will’s lieber nicht wissen! Ist mir ganz lieb, daß Du gekommen bist, mit Dir kann ich reden, wie’s mir um Herz ist … ich mag das Mädel nicht fragen, und möcht’ doch gern wissen, wie es steht … droben bei den … nun, Du weißt schon, wen ich mein’ …“

„Es ist Alles beim Allen. Das Bübel, der jüngere Bruder von dem Adrian, hat Dich selbiges Mal schreien und zanken hören; da hat er horchen wollen, hat das Wärmloch aufgemacht, und so ist ihm der Schuß in’s Gesicht gegangen …“

Den Alten schüttelte es wie Fieberfrost. „In’s Gesicht?“ murmelte er. „Ist aber keine Gefahr dabei, Melcher? Nicht wahr, es geht ihm nicht an’s Leben?“

„Warum nicht gar! Das Gewehr war ja nur zum Spatzenschrecken mit Vogeldunst geladen! Das thut ihm nichts … aber die Augen freilich … die sind hin!“

„Die Augen? Alle zwei Augen? Wird doch das nicht sein!“ jammerte der Bauer. „Die Bader verstehn Alle nichts, ich seh’s an mir … wird mit dem Bübel auch so sein … wird wohl das Augenlicht wieder bekommen, meinst nicht, Melcher?“

„Sie haben den Doctor von Dachau kommen lassen, der giebt keine Hoffnung! … Geschieht dem Fratzen ganz recht! Warum ist er so neugierig!“

„Es wird etwa doch nit sein,“ ächzte der Bauer. „Es wird ihm doch wohl ein Aug’ bleiben … oder er wird wenigstens den Schein behalten … Meinst nit, Melcher ? Ach, es drückt mich wieder so am Herzen … und dazu der ewige Lärm und das Hin- und Herlaufen droben! Ich bin schon recht erschrocken darüber… weißt nit, was sie haben, die Ueberrheiner? “

„Als wenn Du das nit auch wissen thätst! Draußen im Hof ist Alles schon aufgepackt und angeschirrt – sie ziehn aus!“

„Sie ziehn aus … ja, ja, ich weiß es, sie ziehn aus!“ sagte der Bauer mit leuchtenden Augen, indem er sich vor Vergnügen die abgemagerten Hände rieb. Alle Theilnahme, jede Regung des Mitleids war wieder verschwunden und die alten Gedanken des Hasses in erneuter Stärke aufgewacht. „Sie ziehn aus … ich hab’ es doch erreicht, Melcher … das Ueberrheiner Gesindel ist aus dem Haus, und der Stürzerhof kommt wieder zusammen in Eine Hand … Hab’ es selber nicht gedacht, daß es so schnell gehn würde aber mein Sepp ist ein quanter Bursch, hat sich die reiche Wittib vom Walserschlag ausgesucht … mit dem Geld ist der halbe Hof gezahlt und wieder eingelöst worden!“

„Was hätt’ all das Geld genutzt!“ sagte Melcher roh. „Wär die Geschicht’ nit passirt mit dem Schuß, da wär’ noch Alles beim Alten, und Du hättest dem Ueberrheiner die Hälfte mit Gold aufwägen dürfen, er hätt’ sie Dir doch nicht wiedergegeben! Aber das hat ihm den Hof verleidet, daß er’s selber kaum hat erwarten können, bis er draußen ist. … Ja, ja, das Mittel ist gar nit zu verachten – so ein armseliger Schuß Pulver, der macht gar geschwind Frieden! Ich mein’, Du hast es nicht Ursach, Stürzerbauer, daß Du Dich über den Buben kränkst!“

„Ich thu’s auch nit mehr, Melcher,“ sagte der Alte hastig, „aber ich kann selber nit dafür … Manchmal da fällt mir der Bub’ ein, besonders Nachts, wenn mich das Herzdrücken nit schlafen läßt und wenn ich so lieg’ und schau in die pechschwarze, stockfinstere Nacht hinaus … Da kommt mir allemal der Gedanken, wie es sein müßt’, wenn’s alleweil so Nacht bleiben that’ und wie’s einem Blinden sein muß; … und da fällt mir das Bübel ein…. Aber er wird nit blind, Melcher! Du wirst es sehn, sie sagen’s nur, um mich zu schrecken, aber der Stürzer laßt sich nichts vormachen … der hat seine guten offenen Augen. … Ach Gott, daß ich so krank sein muß, Melcher, und so elend! Ich möcht’ es so gern sehn, mit meinen eigenen Augen sehn, wie der Ueberrheiner auszieht … und muß da in der Stuben und im Lehnstuhl liegen. … Ich mein’, wenn ich das sehen könnt’, der Stein, der mich so drückt, da drinnen, müßt’ auf einmal sein wie weggeblasen!“

„Das kannst wohl, Stürzerbauer,“ sagte Melcher, „ich führ’ Dich hinaus in die Küch’ .. . ein kleines halbblindes Fenster führt auf’s Fletz, von dort kannst die Stiegen und den Hof übersehn, ohne daß es Jemand merkt. …“

Der Bauer willigte mit leidenschaftlicher Gier in den Vorschlag und lehnte bald in der dunklen, rußgeschwärzten Küche an dem unbeachteten, leicht geöffneten Fensterchen. Er war eben zur rechten Zeit gekommen, denn im obern Stockwerk schien man sich zum Aufbruch zu bereiten; im Hofraume stand ein mit allerlei Hausrath beladener Wagen, an welchen ein Knecht eben die Pferde schirrte, während die Magd die widerstrebenden Kühe aus dem Stall zerrte, um sie fort zu treiben.

„Jetzt kommen sie,“ flüsterte Melcher, „ich höre die Stiege knarren. …“ Voran schritt der alte Pfälzerbauer, eine würdige Gestalt in langem Ueberrock und mit glatt herabhängendem langen Silberhaar, das ihm fast ein pastorenartiges Ansehn gab. Hinter ihm kam Adrian, der die verweinten Augen mit einem Tuche trocknete, und die schon längst trocken und welk gewordene Nelke Annemariens auf dem Hute trug. Ihm folgte diese selbst, den kranken, etwa sechsjährigen Knaben auf den Armen tragend, der ihr das leidende verbundene Köpfchen zärtlich an Hals und Schultern legte. Alle schwiegen, nur der Kleine schluchzte leise und vermehrte durch seine Thränen den Schmerz seiner verbrannten Augen.

Dem alten Stürzer auf seinem Lauerposten kam das Zittern in die Beine; er wollte fort und konnte es doch nicht, wenn er nicht Geräusch verursachen und dadurch seine Anwesenheit verrathen wollte. Unter der Hausthüre hielt der alle Pfälzer an, blickte um sich und rief feierlich: „Gott segne unsern Ausgang … wir sind in diesem Hause recht glücklich gewesen, meine Kinder; wir wollen es ihm nicht gedenken, daß es zuletzt so große Trübsal über uns gebracht hat, wir wollen nicht in Groll und Unfrieden von ihm scheiden! – Nehmen wir Abschied, Kinder … sieh nicht so finster drein, Adrian… . Und Du, mein armes Davidle … wenn es Dich gleich am schwersten getroffen hat … gebt mir auf der Thürschwell’ da noch einmal Eure Händ’ und versprecht mir, daß Ihr keinen Haß mitnehmen wollt! Es steht wohl geschrieben: Zahn um Zahn, Aug’ um Aug’ und Blut um Blut … aber das ist der alte Bund gewesen … wir wollen Christen sein, meine Kinder, und wollen verzeihen. …“

Adrian barg sein Leidensgesicht an der Brust des Vaters, der kleine David aber streckte ihm das Händchen zum Gelöbniß hin … mit ausbrechenden Thränen ergriff es Annemarie und zog es an den Mund. Dann traten sie über die Schwelle; der Stürzer aber hielt sich fest an den Knecht und wankte in die Stube zurück. „Führ’ mich fort, Melcher,“ flüsterte er, „mir wird völlig nit gut, ich glaub’, das Wasser drückt mir das Herz ab.“…

Im Hofe war indessen Alles zur Abfahrt bereit; Adrian’s Vater saß bereits auf dem Wagen und hatte den Knaben zu sich auf den Schooß genommen; nur Adrian selber zögerte noch aufzusteigen und stand mit Annemarie am großen Flügel des Hofthores in halblaut vertraulichem Gespräch. So heimlich sie aber miteinander kosten, ging doch dem Lauscher kein Wörtchen verloren, der in der Ecke des Thors, von dem Flügel gedeckt, kauerte. „Es muß sein, Ameile,“ sagte Adrian endlich, „wir müssen auseinander. Mir geht’s wirklich wie in dem Lied, das ich Dir zuerst gesungen hab’ …“

„Behüt’ Dich Gott, Adrian,“ sagte das Mädchen, indem sie ihm entschlossen die Hand reichte … „es ist ja nicht auf lang!

Es bleibt dabei – wie’s Abend wird, find’ ich Dich droben am Schauerkreuz. …“ [644] Der Wagen rollte fort. Annemarie sah ihm nach, bis er am Waldrande verschwand, dann schritt sie gesenkten Hauptes dem Hause zu. Erst nach einer Weile schlüpfte Melcher aus seinem Versteck hervor; seine Augen rollten, seine Wangen glühten und seine Fäuste ballten sich … „Also jetzt weiß ich’s gewiß,“ murrte er, „es ist nicht das Mitleid mit dem Davidle gewesen, warum sie alleweil bei den Ueberrheinern gesteckt ist! Jetzt weiß ich, warum der Name Mirl auf einmal so garstig klingt! Wart nur, Ameile … so geschwind giebt unser Einer nicht auf, was er sich einmal in den Kopf gesetzt hat … bei dem Finden am Schauerkreuz muß ich auch dabei sein!“

Am Abend saß der Stürzerbauer wieder in seinem Ofenstuhl und sah verwundert Annemarie zu, die geschäftig hin und wieder ging und allerlei auf ein großes Tuch zusammentrug, das über den Tisch gebreitet war. Er wagte nicht nach der Bedeutung ihres Thuns zu fragen, denn seit jenem Abend hatte er den Muth gegen seine Tochter verloren und konnte es nicht aushalten, wenn sie die großen dunklen Augen so recht durchdringend aus ihm haften ließ.

Endlich war sie fertig, band das Tuch an den vier Enden in ein Bündel zusammen und trat damit vor den Vater, indem sie ihm die rechte Hand darbot. „Behüt’ Dich Gott, Vater,“ sagte sie, „ich geh’ jetzt …“

„Du gehst, Mirl?“ rief er mit weit aufgerissenen Augen. „Heut’ noch? Wo willst hin?“

„Fort, Vater – in dem Haus ist mein Bleiben nit mehr!“

„So? Fort?“ rief der Alte, indem er sich im raschen Zorn aufrichtete. „Willst wohl Deinen Ungehorsam voll machen und dem Ueberrheiner-Volk nachlaufen?“

„Ich lauf’ ihnen nit nach – aber es ist wahr, Vater, ich hab’ mich verlobt mit dem Adrian – seinem Vater ist es recht, und wie sie eingerichtet sind auf dem neuen Gut, soll die Hochzeit sein!“

„Das glaub’ ich, daß es dem alten Hallunken recht wär’,“ zürnte der Alte, „aber mir ist’s nit recht! Ich muß auch gefragt werden und meinen Senf dazu geben, und ich sag’: Du bleibst da und machst mir keinen Schritt vor die Thür’, oder ich pfeif’ den Knechten und laß Dich in den Keller sperren!“

„Thu’s lieber nit, Vater, es nutzt Dich doch nichts; ich hab’ mir’s einmal vorgenommen und ich führ’s aus, so gewiß ich Deine Tochter bin …“

„Meine Tochter? Wenn Du’s sein wolltest, gingst Du nit von mir und hingest Dich nicht an das Volk… das ist ein Nagel zu meinem Sarg …“

„Ich thu’ nichts Unrechts, Vater, ich Hab’ mir’s wohl überlegt … drum geh’ ich – Du weißt wohl, meine Schuld ist’s nit, wenn mein Herz ist los geworden von Dir!“

„Dann will ich’s wieder fest machen lassen, Mirl! Dafür giebt’s, Gott sei Dank, noch Gericht und Obrigkeit!“

Annemarie trat vor ihn hin und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Das thust Du nit, Vater … die Obrigkeit wirst in Ruh’ lassen! Was willst noch mehr haben? Die Ueberrheiner, die Dir so verhaßt sind, sind aus dem Haus … bald hast den ganzen Stürzerhof wieder beisammen! Denk’ ein Bissel nach, Vater… Die Ueberrheiner haben Dir nichts Leids zugefügt – was Du gethan hast, weißt am besten … Sie haben den Weg in’s Landgericht nicht gefunden, sie haben dem Doctor gesagt, das Davidle sei über den Schießzeug von seinem Vater gekommen … das elendige blinde Bübel selbst ist dabei geblieben … Willst Dich jetzt auf die Weis dafür bedanken, daß ich und der Sepp nit unsern Vater beim Weveld[1] suchen müssen? Behüt’ Dich Gott, Vater … was mir gehört von der Mutter her, wirst mir wohl nit weigern und wirst mich gehn lassen!“

„Mirl,“ rief er, mit der Erschütterung kämpfend, die ihre Worte in ihm hervorgerufen, „thu mir das nit an! Hab’ Mitleid mit mir! Schau, zu mir gehörst zuerst … ich will gewiß gut sein mit Dir … Kannst Deinen alten kranken Vater verlassen?“

„Du brauchst mich nit,“ sagte sie finster, „Du hast den Sepp und kriegst die neue Schwiegertochter in’s Haus … ich will den blinden Buben warten … Laß mich nit in Unfrieden von Dir gehn, Vater,“ setzte sie weicher hinzu, da er vor sich hinstarrend schwieg … „Weil’s doch sein muß, nimm nochmal meine Hand zum Abschied … die Verzeihung von dem blinden Davidle liegt drinn, Vater; laß mich nit so gehn und laß mich gut machen für Dich …“

Der Alte zuckte mit der Hand … aber er faßte des Mädchens dargebotene Rechte nicht, sondern schleuderte sie unwillig von sich weg. Eine Sekunde standen sie sich noch Aug’ in Auge gegenüber … dann riß Annemarie die Thüre auf und entfloh.

[657] Adrian stand indessen schon lang am Schauerkreuz unter der großen Eiche und sah in den ungewöhnlich milden und heitern Abendhimmel hinaus. Ueber dem westlichen Walde lag eine breite blutrothe Wolke und nahm die Sonne früher als gewöhnlich hinweg; in der dürren Eiche rauschte es, als wie von durcheinander flüsternden Stimmen der Trauer, und das halbverwitterte Schauerkreuz sah finster in die aufsteigende Dämmerung hinein. Adrian schritt unruhig hin und her; unter der Eiche neben der Waldspitze saß Davidle. Er hatte es sich nicht nehmen lassen, den Bruder zum Empfang der zärtlichen Pflegerin zu begleiten, der er rasch das ganze Kinderherz zugewendet hatte, und da der Abend so still, die Entfernung nach dem neuen Wohnorte nicht beträchtlich war, hatte Adrian seinen Bitten nicht widerstanden. „Kommt das Ameile noch nicht?“ fragte der Knabe wiederholt. „Siehst Du denn noch nichts von ihr?“

„Ich sehe nichts,“ erwiderte Adrian, „aber sie muß bald kommen; es wird eben doch einen harten Strauß absetzen, bis sie den Hof im Rücken hat. Vielleicht hab’ ich sie aber übersehen, und sie kommt schon in dem kleinen Hohlweg dort unter den Büschen herauf … Wenn’s so ist, will ich ihr all’s leichte Füß’ mache und will ihr Eins singe …“

An den grasigen Abhang vortretend begann er frisch und freudig …

„Sag’ was ist die schwerste Büß’?
Wenn vom Schatz man scheiden muß!
Sag’ was ist die größte Lust?
Wiedersehen, Brust an … “

„Es geht nit mit dem Singe’,“ sagte er abbrechend, „ich weiß selber nit, wie es ist, aber das lange Ausbleiben von dem Mädle macht mir ganz ernsthafte Gedanken … es will sich aach nit recht schicke, daß man neben dem alten ehrwürdigen Kreuz da Liebslieder singt …“

„Adrian, was ist das?“ rief der Blinde ängstlich. „Was rauscht so hinter mir im Gebüsch?“

„Was wird’s sein, Kleiner! Ein Haas, der sein Gelieger sucht … Halt Dich nur ruhig, Davidle. Es wird mir auf einmal so ängstig um’s Herz … es wird doch dem Ameile nichts zugestoßen sein … ich will ein Vaterunser beten …“

Er kniete auf den am Schauerkreuz angebrachten Betschemel nieder, stützte die Arme auf und sah in das geneigte Antlitz des Heilands am Kreuze empor. Auch der Kleine unter der Eiche faltete die Hände.

„Vater unser, der Du bist … betete Adrian, da krachte ein Schuß aus dem Gebüsche, und von der Seite mitten durch die Brust geschossen, sank er lautlos zusammen und überströmte die Fußbank des Betschemels mit seinem Blute.

„Adrian, Adrian, was ist das?“ rief der Blinde erschrocken.

„Wo bist Du, Adrian … gieb Antwort …“ Während er der Erwiderung entgegen lauschte, theilte sich neben ihm das Gebüsch, Melcher sah sich behutsam um und schlüpfte daraus hervor. Mit weiten, lautlosen Schritten langte er bei Adrian an, der eben den letzten Seufzer ausröchelte. „Der geht mir nicht mehr in’s Gau,“ sagte er über ihn gebeugt, „jetzt kann ihn das Ameile finden – droben am Schauerkreuz!“

Ebenso behutsam und rasch wollte, er wieder in das Gebüsch zurück, stieß aber auf den Blinden, der in seiner Herzensangst sich von der Eiche in der Richtung fortgetastet hatte, in der er zuvor Adrian’s Stimme vernommen. „Bist Du’s, Adrian?“ rief er, ihn am Arme ergreifend. „Warum erschreckst Du mich so und antwortest nicht?… Das ist nicht Adrian,“ schrie er angstvoll, als der Mann, den er gefaßt hielt, sich stumm aber gewaltsam loszumachen suchte. „Adrian, wo bist Du? Ist Dir ein Leid geschehn?“ Mit einer seine Jahre weit übersteigenden Kraft hielt er den Unbekannten am Handgelenke fest, und selbst als dieser ihn von sich schleuderte, erfaßte er noch dessen schwarzsammtne Jacke und ließ nicht eher los, bis sie zerriß. Mit einem Stücke derselben in der Hand sank er betäubt zu Boden.

– Sepp fuhr inzwischen lustig durch den Tannenwald dem Stürzerhofe zu. Er hatte den Tag vorher beim Landgericht mit dem alten Ueberrheiner den Kauf und mit seiner jungen Braut den Ehevertrag in Ordnung gebracht und diese heute nach ihrer Heimath zurückgeleitet. Davon kam er seelenvergnügt zurück und war tief in Gedanken und Plänen, wie er es einrichten wollte, wenn er nun Herr und Mayer auf dem ganzen stattlichen Stürzerhofe sein würde, als sich aus dem Straßengraben Melcher erhob und ihm zurief, ihn mit sich zu nehmen. Er trug jetzt eine braune Tuchjacke und hatte eine Waidtasche um, in die etwas Dunkles hineingestopft war.

„Hab’ mich also doch nit verrechnet,“ sagte er, „daß Du des Wegs kommen werdest… . Hab’ noch ein Bischen hinaus gewollt auf den Anstand,“ fuhr er fort, indem er sich neben Sepp auf den Sitz des Wägelchens schwang, „es ist aber nicht zu trauen heut’; der Forstner muß in der Revier sein, – hab’ erst vorhin einen Schuß fallen hören …“

[658] „Hast also gar nicht geschossen?“ fragte Sepp, der ihn etwas befremdet betrachtete und einen Seitenblick auf Gewehr und Ranzen warf, die Melcher auf dem Boden des Wägelchens im Stroh verbarg.

„Nein,“ erwiderte Melcher, „bin nit dazu gekommen … aber morgen wollen wir miteinander hinaus; ich weiß einen prächtigen Platz, wo uns sicher ein Bock anläuft …“

„Du kannst es thun, Melcher,“ sagte der junge Bauer, „aber ich geh nicht mehr mit. Ich hab’ mir’s vorgenommen, ich geb’ das Wildern auf – wegen dem Bissel Wildpret ist nicht der Mühe werth, daß ich mich der Gefahr aussetz’ … es schickt sich auch nicht mehr recht, wenn man heirathen soll!“

„Hab’ ich mir’s nicht gedacht,“ rief Melcher mit widrigem Lachen, „daß Du auch ein Duckmäuser wirst, wie ein Weib über Dich kommt! Wegen dem Wildpret ist’s freilich nicht der Mühe werth – aber das lustige Leben im Wald und daß man’s den hochmüthigen Jägern abgewinnen kann, ist das nichts? – Aber so geht’s, wenn man sich mit den Weibsleuten einläßt! Ich will d’rum von Keiner was wissen … Deine Schwester wär’ die Einzige gewesen, für die ich vielleicht auch zum Kreuz gekrochen wär! Mit der ist’s aus – also soll der Stutzen mein Schatz sein und bleiben!“

Jetzt rollte der Wagen aus dem Walde auf die Feldflur des Stürzerhofs; wenige Schritte seitwärts stand die Eiche mit dem Schauerkreuz. „Schau nur,“ rief Sepp die Pferde anhaltend, „was giebt’s denn da drüben? Es ist schon dämmrig … aber siehst Du nicht, daß Leute hin und wieder laufen und jammern … Häng’ die Gäul’ an den Zaun, Melcher, ich will hin, da ist ein Unglück geschehn …“

Er war rasch vom Wagen gesprungen und eilte dem Kreuze zu. „Jesus Christus,“ rief er schon von Weitem, „Schwester, bist Du’s? Was ist denn passirt?“ Er erhielt keine Antwort, aber er mußte sich zusammen nehmen, nicht umzusinken, als er das ganze Bild des Schreckens überschaute. Einer Wahnsinnigen gleich lief Annemarie hin und wieder und schrie um eine Hülfe, die längst überflüssig geworden war, dann warf sie sich wieder über den blutigen Leichnam, zerraufte sich das Haar und heulte verwirrte Gebete zu dem schweigenden Kreuzbilde empor. Der blinde Knabe saß daneben und schrie seinen thränenlosen Schmerz, daß es einen Stein erbarmen mochte, hinaus in die taub und stumm herabsinkende Nacht. „Adrian,“ schrie sie verzweifelnd, „Adrian – wach’ auf! Es kann nicht sein, daß Du todt bist … höre mich … ich bin’s! – Das Ameile ist da! … Helft, helft, um Gotteswillen helft … er wird ja schon ganz starr … Adrian, wach’ auf. … Es ist ja nicht möglich, daß Du … Du, der kein Kind beleidigt hat, so schrecklich zu Grund gehn sollst …“

Erschöpft blieb sie endlich auf dem Todten liegen. Im Gehöfte war man indessen auf das Rufen aufmerksam geworden, und die Dienstboten eilten mit Fackeln und Laternen herbei. „Bringt die Schwester heim,“ befahl ihnen Sepp, „lauft zum Bader und zum Vorsteher hinüber … das Bübel nehmt auch mit auf den Hof; – der alte Ueberrheiner erfährt’s immer noch früh genug. Macht ein Feuer an … ich und der Melcher wollen den Todten hüten, bis die Gerichtsleute kommen. …“

Sie gingen; bald war es grabesstill um den Todten und seine Wächter; nur das Feuer knisterte und warf seinen rothen Schein über den blutigen Grund. Sepp saß auf der Fußbank des Betschemels, Melcher hatte sich unter das finstere Laubdach der Eiche zurückgezogen.

Es fing leicht und naß zu schneien an.

„Da hilft unser Herrgott auch wieder einem Spitzbuben durch,“ rief Melcher aus dem Dunkel herüber. „Bis morgen ist Alles verschneit und keine Spur zu finden, wer dem armen Rheinschnacken das Lebenslicht ausgeblasen hat …“

„Schweigend stand Sepp auf, trat zu dem Knecht und führte ihn am Arm aus dem Schattenkreise des Baumes an das Feuer neben den Todten, auf dessen Gesicht die Schatten und Lichter wie gespenstisches Leben zuckten. „Schau den Todten an,“ sagte er, „den hat kein anderer Mensch auf dem Gewissen, als Du!“

„Ich glaub’, Du schnappst über!“ rief Melcher, indem er heftig dessen Arm zurückschleuderte.

„Ich bleib’ dabei,“ fuhr der Andere fort. „Ich hab’s vorhin wohl bemerkt. Dein Gewehr ist frisch abgeschossen und brandig …

Warum hast Du mir’s geleugnet, wenn Du nichts zu verbergen hast?“

„Das ist ja wunderschön!“ rief Melcher wild. „Sei so gut und bring’ Deinen besten Freund in’s Gered’ wegen nichts und wider nichts! Ich hab’ nit geschossen, sag’ ich Dir … und wer dem Adrian Eins hinauf gebrannt hat, ist nit schwer zu errathen, … mein’ ich Der Forstner hat’s gethan … er hat ihn für den Unrechten gehalten; der Schuß ist Einem von uns Beiden vermeint gewesen!“

„Nein, nein, Du hast es gethan, Melcher … Du hast ihn weggeschafft, weil er Dir im Weg war bei meiner Schwester …

Tritt hin zu ihm, leg’ ihm die Hand auf die Wunden und sag’s, wenn Du kannst, daß sie nit von Dir sind!“

„Laß mich mit Deinen Faxen in Ruh’! Ist das wohl der Dank für die lange und treue Cameradschaft? Lauf’ hin auf’s Landgericht, Du Narr, und bring’ mich in’s Unglück … aber sei nur gewiß, daß ich unsre Stückeln auch erzähl’ … und wenn ich zum Weveld muß, geht der Stürzerbauernsohn mit mir!“

„Ich geh’ nicht zum Gericht,“ sagte Sepp nach einigem Schweigen und klemmte die Lippen übereinander … „ich weiß leider Gott, daß ich an Dich gebunden bin … es thät’ auch den armen Burschen nit wieder lebendig machen … aber Eins merk’ Dir, Melcher! – Wenn Du etwa noch an meine Schwester denkst und meinst, Du wolltest Dich wieder an sie machen … das schlag’ Dir aus dem Sinn … es ist mir leid genug, daß ich in der Gemeinschaft sein muß mit einem Wilddieb, aber einen Mordschützen will ich nit zum Schwager!“

„Will mir’s merken!“ rief Melcher höhnisch. „Und wenn’s mir etwa nit behagen thät, was der gestrenge Herr anschafft?“

„… Dann geh’ ich zum Landrichter und sag’ Alles, was ich weiß … und wenn’s mich meinen eigenen Kopf kosten sollt’!“

Die herbeieilenden Bewohner der Umgegend trennten Beide. Melcher ging auf den Hof und anscheinend ganz ruhig in seine Kammer im Pferdestall. In der Nacht aber stand er geräuschlos auf und kroch über den ihm wohlbekannten Heuboden bis unter’s Dach. Dort versteckte er die aus der Waidtasche genommene Jacke, die er getragen, unter den Sparren und Steinen. „Es ist doch gut gewesen,“ sagte er für sich, „daß ich nicht meinen eigenen Janker angezogen hab’ … der Blinde hat gehalten, als wie mit Klammern … ich spür’ seine Finger noch am Gelenk. … Da kann der alte Fetzen liegen, da sucht ihn Niemand … und wer kann wissen, wozu er noch zu brauchen ist? …“

– Der Frühling war herangekommen, als Annemarie sich von dem tödtlichen Fieber, in das sie vom ersten Schmerz verfallen war, völlig erholt hatte und das Bett wieder verließ. Sie war wieder gesund und kräftig; sogar die Blüthe ihrer Schönheit begann wieder sich zu entfalten, aber jeder Zug von Milde, jeder Schimmer des Frohsinns war auf immer von dem versteinerten Antlitz gewichen. Jetzt hatte die wilde Natur des Vaters in ihr gesiegt; finster und ohne Worte ging sie wie früher der Besorgung des Haushalts auch, denn wegen der ungewöhnlichen Ereignisse und wegen ihrer Krankheit war die Hochzeit des Bruders bis zum Frühjahr aufgeschoben worden. Noch stand daher die Breterabtheilung im Haus und Garten, denn sie sollte feierlich erst mit der feierlichen Gutsübernahme fallen, und wenn Adrian zurückgekommen wäre und hätte über die Planke geschaut, er hätte sein liebes, gutes, herziges Ameile nicht wieder erkannt! – Wenn sie jetzt durch den Garten ging, hatte sie keinen anderen Gedanken als Vergeltung, keinen anderen Wunsch, als Rache. So oft sie konnte, war sie daher bei Gericht, um sich nach dem Gang der Untersuchung zu erkundigen, aber dieselbe blieb ohne Erfolg. Der in der Hand des Blinden zurückgebliebene Sammtfetzen war das einzige Beweisstück; die Auffindung anderer Spuren hatte, wie Melcher gehofft, der gefallene tiefe Schnee verhindert. Umsonst wurde überall nach dem Kleidungsstücke gespürt, das zu dem Lappen paßte, und der Criminalrichter mußte bald seine vergebliche Thätigkeit einstellen. Annemarie wurde darüber von unsäglicher Verachtung über das Treiben weltlicher Gerechtigkeit erfüllt; das unschuldige Blut durfte nicht ungerächt bleiben, und sie hielt es nun für unantastbares Recht, für ihre heilige Pflicht, den Thäter zu ermitteln und selbst die Rache an ihm zu vollziehen. Oft saß sie stundenlang am Fenster neben dem Nelkenstock, der eben anfing, frische Blätter zu treiben, las in der Bibel, die sie aus Adrian’s Rücklaß erhalten hatte, und brütete über dem furchtbaren „Aug’ um Auge, Zahn um [659] Zahn, Blut um Blut“. Am liebsten aber war sie außer dem Hause und trieb sich, wenn sie konnte, halbe Tage lang bei dem Schauerkreuz an der Eiche herum. Sie weinte nicht, dazu war sie zu hart geworden; sie betete nicht, denn wie die Menschen war der Himmel taub geblieben für all’ die Verwünschungen und Flüche, womit sie ihn bestürmt hatte – sie brütete, grollte und wühlte in sich hinein in den Untiefen ihres Jammers.

Eines Tages saß sie wieder auf der Fußbank des Betschemels und starrte in das frische Gras nieder, als könne sie nicht fassen, wie der Boden zu grünen vermöge, der Adrian’s reines Blut getrunken … da fuhr sie auf, denn es rauschte im Gebüsch und neben ihr stand Melcher, im Feiertagsgewand, Bündel und Stock in der Hand.

„Du bist’s?“ fragte sie. „Was willst von mir?“

„Abschied nehmen,“ erwiderte er, „der Bauer hat mich heut’ ausgezahlt – ich muß gehen … und Du wirst mich auch nicht halten …“

Sie lächelte höhnisch. „Ich hätt’ Dich wohl noch früher weiter geschickt,“ sagte sie, „wundert mich nur, daß der Bruder sich doch einmal das Herz dazu genommen hat!“

„Das Herz genommen? Wie ist das gemeint?“

„Weil Du ihn in der Hand hast, mein’ ich! … Er muß Dir viel gegeben haben, wenn Du ihm Schweigen versprochen hast?“

„Er hat mir nichts zu geben gebraucht; er weiß eh’, daß ich dem Bruder von Dir nichts zu Leid thu’, – daß ich Dich dazu viel zu gern hab’ …“

Annemarie lachte verächtlich auf und wandte ihm den Rücken; er ließ sich davon nicht abschrecken. „Solltest Dich doch besinnen,“ sagte er, „und einmal aufhören mit Deiner Kümmerniß … es ist schad’ um Dich …“

„Und den da war auch schad’,“ rief sie bitter, indem sie auf Adrian’s Todesstelle deutete. „Wer fragt jetzt darnach? Nicht einmal das Gericht thut seine Schuldigkeit … d’rum muß ich auf den Todten denken und sorgen, daß ihm sein Recht wird …“

„Und was hast davon?“

„Was ich davon hab’?“ rief sie hohl und vor sich hinstierend.

„Nichts! Den armen Adrian bringt’s nimmer in’s Leben … aber mir selber ist das Herz wie versteinert … Wenn ich den elenden Böswicht, der ihn erschossen hat, auch so liegen sehen thät … in seinem Blut, wie er gelegen ist … ich glaub’ dann wär’ mir wieder wohl … dann ging mir auch das Herz wieder auf …“

„Wie wild Du darein schaust,“ sagte Melcher, sie beinahe scheu betrachtend… „völlig zum Fürchten! … Aber wenn das geschehen thät’, was Du sagst … wenn’s dennoch Einen gäb’, der das ausführt, was dann?“

„Melcher!“ schrie sie aufspringend und faßte ihn hart an der Brust. „Was willst damit sagen? … Ich seh’ Dir’s am Gesicht an, Du weißt, wer den Adrian erschossen hat!“

„… Und wenn ich’s wüßt’?“

„Du weißt es – und hast es nit gesagt?“

„Weil ich’s nit sagen darf … aber ich weiß es, so gewiß als ich selber vor Dir steh’ …!“

„Ich will’s nit wissen, wer’s ist, Melcher!“ rief sie außer sich. „Behalt’s für Dich, aber wenn das geschieht, was ich gesagt hab’ … wenn Du das zu Stand bringst . .. dann komm und verlang’, was Du willst!“

„… Und wenn ich Dich selber verlang’? Wenn ich sagen that’ … komm und werd’ mein Weib?“

Annemarie’s Busen flog fieberisch; sie kämpfte eine Regung des Abscheus nieder. „Melcher,“ stieß sie fast athemlos hervor … „ich weiß nimmer, was das heißt, einen Menschen gern haben … es ist Dein und mein Unglück, Melcher, wenn Du das verlangst. … Aber wenn Du mich daher führen kannst, da auf diesen Platz, wo mein Adrian gelegen ist … wenn Du mir seinen Mörder zeigen kannst, daß er in seinem Blute daliegt, wie mein Adrian gelegen ist … dann … dann will ich Dein Weib werden, Melcher … so wahr unser Herr da über uns am Kreuz hängt …!“

„Es gilt,“ rief Melcher, „kannst einstweilen die Trauring’ bestellen!“ und verschwand im Gebüsch.

– Wenige Tage später hatte Annemarie Abends lange vergeblich auf die Rückkehr des Bruders gewartet. Noch spät war ein Forstknecht gekommen und hatte ihn hinaus in’s Holz gerufen, weil der Revierförster noch mit ihm über Anweisung des neuen Schlags sich besprechen wolle. Als er nicht kam, mußte ein Knecht in der Stube aufbleiben und ihn erwarten; sie selber ging in ihre Kammer, zündete den Wachsstock an und blätterte bei dem schwachen Schein in der alten Bibel … Die Worte „Aug’ um Aug’ und Blut um Blut“ fielen ihr immer wieder in’s Auge; sie schienen sich zu bewegen, größer zu werden und wie in rothem Scheine zu glänzen. Leises Pochen schreckte sie empor, und als sie aufsah, leuchteten Melcher’s Augen unheimlich durch die Scheiben. „Ich habe Wort gehalten, Mirl,“ rief er, „draußen am Schauerkreuz liegt, der den Adrian erschossen hat …“ Eine wilde Freude loderte in ihr auf, und doch packte sie zugleich ein kalter Schauder mit eisigen Klauen an; sie wollte hinaus und brach doch wie ohnmächtig neben dem Bette zusammen.

Wild durcheinander schreiende Stimmen und rother Fackelschein drangen in’s Gemach, als sie wieder zu sich kam. Es waren die Knechte des Hofs, die mit Fackeln auszogen. „Was ist’s denn?“ rief die eine Stimme, und eine andere erwiderte: „Mach’ nur, daß Du nachkommst – draußen am Schauerkreuz liegt schon wieder Einer erschossen …“ Der Lärm verhallte … Annemarie raffte sich auf und eilte in die Nacht hinaus dem finster empor ragenden Eichbaume zu. Jetzt stand sie neben dem Todten … er lag auf dem Betschemel, wie Adrian gelegen war … jetzt blickte sie in dessen Antlitz und taumelte wie vom Blitz getroffen zurück, als die entstellten Züge des Bruders ihr entgegen starrten. Sie hatte kein Wort, sie vergoß keine Thräne … sie war starr vor Entsetzen.

Mit dem Todten beschäftigt achtete Niemand auf sie; da schlich Melcher heran, der wieder wie am Martinstage zurückgezogen im Eichenschatten stand. „Ich hab’ Wort gehalten …“ flüsterte er, „Wie sieht’s aus? Wann soll die Hochzeit fein?“

„Melcher, Du lügst!“ erwiderte sie mit bebender Stimme …

„Du mußt lügen! Mein Bruder kann kein solches Ungeheuer gewesen sein …“

„Ich komme morgen zu Dir auf den Stürzerhof … Denkst noch an das Stück Zeug, das der Blinde gepackt hat? … Ich will Dir den Ort zeigen, wo der Sepp den Janker versteckt hat, den er angehabt hat … Du sollst selber sagen, ob er ihm nicht gehört und ob der Fetzen nicht dazu paßt … “

„Dann ist er ein Teufel gewesen,“ sagte sie mit dämonisch funkelnden Augen … „dann ist ihm sein Recht geschehn! Blut um Blut – ich hab’s geschworen, Melcher … da hast meine Hand, ich halt’ mein Wort!“




3.


Auf dem Freithofe der Kirche, zu welcher der Stürzerhof eingepfarrt war, hatte schon langes Gras die frischen Gräber überwachsen, der Löwenzahn wiegte ungestört seine goldenen Blumen, und der Flieder breitete die schwarzen Beeren-Dolden über die hohe verbröckelnde Mauer, die den Ort der Ruhe umgiebt. Wenige Schritte von der niedrigen, rothangestrichenen Eingangsthüre und neben dem eisernen Gitter, das am Boden hohl liegend angebracht ist, stand auf niedrigem Sandsteinsockel ein schweres eisernes Kreuz mir vergoldeten Enden, allerlei Zierrathen und Blumenwerk, in der Mitte ein kleines Gemälde, auf welchem der „ehr und tugendsame Jüngling Joseph Stürzer“ knieend und mit dem Rosenkranz in den gefalteten Händen abgebildet war, über dem Kopfe ein rothes Kreuz, anzeigend, daß er gewaltsamen Todes gestorben. Rings herum waren die Gräber der eingeborenen Geschlechter der Bauern und Söldner, wie sie seit vielen Jahrzehnten sich auf den Gütern erhalten und fortgepflanzt hatten.

Weit davon entfernt, hinter der Kirche und an einem fast abgelegenen Orte war Adrian’s Grab. Die fremden Ueberrheiner hatten noch wenige der Ihrigen begraben und mußten mit dem Winkel vorlieb nehmen, dessen die Eingeborenen nicht bedurften, unfern der Abtheilung, die für die totgeborenen und ungetauften Kinder bestimmt ist. Dort verkündete eine hölzerne Tafel an der Wand, daß der Hügel zu ihren Füßen sich über dem armen Pfälzer-Jüngling wölbte. Alle Grabkreuze des Friedhofs aber sahen vernachlässigt gegen diese Tafel aus, und während an Einzelnen darunter nur noch ein dürrer und vergilbter Kranz hing, der vom Allerseelentage herstammte und der Auswechslung bei der Wiederkehr des Festes entgegensah, war um dieselbe ein Gewinde von grünem Buchs gezogen, und aus dem Hügelgrase blickte ein frischer Kranz von rothen und blauen Kornblumen mit Eichenlaub durchflochten.

[660] Es war einsam und stille auf dem Friedhofe; nur eine wanderbereite Schwalbe schwirrte manchmal aus den Schalllöchern des Thurms, oder eine Eidechse schlüpfte zu den Schädeln und Knochen durch das Gitter des Beinhauses, über welchem Christus am Oelberg mit den schlafenden Jüngern in lebensgroßer buntbemalter Steingruppe angebracht war. Unbeweglich wie diese Gestalten kniete eine steinalte Bauersfrau auf der Bank davor und ließ als einziges Lebenszeichen manchmal eine Perle ihres Rosenkranzes niedergleiten.

Die Alte war so in ihr Gebet versunken, daß sie es kaum gewahr wurde, als der eiserne Drücker der Freithofthüre sich öffnete und Annemarie, in tiefe Trauer gekleidet, eintrat. Todesbleich schritt sie an dem Grabe des Bruders vorüber und schlug die Augen zu Boden, um dessen Grabkreuz nicht zu erblicken; ihr Herz war mit dem Mörder Adrian’s noch nicht versöhnt, wenn auch ihrer Rache genug geschehen war. Als sie den Hügel des Geliebten erblickte, überkam sie ein krampfhaftes Zittern, sie vermochte kaum den frischen Kranz, den sie mitgebracht, unter der Holztafel aufzuhängen. Er war reich und voll aus den Purpurnelken gebunden, die im Fenster des Stürzerhofs brannten, und die Trauernde schien den ganzen Stock bis an die Wurzeln beschnitten zu haben. Zusammenbrechend sank sie in die Kniee, beugte sich über den Hügel und barg den glühend heißen Kopf in dem kühlenden Grase. Bei dem Zustande steter Abspannung und Ueberreizung, in welchem sie dahin lebte, war es nicht zu verwundern, daß ihre Seufzer nach und nach in Worte übergingen und sie mit dem Begrabenen ein leidenschaftliches Gespräch begann. „Du weißt, warum ich da bin,“ flüsterte sie, „Dir brauch’ ich nit erst zu sagen, was ich ausgestanden hab’ die ganze schrecklich lange Zeit, seit Du mich verlassen hast … Dein armselig’s Ameile soll Abschied von Dir nehmen … Aber ich thu’s nit, Adrian, ich thu’s nit! Ich bleib’ bei Dir mit Herz und Sinn … ach, warum lieg’ ich nit neben Dir da drunten … warum hast Du mir nit die Lieb’ gethan und hast mich nachgeholt? … Bet’ wenigstens droben für mich … Du bist ja längst ein reiner Engel im Himmel; bet für mich, daß ich aushalten kann, was noch kommt … daß ich wenigstens wieder weinen kann … ich muß sonst verbrennen von inwendig heraus! Erbitt’ mir’s bei den heiligen Engeln, bei denen Du bist, daß ich bald erlöst und ausgespannt werd’ … und zu Dir komm!“

Lange mattete und rang sie sich ab in vergeblicher Qual; ohne Trost war sie gekommen, ohne Trost ging sie wieder – ihr Inneres war wie ein gluthversengtes Land, in dem kein belebendes Grün zu wurzeln und zu keimen vermag. Verwundert hatte die Alte am Oelberg ihrem Treiben zugesehen und sah ihr kopfschüttelnd nach. „Das ist ein g’spaßiges Leut, die Stürzerbauern-Mirl … sie sieht völlig darein, wie geschreckt!“

Wenige Tage später ging es desto lauter und lebhafter auf dem stillen Kirchhofe zu. Ein Hochzeitszug schritt aus dem Kirchenportale; die Musikanten bliesen und trompeteten, die Böller krachten, und der weißgraue Pulverdampf wölbte sich in den glänzend blauen Septembertag empor, als wetteiferten sie, das Freudenfest zu verkünden, das da begangen werden sollte.

Der alte Stürzer kam auch hinter den Musikanten und dem Hochzeitlader mit einem Antlitz dahergeschritten, das von Freude strahlte, so weit ein solcher Ausdruck in den strengen Zügen sich auszuprägen vermochte. Mit der freudigen Miene stand aber die Haltung des Körpers in Widerspruch, denn der hohe Mann hatte Mühe sich aufrecht zu halten, und es war keineswegs zum Schein, daß er der neben ihm schreitenden Ehrenmutter den Arm gegeben hatte, denn er bedurfte Führer und Stütze, wenn das Herzdrücken kam und ihm die Kniee zittern machte. Das Siechthum war nicht wieder von ihm gewichen, und der Tod des einzigen Sohnes hatte die letzte Kraft des Widerstandes gegen dasselbe gebrochen. Er war nahe daran gewesen, der Gewalt dieses Stoßes zu erliegen, aber die Zähigkeit seiner Eigensucht überdauerte ihn: war auch die Hoffnung verloren, den vereinigten Stürzerhof in seinem Hause und mit seinem Namen zu vererben, so blieb ihm doch noch die Aussicht, Annemarie auf das Gut zu verheirathen … der Stürzerhof war doch wieder ganz, und das Gut selbst, der ganze Hof war es ja, was ihm von jeher am Herzen gelegen, mehr als die eigenen Kinder.

Nach ihm kamen die Brautführer, die Beiständer und Kränzeljungfern, dann das Brautpaar und dahinter der nicht enden wollende Zug der Gäste. Der Bräutigam bot einen stattlichen Anblick dar; trotz des unkleidsamen langen Rocks trat das kräftige Ebenmaß seines Körpers hervor, und wer ihn so durch die Reihen der neugierigen Dorfbewohner fest und mit lächelndem Angesicht dahin schreiten sah, ahnte nicht, welche Schauer ihm das Herz zusammenschraubten, als er zwischen den Gräbern derer dahin ging, die er kaltblütig geopfert hatte, um die Hand fassen zu können, die nun am Altare in seine blutbefleckte gelegt worden war.

Die Braut gab sich nicht die Mühe, anders auszusehen, als es ihr um’s Herz war; sie war schön, aber die Schönheit hatte etwas Unheimliches, und der fahlgrüne bräutliche Rosmarin-Zweig in dem dunklen Haare stand zu dem bleichen Gesicht, wie ein Todtenkränzchen; sie durfte nur die Augen schließen, um einer Gestorbenen zu gleichen.

Unter Musik, Schießen, Jauchzen und Hüteschwenken bewegte sich der Zug dem Wirthshause zu, an dessen Thüre eine grüne Ehrenpforte aus Tannenzweigen, mit bunten Streifen umwickelt, emporstieg, während oberhalb ein riesiges „Vivat“ angebracht war, aus aneinandergereihten purpurrothen Vogelbeeren geformt. Dort hatte sich die ganze Einwohnerschaft des Dorfs versammelt, die nicht zu den Gästen gehörte; auch die alte Beterin vom Oelberge war darunter. „Gott soll mich behüten,“ flüsterte sie einer Nachbarin zu, „daß ich einem Christenmenschen was Uebles wünsche. … aber das ist eine traurige Hochzeit! Da wird nit viel Gutes herauskommen … schaut nur die Braut an, ob sie nicht wie tiefsinnig ist!“

„Sie ist halt ernsthaft,“ erwiderte die Nachbarin, „das bedeutet einen guten Ehstand. Heißt es nicht: „Eine traurige Braut, eine lustige Frau“?“

„Sagt das nicht, Nachbarin,“ murmelte die Alte wieder, „Ihr werdet auf meine Worte kommen! Ich versteh’ mich auf solche Sachen! Ich bin bei der Copulation nahe am Altar gestanden und hab’ es gut geseh’n, wie die Kerzen so unruhig gebrannt und hin und wieder geflackert haben, und hat sich doch kein Lüftchen geregt in der Kirche … Glaubt mir, das bedeutet Unfrieden in der Ehe!“

Das Mahl im Wirthshause hatte indeß bereits begonnen und nahm den gewohnten Verlauf mit den Tänzen zwischen den einzelnen Richten (Gerichten) bis zum unerläßlichen Ehrenkraut, zum Abdanken und Weisat; allein so reichlich die Geschenke der Gäste ausfielen, so sehr der Hochzeitlader sich anstrengte und die besten seiner Sprüche auskramte, wie sie sich für eine so „große Hochzeit“ gebührten, es gelang ihm nicht, Annemarie’s herbgeschlossenem Munde ein schwaches Lächeln abzugewinnen. Desto lauter lärmte und lachte der alte Stürzerbauer, und sprach dem Bierkruge wie den Weinflaschen so weidlich zu, daß er wie der munterste Bauernbursche zu singen anfing. „Hui!“ schrie er, und schlug auf den Tisch, daß die Gläser tanzten und klirrten, „ich werd’ völlig wieder jung! Der ganze Hof macht mich wieder zu einem ganzen Mann – ich könnt’ mich selber nochmal copuliren lassen! Und auch das Herzdrücken ist weg, als wenn’s nie dagewesen wäre!“

Er hielt Annemarie sein Glas hin, um anzustoßen, aber sie weigerte sich, in dem rothen Weine Bescheid zu thun, der sie wie Blut gemahnte; sie schützte Unwohlsein vor und trank nur Wasser. „Aber mir wirst doch Bescheid thun?“ fragte sie Melcher, der, um sich zu beruhigen und zu betäuben, ebenfalls den Wein nicht schonte. „Jetzt sind wir Mann und Frau – jetzt wirst doch einmal anfangen und wirst mir ein freundliches Gesicht machen? … Oder muß ich einen andern Namen nennen, daß Du’s kannst? Muß ich Ameile zu Dir sagen?“

Er hatte die Worte in seiner Weinlaune noch kaum ausgesprochen, als ihn aus Annemarie’s Augen ein Blick traf, der ihm wie ein Blitz in die Seele fuhr. „Nenn’ mir den Namen nicht wieder!“ stammelte sie mit mühsam unterdrückter Stimme. „Ich hab’ Dir versprochen, Dein Weib zu werden … Das hab’ ich gehalten … jetzt sind wir Zwei fertig miteinander! Nenn’ mir den Namen nit wieder … ich kann ihn nit hören aus einem solchen Mund!“

Sie stieß den Stuhl zurück, gab gesteigertes Uebelbefinden vor und eilte aus dem Saale.

[673] Das Wirthshaus lag am Flüßchen, welches das Dorf durchströmte, an demselben eine Wendung machte, und deshalb langsam und tief an dem Baumgarten vorüberzog, der sich an die Rückseite anschloß. Das Wasser stand beinahe still und sah sich wie ein dunkelgrüner Weiher an, von dessen Grund allerlei Wasserpflanzen emporstiegen, wie Schlingen und Netze, welche sicher versprachen, ein Opfer, das ihnen verfallen, zu umstricken und nicht mehr los zu lassen. Dahin war Annemarie geeilt, um dem Lärmen und Drängen zu entkommen, und sah nun, an einen Weidenstamm gelehnt, durch die hangenden fahlen Zweige in die dunkle ungewisse Tiefe nieder. Es wandelte sie an, sich hinabzustürzen, wie schon oft seit dem Tode des Bruders der Gedanke des Selbstmords in ihr aufgestiegen war. Ihre Aufgabe, Rache zu nehmen für Adrian’s schuldloses Blut, war erfüllt; die Menschen waren ihr verhaßt oder gleichgültig, wie das Leben, von welchem sie nichts mehr forderte oder hoffte. Dennoch war der Gedanke nie zum Entschlusse gereift; ein Rest kindlichen Gefühls gegen den alten hülflosen Vater, dem sie den Sohn geraubt hatte, hielt sie immer davon zurück.

Dazu kam, daß sie sich auch durch das an Melcher gegebene Versprechen gebunden fühlte und es für unehrlich hielt, ihm untreu zu werden. Die stärkste Triebfeder aber, die sie an’s Leben band, war die Liebe zu Adrian und der Glaube, im Jenseits mit ihm zusammen zu treffen. Diese Wiedervereinigung war ihr einziger Wunsch, ihr ganzer Trost, die Gewißheit derselben der kostbarste Juwel ihrer Religion. Adrian war, daran zweifelte sie nicht, längst bei den Auserwählten und Seligen Gottes; eine so reine Seele, wie die seinige, mußte „vom Mund auf in den Himmel gekommen sein.“ Auch sie hoffte dort Eingang zu finden und bebte nicht vor dem Richterstuhle des Ewigen zu erscheinen; hatte sie doch nichts Anderes gethan, als eines seiner furchtbaren Gebote vollzogen – aber mit der Schuld des Selbstmords beladen, auf welchen die Kirche einen ihrer schwersten Flüche wirft, sich in die Ewigkeit zu drängen, das wagte sie nicht … sie hätte sich dadurch selbst zur ewigen Pein verdammt und vom Himmel ausgeschlossen, in welchem Adrian wohnte … darum mußte sie dulden, darum hatte sie das Leben bis zu dem heutigen Tage getragen und wollte es auch ferner.

Entschlossen wandte sie sich von der lockenden Tiefe ab, als fern die Stimmen von suchenden Gästen hörbar wurden, und floh dem Wirthshause zu.

Es war ihr willkommen, daß der Vater darauf drang, daß man nicht, dem allgemeinen Brauche nach, bis zum Abend bleiben sollte; der Alte war in einer fast fieberartigen Aufregung, die theils auf Rechnung seiner unverkennbaren Trunkenheit kommen mochte, theils ein Zeichen seiner Krankheit war, deren Wiederkehr sich beängstigend ankündete. Melcher wollte nicht widersprechen; auch ihn drückte der Zwang, den man vor so vielen Zeugen sich anthun mußte, um in hochzeitlich freudiger Stimmung zu sein. So flog denn bald das bäurisch prächtige Gespann mit den Bewohnern des Stürzerhofes dahin, während auf den Stufen des Hauses Wirth und Wirthin ihre Abschiedsbücklinge machten, die Gäste aus den Fenstern mit Hüten und Gläsern winkten und Vivat schrieen, und die Musikanten mit Trompeten, Baßgeigen und Clarinetten bis auf die Straße herabgekommen waren und den Abfahrenden nachbliesen und nachschmetterten.

Die Gesellschaft war schweigsam und hing ihren Gedanken nach; nur der Alte ließ zeitweise seiner überreizten Munterkeit die Zügel schießen. Er juchzte und sang und rief dazwischen: „Fahrt zu! Das Hauptfest kommt erst noch – das Hauptfest hab’ ich mir auf daheim verspart!“

Was er damit meinte, war klar, als der Wagen nach kurzer Fahrt auf dem Stürzerhofe anlangte; schon am Thore standen ein paar Zimmergesellen in weißen Hemdärmeln, braunen Schurzfellen und mit blanken Aexten, wie zu einem festlichen Aufzuge herausgeputzt. Der alte Bauer hatte sie bestellt, denn vor dem Paare, welches als Herr und Eigenthümer in den ganzen Hof einzog, sollten die Schranken fallen, die ihn so lange in zwei feindliche Hälften geschieden. Es hatte nicht wenig Mühe und Zeit gekostet, bis der Alte dies einzige und höchste Ziel seines Strebens erreicht hatte; namentlich nach dem Tode Sepp’s war es schwierig geworden, es zu verfolgen, denn man mußte das Geld der Braut zurückzahlen, und das konnte wieder nur dadurch aufgewogen werden, daß Annemarie jetzt Alleinerbin war und daß Melcher’s Verwandtschaft ein Uebriges that, ihm die Ankunft auf einem so stattlichen Anwesen möglich zumachen. „Haut zu, Zimmerleut!“ rief er, „haut das Gelump’ zusammen, daß es kracht – der Stürzerhof ist wieder ganz! Der Stürzerhof ist unser!“

Im Augenblick schallten die Axtschläge, und die Breterwand stürzte prasselnd nieder, welche das Fletz des Hauses getrennt hielt. Annemarie war in ihre Kammer getreten, den Brautstaat abzulegen; Melcher stand neben dem Alten, der jubilirend dem Einstürzen zusah. Jetzt waren die letzten Breter beseitigt, und durch die hintere Thür des Hauses übersah man Hofraum und Garten, wo die Zimmergesellen sich eben lachend daran machten, die Planke in der Mitte niederzuschlagen. „Haut zu,“ rief er immer wieder, [674] „das ist eine Tanzmusik, wie sie mir gefällt! Juchhe, wie die Breter springen … die Freud’ hat mich gesund gemacht! Das Drücken da auf der Brust, mitten in der Herzgruben ist weg! … Aber nein,“ fuhr er ängstlich fort, indem er mit beiden Händen nach der leidenden Stelle faßte … „da kommt’s wahrhaftig wieder … und viel stärker wie sonst… . Heiliges Blut Christi, was ist das? … Mir wird ja auf einmal ganz schwarz vor den Augen … Hilf mir, Mirl, hilf … ich glaub’, ich bin blind …“ Die Tochter war rasch herbeigeeilt und geleitete den Jammernden in die Stube, wo er kraftlos in den Lehnstuhl zusammenbrach. „Hilf mir,“ rief er immer kläglicher, „das Ueberrheiner-Bübel ist da und will mir in die Augen greifen! … Ich seh’ nichts mehr, Mirl … Alles ist schwarz … ich bin blind …“

Vom Garten dröhnten die Beilhiebe und krachten die stürzenden Breter.

„Was ist das für ein Krachen?“ stöhnte der Alte. „Sie sollen aufhören mit dem Schießen! Es geht mir in die Augen … es wird immer schwärzer … Blut Christi, nur nit blind werden … nur nit blind werden …“

Aechzend sank er in den Stuhl zurück; es war nicht die Blindheit, was sich über ihn lagerte – die Nacht des Todes umhüllte seine Augen. Er röchelte noch und streckte sich, als von draußen die letzten Axtschläge ertönten; der Stürzerhof war vereinigt, aber das starre Herz seines Besitzers war gebrochen.

– Waren die Verhältnisse der Bewohner des Guts schon vorher feindselig und unangenehm, so gestalteten sie sich noch unheimlicher durch den Tod des Alten; trotz aller Härte war er doch eine Art Mittelpunkt gewesen, der die widerstrebenden Elemente vereinigte. Ein gemeinsames inneres Band zwischen dem Ehepaare hatte nie bestanden; nun war auch das letzte äußere zerrissen, und Annemarie lag wie zuvor freudlos und wortlos, aber unermüdet den Geschäften des Hauses ob, unbekümmert um Melcher, wie zu jener Zeit, als er noch der Knecht, nicht der Herr desselben gewesen war. Dieser besorgte die große Feld- und Viehwirthschaft, die ihn auch den Tag über vollauf in Anspruch nahm; nur das Mittagessen, zu dem sich auch die Dienstboten versammelten, führte das sonderbare Ehepaar zusammen. Außerdem vermied Annemarie jede Annäherung und wußte jedem Alleinsein auszuweichen. Einmal versuchte Melcher, sie zu beschleichen, als sie Nachmittags in der Wohnstube beschäftigt und Niemand im Hause war. Er trat leise hinter sie, die in Gedanken versunken dastand, und legte ihr die Hand auf die Schulter; was er dazu sagen wollte, kam nicht über seinen Mund, so schnell, mit so unverkennbarem Ausdruck des Schreckens und des Schauders hatte sie seine Hand fortgeschleudert und war beiseite gesprungen. „Komm mir nit in die Näh’!“ rief sie. „Rühr’ mich nit an mit Deiner blutigen Hand!“

„Wenn sie blutig ist,“ sagte Melcher wild, „hast nit Deinen Theil daran? Wer hat’s so gewollt, als Du?“

„Ich hab’ nichts gewollt, als Vergeltung an dem, der den Adrian ermordet hat,“ erwiderte sie finster … „daß es der Bruder gewesen ist, hab’ ich nit wissen können …“

„Was thut das? Wenn Du’s gewußt, hättest Du dem Bruder dann verziehen? Hättest mir gesagt, daß ich einhalten sollt’?“ „Nein … nein … ich hab’s geschworen, wie’s geschrieben steht – Zahn um Zahn, Aug’ um Auge, Blut um Blut …“

„Was zierst Dich als? hintennach? Ist’s nit ganz dasselbe? – Glaub’ mir, wir gehören zusammen, auch wenn Du mir’s nit versprochen hättest …“ Damit schlang er ihr den Arm um die Hüfte und wollte sie an sich ziehen.

Von Grausen erfaßt versuchte sie, sich los zu machen. „Was ich versprochen hab’,“ rief sie, „hab’ ich schon gehalten … ich bin ja Dein Weib! Damit mußt zufrieden sein … ich hab’ Dir’s vorher gesagt, daß ich keinen Menschen mehr gern haben kann …“

„Das will ich doch sehen,“ entgegnete Melcher, „und wenn ich Dich zwingen müßt’, daß Du mir in den Händen zerbrichst! Glaubst, man giebt so leicht auf, nach was man getrachtet hat seiner Lebtag? für was man thut, was ich gethan hab’?“

Sie rang mit ihm mit erliegender Kraft, denn Melcher war ihr an Stärke überlegen; sie hatte seine rechte Hand gefaßt und hielt sie als letzte Abwehr über dem Gelenke fest – diese Bewegung und dieser Druck übten auf ihn eine überraschende Wirkung aus. Er zuckte zusammen, ward bleich bis in die Lippen hinein und wankte, Annemarie loslassend, fast wie taumelnd aus der Stube, daß sie ihm verwundert nachsah. Seit diesem Augenblick wagte er sich nicht mehr an sie, sondern hielt sich in scheuer Entfernung, sie umschleichend, wie ein eingekerkertes Raubthier, das lauernd seine Beute durch die Gitterstäbe betrachtet, die es einmal im günstigen Augenblick zu durchbrechen hofft. Darüber kam der Spätherbst heran, aber nicht mild und allmählich, wie im vorigen Jahre, sondern rauh und streng mit raschem Blätterfall und frühem Frost; der Herbst ähnelte schon dem Winter, der im Innern des Stürzerhofs hauste, wie in der schaurigen Zone Grönlands, wo kein erwärmender und belebender Sonnenstrahl die Erstarrung der monatelangen Nacht durchbricht.

Eine unerwartete Aenderung trat ein, als Annemarie Nachricht von Adrian’s Familie erhielt. Der Alte, dem Land und Gegend verleidet war, hatte eine Reise nach der Pfalz gemacht, um sich in der alten Heimath nach einem neuen Wohnsitz umzusehen.

Der blinde Knabe war in der Pflege des Arztes zurückgeblieben, denn seine Verwundung, die außer dem Verluste der Augen zuerst nur unbedenklich geschienen, hatte innerlich so bedenkliche Zufälle zur Folge, daß das Schlimmste zu befürchten war. Der Knabe siechte und welkte zusehends dahin und drohte in einem unbeachteten Augenblick zu verlöschen, wie ein Lämpchen, dem das Oel gebricht. Da kam über den Rhein her die Botschaft, der alte Pfälzer habe sich dort einen neuen bleibenden Wohnsitz ausgesucht und das müde gottergebene Haupt zur ewigen Ruhe niedergelegt. Als Annemarie das erfuhr, ließ sie anspannen und kam Abends mit’ Davidle zurück, der ihr mit Jubel gefolgt war; hatte er doch beim ersten Laut, als sie in die Stube trat, die Stimme Ameile’s, seiner zärtlichen Pflegerin, wieder erkannt. Sie theilte die Stube mit dem armen Kinde, und wie dieses in ihrer Nähe neu aufzuleben schien, ging auch ihr in dem Wiederbeginn der alten Thätigkeit für den Liebling der Wiederschein einer kurzen, aber seligen Zeit auf. Sie unterzog sich der Wartung mit aller zurückgehaltenen Leidenschaft ihres Gemüths und achtete nicht auf Melcher, der die Anwesenheit des Blinden mit unverhehltem verbissenen Grimm ertrug. Er wagte jedoch, mit Annemarie’s entschiedenem Wesen vertraut, keinen Widerspruch; es war nur eine Scheidewand mehr zwischen ihm und seinen Wünschen. Er wich seinem Weibe und den Knaben wie ängstlich aus und begann seine Abende außer dem Hause zuzubringen. Ein einzelnstehendes Wirthshaus, das unfern an der Kreuzung mehrerer Straßen stand, bot ihm bequeme Gelegenheit zur Zerstreuung, denn es verging selten ein Tag, an welchem nicht Fuhrleute oder Handwerksgesellen dort Nachtherberge suchten und bei Gesang, Trunk und Kartenspiel die langen Abende zu verkürzen trachteten. Während Annemarie in der einsamen Kammer des einsamen Hofes dem Geplauder des kranken Knaben zuhörte und mit schmerzlichem Entzücken die Stimme einsog, aus welcher ihr Adrian’s Ton entgegenklang, saß Melcher in der wüsten Gesellschaft, manchmal in ihr Toben einstimmend, öfter in finsteres Brüten und unheimliche Entschlüsse versunken. Wußte er auch nicht, wie er es erreichen sollte, das Eine stand fest vor ihm, Annemarie mußte ganz die Seine werden, der Blinde mußte fort, und er allein wollte der Herr im Hause sein.

Eines Abends kam er früher als gewöhnlich ziemlich betrunken nach Hause und gewahrte, daß aus der Wohnstube noch Lichtschein auf den Hausplatz fiel. Vorsichtig sah er durch das Guckfenster und erblickte den Knaben, der in der Ecke hinter dem großen Tische in Kissen lehnte, vor sich eine bunte Menge von wintergrünem Buchslaub und kunstlos aus Papier gefertigten Blutnelken, in denen er wohlgefällig herumtastete. Der Jahrestag von Adrian’s Tod war nahe; der Lauscher errieth unschwer die Bestimmung des Kranzes, der unvollendet auf dem Tische lag. Er betrachtete den Kranz und den bleichen Knaben, der fast das Aussehen eines Todten hatte. „Das Bübel ist so elend,“ murmelte er, „daß es völlig ein gutes Werk wär’, wenn man es von seinem Leiden erlöst … ein Druck an die Gurgel müßt’ ihm den Garaus machen, ohne daß man was merken könnt’ … ich kann’s dem Geripp nit vergessen, wie es mich herumgezerrt hat …“ Schweigend lauschte er noch eine Weile, ob Annemarie nicht in der Nähe sei; er hörte sie im obern Stockwerk hin und wieder gehen und in Schränken suchen. Behutsam öffnete er die Thüre und trat ein.

Dem scharfen Ohre des Blinden entging auch das leise Geräusch nicht.

„Bist Du’s, Ameile?“ fragte er.

Melcher schwieg; mit angehaltenem Athem und behutsamen Schritten stand er am Tische und streckte den Arm nach der Kehle [675] des Knaben. Der Blinde aber, erschreckt, als er auf seine Frage keine Antwort erhielt, fühlte und ahnte dennoch, daß etwas Unheimliches in seiner Nähe sei. Instinctmäßig griff er vor sich hin und faßte Melcher’s Hand, gerade über der Verderben drohenden Faust. Melcher zuckte zusammen – gerade so hatte ihn der Blinde an Adrian’s Leiche gehalten; er schleuderte dessen Hand zurück, denn auf den entsetzten Schrei des Knaben ließen sich von oben Annemarie’s heraneilende Tritte hören.

Der ganze Vorfall war das Werk eines Augenblicks gewesen.

„Was ist Dir, Davidle?“ rief die Bäuerin, die gleich beim Eintreten den Schrecken und die Aufregung des Kindes bemerkte.

„Was hast Du?“

Der Knabe schmiegte sich zitternd an sie und schlang ihr die Hände um den Hals. „Du bist’s, Ameile!“ rief er. „Ich bitt’ Dich, geh’ nicht mehr fort von mir … er ist wieder dagewesen.“

„Wer?“ fragte die Frau erstaunt.

„Der Mann, der meinen Adrian erschossen hat … er ist dagewesen … er will mich auch umbringen …“ ächzte das Kind.

„Das bild’st Du Dir ein, Davidle,“ begütigte sie, „Du bist halt krank – der Unglückselige – der das gethan hat, kommt nicht wieder!“

„Nein, nein, Ameile,“ rief der Knabe wieder, „er war da! Er ist’s gewesen – ich kenn’ ihn ganz genau!“

„Du kennst ihn?“ schrie Annemarie auf, und ein Schauder überflog sie. „Ist es nicht derjenige, dem Du das Stück vom Janker gerissen?“

„Derselbe,“ flüsterte der Knabe, sich enger an sie anschmiegend … „ich will es Dir sagen, aber ganz still, damit er es nicht etwa hört und wieder kommt … Er ist es gewesen, Ameile, ich weiß es ganz gewiß, denn ich habe ihn wieder an der Hand gehalten, wie damals … siehst Du, gerade hier über dem Gelenk … Da hab’ ich etwas unter meinen Fingern gefühlt, wie eine Narbe, oder wie ein Ueberbein … und doch war’s wieder nicht so, denn es zuckte und bäumte und bewegte sich, wie eine Natter, die man gefangen hat …“

„Weiter, weiter!“ drängte Annemarie.

„Wie Du vorhin fort warst, Ameile, da ging ganz leise die Thür’ auf, und der Mann kam herein und auf mich los und streckte den Arm nach mir aus … ich hab’ es gehört und gespürt, und in meiner Angst hab’ ich vor mich hin gegriffen und hab’ ihn am Handgelenk’ erfaßt, wie damals den Mörder … da hab’ ich die Narbe wieder gespürt und die Fiber, die sich wie eine Natter strecke und wand …“

Annemarie bebte, ihre Augen rollten und ihr Athem flog.

„Es kann nit anders sein, Davidle,“ sagte sie, „Du hast geschlafen, und da hat Dir das Alles geträumt. …“

„Nein, Ameile, ich bin wach gewesen … so munter wie jetzt …“

„Dann laß es gut sein; bet’ ein Vaterunser, daß Du vor bösen Anmuthungen Ruh’ hast … Sag’ keinem Menschen ein Wort; ich will unter der Hand nachforschen!“

Sie brachte den Knaben zu Bett; sie selber konnte an keine Ruhe denken und eilte in fieberischer Aufregung hin und wieder. Es war kein Zweifel möglich an der klaren und bestimmten Aussage des Knaben; wer konnte es also sein, der sich in die Stube geschlichen hatte und dessen Hand das verhängnißvolle Erkennungszeichen trug? Das Haus war geschlossen und wohl verwahrt; ein Fremder hätte nicht einzudringen vermocht, es mußte also einer der Hausgenossen sein. An die Knechte war nicht zu denken, sie waren alle fremd und erst kurze Zeit in der Gegend, denn seit den traurigen und geheimnißvollen Begebenheiten, die sich in seiner Nähe zutrugen, war der Stürzerhof in Verruf gekommen, und nur Bursche aus ferner liegenden Orten ließen sich herbei, dort in Dienst zu treten. Der Verdacht konnte nur auf Melcher fallen – aber hatte er nicht die unwiderleglichsten Beweise gebracht, wer Adrian’s Mörder gewesen? Hatte er sich nicht selbst hergegeben zum Werkzeug der Rache für den Mord? Und dennoch – wer das vermochte, war er nicht auch im Stande, eine noch grausigere That zu begehen? Annemarie mußte Gewißheit darüber haben, und das so bald als möglich – aber wie war dieselbe zu erlangen?

Sie hatte das Licht ergriffen, um zu Melcher zu eilen, sie wollte ihm die ganze Last der Beschuldigung auf einmal in’s Gesicht schleudern, wollte von seiner Bestürzung das unfreiwillige Geständniß erhaschen – aber sie stand auf halbem Wege still. War der Argwohn wirklich begründet, dann war Melcher ein Scheusal, wie die weite Erde kein zweites trug, dann war von ihm nicht zu erwarten, daß eine menschliche Regung ihn zum Verräther an sich selbst machen werde.

Im Umwenden fiel ihr Blick auf Melcher’s Thüre; sie war nur angelehnt.

Annemarie öffnete und warf einen Blick hinein; von Trunkenheit und tiefem Schlafe gebunden, lag der Bauer halb ausgekleidet auf dem Lager.

Er regte sich, als der Lichtschein auf ihn fiel, und murmelte unverständliche Worte, aber er erwachte nicht; nur eine dunkle, traumartige Vorstellung tauchte in ihm auf.

Wie ein Schatten huschte Annemarie näher; sie hoffte zu verstehen, was er murmelte; da machte der Schlafende wieder eine unruhige Bewegung, sein rechter Arm glitt von der Decke und hing schlaff über das Bettgestell herab.

Ueber dem Handgelenke war eine weiße Narbe sichtbar; vermuthlich hatte Melcher sich einmal bei der Arbeit verletzt; Sense oder Schnitzmesser schien tief eingedrungen zu sein und einen Theil der Sehne durchschnitten zu haben …

Ein Gedanke durchzuckte Annemarie und war ebenso schnell ausgeführt; sie hatte die Hand über’m Gelenke gefaßt und hielt sie fest. Selbst die Möglichkeit des Erwachens schreckte sie nicht zurück – sie wollte Gewißheit haben.

Melcher erwachte nicht; der starke Körper erbebte und rang, sich von dem doppelten Banne zu befreien, der auf ihm lag – es gelang nicht; stöhnend wand und wälzte er sich auf dem Lager und strebte, seine Rechte zu befreien.

Annemarie hielt noch fester … ein eisiger Schauer drang ihr zum Herzen, denn unter dem Drucke ihrer Finger fühlte sie es sich regen, wie der Blinde beschrieben hatte – das zerschnittene Stück der Sehne zuckte und schien sich wie ein selbständiges Leben zu bäumen. Der Schlafende wurde unruhiger und stöhnte und lallte: „Verdammter Blinder … laß los! Es ist nicht wahr! … Was willst Du mit dem Fetzen… ich hab’ nicht meinen Janker angehabt …“

Mit einem Aufschrei des Einsetzens stürzte Annemarie aus dem Gemach.

Die Nacht verging in Verzweiflung; der Morgen fand sie in trostlosem Jammer auf ihrem Lager sitzen. So klar, so unerbittlich hell, wie der Morgenstrahl, dessen Lichter blutroth durch die kleinen Scheiben glitzerten, stand Alles vor ihrer Seele! Adrian war von Melcher’s Hand gefallen; er hatte ihn bei Seite geräumt, weil er ihr bei seiner Bewerbung um ihre Gunst im Wege gestanden. Sie gedachte der drohenden Worte, die er an jenem Abend zum Fenster hereingerufen; sie begriff nicht mehr, warum sie dieselben vergessen, warum sie nicht sogleich auf ihn gedacht, ihn allein beschuldigt hatte! Um sie zu erringen, hatte er die Schuld auf Sepp gewälzt, vielleicht um zugleich einen Mitwisser zu beseitigen … mit unsäglicher Wehmuth gedachte sie, wie der Bruder trotz aller Rauhheit und ungeachtet seines Hasses gegen die Ueberrheiner doch ein so gutes Herz gehabt … ein Herz, das niemals, wie sie verzweifelnd erkannte, einer solchen That fähig gewesen! Adrian’s Blut war also ungerächt – sie selbst hatte furchtbare Blutschuld auf sich geladen … durch unerhörten Betrug war sie das Weib dessen, dem ihre volle Rache gelten sollte! – Vor ihr lag Adrian’s Bibel neben dem ausgebrannten Wachsstock; die Blätter leuchteten und die Buchstaben brannten – aufstehend schlug sie das Buch zu und erhob sich entschlossen, ihr gewohntes Tagwerk zu beginnen.

Kalt und finster wie bisher schritt sie in Haus und Hof hin und wieder; ihr Benehmen gegen Melcher war dasselbe, während er sie scheu betrachtete; ein dunkles Gefühl des Geschehenen lastete auf ihm, wie die verworrene Erinnerung eines Traums.

So kam der Martinstag heran. Die Festgans war unter die Hausgenossen vertheilt und verzehrt; alle entfernten sich nach dem gemeinsamen Tischgebet, und auch Melcher wollte in gewohnter Weise mit kurzem Gruß die Stube verlassen, als ihn Annemarie zurückrief. „Bleib noch einen Augenblick,“ sagte sie, „ich hab’ mit Dir zu reden … ich hab’ eine Bitt’ an Dich.“

„Du an mich?“ rief Melcher, der überrascht stehen geblieben war. „Ich hab’ Dich wohl nit recht verstanden? Du hätt’st eine Bitt’ au mich?“

„Es ist nit anders,“ erwiderte sie. „Du weißt, was heut für ein Tag ist, Du siehst die Kränz’ dort, die ich gebunden hab’. [676] Sie gehören hinaus an das Schauerkreuz bei der großen Eich’ …

Du weißt schon, warum und wohin. Ich möcht’ sie gern selber hinaus tragen, aber ich bin so matt und zerschlagen, daß ich mich kaum rühren kann … ich bitt’ Dich, geh’ statt meiner hinaus und häng’ den Kranz auf an dem Kreuz …“

Melcher sah zu Boden; er konnte Annemarie’s Auge nicht ertragen. „Ich thu’s nit gern,“ sagte er dumpf, und schüttelte einen unwillkürlichen Schauder ab. „Ich geh’ nit gern an den Ort …“

„Warum etwan?“ sagte sie kalt. „Du hast mir bewiesen, daß es der Sepp war, der den Adrian erschossen hat … Du brauchst Dich also nicht zu scheuen, denn es steht geschrieben – Blut um Blut!“

„Blut um Blut,“ flüsterte Melcher vor sich hin, und der Athem stockte ihm in der Brust.

Annemarie schien es nicht zu beachten und fuhr fort: „Geh’ hinaus statt meiner, Melcher, ich bitt’ Dich d’rum … Ich hab’ diese Nacht’ her einen besondern Traum gehabt … das Jahr ist um, seitdem der Adrian … gestorben ist … thu’ mir den Gefallen – dann will ich versuchen, ob ich ihn vergessen kann …“

„Das willst’?“ rief Melcher mit flammenden Augen. „Gieb mir die Kränz’ … ich trag’ sie hinauf zum Schauerkreuz, und wenn der Teufel dort auf mich warten thät …“

„Der wird nit auf Dich warten, Melcher,“ erwiderte Annemarie dumpf, „… aber es ist allemal gut, wenn sich der Mensch gefaßt macht!“

– Am Abend blies es schaurig kalt von Westen her über die Halde mit der alten Eiche und dem Schauerkreuz. Die Sonne brannte dort hinter einem blutrothen Gewölke aus, das wie vor einem Jahre einen Schneesturm für die kommende Nacht verkündete. Das Gebüsche, das den Waldsaum umkränzte, tauchte die entlaubten Zweige in die düstere Gluth, und die winterlichen schwarzen Tannen stiegen darüber wie riesige geheimnißvolle Wächter des unheimlichen Platzes empor. Die Eiche hatte die dünne, leicht gefrorene Schneedecke des Bodens mit ihren Blättern bestreut, die wie dunkle Flecken von dem hellen Grunde sich abhoben; in der Dämmerung verschwimmend streckte das dunkle ernste Kreuz die Arme wie dräuend in den Himmel, und der gekreuzigte Heiland sah vom Stamme auf die Blutstätte mit der Miene des Züchters hernieder.

Melcher kam rüstig und keck herangeschritten und trat, ohne viel umzublicken, auf die Fußbank des Betschemels und hängte den Kranz an ein paar Nägel, zwischen denen ein Stück Draht mit einigen Korallen angebracht war, um dem einsamen Beter statt des Rosenkranzes zu dienen. Der Kranz wollte nicht halten, und Melcher mußte sich über den Schemel beugen, daß er beinahe die Stellung eines Betenden annahm.

In dem dürren Gebüsch raschelte es; er hielt inne und sah verstört um sich: „Dumme Furcht!“ murrte er. „Der Wind rauscht in den Haselstauden – die Todten können nicht wieder kommen … und die Lebendigen wissen von nichts! … So … jetzt hält der Kranz! Jetzt wird doch noch Alles mein, wornach ich getrachtet hab’ … Vergönnt mir’s, Ihr Todten – ich will Euch auch alle Jahr’ selber einen solchen Kranz bringen …“

Im Gebüsch blitzte es auf, ein Knall rollte seinen Wiederhall durch den aufrauschenden Wald … Melcher sprang mit einem grellen Schrei hoch empor, fuhr mit beiden Händen an die durchschossene Brust und schlug schwer zu Boden, die Eiskruste mit seinem heißen Blute überströmend.

Im nämlichen Augenblick war Annemarie aus dem Gesträuch getreten und stand neben ihm, den rauchenden Stutzen in der Hand.

„Du, Mirl?“ stöhnte der Verwundete, indem er sich krampfhatt emporhob. „Du selber …?“

„Ja, ich bin’s –“ erwiderte sie, „ich versteck mich nit und lauf nit davon … die Kugel ist von mir, und wenn ich auch nit so sicher treffen kann, wie Du, Du stehst doch nimmer auf! Muß ich Dir auch sagen, warum ich’s gethan hab’? … Du hast den Adrian erschossen, der Blinde hat Dich verrathen … Du hast gelogen und hast den unschuldigen Sepp zu Deinem Sündenbock gemacht … hast ihn erschossen und hast gewußt, daß er unschuldig ist … der Erdboden hätt’ Dich nit mehr getragen, und ich hab’s geschworen, ich will den Mörder Adrian’s gerade so auf demselbigen Platz in seinem Blut liegen sehen, wie er gelegen ist – und wie Du jetzt liegst. Melcher … jetzt kann kommen, was will, jetzt hab’ ich mein Wort gehalten … und habe Blut um Blut vergossen!“

„Und es soll über Dich kommen!“ ächzte der Sterbende, „mein Blut soll Dich quälen und verfolgen in alle Ewigkeit …“

„Ich will’s erwarten …“

„Nein,“ fuhr er, wie bereuen?, fort, indem er sich in den Schmerzen des Todes wand, „mein Blut soll nit über Dich kommen … es soll über mich kommen mit all’ dem, das ich selber vergossen hab’ … Verzeih’ mir nur – sag’ mir nur Du, daß Du mir verzeihen willst …“

„An meiner Verzeihung ist nichts gelegen,“ sagte sie grollend, „die kannst haben … aber da schau’ hinauf an’s Crucifix und denk’, wie Du da zurecht kommst …“

„Das will ich nit … ich hab’ nie einen andern Gedanken, ein andres Verlangen gehabt, als Dich … ich will jetzt auch keinen andern haben … gieb mir nur Du Deine Hand … an dem, was dort auf mich wartet … kann ich doch nichts mehr ändern …“

Abgewandt und schaudernd reichte sie ihm die Hand.

Er ergriff und hielt sie fest … mit der letzten Kraft hatte inzwischen die andere Hand nach dem Besteckmesser an seiner Seite gesucht – er zückte es, war aber zu schwach, den Stoß zu vollführen. Der Tod streckte ihn; von der erstarrenden Leiche eilte Annemarie durch die Nacht dem Hofe zu und beugte sich in der Kammer über den arglos schlummernden Bruder des Geliebten.

Sie wollte ihn nicht wecken, aber er sollte mindestens geistig erfahren, daß der Bruder gerächt war … sie vermochte es nicht; sie fand keine Worte mehr für ihren Grimm. Die schuldlosen Züge des Kindes lagen, wenn auch etwas entstellt, so rein, so mild und friedlich vor ihr … ein ungeheures Weh durchfuhr ihr auf einmal das schwerbeladene Herz, sie knickte an dem Bette in die Kniee zusammen, und was Zorn und Rache den brennenden Augen nicht zu entpressen vermocht hatten, das gewährte die erste Regung des Schuldbewußtseins und der Reue – die so lang entbehrte, so heiß erbetene Linderung der Thränen. –

– Ungeheuer war das Aufsehen, als die That bekannt wurde: war es doch binnen Jahresfrist der dritte Mord, der an diesem Platze geschehen, unter Umständen, die einen furchtbaren geheimnißvollen Zusammenhang nicht blos ahnen ließen, sondern mit erschütternder Gewißheit voraussetzten. Die Gerichte begannen neuerdings ihre angestrengte offene und geheime Thätigkeit, aber, eingeengt in die Schranken eines förmlichen Verfahrens, ohne Erfolg. Annemarie selbst verweigerte jede Auskunft und hauste einsam und finsterer als zuvor auf dem noch mehr gemiedenen Stürzerhofe. Sie mußte immer mehr mit fremden Dienstboten wirthschaften, und es [677] war ganz natürlich, daß sie mehr und mehr rückwärts kam. Sie schien es nicht zu bemerken, und wenn auch Gehöft und Felder den Verfall bald deutlich genug zur Schau trugen, hatte doch die Eigenthümerin dafür weder Sinn noch Auge. Sie hatte keine andere Sorge, als das blinde Davidle zu pflegen und dafür zu sorgen, daß kein Spielzeug, das er wünschte, an seinem Bettchen, kein Leckerbissen seinem Tische mangelte.

Es konnte nicht fehlen, daß der Verfall eines so stattlichen Guts die allgemeine Aufmerksamkeit in Anspruch nahm und daß viel Gerede ging von dem sonderbaren Wesen der Bäuerin, die bald ziemlich unverhohlen für gemüths- oder geisteskrank galt.

Als im Frühjahr die rothen Saatspitzen aus den Schollen brachen, zerfiel auch die gebrechliche Hülle, die den kleinen Blinden noch an die Erde band, und mit seinem Tode zerriß die letzte Verbindung, die Annemarie auf dem väterlichen Gute hielt. Eines Morgens hatte sie dasselbe verlassen und erschien beim Landrichter, um ein Verhör zu verlangen.

Erschüttert vernahm der Beamte den umständlichen Bericht über die blutigen Vorgänge am Schauerkreuz; er konnte sich nicht verhehlen, daß der ganze Bericht das Gepräge einer entsetzlichen Möglichkeit an sich trug, dennoch erschien er ihm unwahrscheinlich, denn die Erzählerin war ohne Zweifel ihrer Sinne nicht mächtig und hatte in ihrem vielfachen Jammer sich die Schreckensgeschichte so zusammengeträumt. Das Gutachten der Aerzte stimmte damit überein, und der Bescheid des Obergerichts schlug die Untersuchung wegen mangelnden Beweises nieder, da außer der unglaubwürdigen Aussage Annemarie’s und bei dem Tode aller Betheiligten kein einziger Anhaltspunkt gegeben war.

Annemarie erwiderte kein Wort, als ihr der Beschluß eröffnet und ihr die Entlassung aus der Haft angekündigt wurde, welche bei der Schwere des Verbrechens, dessen sie sich selbst anklagte, über sie zu verhängen gewesen war. Dieser Ausgang diente nur dazu, ihre Ueberzeugung von der Ohnmacht weltlicher Gerechtigkeit noch fester zu begründen – und ihr zu bestätigen, daß sie recht gethan.

Ohne Abschied verließ sie das Gerichtsgebäude, aber sie kam nicht mehr auf den Stürzerhof zurück: sie war vom selbigen Augenblick an verschwunden, und als nach einigen Monaten ein gerichtlich erlassener Aufruf vergeblich geblieben war, glaubte die ganze Gegend, daß sie im Irrsinne ihrem Leben ein Ende gemacht habe und wohl irgendwo die Leiche einmal zum Vorschein kommen werde.

Nur einmal des Nachts glaubte der Meßner, dessen Fenster über die Freithofmauer auf die Gräber gingen, an den Hügeln Adrian’s und seines Bruders eine dunkle Gestalt knieen zu sehen – als er hinüber eilte, war sie verschwunden.

Ein unbestimmtes Gerücht erzählte, die Stürzerbäuerin sei bis über den Rhein und noch weiter fort gewandert, und als barmherzige Schwester in einem Krankenhause gesehen worden.

– Der Stürzerhof wurde auf Antrag der Verwandten lange Jahre von Gerichtswegen verwaltet und dann verkauft. Er fiel einem Zertrümmerer in die Hände, der des alten Stürzer mühvolles und segenloses Werk völlig vernichtete und das Gut in mehrere kleine Besitzthümer zerschlug. Ob damit auch der Wohlstand und der Friede daselbst wieder heimisch geworden, wissen wir nicht; die blutige Vergangenheit, die sich daran knüpft, ist beinahe gänzlich verklungen im Munde des Volks.

Das alte Schauerkreuz ist längst eingestürzt und nicht erneuert worden; am Stamme der unversehrt stehenden alten Eiche aber ist ein Crucifix angebracht und darunter sind drei Kreuze in die Rinde gegraben. Das Plätzchen ist ungemein anmuthig und giebt einen freundlichen Ueberblick über die tannenumkränzte Flur. Kaum wird ein Fußwanderer vorüberziehen, ohne sich in den breiten kühlenden Schatten der Eiche zu setzen und bei ihrem Rauschen vielleicht über die Bedeutung der drei Kreuze zu sinnen.

Er ahnt wohl kaum, daß Blut um Blut auf der grünen Moosdecke geflossen, von der ihm das Haidekraut entgegen duftet und die Waldluft ihn anhaucht mit einem Gruße des Friedens.





  1. Local: der dem Zuchthause in München gebliebene Name des damaligen Vorstandes.