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Cyane und Amandor

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Textdaten
Autor: Friederike Brun
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Titel: Cyane und Amandor
Untertitel: Eine Schweizergeschichte
aus: Gedichte, S. 105–166
Herausgeber: Friedrich von Matthisson
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1795
Verlag: Orell, Gessner, Füssli & Comp.
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Erscheinungsort: Zürich
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Quelle: Scan auf Commons
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[105]

Cyane und Amandor.


Eine Schweizergeschichte.


Meinem Freunde Herrn Rathsherrn Füssli in Zürich gewiedmet.


[107] Tief in einem der verborgensten Alpenthäler lebte in stiller Wehmut eine fromme Wittwe. Spät, wenn der volle Sonnenblick schon über den offneren Gefilden lächelte, ward dieses in die hohen Klüfte eines uralten Felsengebirgs eingesenkte Thal vom ersten Sonnenstral begrüßt.

     Aretens Herz war getheilt zwischen dem Himmel den ihr Gatte nun bewohnte, und der Erde wo ihre junge Tochter sein Bild in sanfterm Umriß ihr darstellte. Ungesehen blühte Cyane auf. Nur für die Mutter schlug liebend ihr kleines Herz. Die gesellige Ziegenheerde war ihre Spielgesellschaft; [108] hüpfend folgte sie ihr durch die verwirrten Pfade des Felstrümmer-Thals, wo würzige Kräuter im Schatten grünten. Auf den Flächen ungeheurer Steinblöcke sproßte kleines Gebüsch hervor; schnell erkletterten die Ziegen die rauhen Steine, und blickten muthwillig meckernd, auf die kleine Verlaßne herab, die ihnen lockend bunte Blumen entgegenhielt, und umsonst mit liebkosenden Namen die Ungetreuen rief. Mit Thränen im blauen Auge (gleich den Thautröpfchen im Kelche des Vergißmeinnicht) gieng dann die kleine Holde einsam in der Tiefe, suchte Klee, frische Münzen, und die große Gentiane mit blau- und grünlich schimmerndem Kelche, und band sie mit langem Riedgras in zierliche Kränze, die geliebte Heerde beym Heimgehn zu schmücken, und ein fröhliches Lächeln der Mutter abzugewinnen.

     Aber bald war die Reihe an ihr, die flüchtige Ziegenheerde zu verlassen, und sich der Pflege der [109] großen braunglänzenden Kuh zu widmen. Früh, wenn der Nebel über den Gebirgen wegzog, und die enthüllten Gipfel vom ersten Sonnenstral errötheten, war es ihre Sorge, sie auf den thauigen Anger zu leiten; und, wenn die Hitze begann, von den Verfolgungen der Bremsen weg, unter das Obdach dicht verschränkter Buchen zu treiben, wo im hohen Grase ein Bach rieselte, auf dessen Silberfaden nur dann und wann durch die bewegten Zweige ein Sonnenstral fiel. Bald wurde die treue Kuh die Freundinn ihrer einsamen Stunden. Gutmüthig erwiederte sie die Zuneigung der kleinen Hirtin, und wandte das freye Haupt mit dem weissen Sterne schon von ferne der bekannten Stimme zu. Täglich sann das Mädchen auf neuen Schmuck für sie; täglich ward ihr mit einem zierlichen Band, von bunten Halmen geflochten, ein neuer Strauß um die tönende Glocke befestigt, oder Blumenketten um den schlanken Hals, oder um die weit ausgeschweiften [110] Hörner gewunden. Auch lernte Cyane von der sorgsamen Mutter, mit leichter Hand die Milch den vollen Eutern entziehen, und in die weissen Gefässe von Lindenholz vertheilen, die in der Milchkammer standen auf reinlichen Brettern umher.

     Wenn dies angenehme Tagewerk vollendet war, rief die kühlere Luft sie zum Genusse der süssesten Freuden ins Freye. Dann verließ Cyane die Hütte, und wandelte mit leisem Schritte einsam umher auf dem seidnen Rasenplane. Oft verweilte sie im tiefgrünen Schooße der Wiesen, wo eine kleine Welt von webenden und regenden Geschöpfen, in tausend lieblichen Formen sich ihr darbot; diese aus der Erde aufkriechend, andere am Grasstengel kletternd, oder auf dem schwankenden Haupt der höheren Wiesenkräuter sich wiegend. Im Frühlingsstrauche, neben dem weichen Sitze, belauschte sie das geliebte Hänflingspaar, dem ihre kleine Hand oft unbemerkt Saamenkörner streute. Mit rötherer Wange, [111] den leisen Athem anhaltend, hieng ihr liebender Blick an dem zärtlichen Weibchen, das ämsig die nackten blinden Jungen fütterte, und über den hülflosen Kleinen sich selbst zu vergessen schien. Geschwinder klopfte ihr das sanfte Herz in der zarten Brust, und unbekanntes Vorgefühl schwellte sie höher. Stralender vor Freuden ward der Schutzgeist, der sie umschwebte; denn rein und unauslöschlich tönte jezt der Grundton weiblicher Empfindung, Mutterliebe, aus dem verborgensten Heiligthum der Seele wieder. In sich selbst versenkt stand sie noch lange, bis die tiefe Dämmerung über den Hügeln sie heim rief, wo die heitere Mutter sie erwartete, und ein ländliches Mahl von Zieger[1], Gerstenkuchen und Honig mit gesunder Eßlust verzehrt, von der guten Alten durch ein Körbchen aromatischer [112] Waldbbeeren beschlossen ward, welche die Tochter an den Büschen über der Felsquelle zusammenlas. Noch einmal, ehe die weichen Arme des Schlafs sie umfiengen, traten die Frommen vor die Hütte, und erhoben die reinen Herzen gen Himmel, der aus Millionen leuchtender Augen auf sie herabschaute, und zu dessen tiefgefärbtem Blau die innigen Seufzer des Danks und der kindlichen Liebe hinaufwallten; ein süsser Opferduft dem, der das Stammeln der Einfalt versteht, das wortarm in der vollen Thräne sich ergießt. Oft glaubte die junge Schwärmerin, im melodischen Säuseln der Lüfte und ihrer schaurigen Kühlung, die Stimme des väterlichen Geistes zu hören, der Segen auf ihr Haupt herabrief. Schnell entschlummerte sie dann, während die trauernde Mutter noch lange im Gebet verharrte, und dem Vater der Waisen das Schicksal ihres Kindes übergab, wenn nun ihr Auge sich im Tode schlösse, und die zarte Jungfrau allein in allen Schrecknissen [113] dieser wilden Einsamkeit zurückblieb. Endlich schloß der Schlaf auch ihr thränendes Auge. In helle Gefilde der Zukunft durch frohe Träume entzückt, umarmte sie den Gatten; ihre ahndende Seele las im Buche des Geschickes glückliche Fügung für das Kind ihres Herzens.

     So entfloh die frohe Morgendämmerung der Kindheit. Cyane sah den funfzehnten Sommer in reicher Fülle heraufgehen. Stiller, sinnender ward ihr Thun, ihre Geberde, ihr anmutiger Gang. Aus dem großen Auge leuchtete edler Geist; die heitere, freye Seele redete laut aus jeder Miene. Eingeschränkt in dem engen Thal, wo sie geboren ward, hatten die schwarzen, in rauhen Zacken aufstrebenden Berghäupter die Reihe ihrer Begriffe umfangen; der blaue Himmels-Teppich, der über diesen ernsten Säulen ruhte, war ihr ganzer Gesichtskreis. Ihre einsamen Wanderungen waren unter den Felstrümmern, mit denen die Wiesen besäet waren und in [114] deren mannigfaltigen Gestalten ihr wirkender Geist eine ganze Schöpfung erblickte. Einige dieser im Gewühl einer schrecklichen Zerstörung der schwindelnden Höhe entstürzten Ruinen lagen wie chaotische Schlacken über einander gewälzt; dunkelgrünes Moos, von Myriaden Gewürmen bewohnt, bekleidete sie. Andere in ruhigen, viereckigten Blöcken glichen den Leichensteinen eines verschwundenen Riesengeschlechts, um dessen trauernde Denkmäler der zarte Lerchenbaum flüsternd aufkeimte. Viele waren auf der obern Fläche mit einer bunten Wiesenmatte bedeckt; ihnen entströmte in der Frühe, und bey der sinkenden Kühlung süsser Duft. Hier lag eine mahlerische Gruppe, wie durch die Kraft eines Donnerkeils auseinander gespaltet; kleine anmutige Boskette glühender Alpenrosen, erfrischender Barbarizen und würzigen Wacholders, bekränzten die ehrwürdigen Scheiteln. Dort wuchsen aus den tiefen Klüften der größten Massen hundertjährige Eichen [115] empor, wie das Leben aus dem Schooße der Vernichtung. Ein schwarzer, undurchdringbarer Tannenwald, wo die wildesten Ruinen um die weissen Stämme sich hoch auflehnten, begränzte gegen Morgen das Thal, welches gegen Abend von der senkrechten braunen Felsenmauer eingeschlossen war.

     Oft schon hatte die liebe Einsiedlerin einen Durchgang aus dem Walde gesucht, aber immer sich im wilden Gestein ermüdet, und kaum den Heimweg gefunden. Einst, nachdem sie in dunkeln Träumen die Nacht zugebracht, erwachte sie, früher wie gewöhnlich, von der Morgenluft erstem Säuseln in den Rosenbüschen unter ihrem niedern Fenster. Schon erblassend blickte der Mond in ihr leicht sich öffnendes Auge.

     Bald trat sie sanft athmend vor die Hüttenthüre. Feyerliche Stille ruhte über der Natur. Einzelne Vögel flöteten leise Töne, als wollten sie die kleinen Kehlen für das große Chor stimmen, das bey [116] jedem Sonnenaufgang dem Vater des Lichts erschallt. Gegen über in den hohen Wipfeln der Tannen wandelte röthliche Klarheit. Die Felsenkronen des wilden Gebirgs waren mit dem tiefen Roth der unenthüllten Rosenknospe begossen.

     In hoher Andacht sich selbst vergessend gieng sie bis tief in das Dunkel des Waldes, und fand sich unter nächtlichem noch unerhelltem Gestein auf einem engen Fuspfade, dem sie durch schlangenartige Krümmungen folgte. Allmälich öffnete sich der Wald. Der Steinwall senkte sich; noch wenige Schritte – und wie groß war ihr Erstaunen! Wie süß ihre Ueberraschung!

     Sie stand frey, am Abhange des Gebirges. Ihr Auge umfaßte zum erstenmal einen weiten Raum, geschmückt mit einer Menge – ihr neuer Gegenstände. Hinter ihr, versunken im Walde und den Felsruinen, lag das Geburtsthal, bis jezt ihre Welt! Vor ihr dehnte sich der Fuß des Berges, vom bunten[117] Wiesenteppich bekleidet, bis in ein tiefes Thal hinab, durch welches ein breiter schäumender Strom rollte, bald unter dem Gewölbe lieblicher Haine, bald an fruchtbaren Auen verweilend. Unzählige Hütten, einzeln verstreut, oder in Haufen zusammengedrängt, lagen umher, von Obstbäumen beschattet. Auf die hellen Hügel waren kleine Sennhäuschen nachlässig herumgesäet. Ueber dem jenseitigen Ufer des Stroms stieg ein weit verbreitetes Gebirg empor, dessen unterer Theil mit hellgrünem Gehölze bebüscht war, während schwarze Nadelwälder sich bis an die nackten Zacken erstreckten. Aus den dunkeln Klüften rieselten klare Bäche herab. Geschwätzige Quellen wanden sich wie ein Silberband in tausend Krümmen um die moosigen Steine und grünen Gesträuche, aus ungemessener Höhe herunter. Hie und da entstürzte dem überhangenden Felsenstein ein wilder Stromfall, in weissem Duft verstäubend, und plätscherte dann am vorstehenden Felsenblock in kleinen [118] Fäden hinab. Dort schoß ein mächtiger Stral in einem kristallenen Bogen pfeilschnell herunter. Alle ergossen sich ins Bette des großen Stroms, der anschwellend forteilte[2]. – Stumm, im vollen Anschaun verloren, stand Cyane da, und wagte kaum das Auge zu wenden, um das Gebilde, welches so täuschende Wahrheit ihr schien, nicht zu verlieren. Aber der Fluß, welcher immer sinkend im tieferen Bette auf der einen Seite sich verbarg, zog ihre Blicke auf der andern seinem Ursprunge nach. Welche neue Welt der Wunder that sich hier auf! Welche nie geahndete Lichtgestalten leuchteten dort, wo die dunkeln scharf abgeschnittenen Wände von zwey ungeheuern Gebirgen sich öffneten! Cyane blickte hindurch in ein Gefilde, in welchem ihr ungeübtes Auge lauter blendende Klarheit sah. Hoch [119] in dem wolkenlosen Aether strebten lilienweisse, unendlich große, doch unaussprechlich sanft gebildete Formen empor, auf welche himmlischer Glanz in den schönsten Farben der erröthenden Unschuld und des geläuterten Goldes ausgestreuet war. Lange hielt sie diesen blendenden Reihen für einen Wolkenzug, denen ähnlich, die sie oft in den schönsten Sommermittagen über den engen Kreis ihrer Wohnung hinschwimmen sah. Aber als die Sonne höher stieg und die aufsteigenden Thaugewölke sich in unwesentlichen Kreisen tief um den Gürtel dieser Lichtkörper herumzogen, welche in unveränderter Pracht ruhten, da empfand sie, daß diese Wonnegestalten eine bleibende Schöpfung des Einzigen wären, den ihr Herz so willig in jedem Großen und Schönen suchte und fand. Voll Neubegierde blickte sie von der schwindelnden Höhe hinab bis an die ewige Gründung dieser Schimmerwelt, die bald funkelnde Platten, wie die Fläche des kleinen Baches, [120] mit glattem Eise bedeckt, bald weisse ungeheure Ebnen, ähnlich dem silberglänzenden Blatte der jungfräulichen Lilie im Sonnenschein, bald röthliche Wände und hoch verschwebte Gemäuer ihr zeigte, welche sie mit den verfallenen Behausungen auf den Felsengipfeln verglich, von denen ihre Mutter oft schauerliche Sagen der Vorzeit erzählte. Von einem weiten Schneefeld unter einer Zacke, die über einen unermesslichen Abgrund sich ausbog, glitt ein breites majestätisches Eisthal herab in wunderbaren Gestalten. Ganze Flächen waren dem Flusse ähnlich, wo er höhere Wogen über Steine warf die seinem Lauf widerstrebten; andre glichen einem empörten Wogenmeere, von einem plötzlichen Froste gefesselt. Das Ganze krümmte sich lebendig herab, aus nie versiegender Fülle von der Hand der Allmacht gegossen. So wie die Sonne über den beschattenden Felsen sich erhob, wurden diese reinen Kristalle mit einer Pracht erhellt, welche das Auge [121] kaum erträgt. Das schärfste Azurblau mit dem durchsichtigsten Grün beglänzte die phantastischen Spitzen, die bis zur Ebne hinabsteigend in den dunkelgrünen Wipfeln eines Waldes versanken.

     Jezt ward näher um sie alles belebt. Aus den stillen Hütten zogen Schaaren von buntgefleckten Kühen, von der Königin der Heerde mit der läutenden Glocke angeführt. Ziegenheerden, von hüpfenden Kindern umgeben, riefen das nahe Bild ihrer seligen Kindheit zurück. Die treuen Hausmütter waren vor den Hütten und in den kleinen Gärten beschäftigt, umgeben von den stammelnden Kleinen, während die ältern Töchter die weissen Milchgeschirre im klaren Quell, der neben den Hütten hervorsprudelte, mit Sorgfalt reinigten.

     Reiner stiller Genuß folgte dem ersten Entzücken. Auf dem dichten aromatischen Rasen saß die schöne Jungfrau und horchte dem Morgenliede der Vögel im luftigen Haine, dessen Aeste in einem fein verschlungenen [122] Dohm sich vereinigten. Das schön geflochtene Haar, blond wie reife Aehren, weich wie die seidne Pappelblüte, war rings um das fein gebildete Haupt gelegt; nichts verbarg die runde Zartheit des edelgebogenen Nackens. Frey blickte sie aus dem großen Augenpaar umher; wie das leichte Reh’ vom Abhang ins tiefe Thal schaut. Ihren rein, aufgeschoßnen und vollen Wuchs hielt ein knappes Mieder umfangen. Der kurze Rock ließ die Anmuth ihres Ganges und die zierlichen Füßchena sehen. Der zur angenehmen Arbeit gewöhnte Arm war aufgeschürzt, weiß und schlank, wie die beweglichen Aeste der Birken. Die Farbe der Unschuld und Gesundheit glühte auf ihrer runden Wange; von der offenen Stirne stralte Seelenruh’. So saß sie da, die vollendetste unter den hier vereinigten Bildungen der Schöpfung, und ließ aus voller Brust ein lautes Morgenlied ertönen, kunstlos, aber einfallend in die Akkorde der Natur!

     [123] Plötzlich stutzt sie – hält inne – Ihr däucht, sie höre ein leises Echo vom gegenüber stehenden Felsen ihr antworten. Der Gesang hört mit dem ihrigen auf; er begleitet, so wie sie wieder beginnt, im weichern, wortlosen Ton ihre Stimme. Spähend blickt sie umher. Von dort herunter, von jener schroffen Felszacke, kam der liebliche Ton – und jezt immer heller!

     Da stand unter dem blauen Himmel, auf einer Felsenzinke des Gebirgs, ein Jüngling, der einem Rohr den melodischen Laut entlockte. Groß war seine Gestalt, schön in jugendlicher Kraft. Von der hohen Stirn floß auf die breiten Schultern dunkelbraunes Haar in Ringeln herab; eine Hirtentasche hieng um seine Hüften, und ein Alpenstock[3] lag neben ihm.

     [124] Kühn und forschend blickte er hinab, offen und traulich sie zu ihm hinauf. Freundlich winkte sie ihm, herunter zu kommen. – Traurig zeigte er die senkrechten Abgründe, wo der Tod in tausend dunkeln Höhlen lauschte, und den reissenden Strom, der sie trennte. – Ein leiser Seufzer entfloh’ Cyanens halb geöffnetem Munde, und immer kehrte ihr Auge auf die Höhe zurück, wo der schöne Fremde unbeweglich auf sie herabschauend stand. Aber die Entfernung war zu groß, um sich durch Worte verständlich zu machen. Cyane begann wehmüthig von neuem kleine Lieder, und der sanfte Flötenton ermüdete nicht, sie zu begleiten! Während diesem Wechselgesang hatte sie einen Kranz von Amaranten und Quendel gewunden. Jezt erhob sie sich vom blumigen Sitze, bethaute den Kranz aus einem nahen Quell, hieng ihn an die Aeste des nächsten Baumes, und verschwand im Schatten des Waldes.

     [125] Amandor sah’ noch lange ihr nach, als das lezte Schimmern des weissen Gewandes verschwunden war. Wie winkte ihm der Kranz an dem Aste! Ach! wie sehnte er sich, nur die Rasenstelle zu berühren, wo sie saß; nur nach einem Trunk aus dem Quell, dem ihre kleine Hand Leben für die Blumen entschöpfte!

     Amandor hütete in den Sommermonaten auf den hohen Alpenwiesen, die eingesenkt im Schutze rings aufgezackter Felsenkronen ruhen, die große Heerde des Dorfes, und bereitete Käse aus der Milch, welche die langen, kurzbeinigten Kühe ihm reichlich lieferten. Aufgewachsen beym Anschauen der großen kühnen Natur, hatte sein Geist sich frühe männlich gebildet. In den müssigen Tagesstunden sammelte er heilsame, seltene Kräuter, die hier unter ewig heiterm Himmel in wundervoller Schönheit aufblühten. Heimgekehrt ins Thal, erquickte er Kranke mit den einfachen Hülfsmitteln, welche die Erde [126] am mütterlichen Busen für ihre Lieblinge nährt. Wenn aber der Abend thauend in göttlicher Milde noch die heitere Höhe vergüldete, während das niedre Gefilde schon im dunkeln Schleier verhüllt lag, braune Dämmerung die Hügel umschwamm, und die schwarzen Berggehölze von nächtlichen Raubvögeln durchschwirrt wurden; dann hieng sein Blick unverwandt am über ihm verbreiteten Firmament. Er sah’ das allmälige Hervorgehen dieses Schauspiels, in welchem die unsterbliche Seele, von höhern Ahndungen getragen, ein fernes Schimmern ihres unendlichen Daseyns empfindet. Mit immer neuer Freude sah’ er diesen feyerlichen Chortanz, den der Abendstern heraufführt, welcher, täglich neugeboren aus dem Abendroth, der Verkündiger jener Seelenfreuden ist, die nur reine Herzen empfinden. Kein Gestirn war ihm unbekannt; er las im Buche des Himmels, wie im Kelche der Blumen. Ganze Nächte, erleuchtet vom stillen Zitterglanz des [127] Vollmonds, durchwachte er in diesem dem Himmel nahen Thale; nur die wandelnden Weltsysteme fesselten seine staunenden Blicke, wenn nun alle Laute der beseelten Natur verstummten, und sein Geist auf Flügeln der Andacht dem Unerschaffnenb näher schwebte, dessen Odem die ganze Schöpfung durchweht, aus dessen Vaterherz alle Pulse der Natur Leben schöpfen. Mit kühnerm Blick durchschaute er die große Kette der Schöpfungen; und die höhern Gefühle, welche der niedern Ebene Bewohner nur ahndet, durchströmten sein ganzes Daseyn. Die reinere Luft hob ihn schneller über alles Irrdische hinweg; kein trüber Nebel umhüllte seine Sinnen. Hier schweigen die Stimmen der Leidenschaften; mild und heiter empfängt die Seele das Bild des Schöpfers in unentweihter Reinheit, ähnlich dem heimlichen See, der, nie von Stürmen getrübt, den Abglanz des schimmernden Sterngewölbes zurückstralt. Wenn aber der Herbst herannahete, dann [128] führte er durch enge versteckte Pfade die geliebte Heerde von der andern ersteigbaren Seite des Gebirgs in jenes Thal hinab, über dem die ewigen Eishäupter thronen. Dann begann die Zeit der Jagd, wo der unerschrockne Jüngling den schrecklichsten Gefahren trotzte, und über jähen Klippen, über Schlünden voll Nacht und Grausen, die leichtfüßigen Gemse verfolgte.

     Mit glühender Wange und athemlos vor Eile erreichte Cyane die einsame Hütte, wo die Mutter halb zürnend sie empfieng, und die liebe Kuh kläglich der erleichternden Hand entgegen muhte. Leicht war die gewohnte Arbeit verrichtet; Cyane hatte vor dem Spinnrocken, unter der Kühlung des Kirschenbaums volle Musse, an den braunlockigten Jüngling auf der Felsenzacke zu denken. „Wie so stolz und herrlich er da stand von der Frühsonne beschienen; umathmet von den Lüften, die mit seinem langen Ringelhaar spielten! Ach! warum trennten uns die Klüfte [129] und der rauschende Strom? Ich hätte sein Haupt umkränzt, und mit duftenden Waldbeeren ihn erquickt. Meine liebende Mutter hätte ihn umarmt und den früh’ verlornen Erstling in dem kühnen Felsensohn wieder gefunden„! So dachte die sittsame Jungfrau; doch ihr Mund schwieg.

     Die gute Alte sah’ den sinnenden Blick, den oft von kleinen Seufzern gehobnen Busen, und glaubte, das Wandeln in der frühen Morgenluft habe das Töchterchen ermüdet. Kaum war die Sonne hinter der Felsenmauer gesunken, so geleitete die Mutter die Kranke zur Ruhe.

     Cyane schlief nicht um desto früher ein; aber früh’ erwachte sie. Früh’ eilte sie von der schlafenden Mutter weg. Sie durchhüpfte leicht den unvergessnen Pfad, und bemerkte kaum, daß die Sonne der Berge Haupt heute nicht mit warmem Kusse begrüsste, daß farbenlos alles noch nächtlich starrte. Bald war sie auf der geliebten Stelle, die sie jezt [130] kaum erkannte. Der gegenüber stehende Berg war unsichtbar; graue, dichte Wolken hiengen wie eine Decke über ihm herab, und nur die grünen Wiesensäume, von dem weissen Strome benezt, verriethen seinen Platz. Auch flatterte der Kranz um den Ast noch vollkommen frisch vom reichlichen Thau. Cyane kehrte langsam der Hütte zu, wo ihre tägliche Arbeit sie beschäftigte, aber nicht zerstreute.

     Amandor hatte schlaflos auf seinem harten Lager sich gewälzt, wo nur Ruhe den balsamischen Schlaf findet. Ungeduldig wachte er der Dämmerung entgegen, die auch seinen nie bewölkten Aufenthalt trüber erhellte. Er eilte zu dem Ort, wo er das Thal überschauen konnte; wo der Blick uneingeschränkt in den Schooß der Alpenwelt sich einsenkte, und den stolzen Bau dieser Tempel der Allmacht weit umfasste. Heute suchte er nur das Thal, nur die Stätte, wo der Kranz ihm winkte. Umsonst! Er verlor sich in einem unruhigen Wolkenmeer, aus [131] dem die höchsten Spitzen der ungeheuern Gebirgswelt, wie grüne Eylande oder wie nackte Klippeninseln, auftauchten. Kalte Stürme wirbelten das obere Gewölk in fliehenden Kreisen und langen Rauchstreifen umher. Laut heulten die Winde in den öden Höhlen, und dichte Hagelschauer prasselten von Zeit zu Zeit an den steilen[4] Fluhen herunter; verrätherische Sonnenblicke stachen durchs blaugraue Gewölk. Die ganze Natur verkündete einen rauhen stürmischen Tag. Unmöglich war’s dem treuen Hirten, die Heerde zu verlassen, welche zornige Wirbelwinde in Abgründe stürzen oder ein heftiger Hagelschauer in unfruchtbare Einöden zerstreuen konnte. Der Arme durfte nicht den Kranz holen – nicht der Spur der holden Hirtin folgen.

     Nie vergieng ein Tag langsamer auf der grünen [132] Alpung; nie ward öfter die Zeit den Fäden am Spinnrocken, in Ermangelung der Sonnenuhrc, abgezählt, als an diesem dunkeln Tage, der die ersten rosigen Schimmer der schuldlosen Liebe umhüllte.

     Der folgende Morgen gieng leuchtend, ein willkommener Bothe der süssesten Freuden, schon lange über der himmelhohen Alpenwiese auf, als Cyanens enges Thal noch dunkel ruhte. Mit dem leichten Schritte der Hoffnung eilte der Jüngling den schnellern Pfad der Gemsenjäger hinab, der auf engen Spuren über gähen Berggehängen ins Thal führte. Tief in den noch von nächtlichen Dünsten belasteten Gründen sah’ er die Nebel gegen das Licht kämpfen. Langsam in schweren Heeren zogen die grauen Wolken in den Schichten der Gebirge umher, und strebten umsonst, die so eben erhellten Seiten zu verdunkeln; denn triumphirend goß die Sonne Ströme des reinsten Lichts in den Schooß der wiederscheinenden Gewölke, die nun in die tiefern Abstürze [133] wilder Klüfte sanken. Plötzlich entwickelten sich jezt Gestalt und Farbe in den mannichfaltig, groß gezeichneten Felsenketten oder grünbekleideten Gebirgen, welche die lang hingedehnten Ebnen durchschnitten. Spiegelnde Seen, mit weissem Dufte beschleyert, nahmen das Bild der Gestade in zitternder Wallung auf; und wie lebendiges Silber rollte der Flüsse weit überblickter Lauf durch thaubeperlte Anger. Die laute Stimme der Freude ertönte von allen umliegenden Alpen herab; melodisch stieg sie aus den stillen Hütten der Unschuld und des Friedens herauf.

     Amandor trug tief im Herzen einen immer regen Sinn für die Natur. Zwar sah’ er das geliebte Bild der Schäferin in jedem vorüber eilenden Morgengewölk, und glaubte die harmonische Stimme im Chor zu unterscheiden, der aus dem Thalgrunde zu ihm aufstieg; aber sein Geist, eins mit der Natur und reingestimmt zu ihr, vergaß nie den Geber über der [134] Gabe. – Bald war er im großen Thal der Eisgebirge, wo ein schwankender Steg über den wilden Strom leitet. Schon erblickte er von ferne den Wiesenabhang, das Buchengewölbe unter dem sie saß, und bald darauf das höchste röthliche Horn des Gebirgs, das über dem Berggehölze, in dem sie verschwand, aufragte.

     Auch Cyane hatte das spätere Morgenroth aus unruhigem Schlummer geweckt. Leicht geschmückt, mit dem Kranze der blauen[5] Schwesterblume im blonden Haar, eilte sie zur geliebten Stätte; aber ihr Auge irrte vergebens auf dem Rande des Felsens umher. Mit beklommener Brust stand sie da. Zu hell war der milde Sonnenblick für ihr müdes Auge; sie suchte die Schatten des melancholischen Waldes, wo die Winde in den dicht vereinten Tannenästen [135] seufzten, und phantastische Schatten unter den hohen Gewölben umherwankten. Hier sank sie, vom innigen Schmerze der Sehnsucht durchdrungen, auf einen moosigen Stein. Neben ihr quoll aus der schaurigen Höhlung einiger halb in die Erde gesunkener Felsenstücke ein Bach hervor, der in kleinen spielenden Fällen zu ihren Füssen herabrieselte. Ueber das Wasser gebückt, das schöne Haupt auf die Hand gestüzt, verlor sie sich im hüpfenden Tanz der Wellen, in deren beweglichem Spiegel das Bild des Jünglings von Augenblick zu Augenblick entstand und vergieng. Thränen rollten vom schmachtenden Auge; Himmel und Erde entschwanden in der süssen Wonne der Wehmut.

     Amandor hatte mit beflügelter Eile den Platz erreicht, wo der Kranz noch wehte. Mit bebender Hand nahm er ihn vom Zweig’ und hüpfte hoch auf vor Freuden, indem er ihn am Strohhut befestigte. Dies Kleinod war ihm ein Pfand der Hoffnung, daß [136] die Gesuchte nicht fern sey. Mit Falkenblicken durchschaute er die dichten Schatten, wo er oft getäuscht den schlanken Wuchs im weissen Stamm einer jungen Pappel zu erblicken glaubte. Kurz darauf sah’ er näher der Erde den Saum eines weissen Gewandes, und jezt die ganze Gestalt der holden Träumerin, das liebliche Antlitz von der Hand halb versteckt, und beschattet vom flatternden Gewinde einer Epheuranke, die über den Sträuchen herabfiel.

     Schüchtern und doch voll Ungeduld gieng er jezt einige Schritte näher, und stand dann wieder still, seine Seele in seinen Blicken die zart hingegossne entzückende Bildung umschwebend. Lange hatte er noch gestanden in vollem Anschaun; aber schnell mit einem lauten Schrey fuhr Cyane aus ihrer stummen Träumerey auf beym Anblick einer kleinen stahlgrauen Natter, die nahe ihrem Arm aus dem Grase hervorschlich. Kaum war der Laut ihrem Munde entflohen, [137] als sie sich eng umarmt und leicht weggehoben fühlte aus dem gefährlichen Schatten. Im süssen Streit der Schaam und Freude mit der bebenden Furcht, klopfte jezt ihr Herz in lauten Schlägen. Noch hatte sie keinen Blick auf ihren Retter gewagt, und beyde schwiegen.

     Endlich wagte Cyane, das tief erröthende Antlitz zu erheben, und fand Muth und Stärke im großen braunen Auge des Jünglings, aus dem Treue und Liebe ihr entgegenstralten. O! welche neue Welt von Gefühlen entstand im Busen der Glücklichen! Wie schöpfte Amandor in vollen Zügen Hoffnung und Freude im sanften Blick dieser Augen, die vergebens unter den beschattenden Wimpern dem kühnen Forscher sich zu entziehen strebten! Wie mächtig fühlte sie sich ergriffen vom großen Feuerblick des edlen Jünglings, der ihr geheimstes Gefühl suchte, und es aus tiefer Brust in wortlosen Seufzern fand.

     [138] Nun kam die Stimme ihnen wieder. In süssen Gesprächen theilten sie sich jeden Gedanken mit, der seit dem ersten Erblicken in ihren schuldlosen Herzen entwickelt ward, in der einfältigen Sprache der Natur und mit der Offenheit der unbefangenen Jugend. „Aber nun folge mir, lieber Jüngling! in die Hütte meiner Mutter; sie wird dich segnen und lieben, wie ihren Erstgebornen, der längst schon im Grabe ruht„

     Arm in Arm erreichten sie die kleine Hütte, die auf der Fläche eines sonnigen Hügels unter einem lichten Hain von jungen Obstbäumen stand, welche einst der Vater bey der Geburt seiner Kinder pflanzte. – Staunend sah’ das gute Mütterchen die Tochter am Arm eines Jünglings heimkommen, der in seiner jugendlichen Schöne die stille Ruh’ des Hirten und die Kraft des Helden vereinigte. Kaum erblickte Amandor die Mutter der geliebten Cyane, so eilte er, ehrfurchtsvoll sie zu begrüssen: „Sey mir willkommen, [139] liebenswürdiger Fremdling„! so sprach sie; „unserer Hütte Frieden sey dein! – Eile, liebe Tochter! unsern Gast zu erfrischen mit dem Wenigen, was unsere fröhliche Armuth vermag.„

     Während Cyane mit lächelnder Geschäftigkeit Milch und frischen Käse herbeyholte, und zierlich geschnizte Löffel und Schaalen, dann aus dem Garten in krausen Kohlblättern saftige Birnen, frühe Aepfel und späte Kirschen brachte, mit würzigen Blumen umsteckt, redete die gesprächige Alte den Jüngling an. „Sage aber, Lieber! von wannen Du kömmst in diesen versteckten Felsbusen, der noch nie, seit mein Gatte diesen Zufluchtsort wählte, von einem Fremdling besucht ward?“

     Unverhohlen, mit wenigen Worten erzählte Amandor die Geschichte seiner Liebe; und drang mit feurigen Bitten und jugendlich flehendem Ungestüm in die gute Arete, ihn zu ihrem Sohn anzunehmen. Weinend umarmte sie den schönen Jüngling, den [140] sie wie einen Engel des Trostes, von Gott ihr zur Stütze gesandt, mit Dank aus der väterlichen Hand annahm.

     Nachdem sie sich durchs Mahl gestärkt, führte die Tochter der Felskluft den Geliebten in den Labyrinthen dieser reizenden Wildnis umher. Sie hörte mit Verwunderung seine Schilderungen von dem nahen Thal der Eisgebirge; von Gletschern und Schneelauinen. Zitternd schmiegte sie sich fester an seinen Arm, und Thränen glänzten in ihrem Auge, wenn er von den Gefahren der Gemsenjagd mit funkelndem Aug’ ihr erzählte. Mit zärtlicher Angst sah’ sie dem nahenden Herbst entgegen, der ihn wieder ins wilde Gebirg rief.

     Aber schon streckten die Schatten sich verlängert am Hügel herab, und der Abendreihen der Hirten ertönte von den hohen Alpungen. Sie mußten scheiden.

     Wehmütig begleitete Cyane den Liebling bis an [141] die Stätte der Liebe. Hier segneten sie noch einmal ihr Geschick; hier raubte Amandor den ersten heiligen Kuß der unentweihten Lippe des still erröthenden Mägdleins.

     „Wann werde ich dich wieder hier erwarten, Geliebter?„

     „Wann die Sichel des Neumonds über jener Zacke stralt, von welcher der Wasserfall dort in leichtem Staubregen herunter wallt, dann, Geliebte! erwarte mich hier. Auch jeden Morgen beym ersten Sonnenblick schaue ich von jener Höhe herab nach der Stätte der Liebe!„

     Sie schieden. Jedes Morgenroth sah’ die heitre frischbekränzte Hirtin dem Abhang zueilen, wo im ätherischen Duft der Berghöhe der Jüngling ihr gegenüber stand, und das fromme Morgenlied des Mädchens mit der Hirtenflöte begleitete. Segnend empfing der Vater der Natur das Opfer reiner Seelen; [142] ohne Mühe vollendeten beyde das nützliche Tagewerk, eines in dem andern lebend.

     Nach sieben Tagen blickte beym Sonnenuntergang aus purpurfarbnemd Gewölk der Sichelmond; mit leichtem Schritt voll froher Erwartung eilte Cyane dem Jüngling entgegen, und sank sprachlos in seinen Arm.

     Schnell verblühte der Sommer; der Herbst in bunter Pracht senkte sich auf die Fluren. Schon kräuselten die Bäche braune Blätter hinweg; und bald waren die Pfade des Hains mit rasselndem Laube bedeckt. Trauernd pflückte Cyane die erfrischende Brombeere für den kommenden Liebling, und sammelte stärkenden Wacholder, dem die Mutter wohlthätige Arzneyen entpresste. Die mit rothwangigten Aepfeln belasteten Aeste neigten sich; die häusliche Mutter dörrte auf dem durchglühten Heerde die saftige Frucht zur erquickenden Winternahrung. Feiner Reif deckte in den kalten Nächten die hohen Alpen; und Amandor führte sorgsam die wohlgenährte [143] glänzende Heerde ins Thal zurück. Mit lautem Jubel wurde der gewonnene Vorrath von fettem Käse, in kleinen aus Tannenstämmen zusammengefügten Häuschen, von Absatz zu Absatz, ins Thal herunter gelassen. Wie ein Vogel im Käfig, oder wie ein Steuermann im Nachen, saß der fröhliche Hirt darin und leitete mit der Stange die kühne Fahrt ohne Schaden an den Felsen herab, bis er unten von den muntern Gesellen mit schallendem Gelächter empfangen ward. Neckend verfolgte ihn der muthwillige Schwarm, als er, statt Theil an den geselligen Spielen zu nehmen, schnell über den Strom eilte, und im Wald’ ihren Blicken und dem Gelächter entgieng.

     Hier erwartete ihn sein süsses Mädchen mit einem Napf voll schwärzlich glänzender Brombeeren und frischer Milch im gehenkelten Kruge. Von neuem begannen die seligen Tage der Liebe und Freude, vom segnenden Blicke der Mutter begleitet.

     [144] Aber jezt erscholl das Hüfthorn an den Bergen umher. Die reine Luft war Morgens und Abends mit einem halb durchsichtigen Flor umwebt, der in den Fernen, wie ein dunkelblaues Gewand, sich den Bergketten anschmiegte. Ueber die Wiesenplane zog die kleine Herbstspinne das silbergraue Gewebe der Mettenfädlein, von der Frühsonne, wie ein diamantenbestreutes Netz, mit perlenden Thautropfen befunkelt. – Die Thäler hallten wieder vom Jauchzen der von allen hohen Alpen herabgekommenen Hirten. Amandor aber hörte den Ruf des Horns, das mächtig ihn aus den Träumen der Liebe weckte. Mit den nägelbeschlagenen Alpenschuhen und dem stachelichten Stocke bewafnet, entwand er sich den Armen der leise weinenden Braut, und vergaß in der raschen Eile die in Gefahren so nöthige Eisaxt.

     „Uebermorgen, geliebtes Mädchen! ehe der Abend sinkt, erwarte mich dort neben dem Strome. Dann bringe ich dir das krumgewundene Hörnerpaar des muthigen [145] Steinbocks zur ersten Gabe der Liebe! Siehe dort jenes Gehölz, welches neben dem Gletscher sich bis ans schimmernde Gestein heraufdehnt – dort beginnet mein Pfad. Dann führen labyrintische Wege mich durch die Pyramiden des Kristallstroms, und dort oben, nah’ dem ewigen Eise, über schwindelnden Abgründen, an der steilen Granitwand, verfolge ich die Spur der schnellfüssigen Gemsen! Lebe wohl, o Geliebte!„

     Leicht wie ein Hirsch, entfloh’ er ihren Blicken.

     In stiller Trauer vergiengen die beyden Tage. Mit schweren Ahndungen kämpfte die Seele der liebenden Hirtin; umsonst strebte sie, das thränentrübe Auge und die blasse Wange der theilnehmenden Mutter zu verbergen. Oft besuchte sie den Ort der Trennung, und kehrte getrösteter zurück, wenn das Schneegebirg so milde erhellt, gleich Gefilden der Zukunft, stralte.

     [146] Nun brach er an, der ängstlich herbeygewünschte Tag des Wiedersehens. Ihre feurige Ungeduld vermochte nicht, die bestimmte Stunde zu erwarten; viel früher machte sie sich auf, um weiter dem Kommenden entgegenzugehn, und freudig ihn zu überraschen. Einsam wandelte sie den abhängigen Pfad, der, immer steigend, am Gürtel des wilden Gebirgs hinschwebte. Mit jedem Schritte erhoben sich näher und mächtiger die Kolossen des Eisthals in wilden trotzigen Formen. Der eine steigt in rauhen und unermesslichen Felsblöcken schrof von allen Seiten ins Thal herab und bildet einen abgestumpften Kegel, dessen Gipfel, wie vom allmächtigen Blitze gespalten, einen gen Himmel gähnenden Schlund öffnet; in der schauervollen Tiefe starret eine ewig mit Schnee gefüllte Kluft, aus welcher sich von der gewaltigen Höhe ein tiefer Schneeweg hinabsenkt, in den von Zeit zu Zeit mit knisterndem Getöse abgerollte Schneefälle, wie Schaum verstäubend [147] herunterfliegen[6]. Ueber diesem bohrt sich ein spitziges, entsetzliches Horn in drohender Gestalt bis in das wolkenlose Blau des Firmaments hinauf: Kein Sterblicher hat die furchtbare Höhe erreicht; nur der königliche Steinadler erschwebt diese Zinne der Ewigkeit[7]. Neben dieser Schreckengestalt, deren weniger schrofe Abstürze des wilden, schwarz und röthlich gefleckten Granitfelsens mit Schnee sparsam bestreut sind, verbreitet sich ein milder geformtes Gebirg, mit schimmernden Schneelagen bedeckt. Sanft abwallend aus seiner Fülle scheint dies unerschöpfliche Schneemeer den prächtigen Bau der Eispyramiden herabzuströmen[8]; und dieser wird von einem schweren, in der ruhigen kraftvollen Schöpfung der Urzeit hingedehnten Felsenkörper begränzt[9].

     [148] Cyane stand versunken im Anschaun. Sie fühlte sich wie vernichtet, bey der drückenden Nähe dieser ewigen Zeugen unnennbarer Herrlichkeit. Jezt suchte ihr blödes Auge unter dem großen Reihen eine Form, welche sie lieben konnte. – Da stieg über dem einen Felsen ein verklärtes Schneegebirg auf, groß und lieblich anzuschauen. Ueber alles Irrdische verschwebt, in sanft abgerundeter Höhe, ruhte sein blendendes Haupt im reinen Aether. Von allen Seiten senkte sich diese Gestalt in schönen Linien gleichförmig herab, mit einem vollen weichen Liliengewand in reichen Wallungen bekleidet, so ruhig angegossen, als wagten auch selbst die Lüfte des Himmels nicht, das unentweihte Antlitz zu küssen, oder die Falten die Gewandes zu verschieben[10]. „O Jungfrau„! rief Cyane aus voller Brust, „reine ewige Urgestalt der bildenden Schöpfung!„

     [149] Unbeweglich hiengen ihr Herz und ihre Blicke an der hehren himmeltragenden Königin der Eiswelt, bis sie leise hinabglitten in den grünen Schooß des elysischen Thals, welches ringsum an diesem Reihen von Allmachtssäulen in runden Hügeln sich aufhebt. Mit jedem Reize der sanftesten Schönheit ist hier die Gränze des ewigen Winters bekränzt. – Die Sonne goß erquickende Lebenswärme in das Thal hin; zartes Grün bekleidete den Blumenrein, in dessen dichtem Grase die von den Alpen herabgekommenen Heerden im bunten Gedränge weideten.

     Nun war die Wandrerin am schwankenden Stege über dem zornigen Strom. Bebend, mit leichterm Schritte, eilte sie hinüber, um dem Geliebten zu begegnen im Tannenwalde, der, von den Hügeln hinauf, die geraden Stämme an das kärglich mit magerer Erde belegte Gestein anschmiegte.

     Lange wandelte sie im kühlen Schatten, unter dessen hangenden Zweigen frische Lüfte ihre glühenden [150] Wangen umsäuselten. Bald sah’ sie durch das tiefe Grün blendendes Weiß leuchten, und über den Wipfeln blau umglänzte Pyramiden sich erheben; immer auf neue Erscheinungen in diesem Lande der Wunder bereitet, eilte sie durchs Dickigt dem Schimmer nach, bis sie an einen freyen Ausgang kam.

     Mit freudenvollem Entsetzen sah’ sie sich von kristallenen Eisgefilden umgeben, welche in wüster Verwirrung umhergethürmt da lagen und den unendlichen Ruinen des von einem grimmigen Zaubrer zerstörten Feenschlosses glichen, dessen menschenfeindliche jezt in Schutt und Graus verwandelte Wohnung einst von Azur und Amethist erbauet war. Noch lag ein Trummerwall von Sand, Steinhaufen und Felsenblöcken zwischen ihr und dieser neuen Welt, leicht von der Unermüdlichen überstiegen. Nun blickte sie ungehindert in die leuchtenden Tiefen dieses Kristallmeeres hinein, dessen grause, tiefgrüne Abgründe lange Mauern oder spitzige Thürme einschlossen. [151] Die bebende Alpenpilgerin staunte hinab in gähnende Spalten und schnell gebrochne Abstürze; Bilder des Todes umdrängten sie. Geschreckt eilte sie unter die Schatten des Tannenwaldes zurück, wo sie ihren Weg verfolgte, der schrof über dürren, glatten Nadelblättern bergauf gieng. Hier ward der Wald lichter; einzeln, halb entblättert, standen die Tannen da. Abgerollte Kiesel, welche unsicher dem Fusse auswichen, machten das Steigen mühevoll. Aber eine Minute Ruhe, ein Trunk aus den Silberquellen die oft ihr entgegen kamen, ein Blick zurück ins Thal, welches wie ein treues Gemälde und doch so scheinbar nahe unter ihr lag, stärkte ihre sinkenden Kräfte. Hell stand das Bild des Geliebten vor ihr, dem sie hier in der wilden, sterbenden Natur plötzlich erscheinen sollte; und munter stieg sie weiter empor. Dann sahe sie in einiger Entfernung einen kleinen Wiesenplan, den ein über die Tiefe sich beugender Fels trug, und auf [152] dem eine Ziegenheerde weidete, von einem Hirtenknaben gehütet. Von dort konnte sie dem geliebten Jäger weit in den Gletscher entgegensehn; dort wollte sie ihrer einsamen Wanderschaft ein Ziel setzen.

     Der enge sich windende Steinpfad führte hinauf durch schwarzes Schiefergestein, welches in hohlen Schachten, gleich Behausungen unterirdischer Geister, sie umdrängte. Die Luft, vorher so rein und milde, ward schwer wie Bley. Alle Gegenstände tauchten in trübe Schatten. Entschlummert schien die lebenvolle Schöpfung; kein Gras, kein Blümchen umduftete sie, und nur kleine, blaßgrüne oder graugelbe Moose, klebten am dürren Felsblocke. Tiefer senkte sich der Pfad ins Innere des Berges, dessen nackte Lagen sich verworren umherzogen; nur dann und wann erblickte sie die gehemmten Schimmer des Tages. Bange, beklommen, wie von schweren Lasten gedrückt, rief sie mit ängstlicher Stimme um Hülfe – als schnell der Hirtenknabe vor [153] ihr stand. Er hatte sie von oben gesehn, und war mitleidig dem kühnen Mädchen zur Hülfe herbeygeeilt, um sie den lezten, schrecklichsten Theil des Weges zu unterstützen.

     Nun war sie auf der schwebenden Wiese, deren weicher Schooß die Schmachtende aufnahm. Freundlich umgaben die geselligen Ziegen die schöne Pilgerin, und der gutmütige Hirt erquickte sie mit Milch. Aber nur kurze Ruhe war der Armen vergönnt. Als sie sich nun erhob, um ins Thal zu sehen – wie groß war ihr Schrecken! Verschwunden war alles. Sie blickte in ein weites, mit schwerem Flügel verbreitetes Wolkenheer, welches gährend wie ein wildes Schlachtgetümmel kämpfender Elemente brauste, von Winden durchzischt. Blasses Wetterleuchten flammte unter ihr auf. Fernher rollte dumpf der Donner. Bald war auch der Tag über ihr – die ganze Schöpfung rings um sie her in Nacht versunken. Nur der Gletscher dehnte sich weißlichblau, [154] wie eine ungeheure Leiche, aus neblichter Höhe neben ihr herab. Nun brütete Todtenstille über allen Wesen. Nur eine kleine Amsel umflatterte noch verscheucht die nahen Felsklüfte, und suchte mit klagendem Ton eine Zuflucht. Jezt rauschte von neuem ein heisser Sturm unaufhaltsam daher; traurig erseufzten die schwankenden Tannen, und lange Reihen derselben stürzten den jähen Abhang entlang, ihre flachen Wurzeln stäubend emporgewälzt. Fürchterlich zuckten Blitze aus dem schwarz zerrissnen Gewölke, und erleuchteten mit falbem, grässlichem Licht die überhangenden Felsstirnen, welche, blassen Nachtgeistern ähnlich, auf Augenblicke halb enthüllt erschienen, und wesenlos verschwanden. Laut brüllte der Donner in unaufhörlichen Schlägen; tausendfach von den engen Felswänden abprallend, rollte er mit hohlem Gemurmel die langen Thäler durch. Einzelne große Tropfen entfielen den herabhangenden Wolken; dann strömte in [155] gewaltigen Fluten der Regen herab. In rauhen Schreckenbildern ragten braune Felsenkörper aus der Gewölke Busen hervor; dumpftosende Ströme schäumten von allen Seiten zusammen, und führten große Trümmer über schrofe Abstürze mit entsetzlichem Krachen herab. Mit dem zermalmenden Rasseln des Blitzes, wenn er am Stamm tausendjähriger Eichen herabfährt, und der Donner nachdröhnt, rissen aus umwölktem Dunkel wachsende Schneelauinen sich hervor, ganze Waldungen in ihrem schrecklichem Gange verheerend. Dort schleuderte der wütende Sturm einen Felsthurm jach in die Tiefe herunter, der lange alternd und schwebend, wie von unsichtbarer Hand gehalten, den vorübereilenden Wanderer bedroht hatte.

     Cyane, umgeben von allen diesen Schrecknissen, ohne Schutz und Obdach, halb entseelt vor Entsetzen, verstummte den lauten Stimmen der Natur; auf ihre Knie gesunken, weit die flehenden Arme [156] in die Nacht verbreitet, erwartete sie mit jedem Momente das Ende ihres Daseyns im Strudel der zürnenden Elemente.

     Nun entstand eine lange schreckliche Pause, in welcher die kämpfenden Heere sich zu neuen Schrecknissen rüsteten.

     „Amandor! Amandor„! athmete Cyane tief auf.

     Da hörte sie eine klagende Stimme in gebrochnen Tönen, wie vom Gletscher her, aufsteigen. Himmel und Erde, und alle ihr schützenden Engel! Es war die Stimme Amandors.

     Noch einmal. – „Er in Todesgefahr, oder sein klagender Schatten„! rief die Geliebte. Auch der Hirtenknabe hörte den jammernden Laut, der nun immer heller aus der Mitte des Gletschers aufstieg.

     Weinend, bebend, forteilend zog sie mit unwiderstehlichen Bitten den mitleidigen Knaben mit sich hinweg. Des Weges kundig, leitete er sie bald über wogige Flächen des starrenden Eises, bald [157] in tiefe Senkungen, wo rundum der Ausgang von durchsichtigen Mauern versperrt schien, dann über wild durcheinander geworfne zersplitterte Ruinen, oder neben hoch aufgezackten Spitzen und überhängenden Pyramiden, welche vom eignen Gewicht zu stürzen drohten, vorbey. Tief unter ihren Füssen heulten gefangene Winde in gewölbten Höhlen, und suchten ungestüm einen Ausgang. Mit bebender Ungeduld, immer mit zitternder Stimme den Geliebten rufend, folgte Cyane; achtete es nicht daß vom Frost der zarte Körper erstarrte, daß der kleine Fuß aufgerizt vom schneidenden Eise Purpurspuren auf dem Krystall zurückließ. Denn immer nach längeren Pausen hörte sie die Stimme, und immer näher.

     Jezt stand ihr Führer plötzlich still am jähen Absturz einer tiefen Spalte, welche längs dem Rande von einem Eisgewölbe sich vor ihnen aufthat. Schaudernd mit bleichem Schwindel sahen sie herab; da [158] streckte eine blasse Hand sich empor, und leise stammelnd tönte die Stimme.

     „Amandor„! schrie Cyane laut auf, und wäre zu ihm herabgestürzt, hätte der Knabe nicht das Gewand ergriffen.

     „Engel des Himmels, in der Gestalt der Geliebten„! seufzte Amandor: „Kommst Du zur Rettung, oder willst du meine fliehende Seele empfangen? Bringe den lezten Gruß der Geliebten!„

     „Amandor! Ich bin es! ich lebe! komme, dich zu retten! O hoffe, und lebe!„

     Wer vermag den Jubel zu beschreiben, die Wonne, das neue Leben, welches die Adern des Sterbenden durchflog? Er richtete sich auf in der grünlichen Tiefe, und streckte beyde Arme seinem rettenden Engel entgegen. Wie begeistert vom Genius der Liebe, zog Cyane mit schneller Erfindung das weisse Tuch vom Haupte, löste ihr Gewand ab, und zerriß die Leinen in langen Streifen, welche sie [159] durch feste Knoten verband. In wenig Minuten hatte sie ein langes Seil vollendet. Eilends ließ sie das eine Ende in die Höhle herab, an welchem Amandor sich befestigte. Mit der Hülfe des Hirtenknaben zog sie nun die geliebte Last aus dem Schlunde des Todes herauf. Oft erschlafften die gespannten Muskeln; aber allmächtige Liebe beseelte die Schwache. Muthig strengte sie von neuem sich an, und fühlte nicht die Wunden an den kleinen Händen.

     Jezt, o Entzücken! o Augenblick der Seligkeit! ragte das Haupt des Geretteten über dem Abgrund. In einem Nu schwang er sich mit neugeborner Kraft am Rande des Eises herauf.

     Cyane hatte Stärke im Leiden, hatte Kräfte zur Hülfe. Doch jezt erlag sie den süssen Quaalen der Freude. Entseelt, weiß wie Schnee, lag sie am Herzen des Geliebten, und athemlos ruhte die schöne Brust.

     [160] Amandor eilte, sie aus dem Gefilde des Todes unter die Schatten des nahen Waldes zu tragen. Das Gewitter war vorübergegangen; die Sonne glänzte über die weißlichen Wolken hin. – Mit lebendigem Quellwasser bethaut, durchs Einathmen würziger Kräuter gestärkt, die hier am Saum des ewigen Eises entgrünen, schlug Cyane die schweren Augen auf, und faßte mit neuer zitternder Freude das Bild des Geliebten, des Lebenden, in diesem verschönerndem Spiegel auf. Matt, an seinen Busen gelehnt, hörte sie nun die Geschichte der schrecklichen Jagd.

     Amandor hatte den schönsten Steinbock erlegt, und triumphirend eilte er heim; aber indem er über den Gletscher gieng, übereilte ihn das Gewitter. Im schrecklichen Dunkel verlor er sich vom Wege; plötzlich stürzte er in den mit kaum gefrornen Schnee überdeckten Abgrund herab. „Vergessen war die Axt, mit welcher wir Gemsjäger Tritte in die senkrechten [161] Eiswände hauen; und hülflos lag ich im Abgrunde der Verzweiflung, schon war ich erstarrt, und meine Stimme erschöpft. Unwiderstehlich löste der Schlaf meine Glieder; in immer seltnern Schlägen klopfte mein Herz. Nur Du schwebtest zwischen den sinkenden Augenliedern mir vor; da rief deine Stimme mich aus dem Schatten des Todes zurück; da erblickt’ ich deine geistige Gestalt. O wie hätte ich Dich nicht für einen Engel halten sollen? Aber komm’, o Geliebte meines Herzens! Kalt athmen die Lüfte über dem Gefilde des Todes her! Hier leite ich dich über weichen Rasen, einen kürzern Pfad ins Thal hinab. Dort in jener Hütte wohnt meiner Mutter Bruder; liebend wird er dich empfangen.„

     Schwankend zwischen dem Geliebten und dem schönen Hirtenknaben, der mit Brudertreue die Ermattete unterstüzte, erreichten sie das Thal, und waren im Erlenhain, der den aus den blauen Schwibbögen[11] [162] des Gletschereises hervordonnernden Strom beschattete. Da hörten sie eine laute Stimme: Cyane, Cyane! rufen. Wild foderte die angstvolle Stimme die Geliebte dem Strom ab, der sie umrauschte, und den Felsen, welche ihrer Schmerzen spottend ihren eigenen Ton zurückhallten. Kaum schlug der erste Laut der wohlbekannten Stimme an Cyanens Ohr, als sie, leicht wie ein Blatt vom Winde entführt, ihnen entfloh’, und durch die verworrenen Pfade sich der Rufenden entgegendrängte.

     Amandor und der Knabe eilten der Flüchtigen nach, sie kamen kaum frühe genug, um Mutter und Tochter, vor Entzückung eine im Arm der andern sinkend, aufzufangen. Arete hatte das nächtliche [163] Gewitter aufziehen sehen, und die Wirbelwinde vernommen; ihr mütterliches Herz schlug laut in ahndender Furcht. Sie sah’ das kühne aber zarte Mägdlein allein am gräßlich heulenden Strom, verloren in Angst, unter stürzenden Schneefällen und zertrümmerten Felsblöcken. Sie eilte ihr nach, und verließ zum erstenmal seit dem Tode ihres Gatten ihren Wohnort. Bebend fragte sie überall nach ihrem Kinde; aber wer begreift ihr Entsetzen, als ein alter Hirt’ ihr sagte: Er habe ein junges Mädchen allein sich heraufarbeiten sehen bis an jene hohe Wiese? Kurz darauf erblickte er mitten im Toben des Ungewitters nur dann und wann beym Leuchten der Blitze die Gestalt, von einem Knaben begleitet, am Rande des Eismeers, wo sie vor seinen Augen unter den Eiswogen entschwanden. Die angstvolle Mutter wankte mit dem biedern Alten dem Gletscher zu, als plötzlich die Tochter an ihrem Busen lag, und Amandor beyde in seine Arme auffieng, und [164] darauf beym ersten Blick seinen Oheim in dem alten Hirten erkannte.

     In kurzer Zeit war die Behausung des guten Hirten erreicht, der zärtlich die reizende Nichte aufnahm. Aemsig trocknete die freundliche Hausfrau, mit Hülfe der sorgsamen Mutter, die durchnäßten Kleider des lieben Mädchens, und nannte sie mit liebkosenden Namen, während der alte Hirt’ am lodernden Heerde den Jüngling und den treuen Knaben wärmte und erquickte.

     Schnell war die rührende Geschichte im Dorfe bekannt. Die Mädchen pflückten Blumen, und wanden lange Ketten; und bald war die ganze Jugend des Dorfes vor der Hütte versammelt; die Jünglinge mit Flöten den Reigen der Mädchen begleitend. Alle riefen den Namen des Jünglings und der Jungfrau. Erröthend an den Glücklichen gelehnt, trat die Braut vor die Hüttenthür’ auf den Rasenplatz; da umschlang sie der tanzende Reihen. Unter dem Lispel [165] der Flöten, begrüßt vom segnenden Zuruf der Liebe, der zärtlichen Bewunderung, der innigen Rührung, die in sanften Thränen die Wangen dieser fröhlichen Kinder der Natur bethaute, wurden sie eng umwunden mit der Blumenkette. Lange standen sie fest umarmt, Herz an Herz gedrückt eins im andern athmend; das holdeste Paar, welches seit dem goldenen Zeitalter Unschuld und Liebe verband.

     Alsdann löste die lieblichste Hirtin das Blumenband, das sogleich vom muntern Schwarme in der ländlichen Kirche zugleich mit dem leinenen Werkzeuge der Errettung aufgehängt ward, und lange ein Heiligthum der Liebenden blieb.

     Die Sonne näherte sich dem Rücken des westlichen Alpengebirgs, der ganz mit hohem Wiesengrün bekleidet, und mit Heuhütten, Sennhäuschen und Käsespeichern – dem Reichthum dieser glücklichen Aelpler – besäet war. Zögernd schien der lezte [166] Scheideblick der Sonne über diesem seeligen Wohnort der Einfalt zu verweilen. Heiter, wie die belohnte Liebe, war die ganze Natur; und im glühenden Purpurgewand fesselte der erhabene Schneeberg Cyanens Blicke von neuem. Als das ganze Thal verdämmerte, und schimmerlos alle die andern hohen Gebirge starrten, leuchtete dies stralende Antlitz noch in unaussprechlicher Klarheit.

     „Sieh’, Amandor! Das Schneegebirg’ erröthet! Hoch im blauen Aether erröthet es, gleich der Jungfrau, wenn ihr der Bräutigam den ersten Kuß raubt„! So sagte Cyane; und seit dem Tage behielt das schönste Gebirg des Grindelwaldes den Namen der Jungfrau, und ward lange nicht genannt ohne Erinnerung an Cyane und Amandor.



  1. *) Die noch übrigen Theile der Milch, welche nach dem Käsemachen in den Molken sich sammeln, und dann abgepreßt die hauptsächlichste Nahrung der Sennhirten sind.
  2. *) Im Zukithurnthal bey Rothweil, dem Ithranenberg gegen über, auf dem Wege von Zweilütschinen nach Grindelwald.
  3. *) Große, mit einem eisernen Stachel versehne Stangen, um sich bey schroffen Abstürzen, und besonders in den Glätschern, vor dem Fall zu sichern.
  4. *) Senkrechte Felsenabstürze; z. B. die Hunnenfluhe beym Eingange ins Lauterbrunnthal.
  5. *) Cyane, die blaue Kornblume, unter dem Namen Trense allgemein bekannt.
  6. †) Wetterhorn.
  7. *) Schreckhorn.
  8. **) Fischerhorn.
  9. ***) Eiger.
  10. *) Die Jungfrau, vom Eingang ins Thal Lauterbrunn zwischen dem Sausenbach und der Hunnenfluhe gesehn.
  11. *) Im Winter werden die Gletscherwasser seicht, und versiegen zuweilen ganz; im Frühling aber brechen sie gewaltsam aus der zugefrornen Oeffnung hervor. Der Strom schwillt an, die Eisklumpen stürzen herab, und es bildet sich eine Arkade von Kristall, so wie beym Quell des Arverons in Chamouni.


Anmerkungen (Wikisource)

a Gemäß den Verbesserungen aus dem Anhang: Füschen → Füßchen
b Gemäß den Verbesserungen aus dem Anhang: Unerchaffnen → Unerschaffnen
c Gemäß den Verbesserungen aus dem Anhang: Sounenuhr → Sonnenuhr
d Gemäß den Verbesserungen aus dem Anhang: purperfarbnem → purpurfarbnem