Chemische Briefe/Vierter Brief

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
<<< Vierter Brief >>>
{{{UNTERTITEL}}}
aus: Chemische Briefe
Seite: {{{SEITE}}}
von: Justus von Liebig
Zusammenfassung: {{{ZUSAMMENFASSUNG}}}
Anmerkung: {{{ANMERKUNG}}}
Bild
[[Bild:{{{BILD}}}|250px]]
[[w:{{{WIKIPEDIA}}}|Artikel in der Wikipedia]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Wikisource-Indexseite
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe

[39]


Vierter Brief.


Unzählige Keime des geistigen Lebens erfüllen den Weltraum, aber nur in einzelnen, seltenen Geistern finden sie den Boden zu ihrer Entwickelung; in ihnen wird die Idee, von der Niemand weiss, von wo sie stammt, in der schaffenden That lebendig; durch sie erhält das verborgene Naturgesetz die Allen erkenntliche, wirksame, thätige Form.

Nicht an die Thaten mächtiger Fürsten oder berühmter Feldherren, sondern an die unsterblichen Namen Columbus, Copernicus, Kepler, Galilei, Newton knüpft die Geschichte den Fortschritt in den Naturwissenschaften und den Zustand der Geistesbildung in der gegenwärtigen Zeit.

[40] Die Entwickelung des menschlichen Geistes schien ein Jahrtausend lang unterbrochen.

Ein System des Unterrichts, wie das in dem Reiche der Mitte, was in den heutigen chinesischen Gelehrten, beim Lesen einer Seite voll sinnloser Namen, ein eigenthümliches Gefühl von Vergnügen erweckt, hatte in der Schule der scholastischen Philosophie alles Streben nach der Erforschung der Wahrheit getödtet.

Gleich einem Baume, der durch äussere Hemmnisse in seinem Wachsthum gehindert, in den seltsamsten Windungen verkrüppelt, so verkümmerten die edelsten Kräfte in den Formen einer spitzfindigen Dialektik. Männer von anerkanntem Ruf und Gelehrsamkeit schrieben Bücher und Tractate über Gewitter, über Blutregen, worin von Allem andern, nur nicht von der Erklärung dieser Naturerscheinung die Rede war.

Ob Adam, so lange er noch ohne Sünde war, auch den Liber Sententiarum des Petrus Lombardus*)[1] schon gekannt habe – welches Alter und Kleid der Engel hatte, welcher der heil. Jungfrau die himmlische Botschaft ausgerichtet – ob es im Paradiese auch Excremente gegeben – ob die Engel griechisch oder hebräisch sprechen – wie viel tausend Engel auf einer Nadelspitze Platz hätten, ohne sich zu drängen – dieser Art Fragen und Untersuchungen, welche in unserer Zeit als gültige Beweise von Verstandesverwirrung und Narrheit angesehen werden würden, waren die ausgezeichnetsten Geisteskräfte gewidmet. Ueber die Gabe der Könige von Frankreich und England, die Kröpfe durch blosse Berührung zu heilen, wechselten angesehene Gelehrten eine Menge von Schriften; man stritt sich darüber, ob die Wundergabe an dem Thron, oder der Familie hafte, sie wurde zu den verborgenen Kräften gerechnet, welche durch die Erfahrung hinlänglich bestätigt seien.

Um den richtigen Pfad zu finden, bedarf der menschliche Geist der wegekundigen Führer; aber eine dünkelvolle Macht hielt das Licht gefangen im Kerker, es fehlten in dieser Geistesnacht die leitenden Sterne. Der Schatz, den das Alterthum an Naturerkenntniss erworben hatte, wurde seinem Werthe nach nicht erkannt oder nicht beachtet, er verlor seine bereichernde Macht.

Die Fragen der Physik wurden nach den Regeln der Disputirkunst entschieden.

Indem man auf die Erfahrung verzichtete, welche das Wissen schafft, verbannte man die echte Wissenschaft.

Durch den Mangel an Stoff für die Denkkraft verlor sich die Uebung und Geschicklichkeit, über die Ursachen der Dinge und Erscheinungen richtige Fragen zu stellen, sie zu beobachten und ihren Zusammenhang durch Versuche zu erforschen. Ein solcher Zustand macht die Herrschaft der Astrologie, der Kabbalah, der Chiromantie, des Glaubens an Hexen, Wehrwölfe, Zauberer begreiflich, dass man noch Jahrhunderte nachher die Krankheiten als Strafen des Himmels, oder als Werke des Teufels, Gebete, Amulette, Weihwasser und Reliquien als die wirksamsten Arzneien ansehen konnte. Die Geschichte des goldenen Zahns, zu Ende des sechszehnten Jahrhunderts, beweist, wie gründlich sich die Fähigkeit,

[41] die einfachste Erscheinung zu ermitteln, selbst in den gebildeteren Classen verloren hatte. (Siehe Anhang.)

Als Columbus zu Salamanca, dem grosse Sitze der Gelehrsamkeit, vor einem Collegium, welches aus den gelehrtesten Professoren der Astronomie, Geographie, Mathematik des Reiches und den angesehensten und weisesten Würdeträgern der Kirche bestand, seine Ansichten von der Gestalt der Erde und der Möglichkeit ihrer Umschiffung zu vertheidigen hatte, da erschien er der Mehrzahl als ein Träumer, welcher Spott, oder als ein Abenteurer, der Verachtung verdiente.

Nie aber hat eine gelehrte Disputation einen grösseren Einfluss auf die Geistesentwickelung ausgeübt, als die in dem Collegiatstifte von St. Stephan; sie war die Morgenröthe eines neuen Tages, der Vorbote des grossen Sieges der Wahrheit über den blinden Glauben der Zeit.

In diesen merkwürdigen Erörterungen verloren die mathematischen Beweise ihre Gültigkeit, wenn sie mit Stellen der Schrift oder deren Erklärungen durch die Kirchenväter zu streiten schienen. „Wie könne die Erde rund sein, da doch in den Psalmen gesagt sei, der Himmel wäre ausgespannt gleich einem Felle.“ „Wie wäre es möglich, die Erde anders als für flach zu halten, da der heilige Petrus in seinem Briefe an die Hebräer den Himmel mit einem Tabernakel oder Zelte vergleiche, welches über die Erde ausgebreitet sei.“ Hatte sich nicht Lactantius gegen die Existenz der Antipoden ausgesprochen? „Ist wohl irgend Jemand so verrückt zu glauben, es gäbe Menschen, die mit den Füssen gegen die unseren ständen, die mit in die Höhe gekehrten Beinen und herunter hängenden Köpfen zu gehen vermögen; dass eine Gegend der Welt existire, wo alle Dinge oberst zu unterst ständen; wo die Bäume mit ihren Zweigen abwärts wachsen, und wo es in die Höhe hagelt, schneit und regnet?“

Sagte nicht der heilige Augustinus, „dass die Lehre von den Antipoden mit der historischen Wurzel des christlichen Glaubens durchaus unverträglich sei; denn wer versichere, dass es bewohnte Länder an der andern Seite der Erde gebe, der nehme an, dass dort Menschen wohnten, die nicht von Adam stammten, da es für dessen Abkömmlinge unmöglich gewesen sei, über das dazwischen liegende Weltmeer zu kommen. Eine solche Meinung müsse der Bibel den Glauben entziehen, welche ausdrücklich erklärt, dass alle Menschen von einem Elternpaare abstammen.“

„Welche Anmassung sei es für einen gemeinen Mann, zu glauben, es bleibe für ihn eine so grosse Entdeckung zu machen übrig, nachdem so viele tiefe Philosophen und Erdkundige die Gestalt der Welt zum Gegenstand ihrer Untersuchung gemacht hätten, und so mancher tüchtige Seemann vor abertausend Jahren auf ihr herumgeschifft wäre.“ So sprachen die Gegner des grossen Mannes.

Zwei Jahre darauf kam Columbus aus Westindien zurück; die Erde war eng und klein, sie war eine Kugel; es gab bewohnte Länder auf der andern Seite der Halbkugel.

Aber nicht blos die Erde, auch der Himmel widersprach den Lehren der grössten Lichter der goldenen Zeit der mittelalterlichen Weisheit; denn durch Copernicus hatte die Erde aufgehört, der Mittelpunkt des Weltalls zu sein, sie war nicht blos eng und klein und eine Kugel, sie

[42] war ein blosser Punkt im unendlichen Raum, ein kleiner Planet, der sich um die Sonne bewegte.

Wie den, welcher von einem Erdbeben überrascht wird, ein unbeschreibliches Gefühl von Bangigkeit befällt, wenn er, einem wogenden Meere gleich, wanken fühlt, was Gewohnheit und Nachdenken ihn als das Festeste und Unerschütterlichste erkennen liess, so durchzuckten, in Folge der Entdeckungen der Wissenschaft, Angst und Zweifel die civilisirte Welt. Die Erde war nicht mehr der Mittelpunkt des Weltgebäudes, das Gewölbe des Himmels hatte seine Säulen, der Thron Gottes, wie manche ihn sich gedacht, seinen Platz verloren, es gab kein Oben mehr und kein Unten.

Was der Glaube für fest begründet hielt, war zertrümmert, was für Wahrheit galt, zeigte sich als Irrthum.

Zahlreiche Prophezeiungen verknüpfen in der ersten Hälfte des sechszehnten Jahrhunderts die Thatsache der Entdeckung der neuen mit dem Untergang der alten Welt; sie sind Zeugen dieser erregten Zeit.

Nachdem Columbus dem Weltmeer seine Schrecken genommen, und Copernicus „jenes Selbstvertrauen auf die Macht des Erkennens gelehrt hatte, das die Bänder äusserlicher Autorität zersprengt und nur dem Zeugnisse der Vernunft Glauben schenkt“*) [2], erwachte auch in Andern der Muth zur Durchforschung unbekannter geistiger Regionen.

Die Kraft war bereits vorhanden, welche den mächtigen Anstoss fortpflanzen sollte in alle Gebiete der Wissenschaft. Gleichwie durch das Herz das Blut seine Bewegung empfängt, welche alle körperliche Thätigkeit vermittelt, so verbreitete Gutenberg’s Erfindung in dem neu sich gestaltenden geistigen Organismus Wärme und thätiges Leben**)[3].

In Folge der Errichtung zahlreicher Universitäten***)[4] und der Verbreitung griechischer Gelehrsamkeit im Abendlande, nach der Eroberung von Konstantinopel durch die Türken †)[5], wandte sich die Aufmerksamkeit der Menschen den geistigen Schätzen zu, welche die alten Griechen und Römer hinterlassen hatten. Das classische Alterthum verbreitete, gleich der feststehenden Sonne, ein lebenerweckendes Licht; als die Gelehrten anfingen, von diesen unerreichten Mustern zu lernen und sich nach ihnen zu bilden, da schärften sich die Augen ihres Geistes; das Studium der Alten, indem es zur kritischen Prüfung alles Ueberlieferten führte, zerbrach die Fesseln der Schulweisheit.

In der Natur wiedererkannte man die nie versiegende Quelle einer reineren Erkenntniss; sie erschien als eine neu entdeckte, in einem Meer von Unwissenheit geistig untergegangene Atlantis.

[43] Trefflich bezeichnet Luther in seinen Tischreden die mit der Reformation aufgehende Lust an der Natur und Naturforschung*)[6]: „Wir sind jetzt in der Morgenröthe des künftigen Lebens, denn wir fahen wiederum an zu erlangen die Erkenntniss der Creaturen, die wir verloren haben durch Adams Fall; jetzt sehen wir die Creatur gar recht an. Erasmus aber fraget nichts darnach, wie die Frucht im Mutterleibe formiret, zugerichtet und gemacht wird. Wir aber beginnen von Gottes Gnaden seine Wunder und Werke auch in den Blümlein zu erkennen, wenn wir bedenken, wie allmächtig und gütig Gott sei. In seinen Creaturen erkennen wir die Macht seines Wortes, wie gewaltig das sei.“

Ungewöhnliche Kräfte brachte die Natur hervor, um in dem beginnenden Kampfe des zum Bewusstsein erwachten Geistes der europäischen Nationen, gegen jegliche Tyrannei, gegen einen übermächtigen Aberglauben, welcher unausrottbar schien, der Vernunft den Sieg zu sichern.

Eine Anzahl der grössten Männer folgten einander in einer ununterbrochenen Reihe, bis das grosse Werk gethan und sein Erfolg gesichert war. Einhundert Jahre nach Copernicus wurde Kepler, in dem Jahre, in welchem Galilei starb, wurde Newton geboren.

Das Mittelalter hatte in der theologischen Philosophie eine Universal-Wissenschaft aufgestellt und sie mit der ganzen Autorität eines religiösen Glaubens befestigt. Ein Irrthum in der Wissenschaft war ein Laster, die Abweichung von ihren Lehren war Ketzerei, sie war gleichbedeutend mit der Verwerfung der Offenbarungen des Himmels; Folter und Scheiterhaufen erwarteten den Freier-, den Andersdenkenden. Einhundert Jahre nach Luther sollte Galileo Galilei in den Kerkern der Inquisition die Bewegung der Erde widerrufen, und die Worte, die er murmelte: „E pur si muove,“ als er in blossem Hemde von den Knieen sich erhob, schliessen noch jetzt die überwältigende Macht feststehender Thatsachen in sich ein. Niemand kann noch jetzt seinen berühmten Brief an Madama Christiana Granduchessa madre ohne Bewegung lesen, der seine Gegner nicht überzeugte. (Siehe Anhang.)

Alle diese Hindernisse konnten aber auf die Dauer den Aufschwung und Fortschritt der Wissenschaften mit eben so wenig Erfolg hemmen, wie dies später in Beziehung auf religiöse Meinungen ein dreissigjähriger Krieg vermochte; denn der Irrthum ist vergänglich, nur die Wahrheit ist ewig; der Irrthum ist ja nichts anderes als der Schatten, den die Wahrheit wirft, wenn ihr Licht durch den ungeläuterten dunkeln Geist des Menschen auf seinem Wege aufgehalten wird.

Auch die Chemie ging in dieser merkwürdigen Zeit einer Umwälzung entgegen; indem sie mit der Heilkunst zusammenschmolz, gewann sie ein neues Ziel, und nahm eine ganz veränderte Richtung an.

Die Alchemie hatte die Waffen geschmiedet, um der Chemie in der Medicin ein neues Gebiet zu erkämpfen und der tausendjährigen Herrschaft des Galen’schen Systems ein Ende zu machen.

Die grosse und heilsame Umwälzung, welche die Medicin erfuhr, die Befreiung von den Fesseln des Autoritätsglaubens ging aus der

[44] Erkenntniss der Unzulänglichkeit und Unrichtigkeit aller bis dahin für wahr gehaltenen Ansichten über das Wesen der Körperwelt hervor.

Das neue Licht war ein Erwerb der Alchemisten, durch sie gewann die Lehre der griechischen Philosophen über die Ursachen der Naturerscheinungen eine neue Gestalt.

In allen Zeiten hatte der denkende Mensch versucht sich Rechenschaft zu geben über den Ursprung der Dinge, und sich Aufschluss zu verschaffen über den Grund ihrer Eigenthümlichkeiten. Am nächsten lag unstreitig das Verfahren der Mathematiker zu befolgen, welche ohne äussere Mittel die Gesetze und Eigenschaften mathematischer Figuren erforschen. Dies war in der That der Weg, den die griechischen Philosophen wählten, um zur Erkenntniss der Naturerscheinungen zu gelangen. Sie betrachteten die verschiedenen und mannichfaltigen Eigenschaften der Körper als Dinge für sich, und suchten mit Hülfe des Verstandes die gemachten Wahrnehmungen zu verbinden, und diejenigen Eigenschaften zu ermitteln, welche allen gemein sind.

Die Entstehung, die Eigenschaften aller Dinge setzt, so lehrt Aristoteles, drei Grundursachen voraus. Die erste ist die eigenschaftslose Materie (ὕλη), die zweite die Ursache oder Ursachen, welche dem Stoff seine Eigenthümlichkeiten geben, und die sich in dem Begriff der körperlichen Gestalt (εἶδος) zusammenfassen lassen. Die dritte ist eine Ursache oder Ursachen (Kräfte in dem Sinne und Begriff, wie sie die Worte Arzneikraft, Ernährungskraft enthalten), welche sie verändern, indem sie diese Eigenschaften nehmen (στέρησις Beraubung). Was den Veränderungen in den Eigenschaften der Materie vorhergeht, ist die Ursache (το ποιοῦν das Wirkende), was diesem folgt die Wirkung (τέλος der Zweck).

Diese Vorstellung, dass die Eigenschaften der körperlichen Dinge gleichsam wie die Farben seien, womit der Maler der farblosen Leinwand die Eigenschaften eines Gemäldes ertheilt, oder den Kleidern, die sich an- und ausziehen lassen, und welche die Gestalt des Menschen bestimmen, ist die Grundlage der Alchemie und des ersten wissenschaftlichen Systems der Heilkunde gewesen.

Dem schärfsten Verstande dürfte es schwer sein, ohne andere Mittel als die einfache Wahrnehmung durch die Sinne zu gebrauchen, mehr als vier Eigenschaften aufzufinden, welche allem tastbaren Körperlichen angehören.

Dem Auge und Geschmacksinn bieten die Körper unendlich viele Verschiedenheiten dar, es giebt gefärbte und ungefärbte, schmeckende und riechende, geschmack- und geruchlose.

Aber alle Körper sind entweder feucht oder trocken, warm oder kalt. Alles Tastbare besitzt zwei von diesen Eigenschaften. Der Körper ist fest oder flüssig, er besitzt eine gewisse Temperatur.

Diese Eigenschaften, sagt Aristoteles, sind offenbar einander entgegengesetzt; denn die Kälte kann durch Hitze, die Trockenkeit durch Feuchtigkeit aufgehoben werden, durch Zusammenwirken zweier nicht entgegengesetzten Eigenschaften, z. B. von Trockenheit und Kälte, sieht man feste Körper entstehen, durch Feuchtigkeit oder Hitze werden sie flüssig oder luftförmig. Die Beziehungen dieser Eigenschaften zu einander sind hiernach klar. Nicht blos der Zustand und die kalte oder

[45] warme Beschaffenheit, auch die Dichtigkeit und Lockerheit sind von diesen Grundeigenschaften bedingt; die Kälte ist die Ursache der Dichtigkeit, denn durch sie werden die materiellen Theilchen einander genähert, die Lockerheit ist verursacht durch die Wärme. Aber alle anderen Eigenschaften stehen in einer bestimmten Beziehung zu den vier Grundeigenschaften; denn die Farbe, der Geruch, der Geschmack, der Glanz, die Härte der Körper erleiden durch Hinzuführung oder Beraubung von Feuchtigkeit, Hitze, Trockenheit oder Kälte eine Veränderung.

Es ist klar, sagt Aristoteles, alle sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften der tastbaren Körper sind abhängig von diesen vier Grundeigenschaften; denn mit einer Aenderung in diesen Grundeigenschaften wechseln auch alle übrigen; es ist einleuchtend, dass diese anderen von den vier Grundeigenschaften bedingt sind; es giebt vier Elementareigenschaften. Die Richtigkeit dieser Abstractionen, so weit sie die Eigenschaften der Körper umfassen, welche durch einfache Wahrnehmung ermittelbar sind, ist nicht zu bestreiten. Der Unterschied unserer jetzigen und der damaligen Ansichten liegt darin, dass wir den flüssigen, festen und luftförmigen Zustand, so wie die Temperatur durch zwei anstatt durch vier einander entgegengesetzte Ursachen bedingt betrachten. Noch heute sind wir der Ansicht, dass alle physikalischen Eigenschaften der Körper in einem bestimmten Verhältniss abhängig sind von der Cohäsionskraft und Wärmekraft.

„Zwischen vier Dingen,“ sagt Aristoteles, „giebt es sechs Combinationen (Paarungen) zu zwei. Aber die Paarung zweier entgegengesetzten Eigenschaften, wie kalt und warm, feucht und trocken, heben einander auf, sie ist nicht wahrnehmbar für die Sinne. Es bleiben demnach nur vier Combinationen, die mit den vier Körpern, woraus der Erdkörper besteht, übereinstimmen. Die Erde, als der Inbegriff des Festen, ist kalt und trocken, das Wasser kalt und feucht, die Luft feucht und heiss, das Feuer heiss und trocken. Durch diese Paarung entstehen demnach die vier materiellen Elemente, aus diesen vier Elementen entstehen alle übrigen Körper, sie sind in allen enthalten; die Abweichung und Verschiedenheit in den Eigenschaften der andern Körper hängt lediglich von dem Verhältniss ab, in welchem die vier zusammengetreten sind; welches Element hervorsticht, dessen Eigenschaft nimmt der Körper an.“

Wie aus dem folgenden Schema sich ergiebt, haben die Elementarkörper, je zwei, eine Grundeigenschaft gemein.


[46] Es ist demnach einleuchtend, dass, wenn dem luftförmig flüssigen Körper die Elementareigenschaft der Wärme durch Kälte entzogen wird, die Luft in Wasser, und in ähnlicher Weise durch Hitze das Wasser in Luft, durch Trockenheit das Wasser in Erde verwandelt werden kann.

Das Feuer schliesst nach Aristoteles in sich den Begriff der Helligkeit und Empfindung, das Wasser und die Luft der Durchsichtigkeit, die Erde der Dunkelheit. Die Farben entstehen durch Mischung von Feuer und Erde, d. h. von Helligkeit und Dunkelheit. Die Durchsichtigkeit des Bergkrystalls rührt vom Wasser her. (Die Durchsichtigkeit des Diamants heisst noch heute sein Wasser.) Aber auch der Hauptbestandtheil der Augen ist Wasser, wie die Luft die Grundlage des Gehörs, Luft und Wasser den Geruch, die Erde das Gefühl ausmachen. Der Geschmack wird durch die Feuchtigkeit vermittelt; je inniger sich die Geschmacktheile an die Zunge hängen, desto bitterer, je mehr sie sich auflösen, desto salziger ist der Körper; wenn aber die Geschmacktheile erhitzt werden und die Thei1e des Mundes wieder erhitzen, so entsteht der scharfe, wenn sie in Gährung gerathen und Blasen werfen, der saure Geschmack.

In allen diesen Fällen sieht man, dass die genaue und richtig erkannte physikalische Eigenthümlichkeit der auf die Sinne wirkenden Dinge stets als das Ursächliche oder Bedingende angesehen wird. Was man wahrnahm in der Wirkung, war die Ursache der Wirkung. Die Erklärung der Naturerscheinung war die Beschreibung ihrer Eigenthümlichkeit.

Diese Lehren der griechischen Philosophen wurden durch Galen die Grundlagen des ersten theoretischen Systems der Heilkunde.

Nach Galen entstehen alle Theile des organischen Körpers durch die Mischung der vier Elementarqualitäten in verschiedenen Verhältnissen; im Blute sind sie gleichmässig gemischt, im Schleim ist das Wasser, in der gelben Galle das Feuer, in der schwarzen die Erde vorwaltend. Auf dem Vorherrschen dieser vier Cardinalsäfte beruhen die vier Temperamente.

Die Gesundheit ist ein Gleichgewichts-Zustand, bedingt durch die richtige Beschaffenheit der gleichartigen Theile (der Organe) und der richtigen Mischung der Elemente. In der Krankheit sind die Verhältnisse gestört, sie ist ein widernatürlicher Zustand der Form oder Mischung.

In Folge des Missverhältnisses der Elementareigenschaften befinden sich die Säfte in zu erhitztem, gekältetem, gefeuchtetem, getrocknetem Zustande. Wenn ihre Bewegung stockt und die Ausdünstung gehemmt ist, so tritt eine Verderbniss der Säfte ein, es entstehen die verschiedenartigen Fieber. Die widernatürliche Fieberhitze ist eine Folge dieser Fäulniss. Durch Fäulniss des Schleims, der gelben oder schwarzen Galle, entsteht das alltägliche, drei- oder mehrtägige Fieber.

Auf den ihnen innewohnenden Grundeigenschaften beruht nach Galen gleichermassen die Wirksamkeit der Arzneien; sie sind heiss oder kalt, feucht oder trocken. Ein Mittel kann, je nach dem Verhältniss der Grundeigenschaft der Wärme, unmerklich, merklich, erwärmen, erhitzen oder heftig erhitzen, eine jede Qualität besitzt vier ähnliche Grade der Wirkung. Substanzen von brennendem Geschmack gehören zu den heissen, von kühlendem Geschmack zu den kalten Arzneimitteln.

[47] Die Hebung der Krankheit oder der Wiederherstellung der Gesundheit beruht nach Galen auf dem Ersatz der fehlenden Qualität durch Uebertragung, oder in einer Aufhebung der vorherrschenden durch Beraubung.

In diesem folgerichtigen System waren die Krankheit und die Wirksamkeit der Heilmittel auf eine sehr kleine Anzahl von Ursachen zurückgeführt. Die Krankheiten liessen sich, wie die Arzneimittel, in eine gewisse Anzahl von Fächern ordnen; hatte man den Platz erkannt wohin die Krankheit gehörte, so fand der Arzt in dem Gefach gegenüber die geeigneten Mittel, um die Gesundheit wieder herzustellen. Man wusste woher die Krankheit kam, man wusste warum das Mittel heilte.

An die Stelle der Experimentirkunst oder des Erfahrungsweges, welcher Hippokrates von Kos zu einer Fülle von Beobachtungen und einer bewunderungswürdigen Diätetik geführt hatte, trat jetzt die Theorie, die sie in Verbindung brachte, ordnete und erklärte. Das Heilverfahren des koischen Arztes liess sich durch Nachahmung erlernen, das neue System war unendlich geeigneter zum Lehren, das Erlernen war erleichtert.

Die griechischen Philosophen, so wie Galen, hatten keine Vorstellung von den besonderen Eigenschaften, welche zum Vorschein kommen, wenn verschiedenartige Körper sich wechselseitig berühren.

Man bemerkt leicht, dass die Grundidee des Galen’schen Systems vollkommen identisch war mit der, welche den Alchemisten zum Führer diente, die Idee der Verwandelbarkeit der Elementarkörper durch Entziehung oder Uebertragung von Elementarqualitäten. Der Glanz, die Farbe, die Feuerbeständigkeit und Flüchtigkeit konnten hinweggenommen und ersetzt, sie konnten, so glaubte man, erhöht und vermindert werden. Das Gold war das vollkommenste Metall, ihm konnten keine Eigenschaften zugesetzt werden, weil es alle besass; es stellte unter den Metallen den gesunden Menschen dar. „Bringet mir die sechs Aussätzigen,“ ruft Geber (Silber, Quecksilber, Kupfer, Eisen, Blei, Zinn), „damit ich sie heile.“ Das Messing war krankes Gold, das Quecksilber krankes Silber; durch die Medicin der dritten Ordnung konnten sie in Gold verwandelt, d. h. geheilt werden.

Die Entstehung des Goldes wurde der thierischen Zeugung ähnlich betrachtet, oder der Entstehung und dem Wachsthum der Pflanzen. Raymund Lullus vergleicht die Darstellung des Steins der Weisen mit der Verdauung, der Entstehung des Blutes und der Ausscheidung der organischen Säfte.

In ihren Arbeiten hatten die Alchemisten gewisse Besonderheiten in den Eigenschaften der Körper wahrgenommen, welche den griechischen Philosophen unbekannt oder unbeachtet geblieben waren, und es waren allmählich den Elementen des Aristoteles drei neue Elemente hinzugefügt worden, deren Existenz Niemand mehr bezweifelte. Zu den vier Ursachen der physikalischen Beschaffenheit kamen drei Grundursachen der allgemeinsten chemischen Eigenschaften, Mercurius, Schwefel und Salz.

Dem Geiste der frühesten Zeit gemäss, welcher alle nicht sinnlich wahrnehmbaren Ursachen von Thätigkeiten unsichtbaren Geistern, und die sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften tastbaren körperlichen Dingen zuschrieb, hielt man den gewöhnlichen Schwefel und das Quecksilber

[48] anfänglich für wirkliche Bestandtheile der Metalle; man glaubte von ihrem Vorhandensein gewisse Eigenschaften abhängig, ganz so, wie man später die Kausticität des Kalkes und der Alkalien einem Kausticum, den eigenthümlichen Geruch gewisser Körper dem Spiritus rector, und die Sauerheit der Säuren einer Ur- oder Primitivsäure zuschrieb.

Die Sprache des gewöhnlichen Lebens, welche alle abstracten Begriffe vermeidet, erklärt es, warum man im Beginne der Forschung ein gewisses Verhalten oder gewisse Eigenthümlichkeiten körperlichen Ursachen zuschreibt. Selbst Lavoisier konnte sich von der Idee einer Ursäure nicht trennen, er hielt den Sauerstoff für den Ursäure-Erzeuger, und lange noch nach ihm sahen Viele in dem Wasserstoff die sauren Eigenschaften der Säure bedingt.

Allmählich traten in den Ideen der Alchemisten an die Stelle von wirklichem Schwefel und Quecksilber ein ideeller Schwefel, ein ideelles Quecksilber, Dinge, welche eine gewisse Anzahl von Eigenschaften in sich vereinigten. Später gestalteten sich diese Dinge zu Elementarqualitäten.

Eine Anzahl von Körpern besass die Eigenschaft der Flüchtigkeit im Feuer ohne Aenderung ihrer übrigen Eigenschaften; sie waren sublimirbar wie Arsenik, oder destillirbar wie Quecksilber; eine andere Classe war im Feuer flüchtig und veränderlich wie Schwefel; eine dritte war veränderlich und feuerbeständig wie die Aschensalze. Schwefel, Mercurius (Arsenik), Salz wurden, wie bemerkt, zuletzt zu abstracten Begriffen, zu einfachen Elementen in dem Sinne der aristotelischen Elemente.

Wie wir von der Gestalt und Form eines Gedankens sprechen, ohne uns darunter eine körperliche Gestalt zu denken, so drückte man damals einfache Begriffe durch körperliche Dinge aus, ohne sich etwas anderes als Eigenschaften darunter zu denken. Die Namen dieser Dinge wurden zu Bindenamen für gewisse Eigenthümlichkeiten, die wir heute noch brauchen, mit dem Unterschied, dass wir denselben, um ihre Unkörperlichkeit zu bezeichnen, das Wort Kraft, wie in dem Wort „katalytische Kraft“, anhängen.

Von dem Weingeist sagt Basilius Valentinus: „da ein rectificirtes Aqua vitae angezündet wird, so scheidet sich der Mercurius und der Sulphur von einander, der Schwefel brennt ganz hitzig, denn er ist ein lauter Feuer, so fleuget der zarte Mercurius in die Luft und gehet wieder in sein Chaos.“

Der Weingeist war schwefelhaltiger vegetabilischer Mercur, was nichts anderes sagen wollte, als dass er Brennbarkeit und Flüchtigkeit besass.

Indem man in den einfachen Begriff der Brennbarkeit (Schwefel), Feuerbeständigkeit (Salz) und Flüchtigkeit (Mercur) besondere Eigenthümlichkeiten der brennbaren, flüchtigen und feuerbeständigen Körper mit aufnahm, nach Massgabe als sie beobachtet wurden (öliger, fetter, erdiger Mercur, öliger, fetter, erdiger, leicht-, schwer-entzündlicher Schwefel, erdiges, schmelzbares, glasartiges Salz, brennbare, fette, ölige mercurialische Erde etc.), da verlor sich die Bedeutung des ursprünglichen Begriffs; indem er zu weit und ausgedehnt wurde, schloss er das Beobachtete nicht mehr in sich ein, und als Boyle nach dem Schwefel, Mercur und

[49] Salz der Alchemisten suchte, da waren diese Elemente nicht mehr da; der Begriff war verbraucht. Noch lange nachher wurde der Begriff der erstickenden Eigenschaft eines Gases mit schweflicht, die Verbrennung einer feuerbeständigen Substanz mit Verkalkung bezeichnet, d. h. sie hatten eine Eigenschaft mit dem brennenden Schwefel oder mit dem Kalkstein gemein.

So ist es heutzutage nicht mehr möglich, eine Definition einer „Säure“ oder eines „Salzes“ zu geben, welche alle Körper, die man als Säuren oder Salze bezeichnet, in sich einschliesst. Wir haben Säuren, welche geschmacklos sind, welche die Pflanzenfarben nicht röthen, welche die Alkalien nicht neutralisiren; es giebt Säuren, in denen Sauerstoff ein Bestandtheil ist und in denen der Wasserstoff fehlt, in anderen ist Wasserstoff, kein Sauerstoff. Der Begriff von Salz ist zuletzt so verkehrt geworden, dass man dahin kam, das Kochsalz, das Salz aller Salze, von dem die anderen den Namen haben, aus der Reihe der eigentlichen Salze auszuschliessen.

Man sieht leicht, wie allmählich ein einfacher, bestimmter Begriff unbestimmt wird, indem andere Begriffe demselben zugefügt werden. An der Stelle des verbrauchten Begriffs erhalten wir, indem wir zu sondern anfangen, eine Anzahl neuer und bestimmterer Begriffe; es ist möglich, dass der ursprüngliche bis auf den Namen sich verliert, und man wird einst vielleicht weder eine Säure noch ein Salz mehr finden, so wie man keinen Schwefel und keinen Mercur mehr fand, als man sie nicht mehr nöthig hatte. Vorher war ihre Gegenwart Jedermann geläufig, erst dann, als man sie nicht mehr bedurfte, suchte man darnach.

Die chemischen Elemente waren, wie es sich von selbst versteht, nicht darstellbar, eben weil sie nur Qualitäten bezeichneten. Niemand dachte daran, sie darzustellen; sie wurden als Bestandtheile von allen Körpern angesehen.

Zwischen organischen Körpern und Mineralsubstanzen machte man keinen Unterschied, ihre Verschiedenheit glaubte man bedingt durch einen ungleichen Gehalt von Elementen. Man stellte den Essig in dieselbe Reihe mit den Mineralsäuren, der Weingeist (Spiritus vini) stand neben dem Zinnchlorid (Spiritus Libavii), das Chlorantimon (Butyrum antimonii) neben der Kuhbutter.

Zu Geber’s Zeit hielt man den chemischen Process für ähnlich dem organischen Process; im 13. Jahrhundert bildete sich die Idee aus, der Lebensprocess sei analog dem chemischen. In frühester Zeit glaubte man, die Metalle entwickelten sich aus einem Samen, wie die Pflanzen; später hielt man dafür, der chemische Process erzeuge den Samen. Den Gährungs- und Fäulnissprocess hielten die Alten für die Ursache der Erzeugung von Pflanzen und Thieren, während im Gegensatz heutiges Tages einige Physiologen und Pathologen die Entwickelung und Erzeugung von Thieren und Pflanzen als die Ursache der Gährung und Fäulniss betrachten.

Naturanschauungen und Betrachtungen lassen sich dem Geiste nur durch Bilder oder durch Begriffe verständlich machen, welche der Naturwissenschaft entlehnt sind, und die ihr Gewand tragen.

[50] Wenn man nun in Betracht zieht, dass im 13. bis 15. Jahrhundert alles Wissen von der Natur und ihren Kräften sich in der Alchemie, der Magie und Astrologie vereinigte, so wird es erklärlich, wie allmählich alchemistische Bezeichnungsweisen für irdische Vorgänge in die Sprache des gewöhnlichen Lebens übergingen. Die Erscheinungen des organischen Lebens, das Leben selbst, der Tod, die Auferstehung wurden durch die in der Alchemie gewonnenen Begriffe verständlicher, sie liessen sich wissenschaftlich nur durch die Sprache der Wissenschaft, welche die Alchemie war, versinnlichen.

„Wir armen Menschen,“ sagt Basilius Valentinus, „werden für unsere Sünden allhier durch den Tod, den wir wohl verdient, in das Irdische, nämlich das Erdreich, eingesalzen, bis so lange wir durch die Zeit putrificirt werden und verfaulen, und dann hinwiederum endlich durch das himmlische Feuer und Wärme auferweckt, clarificirt und erhoben werden zu der himmlischen Sublimation und Erhöhung, da alle Fäces, Sünden und Unreinigkeiten abgesondert bleiben.“ (Kopp. II. 236.) Luther lobt die Alchemie in seiner Canonica „wegen der herrlichen und schönen Gleichnisse, die sie hat mit der Auferstehung der Todten; denn eben so wie das Feuer aus einer jeden Materie das Beste auszieht und vom Bösen scheidet, und also selbst den Geist aus dem Leib in die Höhe führt, dass er die obere Stelle besitzt, die Materie aber, gleich wie ein todter Körper, unten am Boden liegen bleibt, also wird auch Gott am jüngsten Tag durch sein Gericht, gleich wie durch Feuer die Gottlosen und Ungerechten scheiden von den Gerechten und Frommen. Die Gerechten werden auffahren gen Himmel, die Ungerechten aber werden unten bleiben in der Hölle.“ (Kopp. II. 238.)

Erst im 13. Jahrhundert entstand die Idee, dass der Stein der Weisen gesund machende und verjüngende Eigenschaften besitze. Sie entwickelte sich aus der Vorstellung, dass der Lebensprocess nichts weiter sei, als ein chemischer Process. Mit dem Stein der Weisen vermochte man die Metalle von ihren Gebrechen zu heilen, sie gesund zu machen, in Gold zu verwandeln, und es lag die Meinung nahe, dass er eine gleiche Wirkung auf den menschlichen Körper haben müsse. Arnold Villanovus, Raymund Lullus, Isaac Hollandus überbieten sich in Anpreisung seiner Heilkraft. In seinem Opus Saturni sagt Hollandus: „Ein Waizenkorn gross soll in Wein gelegt und diesen der Kranke trinken. Die Wirkung des Weins werde zum Herzen dringen und sich auf alle Säfte verbreiten. Der Kranke werde schwitzen und dabei nicht matter, sondern immer stärker und lustiger werden. Diese Gabe soll alle neun Tage wiederholt werden, wo es dem Menschen dünken solle, er sei kein Mensch mehr, sondern ein Geist. Es soll ihm zu Muth werden, als sei er neun Tage im Paradiese und nähre sich von dessen Früchten.“ Salomon Trismosin behauptet, er habe sich im hohen Alter mittelst eines Grans vom Stein der Weisen verjüngt, seine gelbe runzlige Haut sei glatt und weiss, die Wangen roth, das graue Haar sei schwarz, der gekrümmte Rücken sei gerade geworden. Frauen von 90 Jahren habe er damit die volle Jugend wiedergegeben.

Nachdem sich die Idee ausgebildet hatte, dass der Stein der Weisen eine Universalmedicin sei, kam man auf dem natürlichsten Wege auf die

[51] Anwendung chemischer Präparate in der Medicin, mit welcher eine neue Periode dieser Wissenschaft beginnt.

Besass in der That der Stein die metallveredelnde und gesundmachende Eigenschaft in gleichem Grade, so war der kranke Körper ein weit bequemeres Mittel, die Materia prima zu erkennen, und im Verlauf ihrer Bearbeitung ihre Veredelung zu prüfen. Denn die Anzahl von Krankheiten, welche das Präparat zu heilen vermochte, gab ein untrügliches Kennzeichen dafür ab. Je mehr Krankheiten ein Präparat heilte, desto näher stand es in seinen Eigenschaften dem Stein der Weisen. Der wahre Stein musste alle Krankheiten heilen.

Der Arzneischatz der Galen’schen Medicin enthielt keine chemischen Arzneien, und bestand ausschliesslich in organischen Substanzen: Moschus, Rhabarber, Bibergeil, Kampher, Tamarinden, Ingwer, Zittwerwurzel und ähnliche waren die Hauptmedicamente. Die Arzneibereitung bestand in der Kunst, diese Stoffe in die Form von Syrupen oder Latwergen zu bringen; Kräuter, Rinden und Wurzeln wurden in Abkochungen oder Pulvern den Kranken gegeben.

Auf Galen’s Autorität hin waren bis dahin alle metallischen Präparate aus dem Arzneischatz verbannt. Quecksilberpräparate galten ihm unbedingt als Gifte. Avicenna hatte zwar dem Gold und Silber blutreinigende Eigenschaften beigelegt, aber diese Metalle wurden in der Regel nur zu Pillenüberzügen verwendet, und noch zu Ende des 15. Jahrhunderts erfuhr die äusserliche Anwendung der mit Fett bereiteten Quecksilbersalbe den lebhaftesten Widerspruch.

Wenn man in Betracht zieht, dass die Ansichten Galen’s in Beziehung auf die Ursache der Krankheit und die Wirksamkeit der Arzneien dreizehn Jahrhunderte lang als unumstössliche Wahrheiten galten und die ganze Untrüglichkeit von Glaubenssätzen erlangt hatten, so begreift man, welchen Eindruck im 16. Jahrhundert die Entdeckung der wahrhaft wunderbaren Wirkungen der Quecksilber-, Antimon- und der anderen metallischen Präparate auf den Geist der damaligen Aerzte machen musste. Ein ganzes Gebiet neuer Entdeckungen erschien durch die Ideen der Alchemisten und durch die Anwendung chemischer Arzneien aufgeschlossen.

In dem Blute entdeckte man eine Eigenschaft, welche die Alkalien, in dem Magensaft eine Eigenschaft, welche die Säuren besassen. Man nahm in beiden einen Gegensatz wahr, genau entsprechend den Gegensätzen der Galen’schen Qualitäten.

Beim Zusammenbringen der Säuren mit Alkalien entstanden neue Körper von ganz veränderten Eigenschaften, die weder sauer noch alkalisch waren.

An den sogenannten milden Alkalien erkannte man die Eigenschaft des Aufbrausens mit Säuren, und das Wesen aller Gährungen, welches man für abhängig von dem Aufbrausen hielt, schien damit erklärt zu sein.

Man beobachtete Wärmeentwickelung in Flüssigkeiten durch Mischung von Säuren mit Alkalien, ohne dass man eine eigentliche Verbrennung vor sich gehen sah. Die Wärmeentwickelung in dem Respirationsprocess schien damit erklärt zu sein.

[52] Wie konnte man der Theorie der Lebenserscheinungen und Heilwirkungen nach Galen ferner noch eine Geltung zuschreiben, nachdem erwiesen worden war, dass alle seine Ansichten hinsichtlich der Metalle und ihrer Präparate vollkommen falsch seien, als man entdeckt hatte, dass die Eigenthümlichkeiten des organischen Körpers und die Wirkungen der Arzneien auf Grundursachen beruhten, welche Galen nicht in seine Erklärungen aufgenommen hatte, weil er sie nicht kannte. Nicht nur die Grundursachen, welche die physikalischen Eigenschaften, sondern auch die chemischen Elemente, welche die chemischen Eigenschaften bedingen, mussten von jetzt an bei der Erklärung der organischen Processe mit im Rath sitzen und in Rechnung genommen werden. Nicht blos von dem Verhältniss von Feuchtigkeit und Trockenheit, Hitze oder Kälte allein, sondern noch überdies von dem Verhältniss von Salz, Mercur, Schwefel, Laugensalz und Säure hingen die Lebenserscheinungen und die Wirkungen der Arzneien ab. Durch solche neue und geänderte Begriffe nahm die Heilkunst eine andere Form an.

Wenn die regelrechte chemische Beschaffenheit der Säfte den Gesundheitszustand bedingte, so war die regelwidrige chemische die nächste Ursache der Krankheit; durch die vorherrschenden chemischen Qualitäten der Arzneien konnte die Krankheit gehoben, die Gesundheit wieder hergestellt werden.

Auf die chemische Beschaffenheit der Galle, des Speichels, des Schweisses, des Harns musste jetzt bei der Wahl der Mittel vorzugsweise Rücksicht genommen werden: dies war ein unermesslicher Fortschritt. Man machte die wichtige Entdeckung, dass die Beschaffenheit des Harns in einem bestimmten Abhängigkeitsverhältniss zu den Krankheiten stand, und wie in dieser Periode der Wissenschaft alle Wirkungen für die Ursachen selbst genommen wurden, so galten die Absätze im Harn, der Tartarus, als Ursache vieler Krankheiten.

In Paracelsus’ Geiste verkörperten sich die Ideen dieser Zeit, und als er zu Basel einige Jahre darauf, nachdem Luther die päpstliche Bulle verbrannt hatte, diesem Beispiele folgend, die Werke Galen’s und Avicenna’s den Flammen übergab, da hatte deren Reich ein Ende.

Man hatte die Natur verlassen, so sagt Paracelsus, und sich leeren Träumereien hingegeben, darum verwies er auf das offene Buch der Natur, „das Gottes Finger geschrieben“; die Sonne, kein trübseliges Stubenlämpchen, solle das rechte Licht verleihen; die Augen, die an der Erfahrenheit Lust haben, die seien die rechten Professoren. Die Natur sei ohne Falsch, gerecht und ganz; aus dem Bücherwesen und aus menschlichem Phantasiewerk sei Verwirrung und Spiegelfechterei erwachsen. „Mir nach,“ so beginnt er sein Paragranum, „ich nicht euch, Avicenna, Rhases, Galen, Mesur! Mir nach und ich nicht euch, ihr von Paris, ihr von Montpellier, ihr von Schwaben, ihr von Meissen, ihr von Köln, ihr von Wien, und was an der Donau und an dem Rheinstrom liegt, ihr Inseln im Meer, du Italien, du Dalmatien, du Athen, du Grieche, du Araber, du Israelit! Mir nach und ich nicht euch, mein ist die Monarchie.“

In Paracelsus spiegeln sich alle Ideen, alle Fehler und Irrthümer seiner Zeit. In ihm kämpft eine gigantische Kraft gegen äussere

[53] hemmende Fesseln. Er hat den Instinct des richtigen Wegs, nicht das Bewusstsein. Er sucht ihn vergebens in der ihn umgebenden Wildniss; daher seine Widersprüche und seine Zerrissenheit. – Aber sein Wort giebt einem Jahrhundert die Richtung; „der wahre Gebrauch der Chemie“, sagt er, „ist nicht Gold zu machen, sondern Arzneien zu bereiten.“

Durch Paracelsus kam die Chemie aus den Händen der Goldköche in den Dienst der weit unterrichteteren und gebildeteren Aerzte, und da er und seine Nachfolger ihre Arzneien selbst bereiteten, so gehörten von da an chemische Kenntnisse und Bekanntschaft mit chemischen Operationen zu den wesentlichsten Erfordernissen des Arztes.

Im 16. und 17. Jahrhundert bewegten sich immer noch die Erklärungen um das Vorhandensein verborgener Qualitäten, bis erweiterte Erfahrungen zu der wichtigen Wahrheit führten, dass Eigenschaften und Materie thatsächlich nicht trennbar seien; für uns sind sie getrennt nicht mehr denkbar.

Noch lange nach Paracelsus glaubte man, dass die chemische Operation für das Arzneimittel dasselbe sei, was der Magen ist für die Speisen, aus denen das Blut entsteht. Durch dreimalige Sublimation des ätzenden Quecksilbersublimats mit metallischem Quecksilber stellte man den Calomel dar, durch neunmalige die Panacea Mercurialis.

Die begeistigenden Grundursachen Plato’s, welche nach ihm die vitalen Thätigkeiten bedingen, treten bei den Paracelsisten zu dem Archäus zusammen, der seinen Sitz im Magen hat und, mit allen Leidenschaften des Menschen begabt, die Verdauung, die Bewegungserscheinungen und die Seelenstimmung regiert.

Wenn man die gründliche Verachtung sich vergegenwärtigt, mit welcher die heutige Medicin auf die Ansichten von Paracelsus und seiner Nachfolger herabblickt, welche, ähnlich wie die Ideen der Alchemisten über Metallverwandlung, von Vielen als eine Geistesverwirrung bemitleidet werden, wenn man damit die gegenwärtigen Theorieen über die Ursachen der Krankheiten und die Heilmethoden vergleicht, so wird der Naturforscher in seinem Stolz auf die Errungenschaften des Geistes im Gebiete der Wahrheit gedemüthigt durch die tägliche Wahrnehmung von Widersprüchen, die man für unmöglich halten müsste, wenn sie in der Wirklichkeit nicht beständen. Denn noch heute beherrscht die Methode Galen’s und Paracelsus’ wie damals den Geist der meisten Aerzte: bis auf die Ausdrucksweise sind viele Ansichten dieselben geblieben. Der Archäus des 16. Jahrhunderts verwandelte sich im 18. und im Anfang des 19. Jahrhunderts in die Lebenskraft der Naturphilosophen, und noch heute lebt er in Manchem fort in dem Gewande der alles bedingenden Nervenkraft. Ueber den Standpunkt der theoretischen Medicin wird sich Niemand täuschen können, welcher in’s Auge fasst, dass sich in unserer Periode, in welcher die richtigen Grundsätze der Forschung klar und hell, gleich der Sonne, ihr Licht zu verbreiten scheinen, in der Heilwissenschaft eine für unsere Nachkommen kaum glaubliche Lehre zu entwickeln vermochte.

Wer kann behaupten, dass die Mehrzahl der unterrichteten und gebildeten Menschen unserer Zeit auf einer höheren Stufe der Erkenntniss

[54] der Natur und ihrer Kräfte steht, als die Iatrochemiker des 16. Jahrhunderts, der da weiss, dass Hunderte von Aerzten, die sich auf unseren Universitäten ausgebildet haben, Grundsätze für wahr halten, welche aller Erfahrung und dem gesunden Menschenverstande Hohn sprechen; Männer, welche glauben, dass die Wirkungen der Arzneien in gewissen Kräften oder Qualitäten lägen, die durch Reiben und Schütteln in Bewegung gesetzt und verstärkt, und auf unwirksame Stoffe übertragen werden könnten, welche glauben, dass ein Naturgesetz, das keine Ausnahme hat, unwahr sei für Arzneistoffe, indem sie annehmen, dass deren Wirksamkeit mit ihrer Verdünnung und Abnahme an wirksamem Stoff zuzunehmen fähig sei? Wahrlich, man wird zu der Meinung verleitet, dass die Medicin unter den Wissenschaften, welche die Erkenntniss der Natur und ihrer Kräfte zum Gegenstand haben, als inductive Wissenschaft die niedrigste Stelle einnimmt. Gleich wie der Landwirth von einem neuen Pflug, einer neuen Säemaschine, einem neuen Dünger, einer neuen Culturmethode sein Heil erwartet, obwohl diese Mittel, ohne die richtigen Grundsätze, seinen Reichthum nur vergeuden und ihn früher ärmer machen, als er ohne sie geworden, so sieht der Arzt in der Vervollkommnung der Technik den Fortschritt seiner Wissenschaft.

In einer neuen Arznei, einer neuen Heilmethode, in der Wiederherstellung einer imaginären Zusammensetzung des Blutes, des Harns sucht er nicht den hemmenden Stein zu beseitigen, sondern die Peitsche, welche der Fuhrmann braucht, um das Pferd mit seiner schweren Last wenn es nicht mehr fort kann, darüber hinweg zu bringen, und wenn die Natur sich hilft, so will er uns glauben machen, die Peitsche sei Kraft und Mittel gewesen, um die Gesundheit wieder herzustellen. Alle diese Dinge sind nützlich, vielleicht nothwendig; sie werden aber nicht benutzt, um die Schwierigkeit für alle, die nachkommen, hinwegzuräumen, sondern sie dienen, um auf die leichteste Weise in dem einzelnen Fall über sie hinweg zu kommen.

Was der Phantasie am nächsten liegt, wird als Brücke benutzt; kommt man glücklich hinüber, so lässt man sie hinter sich wieder zusammenfallen, anstatt ihr eine feste, dauernde Grundlage zu geben; gelingt es nicht, so ist die Unvollkommenheit der Wissenschaft daran Schuld.

Die Experimentirkunst schafft Werkzeuge, aber niemals ist durch Werkzeuge eine Summe von Erfahrungen zur Wissenschaft geworden.

Baumaterial ist in Fülle da, so dass man kaum den Grund sieht, auf welchem das Gebäude stehen soll, die Meister sind aber in Zwiespalt und über den Plan nicht klar. Der eine will das Haus aus Holz, der andere meint, es müsse Stein und Holz, der dritte, es dürfe nur aus Stein und Eisen sein. Zwei gehören jedenfalls zusammen, aber auch die drei würden, zweckmässig verbunden, ein treffliches Gebäude abgeben, wären die Handlanger nicht, die es aus Stroh und in die Luft bauen wollen; darum sind seit 2000 Jahren die Fundamente noch nicht fertig.

  1. *) Starb 1164 als Bischof zu Paris.
  2. *) Carriere in seinem ausgezeichneten Werke: Die philosophische Weltanschauung der Reformationszeit in ihren Beziehungen zur Gegenwart. Tübingen, (S. 125.) Cotta 1841.
  3. **) In demselben Jahr, in welchem Columbus geboren wurde, 1436, erfand Gutenberg den Bücherdruck.
  4. ***) 1300 Oxford. 1347 Prag. 1384 Wien. 1385 Heidelberg. 1388 Köln. 1392 Erfurt. 1401 Krakau. 1406 Würzburg. 1409 Leipzig.
  5. †) 1453.
  6. *) Carriere Seite 116.