Chemische Briefe/Achtzehnter Brief

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von: Justus von Liebig
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Achtzehnter Brief.


Die Eigenschaften des gewöhnlichen thierischen Käses, der Einfluss, den seine kleinsten Theilchen, wenn sie sich im Zustande der Zersetzung und Umsetzung befinden, auf die ihnen zunächst liegenden Zuckertheile ausüben, sind merkwürdig genug, sie werden aber darin weit übertroffen durch den vegetabilischen Käs in der Mandelmilch. Es ist Jedermann

[138] bekannt, dass süsse Mandeln, zu einem feinen Brei gestossen und mit etwa dem vier- bis sechsfachen Gewicht Wasser angerührt, eine Flüssigkeit geben, welche in ihren äusseren Eigenschaften die grösste Aehnlichkeit mit einer sehr fetten Kuhmilch hat. Wie bei dieser wird das milchähnliche Ansehen von fein zertheilten Oel- und Fetttheilchen hervorgebracht, die sich in der Ruhe auf der Oberfläche in Gestalt eines Rahms ablagern; wie die Thiermilch gerinnt sie beim Zusatz von Essig, und wird von selbst sauer, wenn sie längere Zeit stehen bleibt. Diese Mandelmilch enthält eine dem thierischen Käse in seinen Eigenschaften ganz gleiche Substanz von eben so grosser Veränderlichkeit.

Der Thierkäse erleidet von dem Augenblick an, wo die Milch den Euter der Kuh verlässt, eine fortschreitende Veränderung, die freilich erst nach längerer Zeit in dem Gerinnen sichtbar wird; in ganz gleicher Weise erfolgt eine Umsetzung in den Elementen des Pflanzenkäses, sobald die süssen Mandeln in den Zustand der Mandelmilch versetzt worden sind. Der Pflanzenkäse der Mandeln enthält, wie der Thierkäse, Schwefel, aber ein grösseres Verhältniss Stickstoff, woher es denn kommen mag, dass der Thierkäse nicht in allen Stücken als Gährungsmittel dieselbe Wirkung hat. In Beziehung auf die Gährung des Zuckers haben übrigens beide einerlei Eigenschaften.

Setzt man einer Auflösung von Traubenzucker (welcher identisch mit dem Stärkezucker oder dem festen Bestandtheil des Bienenhonigs ist) Mandelmilch oder durch kaltes Pressen vom fetten Oel befreite Mandelkleie hinzu, so geräth, an einem warmen Orte stehend, die Flüssigkeit sehr bald in lebhafte Weingährung; man erhält daraus durch Destillation einen eigenthümlichen, wiewohl höchst angenehm schmeckenden Branntwein. Diese Wirkung besitzt der Thierkäse auch, aber der Pflanzenkäse der Mandelmilch bringt in einer Menge von organischen Verbindungen, im Salicin und Amygdalin z. B., Zersetzungen und Umsetzungen hervor, welche der thierische Käse nicht bewirkt.

Das Salicin ist der Bestandtheil der Weidenrinde, welcher ihr den bekannten stark bitteren Geschmack und die Eigenschaft ertheilt, beim Betröpfeln mit concentrirter Schwefelsäure eine carminrothe Farbe anzunehmen; er ist durch Wasser leicht anziehbar; im reinsten Zustande stellt er blendend weisse, feine, lange, seidenartig verwebte Nadeln dar. Das Salicin ist, wie der Zucker, stickstofffrei.

Bringt man Salicin in Mandelmilch, so verschwindet sehr bald der bittere Geschmack und macht einem rein süssen Platz. In diesem Zeitpunkt ist alles Salicin verschwunden und man hat nun Traubenzucker und einen neuen, von dem Salicin durchaus verschiedenen Körper, das Saligenin. Zucker und Saligenin enthalten die Elemente des Salicins. Ein Salicinatom zerfällt, ohne dass etwas hinzu- oder austritt, in Berührung mit dem Pflanzenkäse der Mandelmilch in ein Zuckeratom und ein Saligeninatom.

Noch weit merkwürdiger ist das Verhalten dieses Pflanzenkäses gegen das Amygdalin; die eigenthümlichen Producte, welche aus den bittern Mandeln erhalten werden, sind lange Zeit hindurch für ein kaum lösbar scheinendes Räthsel gehalten worden, bis man das Amygdalin als

[139] einen Bestandtheil derselben entdeckte und sein Verhalten gegen den Pflanzenkäse erkannte.

Werden die bittern Mandeln fein gepulvert und mit Wasser der Destillation unterworfen, so erhält man ein starkriechendes Wasser, welches milchig getrübt ist durch eine Menge darin herumschwimmender Oeltröpfchen, die nach und nach als Oelschicht sich zu Boden setzen. Es ist dies ein flüchtiges Oel von dem stärksten Geruch und Geschmack nach bittern Mandeln, schwerer als Wasser und noch dadurch ausgezeichnet, dass es an der Luft unter Sauerstoffaufnahme zu geruchlosen Krystallen von Benzoesäure erstarrt; ausser diesem flüchtigen Bittermandelöl, welches jetzt in Menge als Parfümerie-Artikel im Handel vorkommt, enthält das übergegangene Wasser noch eine beträchtliche Menge Blausäure.

Blausäure und Bittermandelöl, zwei Producte der Destillation der bittern Mandeln mit Wasser, sind nun als solche in den bittern Mandeln schlechterdings nicht nachzuweisen. Wären beide darin fertig gebildet vorhanden, so wie das Terpentinöl in dem Fichtenharz oder das Rosenöl in der Rose, so würde man voraussetzen müssen, dass es, ähnlich wie diese, durch fette Oele oder andere Lösungsmittel daraus ausziehbar sein würde, allein das aus den bittern Mandeln durch Pressen gewonnene fette Oel ist eben so mild und geschmacklos wie das aus süssen Mandeln; es lässt sich darin keine Blausäure oder flüchtiges Bittermandelöl entdecken, obwohl diese leicht löslich darin sind. Kocht man die bittern Mandeln mit Alkohol aus, so findet sich auch in diesem keine Spur weder von Blausäure noch von flüchtigem Bittermandelöl; man erhält aber daraus nach dem Verdunsten des Alkohols einen schönen weissen, krystallinischen Körper, der in seiner leicht erfolgenden Lösung in Wasser einen schwach bittern Geschmack besitzt und von dem Zucker und dem Salicin durch einen geringen, aber nie fehlenden Stickstoffgehalt sich wesentlich unterscheidet. Aus diesem Körper musste die Blausäure und das Bittermandelöl entstanden, oder die sie liefernden unbekannten Materien in den Mandeln müssen zu Amygdalin durch die Wirkung des Alkohols zusammengetreten sein, – dies war der Schluss, zu welchem der Entdecker des Amygdalins geführt wurde; und da er den Schlüssel zum Räthsel nicht fand, so schrieb er, wie dies so häufig geschieht, die Bildung des Amygdalins oder seine Umwandlung in Blausäure und Bittermandelöl der Mitwirkung eines unfassbaren, unbegreiflichen Wesens zu, welches sich seiner Natur nach der menschlichen Erkenntniss entzöge.

Alles hat sich aber höchst einfach erklärt; es hat sich gezeigt, dass, wenn man eine Auflösung von Amygdalin in Wasser mit frischer Mandelmilch zusammenbringt, es sich in wenigen Augenblicken zerlegt, und in Folge einer neuen Ordnungsweise das Amygdalinatom sich in Blausäure, flüchtiges Bittermandelöl und Zucker spaltet, deren Elemente (im Ganzen 90 Atome) sich bis auf vier Wasseratome, welche hinzugetreten sind, in dem Amygdalinatom zu einer einzigen Gruppe vereinigt finden.

Die Menge des Amygdalins, welche durch die Wirkung des Pflanzenkäses unter diesen Umständen in diese Verbindungen zerfällt, ist einigermassen abhängig von der Menge des Wassers in der Mischung; je nachdem das Wasser hinreicht um alle Producte, die sich bilden, aufzulösen oder nicht, wird alles Amygdalin oder nur ein Theil davon zersetzt.

[140] Das flüchtige Bittermandelöl braucht zu seiner Auflösung dreissig Theile Wasser, die anderen Producte bedürfen weniger. Setzt man nun der Mandelmilch so viel Amygdalin hinzu, dass auf dreissig Theile Wasser nicht mehr als ein Theil des erzeugten Bittermandelöls kommt, so verschwindet alles Amygdalin; setzt man der Mischung mehr Amygdalin hinzu, so erleidet dies keine weitere Veränderung mehr. Man sieht leicht, dass die chemische Verwandtschaft des Wassers (sein Lösungsvermögen) in diesem Zersetzungsprocess eine Rolle spielt; seine Anziehung zu einem der Producte wirkt als eine Ursache der Umsetzung mit ein. Da nun der weisse Bestandtheil der bittern Mandeln ganz identisch ist mit dem Pflanzenkäse der süssen Mandeln, so sieht man leicht ein, dass das Bestehen des Amygdalins in den Mandelkernen lediglich an die Menge der darin enthaltenen Feuchtigkeit gebunden ist. Eine der kleinen Menge Wasser in dem Kerne entsprechende Menge Amygdalin ist darin nur seinen Producten nach da; werden die Kerne fein zerstossen mit mehr Wasser zusammengebracht, in Mandelmilch z. B. verwandelt, so nimmt mit der Menge des zugesetzten Wassers der Amygdalingehalt ab, bis er dann zuletzt, bei mehr Wasser, völlig verschwindet.

Das Verhalten des Amygdalins und des weissen, käseähnlichen Bestandtheils der Mandelkerne gewinnt ein noch höheres Interesse, wenn man sich erinnert, dass die Gegenwart von Amygdalin in den Kernen von dem zufälligen Standorte des Baumes abhängig ist. Zwischen zwei Bäumen, von denen der eine süsse, der andere bittere Mandeln trägt, haben die Botaniker keine wahrnehmbare Verschiedenheit gefunden. Es sind Fälle bekannt, wo das einfache Versetzen einen Baum süsse Mandeln tragen machte, der vorher bittere Mandeln lieferte; gewiss eines der interessantesten Beispiele des Einflusses, den gewisse Bestandtheile im Boden auf den Lebensprocess der Pflanzen ausüben.

Der Einfluss, welchen die Gegenwart von Wasser auf die Existenz gewisser organischer Verbindungen ausübt, geht aus den angeführten Thatsachen zur Genüge hervor; es giebt noch eine Menge anderer, welche zu viel Interesse darbieten, als dass sie hier übergangen werden könnten.

Jedermann weiss, dass gepulverter schwarzer Senf, mit Wasser zu einem Brei angerührt, nach wenigen Minuten eine Mischung giebt, welche auf die Haut eine ausserordentlich reizende, ja Blasen ziehende Wirkung äussert. Diese Wirkung rührt von einem flüchtigen, sauerstofffreien, schwefelhaltigen Oele her, welches man durch Destillation mit Wasser, ganz wie das Bittermandelöl aus bittern Mandeln, gewinnen kann.

Diesem Oele verdankt der gewöhnliche Tafelsenf seinen Geruch und Geschmack; im reinsten Zustande ist es von furchtbarer Schärfe.

In dem Senfsamen ist nun keine Spur von diesem Oele enthalten, das daraus gepresste fette Oel ist mild und ohne Schärfe; das flüchtige Oel entsteht aus einem nicht scharfen, schwefel- und stickstoffreichen Körper, der durch die Wirkung des in den Samen enthaltenen Pflanzenkäses, beim Hinzubringen einer hinreichenden Menge Wassers, augenblicklich eine Umsetzung erfährt; das flüchtige Senföl ist eins der aus seinen Elementen hervorgehenden neuen Producte.

Aehnlich wie der Pflanzenkäse in den Samen der Senfpflanze und des Mandelbaums durch den Zustand der Umsetzung, in den er bei

[141] Gegenwart von Wasser augenblicklich übergeht, eine zersetzende Wirkung auf andere Bestandtheile der nämlichen Samen ausübt, verhalten sich die dem Pflanzenkäse ähnlich zusammengesetzten schwefel- und stickstoffhaltigen Bestandtheile beinahe aller Pflanzensamen und namentlich der in den Getreidearten enthaltene sogenannte Kleber.

Roggenmehl, Weizenmehl und andere Mehlsorten geben mit der zwanzigfachen Menge Wasser von fünfundsiebenzig Grad einen dicken Kleister, der nach wenigen Stunden schon in dieser Temperatur dünnflüssig wird und einen rein süssen Geschmack annimmt; das Amylon des Mehls nimmt eine gewisse Menge Wasser auf und geht in Folge einer neuen Ordnungsweise seiner Atome zuerst in eine Art Gummi, sodann in Traubenzucker über. Diese Umwandlung wird bedingt durch den in Zersetzung übergehenden Kleber des Mehls; das Flüssigwerden des Teiges in der Brodbereitung beruht auf derselben Ursache.

Bei dem Keimen des Getreides geht ganz dieselbe Zuckerbildung vor sich; alles in dem Weizen-, Roggen-, Gerstensamen enthaltene Stärkmehl wird mit der Entwickelung des Keimes durch den Einfluss der daneben liegenden Klebertheilchen in Zucker überführt. Der Kleber selbst nimmt ganz veränderte Eigenschaften an, er wird, wie das Stärkmehl in Wasser löslich. Wird der wässerige Auszug des gekeimten Getreides (des Malzes), die sogenannte Würze in der Bierbereitung, bis zum Sieden erhitzt, so scheidet sich eine Menge dieses löslich gewordenen Klebers in einem Zustande ab, in welchem er sich vom geronnenen thierischen Eiweiss den Eigenschaften und der Zusammensetzung nach nicht mehr unterscheiden lässt. Der übrige Theil des Klebers befindet sich in der Würze in Auflösung; wenn sie mit Hopfen gekocht, durch Eindampfen concentrirt und nach dem Abkühlen mit Bierhefe versetzt wird, so erhält man nach vollendeter Gährung das Bier, und es scheidet sich der aufgelöst gebliebene Kleber als Bierhefe ab, deren Menge zwanzig bis dreissigmal mehr als die zugesetzte Hefe beträgt.

In der lebenden Natur beobachten wir in einem grossen Massstabe Erscheinungen ähnlicher Art, welche von ganz gleichen oder ähnlichen Ursachen bedingt werden. Viele Holzpflanzen enthalten gegen den Herbst hin in der Holzsubstanz abgelagert eine dem Stärkmehl der Kartoffeln oder der Getreidearten ganz gleiche Substanz, welche mit dem erwachenden Leben in der Pflanze im Frühling in Zucker übergeführt wird. Der aufsteigende Saft des Ahorns ist so reich an Zucker, dass man ihn an Orten, wo er als Wald vorkommt, zur Zuckergewinnung benutzt. Wir haben allen Grund zu glauben, dass dieser Zucker in Folge einer ähnlichen Umsetzung gebildet wird, wie der Zucker in keimenden Samen.

Das Süsswerden oder das sogenannte Nachreifen des Winterobstes auf dem Lager ist der Erfolg einer wahren Gährung. Die unreifen Aepfel und Birnen enthalten eine beträchtliche Menge Stärkmehl, welches durch den in Zersetzung übergehenden stickstoffhaltigen Bestandtheil des Saftes in Zucker übergeführt wird.

Als ein Product der Gährung von Fichtenreisig (der Blätter und kleinen Zweige) hat Redtenbacher neuerdings die Ameisensäure aufgefunden. Diese Entdeckung ist um so interessanter, da sie wahrscheinlich der Schlüssel zu dem Gehalte dieser Säure in den Ameisen ist, namentlich

[142] derjenigen Arten, die in ihrer Nahrung keine Stoffe geniessen, woraus sich Ameisensäure bilden könnte.

Die thierische Haut, die Schleimhaut des Magens und der Eingeweide, die Substanz der Harnblase haben eine Menge Eigenschaften mit dem Kleber und der Hefe gemein. In frischem Zustande haben diese Stoffe nicht die mindeste Wirkung auf Amylon oder Milchzucker, allein nur wenige Stunden im Wasser liegend, oder feucht der Luft ausgesetzt, gehen sie in einen Zustand der Zersetzung über, der sie fähig macht, das Amylon in Zucker, den Milchzucker in Milchsäure mit ausserordentlicher Schnelligkeit überzuführen.

Seit undenklichen Zeiten wird diese Eigenschaft der Schleimhaut des Magens junger Kälber benutzt, um die Milch in der Käsebereitung zum Gerinnen zu bringen, oder, was das Nämliche ist, die Scheidung des Käses von den übrigen Bestandtheilen der Milch zu bewirken.

Der Käse verdankt seine Löslichkeit in der Milch dem Vorhandensein von phosphorsaurem und freiem Alkali, dessen Gegenwart meist an dem Blauwerden von geröthetem Lackmuspapier in der frischen Milch leicht erkannt werden kann. Der Zusatz von einer jeden Säure, wodurch das Alkali hinweggenommen wird, macht, dass sich der Käse in seinem natürlichen, unlöslichen Zustande abscheidet. Diese für das Gerinnen der Milch unentbehrliche Säure wird in der Käsebereitung nicht zugesetzt, sondern in der süssen Milch auf Kosten des vorhandenen Milchzuckers erzeugt. Eine kleine Menge Wasser, welche mit einem Stückchen Labmagen einige Stunden oder über Nacht in Berührung gelassen war, nimmt eine kaum wägbare Menge der in Zersetzung übergegangenen Schleimhaut auf, und der Milch zugemischt, überträgt sich der Zustand derselben nicht dem Käse, sondern was hier das Wichtigste ist, dem Milchzucker, dessen Elemente sich in Milchsäure umsetzen, wodurch das Alkali neutralisirt und der Käse zum Abscheiden gebracht wird. Vermittelst Lackmuspapier lässt sich dieser Process in allen seinen Stadien verfolgen; mit dem beginnenden Gerinnen vermindert sich die alkalische Reaction der Milch, sie wird neutral; wird der Käse nicht sogleich von den Molken getrennt, so schreitet die Milchsäurebildung fort, die Flüssigkeit wird sauer und der Käse selbst geht in Zersetzung über.

Der frische, weisse, durch Auspressen und Salzzusatz von dem Wasser und Milchzucker sorgfältig befreite Käse ist ein Gemenge von Butter und Käsestoff; er enthält allen phosphorsauren Kalk und einen Theil des phosphorsauren Natrons der Milch; beim Aufbewahren in kühlen Räumen geht eine Reihe von Veränderungen in ihm vor, in deren Folge er ganz neue Eigenschaften gewinnt; er wird allmählich durchscheinend, durch seine ganze Masse hindurch mehr oder weniger weich, nimmt eine schwach saure Reaction und den eigenthümlichen Käsegeschmack und Käsegeruch an. Frisch ist er sehr wenig löslich in Wasser, aber zwei bis drei Jahre sich selbst überlassen, wird er von kaltem Wasser, namentlich wenn das vorhandene Fett vorher entfernt wird, beinahe völlig zu einer Flüssigkeit aufgenommen, die, wie die Milch, von Essigsäure und Mineralsäuren zum Gerinnen gebracht wird. Der unlösliche Käse kehrt beim sogenannten Reifen in einen ähnlichen Zustand, wie in der Milch, zurück. In den beinahe geruchlosen englischen,

[143] holländischen, Schweizer und besseren französischen Käsesorten ist der Käsestoff zum grössten Theil unverändert vorhanden, ihr Geruch und Geschmack rühren von der zersetzten Butter her. Die Margarin- und Oelsäure, die nicht flüchtigen, die Buttersäure, Caprin- und Capronsäure, die flüchtigen Säuren der Butter, werden in Folge der Zersetzung des Oelzuckers frei.

Die flüchtigen Säuren ertheilen dem Käse seinen eigentlichen Käsegeruch, die Verschiedenheit seines stechenden aromatischen Geschmacks ist von dem Verhältniss der frei vorhandenen Buttersäure, Caprin- und Capronsäure abhängig.

Der Uebergang des Käsestoffs aus dem unlöslichen in den löslichen Zustand beruht auf der Zersetzung des phosphorsauren Kalkes durch die Margarinsäure der Butter; es entsteht margarinsaurer Kalk, während die Phosphorsäure mit dem Käsestoff sich zu einer in Wasser löslichen Verbindung vereinigt.

In den schlechteren Käsesorten, namentlich den magern Käsen, rührt der Geruch von schwefel- und ammoniakhaltigen, übelriechenden Producten her, die sich durch die Zersetzung (Fäulniss) des Käsestoffs bilden. Die Uebertragung der eintretenden Veränderung, welche die Butter (in dem Verwesungsprocess, den man in diesem Falle das Ranzigwerden nennt), oder der noch vorhandene Milchzucker erfährt, auf den Käsestoff, verändert, wie sich von selbst versteht, mit der Zusammensetzung seine Nahrhaftigkeit und Ernährungsfähigkeit; eine sorgfältige Entfernung des Milchzuckers (der Molken) und eine niedrige Temperatur während der Zeit des sogenannten Reifens sind, die übrigen als gegeben vorausgesetzt, die Hauptbedingungen zur Bereitung edler Käsesorten [1].

Der Unterschied im Geschmack und Geruch der verschiedenen Käsesorten hängt von der Methode der Darstellung, von dem Zustande des Labs, dem Salzzusatz und den atmosphärischen Bedingungen während der ganzen Dauer der Behandlung ab; gewiss ist, dass die von den Thieren genossenen, namentlich aromatischen Pflanzen nicht ganz ohne Einfluss auf die Qualität des Käses sind; aber dieser Einfluss ist höchst untergeordnet. Die Milch der Kuh ist im Frühling, Sommer und Herbst höchst ungleich in ihrer Zusammensetzung, was in den daraus in einer Gegend bereiteten Käsen keine in die Augen fallende Verschiedenheit zur Folge hat. Die nämliche Fläche könnte in verschiedenen Zeiten keinen Käse von gleicher oder ähnlicher Beschaffenheit liefern, wenn die Verschiedenheit der Pflanzen wirklich hierbei in Betracht käme, eben weil die Entwickelung und Blüthe der Pflanzen, von denen die Milch stammt, einer verschiedenen Jahreszeit angehörte. Das ganze Fabrikationsverfahren

[144] ist in Chester ganz anders als in Glocestershire, und da wieder anders wie in der Gegend, wo die Stilton-Käse gemacht werden.

Das Lab von jungen Kälbern oder die Schleimhaut des Magens der Thiere überhaupt zeigt nun neben der Fähigkeit, den Milchzucker in Milchsäure umzuwandeln, noch die Eigenschaft, feste thierische Stoffe bei Gegenwart von schwacher Salzsäure auflöslich zu machen oder zu verflüssigen, und die hierbei beobachteten Erscheinungen haben auf den Verdauungsprocess im lebendigen Thierkörper ein unerwartetes Licht verbreitet. Vielen sogenannten Gährungserregern oder Fermenten gehört dieses flüssigmachende Vermögen in einem gewissen Stadium ihrer Umsetzung an, wir haben es beim Malzauszug und Kleber in Beziehung auf das Amylon schon kennen gelernt; allein in dieser Eigenschaft werden beide von der Magenschleimhaut bei weitem übertroffen. Wenn man ein Stückchen Labmagen einige Stunden in warmes Wasser legt, welches mit so wenig Salzsäure versetzt ist, dass es kaum bemerklich sauer schmeckt, so hat man eine Flüssigkeit, die auf gekochtes Fleisch, auf Kleber und hart gesottenes Eiweiss genau so wirkt, wie der Magensaft im lebendigen Magen, welcher gleich dieser künstlichen Verdauungsflüssigkeit eine von einer freien Säure herrührende saure Reaction besitzt. Einer Temperatur von siebenunddreissig Grad (der Temperatur des Magens) ausgesetzt, wird das Muskelfleisch, das hartgesottene Eiweiss sehr rasch an den Rändern schleimig und durchscheinend und nach wenig Stunden schon zu einer von Fetttheilchen schwach getrübten Flüssigkeit vollkommen aufgelöst. Die auflösende Fähigkeit, welche die Salzsäure für sich besitzt, wird durch eine kaum wägbare Menge der in den Zustand der Umsetzung übergegangenen Schleimhaut in dem Grade beschleunigt, dass die Auflösung jetzt in dem fünften Theil der Zeit, die sonst dazu gehört, vor sich geht. Die neuere Physiologie hat dargethan, dass in jeder Verdauung sich die ganze äusserste Magenoberhaut, das Epithelium, ablöst; es kann keinem Zweifel unterliegen, dass die Substanz derselben, mit Sauerstoff in Berührung, den der Speichel in der Form von schaumartig eingeschlossener Luft dem Magen zuführt, eine Veränderung erfährt, in deren Folge die Auflösung und Verflüssigung des Mageninhaltes in der kürzesten Zeit erfolgt.

Man hat eine Zeit lang geglaubt, dass das beschleunigende Auflösungsvermögen, welches die Magenschleimhaut der salzsäurehaltigen Flüssigkeit ertheilt, von der Gegenwart eines eigenthümlichen Stoffes, einer Art Verdauungsstoff, abhängig sei; dieselbe Meinung hat man in Beziehung auf den im Malzauszug enthaltenen Stoff gehegt, durch welchen das Amylon in Zucker übergeführt wird; man hat diesen Materien sogar besondere Namen gegeben. Allein was man mit Pepsin oder Diastase bezeichnet, ist nichts anderes, als der in Zersetzung übergegangene Theil der Schleimhaut oder des Klebers; ihre Wirkungen sind, wie bei der Hefe, nur von ihrem Zustande abhängig.

Mit einem Stück Magenhaut können wir in einem gewissen Zustande der Zersetzung eine Menge thierischer Stoffe zur Auflösung bringen; in einem anderen Stadium führen wir damit Amylon in Zucker, Zucker in Milchsäure, Mannit und Schleim, oder in Alkohol und Kohlensäure über. So verhält es sich denn auch mit einem wässerigen Auszug von frischem

[145] Gerstenmalz, in welchem Stärkekleister in wenigen Minuten in Traubenzucker übergeführt werden kann; er verliert diese Fähigkeit in wenigen Tagen schon, und nimmt jetzt die Eigenschaft an, den Traubenzucker in Milchsäure, Mannit und Gummi umzuwandeln; nach acht bis zehn Tagen verliert sich auch diese vollkommen, der Auszug wird trübe, und mit Zucker in Berührung, bewirkt er jetzt die Zerlegung des Zuckeratoms in Alkohol und Kohlensäure.

Die in dem Vorhergehenden berührten Erscheinungen, in ihrer wahren Bedeutung aufgefasst, beweisen, dass die in den Gährungsprocessen vor sich gehenden Umwandlungen und Zersetzungen durch eine Materie bewirkt werden, deren kleinste Theilchen sich in einem Zustand der Umsetzung und Bewegung befinden, die sich anderen nebenliegenden ruhenden Atomen mittheilt, so dass auch in diesen, in Folge der eingetretenen Störung des Gleichgewichtes der chemischen Anziehung, die Elemente und Atome ihre Lage ändern und sich zu einer oder mehreren neuen Gruppen ordnen.

Wir beobachten, dass die in den Gährungen gebildeten Producte wechseln mit der Temperatur und dem Zustand der Umsetzung, in welchem sich die Theilchen des Gährungserregers befinden; es ist klar, dass die neue Ordnungsweise der Atome, welche die Natur und die Eigenschaften der neugebildeten Producte bedingt, in einer ganz bestimmten Beziehung steht zu der Art und Weise, zu der Richtung und Stärke der auf sie einwirkenden Bewegung.

Alle organischen Stoffe sind Gährungserreger oder Fermente, sobald sie in Fäulniss übergegangen sind; in einem jeden organischen Atom pflanzt sich die eingetretene Veränderung fort, das in sich selbst, durch die in ihm thätige Kraft, nicht vermögend ist, die Bewegung durch Widerstand aufzuheben. Faulendes Fleisch, Blut, Galle, die Schleimhaut des Magens theilen mit den in Pflanzentheilen oder Pflanzensäften vorkommenden Substanzen einerlei Vermögen; die Gährung erregenden Materien, worunter man diejenigen complexen Atome begreift, die bei der blossen Berührung mit Wasser oder Sauerstoff in Selbstentmischung übergehen, besitzen Eigenschaften, die allen gemein sind; sie üben, ein jeder für sich, wieder besondere Wirkungen aus, durch die sie sich wesentlich von einander unterscheiden. Die letzteren stehen in der engsten Beziehung zu ihrer Zusammensetzung. Der Pflanzenkäse der Mandeln wirkt auf Amylon und Zucker ganz wie Kleber oder Hefe, allein diese beiden letzteren sind nicht vermögend, das Salicin in Saligenin und Zucker, das Amygdalin in Blausäure und Bittermandelöl zerfallen zu machen. In ähnlicher Weise erlangen thierische Membranen in gewissen Zuständen alle Eigenschaften des gährenden thierischen Käses, allein letzteres hat auf das Lösungsvermögen der Salzsäure, auf die Verflüssigung von gekochtem Eiweiss und Fleisch keinen merklichen Einfluss.

Alle Erscheinungen der Gährung zusammengenommen, beweisen den längst schon von Laplace und Berthollet aufgestellten Grundsatz, „dass ein durch irgend eine Kraft in Bewegung gesetztes Atom (Molecule) seine eigene Bewegung einem anderen Atom mittheilen kann, welches sich in Berührung damit befindet.“ Dies ist ein Gesetz der Dynamik, von der allgemeinsten Geltung überall,

[146] wo der Widerstand (die Kraft, Lebenskraft, Verwandtschaft, elektrische Kraft, Cohäsionskraft), der sich der Bewegung entgegensetzt, nicht hinreicht, um sie aufzuheben.

Als eine neu erkannte Ursache der Form- und Beschaffenheitsveränderung in chemischen Verbindungen ist dieses Gesetz der grösste und bleibendste Gewinn, den das Studium der Gährung der Wissenschaft erworben hat.

  1. Die Qualität des so vorzüglichen, aus Schafmilch bereiteten Roquefort-Käses hängt ausschliesslich von den Räumen ab, in denen die gepressten Käse während der Zeit des Reifens aufbewahrt werden; es sind dies mit Gebirgsgrotten oder Spalten in Verbindung stehende Keller, die durch Luftströme aus den Spalten des Gebirgs sehr kühl (5 bis 6 Grad) erhalten werden. Je nach ihrer Temperatur haben diese Keller einen höchst ungleichen Werth. Giron (Ann. de chimie et de phys. XLV. p. 371) führt an, dass ein Keller, dessen Construction nicht über zwölftausend Franken gekostet hatte, zu zweimalhundertfünfzehntausend Franken verkauft worden. Dieser Preis dürfte wohl als ganz entscheidend für den Einfluss angesehen werden können, den die Temperatur auf die Qualität der Käse hat.