Critik der reinen Vernunft (1781)/2. Von der Synthesis der Reproduction in der Einbildung.

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« 1. Von der Synthesis der Apprehension in der Anschauung. Immanuel Kant
Critik der reinen Vernunft (1781)
Inhalt
3. Von der Synthesis der Recognition im Begriffe. »
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2.
Von der Synthesis
der
Reproduction in der Einbildung.
 Es ist zwar ein blos empirisches Gesetz, nach welchem Vorstellungen, die sich oft gefolgt oder begleitet haben, mit einander endlich vergesellschaften, und dadurch in eine Verknüpfung setzen, nach welcher, auch ohne die Gegenwart des Gegenstandes, eine dieser Vorstellungen einen Uebergang des Gemüths zu der andern, nach einer beständigen Regel, hervorbringt. Dieses Gesetz der Reproduction sezt aber voraus: daß die Erscheinungen selbst wirklich einer solchen Regel unterworfen seyn, und daß in dem Mannigfaltigen ihrer Vorstellungen eine, gewissen Regeln gemässe, Begleitung, oder Folge statt finde; denn ohne das würde unsere empirische Einbildungskraft niemals etwas ihrem Vermögen gemässes zu thun bekommen, also, wie ein todtes und uns selbst unbekantes Vermögen im inneren des Gemüths verborgen bleiben. Würde der Zinnober bald roth, bald schwarz, bald leicht, bald schwer seyn, ein Mensch bald in diese, bald in iene thierische Gestalt verändert werden, am längsten Tage bald das| Land mit Früchten, bald mit Eis und Schnee bedeckt seyn, so könte meine empirische Einbildungskraft nicht einmal Gelegenheit bekommen, bey der Vorstellung der rothen Farbe den schweren Zinnober in die Gedanken zu bekommen, oder würde ein gewisses Wort bald diesem, bald ienem Dinge beygeleget, oder auch eben dasselbe Ding bald so bald anders benant, ohne daß hierin eine gewisse Regel, der die Erscheinungen schon von selbst unterworfen sind, herrschete, so könte keine empirische Synthesis der Reproduction statt finden.
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 Es muß also etwas seyn, was selbst diese Reproduction der Erscheinungen möglich macht, dadurch, daß es der Grund a priori einer nothwendigen synthetischen Einheit derselben ist. Hierauf aber komt man bald, wenn man sich besinnt, das Erscheinungen nicht Dinge an sich selbst, sondern das blosse Spiel unserer Vorstellungen sind, die am Ende auf Bestimmungen des inneren Sinnes auslaufen. Wenn wir nun darthun können, daß selbst unsere reineste Anschauungen a priori keine Erkentniß verschaffen, ausser, so fern sie eine solche Verbindung des Mannigfaltigen enthalten, die eine durchgängige Synthesis der Reproduction möglich macht, so ist diese Synthesis der Einbildungskraft auch vor aller Erfahrung auf Principien a priori gegründet, und man muß eine reine transscendentale Synthesis derselben annehmen, die selbst der Möglichkeit aller Erfahrung, (als welche die Reproducibilität| der Erscheinungen nothwendig voraussezt) zum Grunde liegt. Nun ist offenbar, daß, wenn ich eine Linie in Gedanken ziehe, oder die Zeit von einem Mittag zum andern denken, oder auch nur eine gewisse Zahl mir vorstellen will, ich erstlich nothwendig eine dieser mannigfaltigen Vorstellungen nach der andern in Gedanken fassen müsse. Würde ich aber die vorhergehende (die erste Theile der Linie, die vorhergehende Theile der Zeit, oder die nach einander vorgestellte Einheiten) immer aus den Gedanken verlieren, und sie nicht reproduciren, indem ich zu den folgenden fortgehe, so würde niemals eine ganze Vorstellung, und keiner aller vorgenanten Gedanken, ia gar nicht einmal die reineste und erste Grundvorstellungen von Raum und Zeit entspringen können.

 Die Synthesis der Apprehension ist also mit der Synthesis der Reproduction unzertrenlich verbunden. Und da iene den transscendentalen Grund der Möglichkeit aller Erkentnisse überhaupt (nicht blos der empirischen, sondern auch der reinen a priori) ausmacht, so gehört die reproductive Synthesis der Einbildungskraft zu den transscendentalen Handlungen des Gemüths und in Rücksicht auf dieselbe, wollen wir dieses Vermögen auch das transscendentale Vermögen der Einbildungskraft nennen.


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