Critik der reinen Vernunft (1781)/Des Leitfadens der Entdeckung aller reinen Verstandesbegriffe Zweiter Abschnitt. Von der logischen Function des Verstandes in Urtheilen.
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Wenn wir von allem Inhalte eines Urtheils überhaupt abstrahiren, und nur auf die blosse Verstandesform darinn acht geben, so finden wir, daß die Function des Denkens in demselben unter vier Titel gebracht werden könne, deren ieder drey Momente unter sich enthält. Sie können füglich in folgender Tafel vorgestellt werden.
1. Quantität der Urtheile Allgemeine Besondere Einzelne |
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2. Qualität Beiahende Verneinende Unendliche |
3. Relation Categorische Hypothetische Disiunctive | |
4. Modalität. Problematische Assertorische Apodictische. |
1. Die Logiker sagen mit Recht, daß man beym Gebrauch der Urtheile in Vernunftschlüssen die einzelne Urtheile gleich den allgemeinen behandeln könne. Denn eben darum, weil sie gar keinen Umfang haben, kan das Prädicat derselben nicht blos auf einiges dessen, was unter dem Begriff des Subiects enthalten ist, gezogen, von einigem aber ausgenommen werden. Es gilt also von ienem Begriffe ohne Ausnahme, gleich als wenn derselbe ein gemeingültiger Begriff wäre, der einen Umfang hätte, von dessen ganzer Bedeutung das Prädicat gelte. Vergleichen wir dagegen ein einzelnes Urtheil mit einem gemeingültigen, blos als Erkentniß der Grösse nach, so verhält sie sich zu diesem, wie Einheit zur Unendlichkeit, und ist also an sich selbst davon wesentlich unterschieden. Also, wenn ich ein einzelnes Urtheil (iudicium singulare), nicht blos nach seiner innern Gültigkeit, sondern auch, als Erkentniß überhaupt, nach der Grösse, die es in Vergleichung mit andern Erkentnissen hat, schätze, so ist es allerdings von gemeingültigen Urtheilen (iudicia communia) unterschieden, und verdient in einer vollständigen Tafel der Momente des Denkens überhaupt (obzwar freilich nicht in der, blos auf den Gebrauch der Urtheile untereinander eingeschränkten Logik) eine besondere Stelle.
2. Eben so müssen in einer transscendentalen[WS 1]
Logik unendliche Urtheile von beiahenden noch unterschieden| werden, wenn sie gleich in der allgemeinen Logik ienen mit Recht beygezählt sind, und kein besonderes Glied der Eintheilung ausmachen. Diese nemlich abstrahirt von allem Inhalt des Prädicats (ob es gleich verneinend ist) und sieht nur darauf, ob dasselbe dem Subiect beygelegt, oder ihm entgegen gesezt werde. Jene aber betrachtet das Urtheil auch nach dem Werthe oder Inhalt dieser logischen Beiahung vermittelst eines blos verneinenden Prädicats, und was diese in Ansehung des gesamten Erkentnisses für einen Gewinn verschaft. Hätte ich von der Seele gesagt, sie ist nicht sterblich, so hätte ich durch ein verneinendes Urtheil wenigstens einen Irrthum abgehalten. Nun habe ich durch den Satz: die Seele ist nicht sterblich, zwar der logischen Form nach wirklich beiahet, indem ich die Seele in den unbeschränkten Umfang der Nichtsterbenden Wesen setze. Weil nun von dem ganzen Umfange möglicher Wesen das Sterbliche einen Theil enthält, das Nichtsterbliche aber den andern, so ist durch meinen Satz nichts anders gesagt, als daß die Seele eine von der unendlichen Menge Dinge sey, die übrig bleiben, wenn ich das sterbliche insgesamt wegnehme. Dadurch aber wird nur die unendliche Sphäre alles Möglichen in so weit beschränkt, daß das Sterbliche davon abgetrent, und in dem übrigen Raum ihres Umfangs die Seele gesezt wird. Dieser Raum bleibt aber bey dieser Ausnahme noch immer unendlich, und können noch mehrere Theile desselben weggenommen werden, ohne daß darum der Begriff von der| Seele im mindesten wächst, und beiahend bestimt wird. Diese unendliche Urtheile also in Ansehung des logischen Umfanges sind wirklich blos beschränkend in Ansehung des Inhalts der Erkentnis überhaupt, und in so fern müssen sie in der transscendentalen Tafel aller Momente des Denkens in den Urtheilen nicht übergangen werden, weil die hierbey ausgeübte Function des Verstandes vielleicht in dem Felde seiner reinen Erkentniß a priori wichtig seyn kan.
- ↑ Gleich, als wenn das Denken im ersten Fall eine Function des Verstandes, im zweyten der Urtheilskraft, im dritten der Vernunft wäre. Eine Bemerkung, die erst in der Folge ihre Aufklärung erwartet.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: transsendentalen
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