Christnacht (Sigmund Kolisch)
Christnacht.
Was macht der Arme in dieser Stunde?
Wenn rings die Häuser sich erhellen,
Wenn Glückliche im Herzensbunde
Sich zu einander froh gesellen;
Wenn um den festlich grünen Baum
Sich Kinderschaaren jauchzend drängen,
Und von den Zweigen wie im Traum
Die gold’nen Früchte niederhängen;
Wenn heil’ger Christ in lichten Sälen
Mit reichen Gaben, nicht zu zählen,
Als gütig spendender erscheint:
– Er weint, er weint!
Was macht der Arme in dieser Stunde?
Den auch mit Hoffnungen durchdrungen
Von dem Erlöser jene Kunde,
Die ihm in’s Herz hineingeklungen;
Wenn in der Stube, kalt und eng,
Die Kinder hungrig Brod begehren,
Und er nicht kann als Christgeschenk
Der Brut ihr Futter fromm bescheeren.
Hab’ ich, ein Ausgestoßner, Böser,
An meinem göttlichen Erlöser
Statt eines Helfers einen Feind?
– Er weint, er weint!
Was macht der Arme in dieser Stunde?
Die Mutter sitzt beim Kind’ am Bette,
Gebete zieh’n aus ihrem Munde
Mit Wiegenliedern um die Wette;
Sie denkt nicht an die helle Pracht,
Die wie ein Strom, der ausgetreten,
Sich leuchtend hinwälzt durch die Nacht;
Sie glaubt und hört nicht auf zu beten:
„Gieb Du, o Herr, dem kranken Kinde
Ein segenreiches Angebinde,
Wie immer Deine Huld es meint“ –
– Er weint, er weint!
Was macht der Arme in dieser Stunde?
O daß ihn Lindrung überkäme,
Daß jede Schuld und jede Wunde
Von ihm ein starker Tröster nähme!
O würde ihm ein frommer Christ
Vermittelnd hülfreich zugesendet,
Der sanft von ihm zu dieser Frist
Das angeerbte Uebel wendet,
Damit er ohne Neid und Grauen
In alle Fenster könnte schauen,
Mit Glücklichen versöhnt, vereint –
– Er weint, er weint!
Paris.